sujet imaginaire - Andi Schoon - E-Book

sujet imaginaire E-Book

Andi Schoon

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Beschreibung

Andi Schoons Essay befasst sich mit der Schwierigkeit, im symbolischen Kapitalismus subversiv zu handeln und schlägt als Alternative zur gängigen Hoffnung auf Kollektivität eine spezifische Form der Vereinzelung vor: das sujet imaginaire.

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Andi Schoon

sujet imaginaire. Ein Figurenentwurf

MSeB bei Matthes & Seitz Berlin

Inhaltsverzeichnis

Cover
Inhaltsverzeichnis
sujet imaginaire. Ein Figurenentwurf von Andi Schoon
0. Psychogeographische Landkarte mit gentrifizierten Strassenzügen
1. Die im Bewerbungsdossier beschriebene Figur ist eine Erfindung
2. Das souveräne Subjekt und der Kapitalismus lassen sich nicht voneinander trennen
3. Beständig wird der eine mit dem anderen Kapitalismus verwechselt
4. Bald fliegt auf, dass die Kulturelite es mit dem Sozialismus seit jeher nicht ernst meint
5. Die Multitude hat ein gemeinsames Unbehagen, aber kein gemeinsames Ziel
6. Jegliche Subversion wird umgehend mit einem Preisschild versehen
7. Linke Agitation beleidigt die Intelligenz der Zielgruppe
8. Es gibt kein Außen, also gibt es auch keinen Exodus
9. Wir brauchen temporäre Figuren, Orte und Praktiken
10. und neue Lügen
Verzeichnis der verwendeten Texte
Impressum
Weitere eBooks bei MSeB
Volker Braun: Zukunftsrede
Emmanuel Carrère: Davos
Byung-Chul Han: Bitte Augen schließen
Guillaume Paoli: Mao siegt
Alexander Pschera: Dataismus. Kritik der anonymen Moral

sujet imaginaire. Ein Figurenentwurf von Andi Schoon

0. Psychogeographische Landkarte mit gentrifizierten Straßenzügen

1. Die im Bewerbungsdossier beschriebene Person ist eine Erfindung

2. Das souveräne Subjekt und der Kapitalismus lassen sich nicht voneinander trennen

3. Beständig wird der eine mit dem anderen Kapitalismus verwechselt

4. Bald fliegt auf, dass die Kulturelite es mit dem Sozialismus seit jeher nicht ernst meint

5. Die Multitude hat ein gemeinsames Unbehagen, aber kein gemeinsames Ziel

6. Jegliche Subversion wird umgehend mit einem Preisschild versehen

7. Linke Agitation beleidigt die Intelligenz der Zielgruppe

8. Es gibt kein Außen, also gibt es auch keinen Exodus

9. Wir brauchen temporäre Figuren, Orte und Praktiken

10. und neue Lügen

0. Psychogeographische Landkarte mit gentrifizierten Strassenzügen

»Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden.«(Walter Benjamin)

Der Demonstrant befindet sich mitten auf dem Zebrastreifen, hat ein Palästinensertuch um den Hals gewickelt und ist schwarz vermummt. Neben sich einen Haufen wurfbereiter Pflastersteine, studiert er eine Straßenkarte. Er weiß nicht, wohin. Es ist ein sonniger Tag, die Motorroller kreisen, das Leben scheint seinen gewohnten Gang zu gehen.

Szenenwechsel.

Marlon starrt fassungslos auf die Berliner Kastanienallee. Er trägt ein weiß kariertes Hemd, das an der Schulter eingerissen ist und hat eine blutende Wunde über dem Auge. Mit leerem Blick wankt er in den Eingang zum Prater, übergibt sich, hält kurz inne und beginnt dann, einen Text zu rezitieren: »In dieser... in dieser Heroin-Oper bestehen Arien nur aus Fixen, verdammte Scheiße. Alle fixen nur unter der Aufsicht des Dirigenten. Es gibt auch eine Trinker-Arie, in der wird fünf Minuten lang nur getrunken. Aber vor allem wird gefixt, verdammte Scheiße.« Am Anfang steht die Erkenntnis. Nun kann die Theaterprobe beginnen.

Marlon ist der Held einer Episode aus dem Film Stadt als Beute (2005), nach Texten aus dem gleichnamigen Theaterstück von René Pollesch. Wir erleben den Moment seiner Bewusstwerdung, bewirkt durch eine erste Nacht in der Großstadt, die alle Maßstäbe verschoben hat. Ihm wurde übel mitgespielt, man hat ihn vorsätzlich verwirrt und betrogen. Ohne eigenes Zutun ist er in eine Phantasmagorie gewaltigen Ausmaßes geraten. Die Katharsis am Morgen danach befähigt Marlon dazu, Pollesch-Texte so nachdrücklich zu sprechen, wie es sich gehört: »Und da, wo ich mal lebte, da ist jetzt irgendwie ’ne Verkaufsfläche. Die ist da jetzt. Und da verkauf ich mich. Ich halt’s nicht aus.« Diese Einsicht steht am Anfang. Aus ihr könnte sich mit der Zeit eine Figur entwickeln, die wir hier sujet imaginaire nennen wollen.

In Zeiten verkäuflicher Subjektivität besteht der souveräne Akt des sujets imaginaire darin, sich selbst fortwährend neu zu erfinden. Es verlässt das Ghetto der Gleichgesinnten und streift unerkannt durch die Stadt. Es beherrscht die Codes verschiedener Diskurse, die es immer nur als Gast betritt. Es ist kein Hipster, wirft keine Steine, ist kein Demonstrant und kein Teil einer Multitude. Und doch ist das sujet imaginaire eine politische Figur, weil sie sich ihrer Verwertung entzieht.

Wie kann es sein, dass in dem folgenden Text ein schattenhaftes Lauern dem klaren Bekenntnis vorgezogen werden soll? Es ist eine komplexe Gemengelage, in dessen Zentrum eine schon nicht mehr ganz neue Ausprägung des Kapitalismus steht, die mancherorts »kognitiv« genannt wird. Ein subtiles System, das Subversion nicht nur zu neutralisieren weiß, sondern sogar in einen produktiven Standortfaktor verwandelt. Die Antworten darauf fallen bescheiden aus: Bewegungen wie Occupy bleiben in der gemeinsamen Aktion thesenschwach und ein Großteil des künstlerisch-akademischen Milieus verpasst es, die eigene privilegierte Lage mitzureflektieren, wenn sie über die kommende Revolution schwadroniert.

Diese Situation zu schildern, ist eine der zwei Absichten der folgenden zehn Thesen, von denen einige historisch hergeleitet, andere rein gegenwartsdiagnostisch sind. Die zweite Absicht besteht darin, aus der Figur des sujet imaginaire eine alternative, nämlich subtile Form der Subversion abzuleiten. Es liegt in der Natur dieser Figur, dass sie sich nicht fassen und nur in Ansätzen beschreiben lässt. Ich will es auf der letzten Seite versuchen, mit einem Entwurf in zehn Sätzen.

1. Die im Bewerbungsdossier beschriebene Figur ist eine Erfindung

Mehr denn je sind Kunstschaffende aller Sparten dieser Tage damit befasst, Bilder ihrer selbst zu entwickeln, sprichwörtliche images. Ich möchte sie hier nicht als emphatische Künstlerindividuen betrachten, sondern als Vertreter der »creative class« (Richard Florida). Die kreative Klasse bewegt sich in einem kompetitiven Umfeld. Mit jedem Jahrgang bringen die Hochschulen mehr Absolventen auf den Markt, als dieser verträgt: Gut qualifizierte Künstler, Designer, Musiker und Schauspieler konkurrieren mit zahlreichen Autodidakten um stets zu knappe Gelder aus öffentlicher Hand und Privatwirtschaft. Die meisten Anwärter sind sich dieser anspruchsvollen Lage bewusst und arbeiten schon in jungen Jahren zielstrebig auf einen bestimmten Punkt hin, sei es die Vertretung durch eine namhafte Galerie oder der Posten in einem Theaterensemble, einem Orchester, einer Agentur. Weil aber die Zahl langfristiger Anstellungen im Kulturbereich stetig abnimmt, gilt es, sich auf eine dauerhafte Arbeit im freischaffenden Bereich und eine fortwährende Bewerbungssituation einzurichten. Die permanente Selbstdarstellung gehört mit zum gewählten Berufsbild.

Der erste Ort dieser Selbstdarstellung ist die Bewerbungsmappe, die je nach Kunstsparte in unterschiedlicher Form auftritt: als klassisches Portfolio im Ledereinband, als bescheidener Pappschuber oder auch als persönliche Website. In der fortwährenden Konkurrenz um einen Platz in der kreativen Klasse ist die Mappe eine Kapitalform, eine Währung und ein Spieleinsatz. Was aber geht in der Mappe vor sich?

Die Mappe ist der Ort eines Figurenentwurfs. Sie stellt die absichtsvolle Verdichtung eigener Möglichkeiten dar. Sie überspitzt und pointiert das, was wir bisher geleistet haben. Sie wählt aus. Sie lässt aus. Sie erzählt in der Regel ein bruchloses Kontinuum logisch aufeinander folgender Ereignisse. Sie entwirft einen in sich geschlossenen Horizont. Sie erzeugt Unverwechselbarkeit. Die in der Mappe beschriebene Figur gibt es nicht, denn sie ist über weite Strecken eine Behauptung. Das professionelle Leben soll sie zu einem Menschen aus Fleisch und Blut erwecken. Zugleich entspringt die in der Mappe entworfene Figur nicht ausschließlich der eigenen Wunschproduktion, da sie wesenhaft auf eine Bewerbungssituation hin ausgerichtet ist. Sie ist ein Vorbild und eine Ware.