Sunrise - Das Tor zum Träumen - Christof Wolf - E-Book

Sunrise - Das Tor zum Träumen E-Book

Christof Wolf

0,0

Beschreibung

Sunrise - Sunshine - Sunset -Diese autobiografische Trilogie erzählt eine wunderschöne, doch ebenso traurige Geschichte über das Finden, Halten und Verlieren der Liebe.2001. Bei einem Spaziergang am Strand des südaustralischen Fischerstädtchens Albany findet der Police Officer Arthur McKinley eine Flaschenpost im Sand. Erschüttert vom traurigen Inhalt, bringt er diese zur Redaktion des Albany Advertisers, wo daraufhin der Artikel 'Bottle brings sad Message' erscheint. Diesen liest die aus Deutschland stammende Sabine Schock. Als ihr bewusst wird, dass der Verfasser der 'Sad Message' aus der selben Region stammt wie sie - aus dem Westerwald, informiert sie ihre Mutter in Deutschland, die noch am selben Abend Kontakt zu Benjamin Michels in Hachenburg aufnimmt. Dieser fällt aus allen Wolken, als er erfährt, dass seine Flaschenpost - die er während einer Reise durch Südaustralien von den Klippen ins Meer geworfen hatte - in einer australischen Zeitung veröffentlicht wurde. Aufgewühlt von seinen Gefühlen, erinnert Benjamin sich daran, wie die Geschichte zwischen Johanna und ihm begann und öffnet damit sein Tor zum Träumen ...1985. Hier beginnt die Liebesgeschichte zwischen der hippen Johanna und dem eher schüchternen Dorfjungen Benjamin. Sie lernen sich in der Schule kennen. Johanna fühlt sich von dem sonnigen Lächeln des Jungen magisch angezogen; allerdings gibt es da ein Problem: Sie ist mit Wolfgang liiert! Gleichwohl wagt sie eines Tages, während eines Klassenausflugs, den ersten Schritt und versucht Benjamin näher zu kommen. Und dann starten auch in Benjamins Bauch Kunstflugstaffeln zu außergewöhnlichen Flugübungen. Johanna weiß, dass nur die Trennung von Wolfgang zum Ziel führen kann. Benjamin plagen derweil Zweifel und er begeht leichtsinnig einen fatalen Fehler. Noch ehe sie richtig zueinander finden, scheint er sie zu verlieren ...Christof Wolf erzählt eine modern-lockere sowie tragisch-romantische Liebesgeschichte. Seine unzähligen amüsanten, aber auch traurigen Erfahrungen, gekrönt von einem unglaublichen Flaschenpost-Erlebnis in Australien, bewegten ihn dazu, diesen Roman zu verfassen. Die Trilogie wurde vom Leben selbst geschrieben; eine wahre Story, die ihre Leserinnen und Leser auf eine Reise um die Welt einlädt!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 435

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christof Wolf

Sunrise

Das Tor zum Träumen

ACABUS | Verlag

Wolf, Christof: SUNRISE. Das Tor zum Träumen, Hamburg, ACABUS Verlag 2009

Originalausgabe ISBN (Print): 978-3-941404-93-9

Lektorat: Daniela Sechtig, ACABUS Verlag Covermotiv: © Andreas Wechsel - Fotolia.com; Christof Wolf Umschlaggestaltung: Daniela Sechtig, ACABUS Verlag

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2008 Alle Rechte vorbehalten. www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund (www.readbox.net).

 »Gott hat der Hoffnung einen Bruder gegeben: Er heißt Erinnerung« Michelangelo

In liebevoller Erinnerung an SUSANNE

Prolog

Das Telefon klingelte.     Benjamin zuckte zusammen. Erschrocken schaute er zur Küchenuhr, die kurz nach halb zehn anzeigte. ‚Wer kann das denn noch sein?’     Die Kochspuren in der Küche waren bereits beseitigt, das restliche Geschirr in die Spülmaschine eingeräumt. In Gedanken saß Benjamin schon auf der Couch und freute sich auf einen gemütlichen Abend. Sein dunkelblauer wollweicher Wohlfühlpulli und die weite Nike-Sporthose sollten schon im Vorfeld dazu beitragen. Beide Kleidungsstücke waren ihm inzwischen viel zu groß geworden, da seine sportlichen Aktivitäten, die er seit seinem Beitritt in das Fitnessstudio in den letzten Monaten kontinuierlich gesteigert hatte, ihre Wirkung zeigten. Gerade das Ausdauertraining schien die Pfunde nur so dahinschmelzen zu lassen. Mindestens acht Kilo hatte er verloren! Er war stolz auf sich. Nicht, dass er sich bei seiner Größe von einem Meter dreiundachtzig und zuvor knapp über 90 Kilogramm zu dick fand, aber mit ein paar Kilos weniger auf der Waage lief es sich wesentlich leichter. Vor allem machte es ihm nun erst richtig Spaß. So war er auch heute wieder fleißig gewesen. Für den Rest des Abends stand jedoch pure Erholung auf dem Programm. Er wollte endlich dieses Buch lesen, das ihm die ganze Zeit ins Auge stach. Airframe, von Michael Crichton. Heute hatte er es sich in der Mittagspause gekauft, bevor er sich mit Freunden zum Cappuccino in Pierres Eiscafé traf..     Gerade war er durch die Terrassentür nach draußen getreten, um dort, wie jeden Abend, eine Kerze im Windlichtglas anzuzünden, als das schrille Klingeln des alten Mickey-Mouse-Telefons ertönte und ihn aus seinen Gedanken riss. Er beendete sein Vorhaben, trat hinein, schloss die Tür und ging zum Telefon. In der Annahme einer seiner Freunde sei am Apparat, nahm er den Hörer ab und meldete sich mit einem lockeren: »Ja. Hallo!« Doch zum eigenen Erstaunen, meldete sich am anderen Ende eine Stimme, die ihm nicht vertraut war.     »Hallo, spreche ich da mit Herrn Michels, Herrn Benjamin Michels?«, hörte er eine völlig fremde, eher zurückhaltend leise, fast verschwörerisch flüsternde Frauenstimme. Benjamin war verdutzt. Etwas zögerlich und skeptisch bestätigte er der Dame, dass sein Name Michels wäre und sie es anscheinend mit dem Richtigen zu tun hätte.      »Herr Michels, Sie kennen mich nicht und Sie werden sich wundern, weshalb ich Sie um diese Uhrzeit noch anrufe, aber es war mir ein Bedürfnis, mit Ihnen zu reden!« Eine kleine Pause trat ein. ‚Es war ihr ein Bedürfnis, ihn zu sprechen?’      Die Dame am Telefon fuhr fort.      »Mein Name ist Schock, wie der Schock bei einem unerwarteten Ereignis oder so. Ich wohne in Höhr-Grenzhausen, das kennen Sie doch ganz bestimmt.« ‚Höhr-Grenzhausen?’      Natürlich kannte Benjamin das Städtchen mit der eigenen Ausfahrt an der Autobahn 48 in Richtung Koblenz, schließlich gehörte es noch zum Westerwald. Der Ort lag nur etwas über 35 Kilometer von Hachenburg entfernt, also musste Benjamin ihn kennen! Erneut verdutzt und zunächst grinsend ob des außergewöhnlichen Namens ‚Schock’, überlegte er, wer dort am anderen Ende der Leitung seine Nummer gewählt haben konnte. Doch bevor er weitere gedankliche Recherchen anstellen konnte, fragte ihn die Stimme am anderen Ende: »Herr Michels, kennen Sie eigentlich Australien?«    ‚Australien?’ Das war jetzt aber ein gänzlich anderes Thema. Er versuchte sich zu sammeln und antwortet kurz und spontan klingend: »Ja, Frau Schock, Australien kenne ich!«     ‚Was soll das denn?’, dachte Benjamin insgeheim. Irgendetwas kam ihm komisch vor. Was für eine Rolle könnte er in einer Verbindung zwischen Höhr-Grenzhausen und Australien spielen? Seltsam! Aber Frau Schock ließ ihm keine Zeit lange nachzudenken.     »Herr Michels, wenn Sie Australien kennen, kennen Sie dann auch Westaustralien?«     »Ja, Frau Schock, auch Westaustralien kenne ich!« Nun war es Benjamin fast unheimlich zumute. Schließlich waren noch keine sechs Wochen seit seiner Rückkehr aus Australien vergangen. Fast genauso viele Wochen war er damals ganz allein durch den fernen Kontinent gereist. Natürlich konnte er sich sehr gut an alles erinnern, zudem steckte er gerade noch mitten in seiner Nachbearbeitung. Das Videomaterial von über sechs Stunden hatte er in den letzten Tagen erstmalig gesichtet und schließlich auf einen etwa dreistündigen Film – also für einen Außenstehenden auf ein Maximum der Belastbarkeit beschränkt – zusammen geschnitten.     An Westaustralien, ja, daran konnte er sich sehr gut erinnern. Die erste Etappe seiner Reise hatte ihn genau dorthin geführt.

***

Mit Zwischenstopp in Singapur war er an die Westküste Australiens geflogen – final destination Perth. Dort hatte er sich einen Wagen gemietet und fuhr ganz allein seinem Abenteuer entgegen. Über dreitausend Kilometer lagen auf dieser ersten, zweiwöchigen Etappe vor ihm.     Nach Westaustralien standen zwei weitere Regionen auf dem Programm: Das Northern Territory und die Ostküste. Zwei Wochen wollte er den nördlichen Teil Australiens mit der Stadt Darwin und den zahlreichen Nationalparks per Allradcamper erkunden – Benjamin allein im Busch! Im Anschluss daran plante er ursprünglich, dass er die Ostküste zwischen Brisbane und Sydney entlang fahren wollte. Allerdings zwang ihn die Überschwemmung des kompletten Küstenstreifens spontan eine Alternativroute zunehmen. Diese führte ihn durch das ‚Hinterland Neuenglands’, das auch im Englischen so genannt wurde. Am Ende dieser letzten Etappe verbrachte er eine Woche bei seinen Freunden Grace und Charles. Diese lebten in der Nähe Sydneys in einem Städtchen mit dem interessant klingenden Namen Woy Woy. Er war gespannt auf die beiden. Johanna und er hatten das ältere Pärchen vor fünf Jahren auf Hawaii kennen gelernt, während ihrer Hochzeitsreise. Zwar hielten sie seitdem immer Brief- und Telefonkontakt, doch es war seit diesen wunderschönen Tagen auf Maui zu keinem Treffen mehr gekommen.

***

Nun, was konnte diese Frau Schock von ihm wollen? Was konnten er und sie mit Australien oder gar Westaustralien gemeinsam haben?     »Herr Michels, ich muss Sie jetzt noch etwas fragen«, meldete sich die Dame erneut. »Wenn Sie in Westaustralien waren, kennen Sie dann auch den Ort Albany?« ‚Was? Wie bitte?’ Benjamin wollte am liebsten in den Hörer beißen, aber er verkniff sich jeglichen Gefühlsausbruch. Albany!      »Ja, Frau Schock, auch Albany kenne ich!« Seine Antwort kam so ruhig und selbstverständlich, als säße er im Zeugenstuhl bei einer Gerichtsverhandlung und stünde gerade, natürlich seiner Unschuld bewusst, dem Staatsanwalt im Kreuzverhör Rede und Antwort. Seine Gedanken gingen zurück zu dem Tag, an dem er sich dem kleinen ehemaligen Walfängerort Albany genähert hatte, das an der Südküste Australiens lag. Er hätte das Straßenschild knutschen können, so groß war seine Freude gewesen, als er darauf las: Albany 20 km!

***

Die Sonne stand bereits sehr tief. Er war sich nicht ganz sicher gewesen, ob es ihm überhaupt gelingen konnte, noch vor deren Untergang den Stirling Range Nationalpark zu durchqueren. Schließlich handelte es sich hierbei um ein recht hohes Gebirgsmassiv und den einzig bekannten Ort in Western Australia, an dem jemals Schnee fiel. Bei dem Gedanken, die mitunter äußerst steilen Bergstraßen in der nun einsetzenden Dunkelheit zu befahren, war ihm ganz und gar nicht wohl gewesen.     Langsam verschwand die Sonne am Horizont und beschenkte den Himmel mit einem glühenden Abendrot. Und siehe da, er schaffte es den im Halbkreis von grünen Hügeln umgebenen Ort rechtzeitig zu erreichen, bevor es vollkommen duster wurde. Benjamin jubelte und trommelte vor Freude auf das Lenkrad, als er die zum Teil sehr unwirtlichen Wüsten- und Steppenlandschaften mit mörderischen Temperaturen von über vierzig Grad Celsius und schier unendlicher Weite sowie den schrecklichen Fliegenscharen endgültig hinter sich gelassen hatte.

Gespannt darauf, was ihn in dieser kleinen Stadt erwarten würde, folgte er der schnurgeraden Hauptstraße in Richtung Zentrum. Am anderen Ende des Ortes, der als erste weiße Niederlassung in der westlichen Hälfte Australiens in den Geschichtsbüchern erwähnt wird, sah er das Abendlicht silbrig glänzend im Meer schimmern. ‚Endlich wieder zurück in der Zivilisation!’ Er war froh!      Insgesamt nahm er mit dieser Reise, die er – nach Johannas Tod – ganz bewusst allein durchführen wollte, eine Art Herausforderung an sich selbst an: Sechs Wochen Australien, von denen er fünf mutterseelenallein verbringen wollte. Ja, er wollte es sich selbst beweisen. Im August des letzten Jahres, das von der Kirche als das Heilige Jahr 2000 und von allen anderen als so genanntes Millennium gefeiert wurde, war er erstmals ganz allein nach Amerika geflogen, um sich von dem im Mai erlittenen Verlust ein wenig abzulenken. Doch die Erfahrung, die er in diesen beiden Wochen machen musste, erschreckte ihn. Erstmalig ereilte ihn ein Gefühl, das er bis dato nicht kannte – Heimweh. Da er nun Angst bekam, künftig nicht mehr allein verreisen zu können, verabreichte er sich diese Gummihammer-Kur und forderte sich und insbesondere seinen Geist heraus. Ja, seinen Geist, denn die Auswahl seiner Etappen führte ihn nicht rein zufällig des Öfteren durch sehr dünnbesiedeltes oder gar unbesiedeltes Land. Ein technisches Problem bereitete ihm besondere Schwierigkeiten: Die Stille!     Von seiner letzten Australienreise mit Johanna im Jahr 1995 behielt er in Erinnerung, dass weit ab von den Ballungszentren kaum ein Radiosender zu empfangen war. So wusste er auch, dass eine Outback-Fahrt von mehreren Stunden äußerst monoton werden konnte. Während er anfangs noch das einschläfernde Geräusch des Wagens akzeptierte, ging er schließlich dazu über, aufgrund nicht vorhandener Unterhaltung aus dem Äther und nicht mitgenommener CDs, seine eigene ‚One-Man-Casting-Show’ zu starten. Mit selbst geträllertem Liedgut, das mangels ausgeprägter Textkenntnis oftmals mit mehr oder weniger melodiösen Pfeif- und La-La-Einlagen aufgepäppelt wurde, hielt er sich bei Laune. Ob es dazu gereicht hätte, von einer Jury zum Superstar gekürt zu werden, bleibt dabei für immer ein ungelöstes Rätsel. Als er jedoch das Fischerstädtchen erreichte, konnte auch sein Radio wieder mit einigen Sendern aufwarten.     Schon während seiner Reiseplanung war er auf den kleinen Flecken auf der Landkarte mit dem Namen Albany aufmerksam geworden, den sein Dumont Reiseführer, als eine der malerischsten Städte mit exponierter Lage an einer wundervollen Bucht beschrieb. Zugegeben, der erste Eindruck in Form der rechts und links mit Motels und den üblichen Supermärkten gesäumten Zufahrtsstraße, war nicht der Brüller gewesen. Doch je näher er dem kleinen Stadtkern kam, mit seinen gut erhaltenen Straßenzügen aus dem neunzehnten Jahrhundert und einer größeren Auswahl an Geschäften und Restaurants, da konnte sich die im Reiseführer versprochene Fischerdorf-Romantik durchaus erahnen lassen. Irgendwie wuchs ihm der Ort gleich ans Herz. In den letzten Tagen hatte er das unbeschwerte urbane Leben sehr vermisst, wenngleich er ja nur wenige Tage durch die absolute Einsamkeit gefahren war. Er fragte sich, ob die Menschen, die dort in kleinen Ansiedlungen lebten, die oftmals lediglich aus einer Tankstelle und einem Motel mit Coffee-Shop bestanden, sich nicht total einsam fühlen mussten? Konnte man sich wirklich daran gewöhnen?     ‚Endlich wieder zurück in der Zivilisation!’, dachte er, als er sein Zimmer im Flag-Travel-Inn Motel bezog. Benjamin suchte auf seiner Tour stets nach Häusern dieser Motel-Gruppe. Bereits während seiner ersten Australienreise mit Johanna, waren sie überwiegend in Motels dieser Kette abgestiegen. Wenngleich diese Häuser auch nicht immer ganz billig waren, so wusste er aus eigener Erfahrung, dass sie stets über sehr komfortabel eingerichtete und vor allem saubere Zimmer verfügten. Nach dem Einchecken genoss Benjamin zunächst eine ausgiebige Dusche. Sie befreite ihn von dem feinen Staub des Outbacks, der sich in jeder Pore seiner Haut niedergelassen hatte. Anschließend suchte er sich möglichst knitterfreie Klamotten aus seinem Koffer und machte sich für ein Abendessen in einem der Innenstadtlokale schick.      Wenngleich er von der langen Fahrt total erschlagen und es bis zu den Restaurants an der Hauptstraße nicht allzu weit war, entschloss er sich dazu, das Auto zu nehmen – obwohl er das Lenkrad kaum noch sehen mochte. Er stellte den Wagen auf einem fast leeren Parkstreifen vor einer kleinen Kirche ab. Langsam und gedankenverloren schlenderte er die Main Street hinab bis zum Denkmal für die Light House Cavalry, die im Ersten Weltkrieg bei Gallipoli gekämpft hatte. Benjamin genoss den tollen Blick über die Bucht und ging dann zurück zur Main Street.      Typische Küstenstadtgeschäfte säumten die Straße. Vom Fischereiartikelladen bis hin zu allen denkbaren Klamottenshops und Lebensmittelketten war alles zu finden. Mit einem vom Hunger leicht gebremsten Interesse, schaute er sich die Auslagen der kleinen Läden an. Das Schaufenster des Surfer- und Outdoor-Shops mit dem spannenden Namen ‚Outback Adventures’ zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er war fasziniert davon, was es dort alles gab. Insbesondere ein Moskitonetz, das man über eine Baseballkappe, wie Benjamin sie stets auf seinen Reisen trug, ziehen konnte, hatte es ihm angetan.     ‚Wenn ich dieses Netz nur vorher entdeckt hätte, dann wäre ich in der Wüste mit den Hunderten von Pinnacle-Steinkegeln und am Wave-Rock noch besser gegen die Fliegen gerüstet gewesen!’, dachte er insgeheim. Obwohl seine selbst entworfene Konstruktion, die er von zu Hause mitgebracht hatte und die ihm beim Kochen eingefallen war, ebenso die gewünschte Wirkung gezeigt hatte – wenngleich sie ziemlich sonderbar und nicht weniger abenteuerlich aussah. Seit Weihnachten hatte er ein paar Weinkorken gesammelt und in jeden einen kleinen Reisbrettstift gedrückt. Anschließend hatte er an diesem Stift einen Faden aus Garn befestigt und diesen wiederum an das geschlossene runde Ende einer Sicherheitsnadel, die sich dann an den Schirm seiner Baseballmütze anstecken ließ, geknotet. Durch das Hin- und Herschaukeln der Korken sollte sich somit keiner dieser geflügelten Quälgeister an ihn herantrauen.     Um letztendlich ganz sicher zu gehen, arbeitete er sozusagen mit ‚doppeltem Boden’. Denn neben seinen Fliegenschaukeln packte er weitere Utensilien in Form orangefarbener, feinmaschiger Kunststoffnetze in sein Abenteurergepäck. Diese Netze, in denen sich zuvor Zwiebeln befunden hatten – wie bereits erwähnt, war ihm die Idee dazu beim Kochen gekommen – konnte er nun bei Bedarf, sollte die Korkenschaukel nicht ausreichen, über den Schirm der Baseballkappe sowie über sein Kinn ziehen. Somit erhielten die lästigen Fliegen keine Chance, sein Gesicht zu erreichen, geschweige in seine Nasenflügel oder Augen zu krabbeln. Die Hauptsache war, dass es funktionierte! Nun gut, hier schieden sich die Geister, ob die meisten dieser kleinen Plagegeister bereits beim Landeanflug vor Schreck oder vor Lachen rückwärts auf ihre Flügel fielen. Oder ob sie aufgrund des monströsen Aussehens erst gar keinen Angriff erwogen hatten.      Benjamin musste schmunzeln, da er in diesem Zusammenhang an die zwei japanischen Pärchen dachte, mit denen er ein paar Tage zuvor gleichzeitig den Besucherparkplatz beim Wave-Rock angesteuert hatte. Wie er, so wollten auch sie die riesige sandfarbene Felswand erkunden, die durch Wind- und Wassererosion die Form einer erstarrten Welle angenommen hatte. Doch im Gegensatz zu Benjamin waren sie nicht auf das harte und gefährliche Leben im australischen Busch vorbereitet gewesen. Somit konnten sie sich dem Felsen nur mit wild umherwinkenden Händen – dem so genannten Gruß der Australier – nähern. Erfolglos versuchten sie den heranstürzenden Fliegen Herr zu werden. Während sie sich zunächst über das ungewöhnliche Outfit des jungen Mannes lustig gemacht hatten, mussten sie letztendlich neidvoll erkennen, dass er, im Gegensatz zu ihnen, Herr der Lage beziehungsweise Herr der Fliegen war. So ergab es sich, dass einer der Männer auf Benjamin zukam und ihm die ‚stattliche’ Summe von zehn australischen Dollar, also zirka fünf Euro, für die Mütze nebst Fliegenschutzschild anbot. Dieser lehnte jedoch höflich – und innerlich triumphierend – ab.     ‚Nee, nee, dieser Japaner! Erst lacht er über mich und macht sich vor den Frauen wichtig, dann will er klein beigeben und Geld für meine Anti-Fliegen-Mütze bieten! Hö, hö! Dumm für dich gelaufen, Sushi- Man!’ Benjamin triumphierte hinter seinem orangefarbenen Maschenkonstrukt, während der Japaner unverrichteter Dinge und wild um sich schlagend zu den anderen ging, die sich nur schwer dem heranstürzenden, hartnäckigen und – im wahrsten Sinne – blutrünstigen Fliegengeschwader erwehren konnten. ‚Wäre ich Amerikaner, dann würde ich jetzt wohl aneine kleine verspätete Rache für Pearl Harbour denken!’ Still grinste Benjamin in sich hinein und genoss es, stressfrei seine Bilder zu schießen.

Leider war das Outdoor-Geschäft auf der Main Street bereits geschlossen. Getrieben von einem knurrenden Magen widmete Benjamin seine Aufmerksamkeit den grell strahlenden Leuchtreklamen der verschiedenen Restaurants. Er war froh, heute in dieser Kleinstadt gelandet zu sein, die ihm eine nette Auswahl bot. ‚Eigentlich müsste ich jetzt, wo ich schon einmal in Australien bin, ein riesiges Steak oder ein Prime-Rib essen!’ dachte er. Wobei es sich hierbei um eine Art Schmorbraten handelt, der stundenlang im Ofen blieb und aus feinstem Rindfleisch bestand. In der Regel servierte man ihn in Australien in Portionen, die eine vierköpfige Familie dicke satt machen würde. Aber noch in sein mentales Zwiegespräch mit sich und seiner inneren Stimme vertieft, holte ihn etwas Vertrautes in die Realität zurück. Er ging gerade an dem kleinen italienischen Restaurant ‚Venice’ vorbei, als der ausströmende Duft die Würfel dann ganz schnell zum Fallen brachte. Anhand der dort aufgehängten Bleche sah er, dass die Pizza dort in den unterschiedlichsten Größen, von S bis XL, angeboten wurde. Seine innere Fragestunde war geklärt!      Der vordere Teil des Lokals sah einen eigenen Bereich mit separater Theke und Backofen für die Take-away-Kundschaft vor. Die Pizza schien sehr begehrt zu sein, da eine lange Schlange von Kunden auf Pizza wartete. Im hinteren Teil des Lokals befand sich ein großer Gastraum, der – wie Benjamin durch die Schwingtür erkennen konnte – ziemlich voll war. ‚Hoffentlich bekomme ich überhaupt einen Platz!’, dachte Benjamin. ‚Sicher sind die nicht so sehr begeistert, wenn ein Tisch nur mit einer Person besetzt ist.’    ‚Please wait to be seated’ mahnte das Schild am Eingang. So wartete Benjamin, wie es üblich war, bis sich die zuständige Bedienung um ihn kümmerte. Es dauerte nicht lange, da kam eine junge Frau freudestrahlend auf ihn zu. Sie begrüßte ihn sehr höflich und führte ihn an seinen Tisch. Benjamin konnte ihrem Namensschild entnehmen, dass sie Kim hieß.     »No problem!«, beruhigte sie Benjamin, als dieser fragte, ob es okay sei, wenn er diesen Tisch – an einem Abend wie heute – allein besetzten würde. »Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt!«      Er lächelte ob Kims süßen australischen Dialekts, lehnte sich entspannt zurück und blätterte die Speisekarte durch. Die Auswahl war riesig und stand der seines Stamm- Italieners im heimatlichen Hachenburg um nichts nach. Es dauerte nicht lange und er war sich sicher, welche Pizza er ordern würde. Mit einem leichten Kopfnicken signalisierte er der – wie Benjamin feststellen musste – sehr hübschen Kellnerin, dass er sich entschieden hatte. Geschmeidig wie eine Katze huschte Kim durch den vollen Raum. Dann war sie für Benjamins Bestellung bereit.

Mit ihren großen braunen Augen schaute sie Benjamin ungläubig an. Dieser orderte neben einer Flasche Victoria-Bitter, einem lecker würzigen australischen Bier, eine Pizza mit der Größenbezeichnung XL. Als er zu dieser richtig großen – mit Salami, Peperoni und Zwiebeln belegten – Pizza auch noch eine Vorspeise in Form eines gemischten Salates bestellte, konnte die erstaunte Kim es sich nicht verkneifen, ihn vorsichtshalber zu fragen, ob er sich bewusst sei, dass seine Bestellung durchaus den Hunger einer Kleinfamilie stillen könnte.      »Ich könnte eine Herde Kängurus verspeisen!«, gab Benjamin ihr scherzend als Antwort und Kim musste kurz laut auflachen. Sie zwinkerte ihm zu, drehte sich um und verschwand grinsend.      Benjamin fand das Lokal urig. Es schien bei den Einheimischen beliebt zu sein. Fast jeder Stuhl war besetzt und es herrschte eine gelöste Stimmung. Schon nach wenigen Minuten kam Kim mit einem voll bepackten Tablett zurück, das sie sicher mit einer Hand über ihrem Kopf trug. Gekonnt stellte sie es auf der Kante des Nachbartischs ab und reichte Benjamin seinen Vorspeisensalat und das Victoria Bitter.     Genüsslich begann er die Tomaten zu essen und schlürfte sein Bier. Dabei blätterte er in seinen Straßenkarten. Er glich seine geplante Route mit seinen Reiseunterlagen in Form des Lonely Planet Australia sowie einem Dumont-Reiseführer ab. Nach einer äußerst kurzweiligen halben Stunde, in der er das Programm für den morgigen Vormittag festlegte, war es so weit. Fast akrobatisch anmutend, balancierte Kim das große Tablett durch den Raum und stoppte an Benjamins Tisch. Mit einem Augenzwinkern servierte sie ihm seine Pizza – eine verdammt große Pizza.     »Here Sir, your pizza in kanguruh-size, enjoy it!«, zog sie ihn auf, zweifelnd, ob dieses Greenhorn from overseas das von ihm bestellte Essen auch wirklich aufessen könnte. Dieser Tourist vom anderen Ende der Welt grinste sie jedoch mit seinem Sonntagnachmittagsausgeh-Grinsen an und dachte: ‚Wenn du wüsstest, welche Dinger ich schon mit Johanna in Amerika weggeputzt habe! Ha, da hast du aber die Rechnung ohne mich gemacht!’ Mit gespielter Überlegenheit und scheinbar unbeeindruckt von der wagenradgroßen Mafiatorte, dankte er Kim und sagte: »Thank you very much, I will do my very best to impress you!« Ja, beeindruckt würde sie bestimmt sein, wenn sie wiederkäme und einen leeren Teller vorfände. Glücklich damit, sich für den Italiener entschieden zu haben, genoss er ein Stück nach dem anderen.     Tatsächlich war es für Benjamin kein Problem, die acht Stücke Pizza mit Ruhe und Appetit zu verspeisen – wenngleich das letzte Stück nicht wirklich hätte sein müssen. Doch die Herausforderung, im Anschluss in Kims überraschtes Gesicht sehen zu können, spornte ihn an. Er hätte platzen können. Sichtlich zufrieden lehnte er sich inseinen Stuhl zurück und genoss den Rest des Victoria Bitters. ‚Ach, das Leben hat mir ja doch noch gute Seiten zu bieten!’     Ziemlich ungläubig und mit hochgezogenen Augenbrauen räumte Kim den Teller weg. Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihn zu fragen: »Wo ist die Pizza hin?« Benjamin zuckte nur mit den Achseln und schaute an die Decke. Kim wog ihrerseits ab, ob sie den Gast noch fragen sollte, ob dieser tatsächlich Platz für ein Dessert hätte und dachte: ‚Also, wenn dieser Kerl da noch irgendetwas hinein bekommt‚ dann verlässt er den Raum nicht, ohne vorher zu platzen!’ Schließlich traute sie sich trotzdem. Doch der junge Deutsche schien wirklich satt zu sein und rundete sein Dinner lediglich mit einem short-black ab, der australischen Variante eines italienischen Espressos.     Sichtlich zufrieden mit sich und dem bisherigen Verlauf seiner Reise, bat Benjamin, als Kim das nächste Mal an seinem Tisch vorbeikam, um die Rechnung. Sie brachte ihm das kleine Lederetui in dem sich der Kassenstreifen befand. Da sie ein wenig Zeit hatte, fragte sie, woher er käme, wohin er wolle und ob er tatsächlich ganz allein unterwegs sei.     Benjamin freute sich. Endlich bekam er wieder einmal die Chance für eine kleine Konversation. Interessiert stellte Kim das Tablett auf den Tisch. Sie setzte sich, wenngleich absprungbereit, auf die Lehne eines Stuhls und hörte dem jungen Mann aus Europa zu. Dieser schien so Anfang dreißig zu sein. Seine blauen Augen gefielen ihr und die symmetrischen Gesichtszüge ließen ihn sympathisch erscheinen. Er erinnerte sie an ihren Cousin Robert, der ungefähr dieselbe Statur hatte – also groß und kräftig, ohne dabei dick zu wirken. Auch Robert trug stets einen Dreitagebart und hatte mittlerweile einen etwas höheren Haaransatz.     »Mensch, ich würde auch gerne einmal eine lange Reise machen: Europa zu besuchen, das ist schon lange mein Traum. Ihr habt so tolle Städte und alle sind so nah beieinander! Ihr könnt sie in weniger als zwei bis drei Flugstunden erreichen, oder? Wenn ich drei Stunden im Flieger sitze, dann bin ich gerade erst einmal über der roten Mitte unseres Landes. Ihr aber habt Spanien und Frankreich direkt vor der Haustür. Oder ihr könnt zum schiefen Turm fliegen, nach … Wo war der noch, in Parma?«     »Pisa!«, half er ihr auf die Sprünge. Ihr Interesse an Europa beeindruckte ihn.     »Kim!«, ertönte es plötzlich aus der Küchentür und ihr Gespräch wurde abrupt abgebrochen. Benjamin beglich seine Rechnung mit einem großzügigen Trinkgeld und verabschiedete sich von ihr. Kim sah dem jungen Deutschen lächelnd nach. Sie winkte ihm zum Abschied, als dieser sich kurz vor der Tür noch einmal zu ihr umdrehte. Benjamin winkte zurück und hätte zu gerne gewusst, was die junge Australierin jetzt von diesem gefräßigen Abenteurer aus old Germany gehalten hatte.

***

Alle diese Bilder sah Benjamin vor seinem geistigen Auge. Gleichzeitig überlegte er, wie eine Verbindung zwischen ihm, Westaustralien und Höhr-Grenzhausen zustande kommen konnte. Was war es, was er eventuell in Australien zurückgelassen oder gar verloren hatte und woraus diese Frau Schock seine Adresse zurückverfolgen konnte?     Es fiel ihm nicht schwer, sich an die beiden Tage in Albany zu erinnern, da sie doch sehr emotional geprägt gewesen waren. So sah er vor seinem geistigen Auge, den Telefonhörer mit Frau Schock noch am Ohr, wie er am Morgen nach seiner Pizzaorgie im ‚Venice’ aufgestanden war.

***

Halb sieben. Frisch geduscht packte Benjamin seine Klamotten in den Koffer. Anschließend schlenderte er zur Rezeption und beglich die Rechnung von 50 australischen Dollar.     »Have a nice day, mate!«, wünschte ihm die ältere Dame hinter dem Tresen mit einem breiten australischen Akzent.     Gemütlich fuhr er hinaus zur Bald Head, einer weitgeschwungenen und der Küste vorgelagerten Halbinsel. Der Name ließ sich mit Glatzkopf übersetzen, was sich wahrscheinlich von den vielen aneinander gereihten kahlen Felsen ableitete.     Erste Station machte er an einem kleinen Parkplatz, der sich in der Nähe des Aussichtspunktes auf die Natural Bridge befand. Geschaffen wurde dieser gigantische Granitbogen durch die gewaltige Meeresbrandung, die seit Jahrhunderten mit ungebändigter Kraft gegen die schroffe Seite der Steilküste schlug und so ein riesiges Loch in den Fels gemeißelt hatte, wodurch eine natürliche Brücke entstanden war.     Das Meer toste unter der eigentümlichen Gesteinsformation und peitschte unaufhaltsam, getrieben vom frischen Morgenwind, die Wellen gegen das steinige Ufer. Benjamin schien völlig allein und war froh darüber. Vorsichtig setzte er sich auf einen kleinen Felsvorsprung und atmete die kühle Luft tief ein. In Gedanken verloren, genoss er die Naturgewalten und ließ seinen Blick über das weite Meer gleiten.     Nach einiger Zeit ging er gemütlich zum Auto zurück. Sein Weg sollte ihn nun zum Frenshman-Strand hinaus sowie zu diversen Buchten und Klippen führen, von denen er sich wiederum atemberaubende Aussichten erhoffte. Das Licht der Morgensonne glänzte silbern im schier endlos scheinenden Meer.     ‚Gut’, dachte er, ‚dass ich es geschafft habe, so früh aufzustehen. Die Halbinsel um den King George Sound erstreckt sich doch weitläufiger und viel größer, als ich es mir gedacht habe.’ Eine grandiose Küstenlandschaft belohnte ihn für sein frühes Engagement.

Gegen halb zehn machte er sich auf den Weg zurück nach Albany, denn schließlich gab es nur bis halb elf Frühstück in dem irischen Pub an der Hauptstraße, dem ‚Shamrock Café’. Bei seinem kleinen Bummel am gestrigen Abend, war er auf dieses kleine urige Lokal aufmerksam geworden und hatte die Speisekarte mit Blick auf ein ordentliches Frühstück studiert.     Mittlerweile war die Luft angenehm warm und zum Glück noch nicht so heiß, wie in den Tagen zuvor im Hinterland. Nachdem er im ‚Shamrock Café’ einen riesigen Teller mit Toast, Tomaten, Bacon und zwei – von beiden Seiten knusprig gebratenen – Eiern geordert hatte, setzte er sich nach draußen. Den dazugehörenden Becher mit dampfend schwarzem Kaffee nahm er gleich mit hinaus. Er genoss die angenehme Morgenluft und beobachtete das langsam erwachende Städtchen. Gut gelaunt freundete er sich mit Henry an, einem Golden Retriever, der unter dem Nachbartisch lag und an Benjamins Rucksack schnüffelte.     Es dauerte nicht lange und sein üppiger Frühstücksteller wurde serviert. Nach seiner kleinen Tour am Morgen, auf der er durchaus einige Kilometer zu Fuß hinter sich gelassen hatte – und sogar auf frei lebende Kängurus gestoßen war – knurrte ihm ordentlich der Magen. Er ließ es sich schmecken, obwohl er gestern Abend noch gedacht hatte, er könnte nie wieder etwas essen.     Gestärkt und voll des Tatendranges bestellte er die Rechnung. Bevor er seinen Weg die Südküste entlang fortsetzen wollte, prüfte er, wie eigentlich jeden Morgen, ob ihn über Nacht eine Kurznachricht aus der Heimat erreicht hatte. Doch sein Handy zeigte keine SMS an.     Gegenüber lag die kleine Kirche St. John the Evangelist, aus dem Jahre 1848. Sie war eine typische Seefahrerkirche mit farbenfrohen Fenstermalereien und einer massiven Holzdecke aus Schiffsplanken. Bevor er sich auf den Weg machte, nahm er sich spontan ein paar Minuten, trat ein und setzte sich in eine der Holzbänke. Er atmete tief durch und dankte Gott in einem Gebet dafür, was er bisher alles erleben durfte und bat darum, ihn auch weiterhin zu behüten. ‚Wie schön wäre es doch gewesen, wenn Johanna und ich diese Reise hätten gemeinsam unternehmen können!’, dachte er. Wenngleich er wusste, dass es ihnen nicht vergönnt worden war, so spürte er, dass sie ihn auf eine ganz eigene Weise zu begleiten schien.

***

»Wissen Sie, Herr Michels, meine Tochter Sabine wohnt in Albany!« Frau Schocks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie und ihr Ehemann Brian bewirtschaften dort eine große Farm. Sie liegt nicht weit vom kleinen Airport entfernt, vielleicht sind Sie daran vorbeigefahren, als Sie in Albany waren? Meine Tochter behauptet zwar immer ihrGrundstück würde jeweils halb aus Busch und Unkraut bestehen, aber glauben Sie mir, die beiden haben es sich sehr schön gemacht – mein Mann und ich waren schon mehrfach dort. Die beiden besitzen jede Menge Tiere. Meine Sabine gibt allen Namen! Allerdings kann Brian, der Australier ist, diese oftmals kaum aussprechen. ‚Hein Blöd’, so heißt zum Beispiel ein störrischer Schafsbock. Sie besitzen sogar eine kleine Taube mit einem Doppelnamen, kaum zu glauben, was? Wie heißt sie noch gleich? Ach ja, sie haben sie Rudolf-Martin getauft, fragen Sie mich nicht warum. Aber lustig, nicht wahr?«     »Eine Taube namens Rudolf-Martin?«, fragte Benjamin ungläubig nach und musste kurz schlucken. Auch Johanna und er hatten vor ziemlich genau einem Jahr eine Taube bei sich aufgenommen. Sie war verletzt und beide hatten damals versucht, sie wieder gesund zu pflegen. Witzig, auch sie gaben dem Tier einen Doppelnamen: Tardif-Othello! Leider war Tardifio, wie Johanna ihren gefiederten Schützling immer liebevoll genannt hatte, nach drei Wochen gestorben, trotz mehrfacher Arztbesuche und einer wirklich aufopfernden Pflege. Damals war große Trauer in der ganzen Nachbarschaft angesagt gewesen, denn mittlerweile hatten sich alle an den kleinen Pflegegast auf des Nachbars Wiese unter dem von Benjamin selbst gezimmerten Gehege gewöhnt.     »Die beiden sind ja so tierlieb«, setzte Frau Schock fort. »Sie glauben gar nicht, was auf der Farm so los ist. Es ist einfach wunderschön! Sehen Sie, wenn Sie vorher gewusst hätten, dass in Albany eine Westerwälderin wohnt, dann hätten Sie sie besuchen können. Aber jetzt gerate ich ins Plaudern, ohne auf den Punkt zu kommen. Sie fragen sich bestimmt seit einigen Momenten, was will die Frau eigentlich von mir? Was geht mich deren Sabine an? Das fragen Sie sich doch, oder?«     »Darf ich ehrlich sein, Frau Schock, ja, das frage ich mich durchaus. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, weshalb Sie mir das alles erzählen und wie Sie auf meine Person kommen?«     »Nun Herr Michels, ich will Sie nicht länger im Dunkeln stehen lassen oder gar auf die Folter spannen.« Mittlerweile hatte sich Frau Schocks Stimme verändert. Sie klang in der Gewissheit, den richtigen Herrn Michels erwischt zu haben, selbstbewusster, aber nicht weniger sympathisch. »Nun gut, ich fange einfach einmal an: Soeben rief mich meine Tochter aus Australien an. Sie saß gerade beim Frühstück, Sie wissen ja schon, wegen der Zeitverschiebung. Ach, was erzähle ich, natürlich wissen Sie das. Nun, sie erzählte mir eine interessante Geschichte. ‚Mama’, sagte sie, ‚du wirst nicht glauben, was ich gerade in unserer Tageszeitung lese!’ Und ich konnte es wirklich kaum glauben! Ganz aufgeregt erzählte sie mir, sie hätte das Blatt aufgeschlagen und sei sogleich auf einen interessanten Artikel mit einem großen Foto von einem Polizisten gestoßen, den sie kannte.«‚Aha’, dachte Benjamin, ‚und was habe ich jetzt damit zu tun?’ Doch Frau Schock fuhr fort: »Sabine beschrieb mir das Foto. Es würde diesen Polizisten zeigen, der einen Brief in derHand hielt. Ja, und dieser Brief, so stand in dem Artikel, war an eine Frau namens Hanna gerichtet!«     Benjamin kräuselte die Stirn. ‚Hanna?’     »Interessant, Frau Schock, aber was hat das Ganze mit mir zu tun? Wie kommen Sie in diesem Zusammenhang auf mich?« Kurzes Schweigen auf beiden Seiten der Leitung. »Anscheinend können Sie sich nicht vorstellen, worauf ich hinaus will?« »Ehrlich gesagt, nicht wirklich, Frau Schock!« »Nun, diese Hanna, an die dieser Brief gerichtet ist, stammt wohl aus Deutschland. Ja, und der Verfasser des Briefes auch. Und nun – das ist wohl des Rätsels Lösung und dann werden Sie mich besser verstehen – berichtet der Artikel, dass der Schreiber aus Hachenburg/Germany stammt und so heißt wie Sie: Benjamin Michels!«     Benjamin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Seine Hände fingen an zu zittern. Nur mit Mühe konnte er einen Aufschrei unterdrücken. Seine Finger umgriffen den Hörer. Krampfhaft versuchte er zu verhindern, dass dieser ihm aus der Hand glitt. Er zitterte wie das berühmte Espenlaub. Diese Frau Schock hatte ihrem Namen alle Ehre gemacht und Benjamin in einen selbigen Geisteszustand versetzt. Träumte er jetzt, oder was? Er konnte nur erahnen worauf Frau Schock hinauswollte. Konnte das wahr sein? Nein, es war schier unmöglich! Oder etwa doch nicht?     Frau Schock, die sich der Auswirkung ihrer Äußerungen nicht bewusst schien, setzte ihre Erzählung fort: »Ich weiß nicht, Herr Michels, ob Ihnen jetzt ein Licht aufgegangen ist, aber ich gebe Ihnen ein weiteres Stichwort zur Hilfe: Flaschenpost!« Benjamin blieb die Luft weg. Hatte er soeben noch an einen üblen Scherz gedacht, so wurde ihm nun ganz klar, wovon diese Frau Schock sprach.     »In Warriup, das ist in der Nähe von Albany, ist letztes Wochenende eine Flaschenpost an den Strand gespült worden! Hassel Beach, vielleicht sagt Ihnen der Name etwas?«

***

Der Police Officer Sergeant Arthur McKinley und seine Frau Bernice spazierten, wie fast jeden Morgen, Hand in Hand am Hassel Beach entlang, ein weit geschwungener Strand in der Nähe des Örtchens Warriup. Sie fanden es toll, den Strand so früh am Morgen ganz für sich allein zu haben. Somit konnten sie ungestört ihren Tag beginnen. Ja, dieser morgendliche Spaziergang war seit geraumer Zeit zu einem festen Ritual für beide geworden. Sie waren gerade in Höhe von Cheynes Beach, als Arthur Bernice plötzlich losließ und einen Schritt schneller ging.     »Was ist, Schatz? Was ist los?«, rief sie ihm hinterher, doch der Wind nahm ihre Worte auf und trug sie weg. Arthur stoppte vor einem kleinen glänzenden Etwas und kniete nieder. Er war überrascht, als er eine Wasserflasche sah, die einen in der aufgehendenSonne silbrig schimmernden Inhalt barg. Vorsichtig nahm er sie auf, rieb den feuchten Sand ab und betrachtete seinen Fund genauer. Als er den Schraubverschluss lösen wollte, merkte er, dass die Flasche sorgfältig mit Wachs verschlossen worden war. Anscheinend wollte jemand sichergehen, dass der Inhalt vor eindringendem Wasser geschützt war. Nachdem er den Verschluss abgedreht hatte, musste er einen zusätzlich im Flaschenhals platzierten Wachspfropfen in das Innere drücken. Nun bestand die zweite Schwierigkeit darin, den Inhalt zu bergen, ohne die Flasche zerschlagen zu müssen. Sein Dienstkugelschreiber kam ihm dabei zu Hilfe. Nach wenigen Minuten gelang es ihm, das kleine wurstartige Paket durch die enge Öffnung der Flasche zu ziehen. Kleine Engelaufkleber fixierten die silbern glänzende Alufolie, die sich als Schutz um ein zur Rolle verpacktes Blatt Papier legte. Aufgeregt und mit zitternden Händen löste er zunächst die Aufkleber und anschließend die Folie. Vorsichtig rollte er den Zettel auseinander und erschrak. Auf dem Briefpapier erkannte er ein Foto mit dem Gesicht einer jungen Frau. Enttäuschung machte sich breit, als er sah, dass er mit der Sprache, in der dieser Brief geschrieben war, nichts anfangen konnte.     Bernice holte auf und sah Arthurs enttäuschtes Gesicht. »Arthur, was hast du da?«     »Ich weiß es nicht so genau, Bernice. Es sieht irgendwie aus wie ein Brief. Vielleicht ein Liebesbrief. Leider kann ich nicht entziffern, in welcher Sprache er geschrieben ist!«     Plötzlich, er wollte gerade alles wieder zusammenpacken, da fiel ihm ein kleines graues Kärtchen aus der Hand, das bis dahin unbemerkt geblieben war. Bernice bückte sich und hob es auf. Sie betrachtete es genauer. Und siehe da, es handelte sich um eine kleine Notiz des Verfassers der Flaschenpost. Diese war in englischer Sprache geschrieben, so konnte sie die Worte laut vorlesen. Sie gaben einen kurzen Hinweis darauf, dass der Verfasser aus Deutschland stammte und warum er die Flaschenpost für die Person, die auf dem kleinen Foto abgebildet war, geschrieben hatte.     Adressiert war der Brief an eine Frau mit dem Namen ‚Hanna’. Der Verfasser nannte sie in seinem Brief liebevoll Sunshine. Er schien sie sehr zu vermissen. Nachdem Arthur und Bernice zunächst an eine Scherzbotschaft geglaubt hatten, kamen sie schließlich zu einer gänzlich anderen Auffassung. Sie waren gerührt. Ihnen verging das Lachen.     »Das ist ja ein Ding, Schatz«, sagte Arthur mit bewegter Stimme, als er den Brief und den kleinen Zettel wieder zusammenfaltete. »Ich habe gar keine Lust zum Dienst zu gehen!«     »Das kann ich verstehen, Arthur. Mich hat das jetzt auch ziemlich mitgenommen. Schade, dass wir kein Deutsch sprechen und auch niemanden kennen, der diese Sprache beherrscht. Vielleicht nimmst du unseren Fund mit zur Wache und hörst dich da um, ob vielleicht einer deiner Kollegen jemanden kennt, der uns diesen Brief übersetzen kann. «Eng umschlungen gingen sie zum Auto und fuhren zurück nach Mount Barker. Bernice setzte Arthur vor der Wache ab. Sie küssten sich zum Abschied. Irgendwie war das heute ein anderer, viel innigerer Kuss.     Arthur zeigte seinen Kollegen den seltsamen Fund und erzählte, wie und wo sie die Flasche gefunden hatten. Im Stillen hoffte er darauf, dass in irgendeinem Bekanntenkreis deutschsprachige Freunde zu finden seien. Doch seine – ihn ungläubig anschauenden – Kollegen konnten nur den Kopf schütteln. So blieb seine Anfrage erfolglos. ‚Schade!’, dachte Arthur und packte die Flasche samt Inhalt in die Schublade.     Gegen elf Uhr klingelte wie jeden Morgen das Telefon. Paul, ein Mitarbeiter des ‚Albany Advertisers’, einer Tageszeitung in Albany, erkundigte sich bei Sergeant Joe Schwartz nach den üblichen Vorkommnissen der Nacht. Er erhoffte sich eine Story über einen eventuellen Einbruch, Verkehrsunfall oder so. Doch wie so oft konnte Joe ihm leider nur gestehen, oder besser Gott sei Dank, dass es nichts gab, worüber Paul berichten könnte. »Na, das ist ja nicht viel. Unsere Region ist einfach zu anständig und zu sicher. Irgendwie auch langweilig, wenn es nichts Spannendes zu berichten gibt. Wahrscheinlich seid ihr zu abschreckend für die Gangster, oder?«     »Wenn ich da an unseren Chief Officer Scary Garry denke, dann könntest du Recht behalten!« An beiden Enden der Leitung wurde gelacht, da auch Paul den Zweimetermann Garry kannte. »Aber einen Moment mal, Paul, vielleicht habe ich doch noch etwas für dich! Ich rufe mal eben meinen Kollegen McKinley!« Joe hielt eine Hand über den Hörer und rief zu Arthur hinüber. »Ich habe da gerade Paul vom ‚Advertiser’ am Rohr, willst du ihm nicht von deinem Fund erzählen!« Arthur, der ganz in seinen Bericht über eine Sachbeschädigung an einem Auto auf dem K-Mart-Parkplatz mit Fahrerflucht vertieft war, drehte sich langsam um.     »Meinst du, ich soll ihm von der Flaschenpost erzählen?«     »Warum nicht? Moment mal, ich stelle den Anruf zu dir durch!« Arthurs Telefon klingelte und er nahm ab.     »Sergeant McKinley am Apparat.« Paul fragte ihn, was es denn so Geheimnisvolles zu berichten gäbe. Arthur begann zu erzählen und spürte wie Paul am anderen Ende gespannt zuhörte. »Ja, leider ist der Brief auf Deutsch, sodass wir nicht wissen, was drin steht.« »Mensch Arthur, das ist durchaus eine interessante Geschichte! Ich werde gleich meinem Boss, Sarah Beacon, davon berichten. Kannst du nachher, vielleicht in deiner Mittagspause, bei uns vorbeischauen und deinen Fund mitbringen?«     »Natürlich, kann ich machen. Glaubst du, jemand kann den Brief übersetzen?«     »Ich bin mir nicht sicher, aber wie ich unsere Redakteurin Sarah kenne, findet sie ganz schnell eine Lösung. Bis nachher, Arthur!«

Gegen eins schnappte sich Arthur seine Lunchbox, rollte die Flasche samt Brief in eine alte Zeitung und machte sich auf den Weg zum ‚Advertiser’.     Sarah Beacon, Chefredakteurin des ‚Advertisers’, lehnte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in ihrem Schreibtischstuhl zurück und lauschte gespannt Arthurs Geschichte. Er erzählte ihr, wo Bernice und er die Flaschenpost gefunden hatten und wie sehr sie der Inhalt des kleinen Kärtchens gerührt habe. Mit einem Wisch über ihren Schreibtisch verschaffte Sarah sich Platz und bat Arthur, ihr die Flasche nebst Brief zu zeigen.     »Das ist ja ’mal eine Story, die man nicht alle Tage bekommt!« Sichtlich begeistert bezüglich der Geschichte, die ihr da ins Haus flatterte, bot sie Arthur an, ihn mit der Flasche und dem Brief fotografieren zu lassen. Schnell wählten ihre Finger die Nummer von Charles, dem Hausfotografen, und bat diesen zu sich. Sie schickte beide vor die Tür, wo Arthur mit der Flasche in der Hand abgelichtet wurde.     Auch Sarah war nicht in der Lage, den Brief zu übersetzen. Doch zum Glück hatte der Verfasser auf dem kleinen, handschriftlich verfassten Zettel vermerkt, woher er stammte und um wen es sich bei der abgebildeten Frau handelte: ‚Hanna from Hachenburg/Germany.’     »Also ist der Brief mit Sicherheit in deutscher Sprache geschrieben!« Es bestätigte das, was Arthur ihr bereits gesagt hatte. Doch wer in aller Welt, oder besser gesagt in Albany oder näherer Umgebung, sollte in der Lage sein ihr zu helfen? In der Redaktion, da war sie sich sicher, arbeitete niemand der über Deutschkenntnisse verfügte oder zumindest mit deutschstämmigen Freunden im Bekanntenkreis aufwarten konnte. Sie überlegte weiter.     »Mensch, jetzt habe ich so eine außergewöhnliche Geschichte auf meinem Schreibtisch – und nicht nur immer diese Schafszüchterversammlungen, Boule-Kränzchen oder Kindergartenbasare – und kann nichts daraus machen. Irgendjemand hier in diesem Nest muss doch etwas mit good old Germany zu tun haben. Von mir aus auch nur über einen dieser deutschen Schäferhunde. Hauptsache Deutsch!« Doch sie erntete nur Achselzucken, ratloses Augenbrauenheben und Stirnrunzeln. Plötzlich kam ihr die Idee: Tracy O’Reilly! Sie trafen sich regelmäßig auf den Veranstaltungen der ‚Great Southern Personnel’. Die GPS war eine gemeinnützige Agentur, die es sich zur Aufgabe machte, schwerbehinderten Mitbürgern eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Ja, sie hatte einige Jahre für das Goethe-Institut in Sydney gearbeitet und war sogar einmal in Deutschland gewesen. Sie müsste doch eigentlich in der Lage sein, den Brief zu übersetzen oder zumindest dessen Inhalt erfassen können. Sarah zögerte nicht und nahm den Hörer in die Hand.     »Hallo Tracy, hier ist Sarah vom ‚Advertiser’.«

»Hallo Sarah, wie geht’s?«     »Danke! Du, Tracy, ich benötige deine Hilfe. Du sprichst doch Deutsch, oder?«     »Ja, ein wenig, aber erwarte nicht mehr allzu viel. Schließlich lebe ich schon seit fast acht Jahren in Albany und da verlernt man eine Menge!«     »Das verstehe ich, aber für die Übersetzung eines Briefes wird es doch sicher reichen!« Sarah erzählte ihr die Geschichte mit der Flaschenpost.     »Mensch, das ist ja fast wie in dem Buch von Nicholas Sparks, nicht wahr? Du weißt schon, die Geschichte von dem Mann, der seine Frau verloren und ihr dann per Flaschenpost Liebesbriefe zugeschickt hat? Nun, ich vermute einmal, du willst bestimmt einen Artikel dazu schreiben, habe ich Recht?« Natürlich hatte sie Recht. Sie vereinbarten, dass Sarah ihr den Brief faxen solle und sie würde sich melden, sobald sie ihn übersetzt hätte.     Gespannt ging Tracy zum Faxgerät, noch bevor es überhaupt klingelte. Wenige Minuten später erschallten die Klingeltöne und rissen sie aus ihren Gedanken. Sie starrte auf das Blatt Papier, das sich langsam aus dem Faxgerät schob. Zeile für Zeile baute sich ein schwarzweißes Bild auf – das Bild einer jungen Frau. Der Brief dazu war handgeschrieben. Es fiel ihr schwer, die Handschrift zu entziffern, da die Faxqualität nicht allzu toll war. Auch musste sie schwer in sich gehen, um ihre schon längst eingemotteten Deutschkenntnisse wieder im Gehirnkästchen hervorzukramen. Sie las den Brief. Sie las ihn ein zweites Mal. Wow, das ging ihr unter die Haut. Immer wieder betrachtete sie das Bild der jungen Frau. Es war nur ihr Gesicht zu sehen. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schien auf einem Stuhl zu sitzen und mit geschlossenen Augen die Sonne zu genießen.     ‚Eine hübsche Frau!’, dachte Tracy so bei sich. Aus dem englischsprachigen Zettel, den ihr Sarah vorgelesen hatte, wusste sie, dass die Frau fünfunddreißig geworden war, also nur ein Jahr älter als sie selbst. Gleichzeitig versuchte sie sich vorzustellen, wie der Mann aussehen mochte, der diesen Brief geschrieben hatte, weil er seine Frau anscheinend so vermisste. ‚Ob er wohl älter ist?’     Zwar hatte Tracy gesagt, sie könne nicht versprechen, den Brief noch an diesem Wochenende zu übersetzen, doch keine zwei Stunden später klingelte bereits das Telefon in Sarahs Büro. Sie saß am Schreibtisch und bastelte an einem Artikel über ein GSP- Wohltätigkeits-Dinner.     »Sarah, ich habe den Brief doch schon übersetzt. Er ist sehr rührend! Würde gerne wissen, was das für ein Mann ist, der diese Zeilen verfasst hat.«     »Wie, du hast schon alles übersetzt!? Und, was denkst du, Tracy, ist das eine Story?«     »Hm, ich bin mal gespannt, was du daraus machst. Sei aber so diskret und drucke ihn nicht wortwörtlich ab – sorry, ich weiß, du bist die Verantwortliche in der Redaktion. Liesihn und dann wirst du mich vielleicht verstehen! Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende, Sarah.« Zwei Minuten später schob das Faxgerät den übersetzten Brief hervor. Sarah las die Zeilen und war gerührt.

***

»Der Artikel erschien dann im ‚Albany Advertiser’. Er berichtet über den Fund einer traurigen Message in a bottle«, kam Frau Schock zum Ende. »Die Verfasserin, eine gewisse Sarah Beacon – meine Tochter meinte, sie sei eine leitende Redakteurin der Zeitung – hat wohl nur Auszüge aus dem Brief verwendet – zum Glück, oder? Aber zusätzlich wurde ein großes Foto veröffentlicht. Das zeigt den Polizisten Arthur McKinley, der die Flasche und den Brief in seinen Händen hält. Und auf dem Bild ist dann auch Ihre Hanna zu erkennen. Es ist doch Ihre Hanna, nicht wahr?« Benjamin kämpfte seit einigen Minuten mit den Tränen und rang nach Fassung.     »Frau Schock, verzeihen Sie mir, ich muss mich gerade erst einmal wieder fangen!«     »Das kann ich verstehen!«, antwortete die Stimme am anderen Ende liebevoll. Nachdem er sich die Nase geschnäuzt und mehrmals tief Luft geholt hatte, nahm er den Hörer wieder ans Ohr. '     »Wow, ich hätte nie gedacht, dass die Flasche überlebt und gefunden wird. Ich habe sie an einer ganz abgelegenen Stelle, einer Steilküste, ins Meer geworfen. In der Nähe befindet sich die Natural Bridge, die kennen Sie bestimmt, da sie schon des Öfteren in Albany waren! Ich war fest davon überzeugt, die nächste Brandung schleudert das Glas gegen die Felsen. Doch jetzt erfahre ich diese fast unglaubliche Geschichte. Ich bin völlig neben der Spur, Frau Schock, und kann das alles noch gar nicht glauben. Ich muss mir eben mal in den Arm kneifen, damit ich sicher gehe, dass ich nicht träume oder gar dabei bin, meinen Verstand zu verlieren. Sind Sie noch dran, Frau Schock?«     »Ja, Herr Michels, ich bin noch da. Keine Angst, Sie sind nicht verwirrt oder so, ich bin wirklich am anderen Ende der Leitung. Waren Sie eigentlich schon öfter in Albany, also auch letztes Jahr? Meine Tochter erzählte mir, der Brief sei laut Zeitungsartikel auf August letzten Jahres datiert und Sie erzählten mir eben, dass Sie erst vor ein paar Wochen dort gewesen seien.«     Benjamin wähnte sich wieder unter Kontrolle und war beruhigt, dass er wohl doch noch im Besitz seiner geistigen Kräfte zu sein schien. So fasste er Zutrauen zu dieser ihm eigentlich völlig unbekannten Person. Er setzte sich auf die Couch und begann ihr die Geschichte zu erzählen. Seine Geschichte, wann er die Nachricht geschrieben, wie er die Flaschenpost erstellt hatte und natürlich, wie sie nach Australien gelangt war:

»Nein, Frau Schock, ich war tatsächlich erst vor zirka sechs Wochen in Albany. Doch den Brief habe ich bereits im letzten Jahr geschrieben, bevor ich im August nach Amerika geflogen bin. Den Brief an Johanna hatte ich damals schon im Gepäck.     Als ich auf der Hälfte meiner Tour auf Cape Cod eintraf, da wollte ich meine Message ins Meer werfen. Ich hatte mir diese Halbinsel unterhalb von Boston ausgesucht, da dort auch in Nicolas Sparks‘ Geschichte ‚So weit wie das Meer’ die Flaschenpost an den Strand gespült wurde. So wollte ich genau dort meine ins Meer werfen. Johanna und ich waren begeistert von Sparks’ Roman, so stand für uns fest, dass wir irgendwann einmal nach Cape Cod fahren wollten. Aber es kam nicht mehr dazu.     Ich fuhr hoch bis zur Spitze der Landzunge, bis nach Provincetown, doch ich fand und fand keinen geeigneten Küstenstreifen, an dem ich mir vorstellen konnte, meine Flasche ins Meer zu werfen. Es gibt tolle Strände da, doch die Küstenabschnitte waren mir einfach zu flach. Ich weiß noch, wo ich am Herring Cove Beach in Provincetown stand und die Flasche in der Hand hielt, um sie endlich ins Meer schleudern zu können. Doch auch hier war der wunderschöne Strand einfach zu seicht. Da es keine richtige Strömung ins Meer hinaus gab, hätte dies bedeutet, dass die Flaschenpost von der Brandung über kurz oder lang wieder an den Strand gespült worden wäre. Aber gerade das wollte ich ja eigentlich vermeiden. Von daher steckte sie bis zum letzten Tag meiner Amerikareise in meinem Rucksack.     Mich überkam schon ein komisches Gefühl, als ich in Gloucester, einem Fischerort nördlich von Bosten, vor der Entscheidung stand, die Flasche wieder mit nach Hause zu nehmen oder sie ins Meer zu werfen, auch auf die Gefahr, dass sie bereits eine Stunde später von irgendjemandem am Strand gefunden werden könnte. Es war der letzte Tag am Meer, da mich meine restliche Tour quer durch Massachusetts nach New York führen sollte. Ich kämpfte lange mit mir und entschied mich schließlich für die erste Alternative. Irgendwie sagte mir eine innere Stimme: ‚Benjamin, nimm sie ruhig wieder mit, du handelst richtig. Du wirst irgendwann, auf irgendeiner deiner Reisen einen Ort finden, der dich sofort anspricht! Du wirst diesen Ort auf Anhieb erkennen! Du wirst nicht unbedingt wissen warum, aber du wirst dort deiner Nachricht den richtigen Weg geben! Denn das wird der Ort sein, wo dein Herz sich meldet!’     Als ich eine Woche später im Lufthansa-Flieger saß und von New York nach Frankfurt flog, wusste ich, ich handelte richtig. Von irgendwoher bekam ich zwei Zeichen: Ich telefonierte vor dem Abflug mit meiner Mutter und sie erzählte mir, dass meine Schwester Ann-Kathrin heute ihre Zwillinge bekommen hatte, zwei Mädchen, und alle drei wohl auf seien. Es war der 31. August und somit Johannas Geburtstag – sie wäre 35 geworden. Als ich auf meinem Sitz Platz nahm und mein Ticket noch in der Hand hielt, musste ich vor Rührung weinen, da ich dies als einen außergewöhnlichen Zufall deutete. Als ich mir dann weniger zufällig den Durchschlag meines Tickets betrachtete, erschrak ich. Mein Blickerspähte die Ticketnummer und erkannte unvermittelt ein weiteres kleines Zeichen. Eine Buchstaben- und Zahlenfolge brachte mich plötzlich zum Lachen – 465WOLKE7DCS. Hanna und ich sprachen häufig davon, dass wir uns stets so fühlten, als würden wir auf Wolke 7 schweben. Und nun wurde mir bewusst, dass ich heute an Bord dieser Lufthansa-Maschine – und das gerade an Hannas Geburtstag – dieser besonderen Wolke sicher ganz nahe käme.     Nun, und in diesem Jahr bin ich dann, wie Sie bereits wissen, nach Australien geflogen. Natürlich begleitete mich die Flaschenpost in meinem Gepäck.     Albany lag auf meiner ersten Etappe, die mich durch Westaustralien führte. Als ich den Ort erreichte und mich umschaute, überkam mich gleich ein gutes Gefühl; dieser Ort hätte Johanna auch gefallen. Am nächsten Morgen fuhr ich ganz früh nach Bald Head hinaus - Sie wissen, die Halbinsel vor Albany. Ich stellte meinen Wagen an einer abgelegenen Stelle ab, schnappte mir meinen Rucksack und machte mich auf den Weg.     Nach einem Fußmarsch von einer halben Stunde erreichte ich die schroffe Steilküste. Die Gischt schäumte weiß an den Felsen. Langsam begab ich mich zum steil abfallenden Rand. Ich sah über den tiefen Abgrund hinaus und wusste, das ist er – das ist der richtige Ort!