Sunset - Jessie Cave - E-Book + Hörbuch

Sunset Hörbuch

Jessie Cave

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Beschreibung

Platz 1 der Sunday-Times-Bestellerliste  "Dieser Roman wird sie zum Lachen bringen, bevor er Ihnen das Herz bricht." COSMOPOLITAN    "Ein phänomenales Debüt." Dolly Alderton  Hannah und Ruth sind Schwestern – unzertrennlich, aber grundverschieden: Hannah ist zielstrebig und organisiert, Ruth chaotisch und planlos. Als Hannah während eines gemeinsamen Urlaubs bei einem tragischen Unfall ums Leben kommt, wird Ruth der Boden unter den Füßen weggerissen. Mit ihrer tiefen Trauer, ihren Erinnerungen und allem, was Hannah zurücklässt, ist sie plötzlich allein. Weil sie nicht loslassen kann, mietet sie einen Lagerraum für Hannahs Sachen. Als sie gemeinsam mit Hannahs Freund Rowan beginnt, aufzuräumen und zu sortieren, kommen die beiden sich näher und erfahren, dass aus tiefster Trauer auch Freude am eigenen Leben entstehen kann.

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Zeit:11 Std. 37 min

Sprecher:Dagmar Bittner

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aberthoud

Gut verbrachte Zeit

Für mich war das Buch sehr deprimierend keine Hoffnung auf irgend etwas ich habe es zuende gehört im Glauben es würde irgend wann eine gute Wende nehmen. Ich finde dieser Roman ist eine grosse Zumutung. Achtung Gefahr könnte depressiv machen.
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Jessie Cave

Sunset

Roman

Aus dem Englischen von Eva Kemper

Atlantik

Für Bebe

Vorspiel

Hand in Hand gehen wir einen Hügel hinauf. Oben auf der Kuppe steht unser Hotel. Ihre roten Haare fallen ihr als unordentlicher Zopf über den Rücken, und ihr Sommerkleid ist zu kurz und rutscht ständig hoch. Sie bemerkt es nicht, vielleicht ist es ihr auch egal, schließlich sind wir im Urlaub. Sie zieht mich mit, und so, wie mein Herz hämmert, bereue ich, dass ich das Schwimmen aufgegeben habe, genau wie alles andere. Ich wünschte, ich hätte ihre Disziplin, ihre Stärke. Die Riemen meiner rosa Flipflops schneiden seitlich in meine Füße, in eine frisch gelaufene Blase setzt sich Sand. Von dem Spaziergang am Strand heute schmerzen meine Waden. Ich bin so vollgefuttert mit Pizza, dass ich jammere, wir sollten uns setzen.

Auf einer grasbewachsenen Anhöhe verschnaufen wir, während die Sonne versinkt. Leuchtendes Pink und Orange überziehen den Himmel wie ein Gemälde. Sie zeigt auf die untergehende Sonne.

Sie: Gutes Timing –

Ich: Das habe ich so geplant.

Sie: Na los, weiter geht’s –

Ich: Hannah, ich kann nicht, bitte –

Sie: Klar kannst du –

Ich: Ich will noch bleiben und sehen, wie die Sonne untergeht –

Sie: Sie ist schon weg. Aber morgen kommt eine neue.

Lachend läuft sie ins Dunkel. Ich bleibe sitzen, ohne sie kann ich mich nicht bewegen, ohne sie will ich mich nicht bewegen. Sie kommt zurück. Natürlich kommt sie zurück.

***

Liste von schrägen Sachen, die ich in den letzten acht Monaten gemacht habe:

Meine Zunge ordentlich an einer Lasagne aus der Mikrowelle verbrannt und so wütend geworden, dass ich sie aus dem Fenster geworfen habe. Sie landete auf dem Wartehäuschen an der Bushaltestelle, wo tagelang Tauben an ihr herumgepickt haben.

Jeden Abend vor dem Schlafen Kaugummi an die Wand geklebt, weil ich mich nicht aufraffen konnte aufzustehen. Mit der Zeit ist ein Kaugummiberg gewachsen, an dem jetzt sechs tote Fliegen hängen.

Mitten in der Nacht die Zutaten für einen Möhrenkuchen gekauft, obwohl ich Möhrenkuchen nicht ausstehen kann. Ich habe versucht, ihn an Obdachlose zu verschenken, aber niemand wollte ihn haben.

In der Bettenabteilung von John Lewis eingeschlafen. Ich hatte einen furchtbaren Albtraum und bin schreiend aufgewacht, umringt von drei Verkäuferinnen und einem desinteressierten Polizisten.

Mehrere Sudokus in Zeitungen falsch ausgefüllt und unterschwellig aggressive und rätselhafte Botschaften danebengeschrieben wie ICHWEISSIMMERNOCH, WASDULETZTENSOMMERGETANHAST.

Zu Location, Location, Location mit einem teuren Vibrator, den ich meiner Schwester geklaut habe, masturbiert.

1

Heathrow Terminal 5

2019

Wir sind im Abflugbereich, und ich warte darauf, dass sie aufhört zu telefonieren. Sie spricht mit ihm, da bin ich sicher, weil sich ihre Mundwinkel kräuselten, als sie sah, wer anrief. Sie weiß, dass ich diese »verliebte« Version von ihr nervig finde, deshalb hat sie sich ein Stück weggeschlichen. Ich sehe sie mir an, wie sie da am Metallgeländer lehnt. Sie hat Mums Beine; ich habe Dads Oberschenkel. Einen Moment lang tue ich so, als wäre sie nicht meine Schwester, und überlege, ob ich sie hübsch finden würde, von hinten, auf den ersten Blick. Ich glaube, ja.

Ich stecke in einem alten grauen Jogginganzug von Adidas mit einer weiten Hose und trage keinen BH. Mein übliches Reiseoutfit. Meine Schwester hat einen kurzen braunen Rock angezogen, um mich zu ärgern. Auf Flügen trägt sie immer enge Röcke, und sie behauptet, sie würde sich nicht absichtlich sexy anziehen, nur um mich zu nerven, dabei macht sie das eindeutig. Dazu hat sie ein enges, geripptes weißes T-Shirt an und eine dünne graue Strumpfhose. Es ist noch ein bisschen zu früh, um den Urlaub zu ruinieren, deshalb sage ich nichts über ihren Aufzug. Ich werde einfach warten, bis wir an Bord gehen. Wenn wir uns gesetzt haben, wird sie sich verlegen umschauen und den obersten Knopf ihres Rocks aufmachen. Dann drehe ich mich zu ihr um und sage: »Warum hast du ihn für den Flug angezogen, wenn er unbequem ist?« Sie wird behaupten, er sei total bequem. Sie ist eine Lügnerin, aber ich ja auch.

Im Gegensatz zu ihr habe ich niemanden, mit dem ich telefonieren könnte, also hole ich uns Kaffee. Wir haben ein kleines Ritual entwickelt: Wir fahren früh zum Flughafen, setzen uns mit einem Kaffee hin und beobachten die Flieger. Sie lässt mich raten, wohin die Reise geht. Ich liege jedes Mal falsch und bin dann überrascht, weil es nie gerade billig ist. Sie besteht darauf, alles zu bezahlen, und ich protestiere, obwohl ich kein Geld habe. Sie beharrt, sie sei die große Schwester, sie würde schon Geld verdienen, und sie würde mich lieb haben. Warum sie mich lieb hat, weiß ich nicht – ich bin ein furchtbarer Mensch.

Letzte Nacht habe ich bei Hannah geschlafen. Sie hat ein Gästezimmer für mich, was ich nie benutze, ich schlafe immer bei ihr im Bett. Ich nahm ein Bad, während sie mir einen Artikel vorlas, den ich nicht verstand, auch wenn ich so tat als ob, dann stieg sie in die Wanne, und ich kletterte raus. Es ist eklig, aber sie fährt darauf ab, Wasser zu sparen. Ich habe mir ein Handtuch um Hüfte und Beine gewickelt, mich auf den Boden gelegt und Meerjungfrau gespielt. Niemand lacht so über mich wie sie, es ist, als hätte ich eine Superkraft, die nur bei ihr funktioniert.

Als Kinder haben wir uns manchmal als Meerjungfrauen verkleidet, indem wir beide Beine ins selbe Hosenbein unserer Schlafanzüge quetschten und uns in unserem Zimmer auf dem Boden wanden und wälzten, als wollten wir vor irgendwas fliehen. Ich glaube, es war eine Mischung aus Die kleine Meerjungfrau und einem Heist-Movie. Wir lachten darüber, unsere Eltern nicht unbedingt, aber wenigstens sahen sie uns mal eine Sekunde zu, bevor sie nach unten gingen und ihren Abend einläuteten. Vor gar nicht langer Zeit ist mir klar geworden, dass sie oft ausgegangen sind, sobald von uns nichts mehr zu hören war. Aber wir schliefen nicht, wir kicherten noch leise im Dunkeln und konnten nicht aufhören.

Als Erwachsene habe ich immer wieder Phasen, in denen ich etwa fünf Tage lang versuche, ein neuer Mensch zu werden, bevor ich mich langweile und es aufgebe. Dann gehe ich zu Hannah, krabble zu ihr ins Bett und lasse mir von ihr sagen, wie ich mich bessern und mein Leben wieder auf die Reihe kriegen kann: Wem ich nicht mehr schreiben soll, was ich essen soll, um mehr Energie zu haben, und welche Haarspülung ich benutzen soll. Mit sanften Strichen markiert sie die Stichpunkte in der Luft, und ich folge der Bewegung ihrer Finger.

Für ihr Alter hat sie eine viel zu schöne Wohnung in einem umgebauten Lagerhaus in King’s Cross. Sie ist vier Jahre älter als ich, und ich hoffe zwar, dass ich, wenn ich mich zusammenreiße, in ihrem Alter eine genauso hübsche Wohnung habe, aber ich bezweifle es doch sehr. Bei ihr sind Fotos gerahmt, nicht einfach an die Wand gepinnt oder geklebt. Sie hat Spiegel, damit die Zimmer größer wirken, sie hat Schallplatten, einen komischen Kaktus und einen Kamin mit echtem Holz, der mir Angst macht. Sie hat sogar eigene Lampen, richtig schicke mit ganz besonderen Glühbirnen, die man nur online bestellen kann, nicht so schäbige Funzeln von den Vormietern wie ich.

Meine Wohnung ist nur ein Viertel so groß wie Hannahs und liegt in der Nähe in der Caledonian Road. Sie hat früher der Gemeinde gehört, unsere Eltern haben sie in den neunziger Jahren gekauft, als sie etwas Geld übrig hatten – ihre einzige vernünftige Investition überhaupt –, und sie sollte sicherstellen, dass wir irgendwo wohnen könnten, wenn die beiden extrem reich und berühmt würden und keine Zeit hätten, um sich um ihre erwachsenen Töchter zu kümmern.

Ich mache mir nie Gedanken über Geld. Hannah schon. Sie plant und spart, ohne dabei pedantisch zu sein. Bis auf schicke Anzüge für die Arbeit leistet sie sich selten neue Kleidung. Sie kauft in Secondhandläden ein und spendet ihre Sachen an verdammte Secondhandläden und Obdachlose. Manchmal ziehe ich sie damit auf, sie wolle nur wohltätig wirken, dabei würde sie ein paar Tage später verkleidet wieder hingehen und ihre Klamotten zurückkaufen. Sie mag es nicht, wenn ich so etwas sage. Wenn es um moralische Integrität geht, haben wir eine sehr unterschiedliche Auffassungen von Humor.

Während sie in einem viel zu großen T-Shirt, das sie schon seit zehn Jahren trägt (dem verschossenen Shirt mit Betty Boop darauf, das früher unserer Mum gehört hat), selig schnarchte, saß ich unruhig im Bad und starrte auf ihre Unmenge an Tiegeln und Tuben. Aus Langeweile probierte ich ein paar von ihnen aus. Sie hat eine ganze Batterie an Pflegecremes und Styling-Gels, Seren und Spray für Locken, was ich witzig fand, weil ich weiß, dass ihre Haare von Natur aus ziemlich glatt sind. Als ich die Inhaltsstoffe einer Flasche mit der Aufschrift »Eternal Radiance Goddess Hair Oil« durchlas, fiel mir auf dem unteren linken Regalbrett ein Männerdeo auf. Es ist das erste Mal, dass einer ihrer Freunde eine Spur hinterlassen hat.

Unseren Kaffee bestelle ich bei Costa – der Barista sagt kein Wort, er dreht mir einfach das iPad zu, damit ich bezahle. Ich schaue zu seinem Kollegen hinüber, der ein Bild über die Stelle hängt, an der man Zucker, Süßstoff und diese kleinen Stäbchen bekommt, mit denen man sich an der Zunge wehtut. Es ist ein typisches Foto von London. Schwarz-weiß mit einem knallroten Briefkasten. Es ist sinnentleert und hässlich, trotzdem gefällt es mir irgendwie.

Ich setze mich und warte, während Hannahs entkoffeinierter Latte mit Hafermilch kalt wird. Für mich habe ich einen Caffè Mocha mit extra Espresso bestellt – die Erwachsenenversion eines heißen Kakaos. Ich nehme eine Serviette und fange an zu zeichnen. In der Kunsthochschule haben sie gesagt, ich sollte mal ein anderes Motiv als meine Schwester wählen, aber ich sagte, ich wolle es weiter versuchen, bis ich sie genau hinbekäme. Endlich beendet sie ihr Gespräch und setzt sich mir gegenüber hin – ich rechne schon damit, dass sie einen Blick auf meine Tasse wirft und wegen meiner Wahl schimpft. Zu viel Zucker, würde sie sagen und dann googeln, wie viel Gramm Zucker genau in einem großen Caffè Mocha von Costa mit extra Espresso stecken, weil ihr so etwas ehrlich Spaß macht. Aber sie tut es nicht. Stattdessen wirft sie einen Blick auf meine Kritzelei und strahlt, und dann nimmt sie mir den Stift ab und zeichnet mich auf einer anderen Serviette in weniger als einer Minute. Sie trifft mich perfekt, und es ärgert mich, wie leicht es ihr fällt.

Nach ihrem Telefonat frage ich nicht. Sie holt ein paar Plastikmappen heraus, in denen unsere Pässe, Bordkarten und Reiseversicherungen stecken, zusammen mit allem anderen, was wir brauchen. Sie bewahrt meinen Pass in ihrer Tasche auf, weil ich ihn einmal vor dem Boarding verloren habe und wir unseren Flug verpasst haben. Sie ist nicht böse geworden, und eine Stunde später haben wir ihn auf der Toilette wiedergefunden, aber seitdem vertraut sie ihn mir nicht mehr an. Bald müssen wir unsere Pässe erneuern lassen. Kurz nach diesem Urlaub laufen sie ab, und Hannah wird sie zu unseren anderen alten Pässen legen. Sie sammelt gerne Sachen.

Still und zufrieden sehen wir den Fliegern zu. Die Flughafengeräusche wirken auf mich gleichzeitig beruhigend und aufregend.

Sie: Ich brauche meine Bücher!

Sie mag Krimis. Wir gehen zu WHSmith, wo Popmusik läuft und Hannah summend mit dem Kopf wippt, Bücher in die Hand nimmt, die Klappentexte liest und sie wieder weglegt. Am Ende sucht sie zwei aus. Ich habe vergessen, das Buch über Philosophie mitzubringen, von dem ich seit sechs Monaten vorgebe, es zu lesen, aber ich würde wahrscheinlich eh keine Zeit dafür haben. Ich werde mich viel zu sehr amüsieren.

Sie geht zur Selbstbedienungskasse, um zu bezahlen, und ich will Süßigkeiten für den Flug dazulegen, eine Tüte saure Haribo. Mit spitzen Fingern hebt sie die Tüte auf, als wäre sie eine Maus, und lässt sie mich nicht kaufen. Sie holt demonstrativ eine große Tüte Mandeln aus ihrer Tragetasche.

Hannah: Die sind gesund, Vitamin E ist gut für deine Haut.

Ich: Vitamin E! Toll, danke.

Hannah: Irgendwann dankst du mir wirklich.

Ich bereue schon, dass ich kein T-Shirt und keinen BH trage. Ich schwitze wie eine Idiotin und weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, mich so warm anzuziehen. Warum habe ich kein T-Shirt genommen? Hannah streicht sich die Haare hinters Ohr, und ich sehe, dass sie die verblassten goldfarbenen Creolen trägt, die ich vor Jahren bei Claire’s für sie gekauft habe. Wir teilen eine Vorliebe für billige Creolen, die leicht angeschmutzt aussehen. Als sie sich bückt und die Bücher in eine Tasche steckt, starrt ein Mann auf ihren Hintern. Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, aber das stört ihn nicht. Neben Hannah fühle ich mich unsichtbar, das bin ich gewohnt.

Ich weiß, dass andere Leute uns als Schwestern erkennen, wenn sie uns zusammen sehen, weil unsere Gesichter, unsere Lippen und Augen sich ähneln, auch wenn ihre Züge ausgeprägter, voller, fertiger wirken. Wir haben sogar ähnliche Stimmen, allerdings klingt sie ein wenig höher und nasaler, was ich ihr gern unter die Nase reibe. Ich sehe aus wie die Schwester, die sich keine Mühe gibt. Manchmal kauft Hannah mir Kleidung und will mich dazu bringen, mich passender »für meine Figur« anzuziehen, aber dann beharre ich darauf, dass ich keine Figur habe. Ich bin schlank, aber trotzdem formlos. Ich binde meine straßenköterbraunen Haare neu zusammen, und eine Strähne bleibt an meiner verschwitzten Stirn kleben. Hannah dreht sich um und löst sie.

Sie: Hast du die Sonnencreme mit Faktor 50 eingepackt?

Ich nicke. In meiner Tasche steckt dieselbe Flasche wie bei unserem letzten Urlaub. Für den nächsten müssen wir uns eine neue besorgen, wahrscheinlich noch in diesem Jahr – falls Hannah dann noch nicht schwanger oder verheiratet ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich hoffe, dass sie es nicht ist. Sie braucht die Sonnenschutzcreme mehr als ich. Wenn wir nach Hause fahren, wird sie hundert Sommersprossen haben.

2

1999

Ich merkte plötzlich, dass ich keine Unterhose trug. Seit kurzem erlaubten Mum und Dad, dass Hannah allein mit mir zur Schule ging, sie war in der fünften Klasse, ich in der ersten. Es war ein sonniger, aber sehr windiger Tag. Ich wusste, dass wir spät dran waren und nicht noch mal nach Hause laufen konnten. Unter Tränen sagte ich, ich hätte Angst, ich würde auffallen und ausgeschimpft werden. Hannah zog mich hinter einen Baum, vergewisserte sich, dass uns niemand beobachtete, zog ihre Unterhose aus und gab sie mir. Ich zog sie an, sie war zu groß und mit lila Schmetterlingen bedruckt. Dann hielt ich mich am Riemen von Hannahs Rucksack fest (wir sagten »Leine« dazu), und sie rannte los und zog mich den ganzen Weg zur Schule mit sich. Ich kam mir vor wie auf der Kirmes.

Nach dem Unterricht wartete ich, bis sie mich abholte. Meist war ich als Letzte noch da, weil ihr Klassenzimmer auf der anderen Seite der Schule lag. Mit mir wartete eine Lehrerin, die ihre glänzenden schwarzen Haare mit einer weißen Strähne darin zu einem festen Dutt aufgesteckt hatte. An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern, aber ich weiß noch, dass sie jeden Tag denselben langen blauen Rock trug und nach Lavendelseife roch. Als ich Hannah entdeckte, wie sie auf mich zulief, breitete ich mit meiner Brotdose in der Hand die Arme aus, um ihr um den Hals zu fallen.

Sie: Ist sie runtergerutscht?

Ich: Wer?

Sie: Die Hose. Ist sie runtergerutscht?

Ich: Nein.

Sie: Gut. Ich habe mir totale Sorgen gemacht.

Wir sahen Zigarettenqualm und rochen Speck, als Mum mit ihrer schicken Sonnenbrille und einer Teetasse voll Wein in der Hand die Haustür öffnete. Die Sonnenbrille trug sie fast jeden Tag, und sie erzählte gern, sie habe sie in einem Laden gestohlen, als sie zwanzig war, und sie danach aus lauter schlechtem Gewissen jeden Tag getragen, damit es sich wenigstens gelohnt hatte.

Meine Eltern gaben eine ihrer Nachmittagspartys für Schauspieler, Autoren und Leute, die sich als Produzenten oder Casting-Agenten ausgaben. Menschen in grellen Hemden mit Flamingos darauf saßen auf dem Klavier oder lümmelten auf unserem Sofa herum. Ein Kopftuch meiner Mutter war über den Fernseher gebreitet, was mich wunderte – warum sollte man einen Fernseher verstecken? Ich war erst etwa sechs, aber als ich sie begrüßen musste, spürte ich, dass diese Menschen innerlich tot waren. Sie wollten nur die Anekdote von ihrem Vorsprechen weitererzählen und nicht von einem desinteressierten Kind unterbrochen werden.

Mum behielt uns nur unten, wenn wir vor ihren Gästen einen Auftritt hinlegen sollten. Hannah hatte immer viel eher Lust, ein Lied zu singen, als ich. Ich wurde nervös und sah ihr von der Treppe aus zu. Wenn sie ihre Pflicht erfüllt hatte, liefen wir schnell nach oben in unser Zimmer und bauten eine Deckenburg. Wir freuten uns, wenn sie Partys feierten, weil wir dann stundenlang spielen konnten und uns niemand ins Bett schickte.

Hannah erschuf für uns ein »Zauberreich« aus Bettlaken über Stühlen mit hohen Lehnen, die wir aus der Küche mopsten, und Kissenbergen in jeder Ecke. In diesem Reich erzählten wir Geschichten und hielten uns dabei eine Taschenlampe unters Kinn, damit unsere Gesichter verzerrt aussahen. Manchmal verließen wir auf Hannahs Geheiß hin die Burg, krabbelten wieder hinein und taten so, als wäre es jedes Mal ein anderes Land, ein exotischer fremder Ort voll aufregender Dinge, die Hannah mir mit lustigem Akzent beschrieb. Sie schaffte es, dass ich all das wirklich vor mir sah. Wenn wir schließlich ins Bett gingen und Dad hereinstolperte, um das Licht auszuschalten und betrunken gute Nacht zu brummeln, hatten wir ferne Länder bereist, hunderte Geschichten erzählt und kaum bemerkt, dass wir das Abendessen vergessen hatten.

Am nächsten Morgen schlief dann irgendein Mann oder ein exzentrisch gekleidetes Paar auf dem Sofa, während wir ein riesiges Frühstück verputzten – am liebsten zwei Schälchen mit einer Mischung aus Crunchy Nut Cornflakes und Coco Pops. Hannah räumte auf, ich zog Mums Kopftuch vom Fernseher und sah mir Zeichentrickserien an. Wenn wir ins Zimmer unserer Eltern sahen, um uns zu verabschieden, war Mum meist schon verschwunden. Dad schlief, bis wir aus der Schule kamen. Wenn wir ihn nach seinem Tag fragten, sagte er, er habe »nachgedacht«.

Nach der Oberstufe absolvierte ich ein Vorbereitungsjahr fürs Kunststudium. Die Aufnahme schaffte ich locker, weil ich ein paar von Hannahs großartigen Aktzeichnungen aus der Oberstufe in meine Bewerbungsmappe legte. Sie konnte besser zeichnen als ich und auch besser malen, wollte aber nichts Künstlerisches machen wie unsere Eltern. Ich hatte immer gute Ideen, aber ich wusste einfach nicht, wie ich sie umsetzen sollte, also ließ ich zu, dass sie verschwanden, dass ich sie vergaß. Wenn ich ihr spätabends von einer meiner Ideen erzählte, unterbrach sie mich manchmal, und ich musste mein Notizbuch und einen Stift holen.

Sie: Du vergisst es, wenn du es nicht aufschreibst.

Nach dem Vorbereitungsjahr, in dem ich mich offenbar hervorragend machte, begann ich hoffnungsvoll mein Kunststudium, aber warf mich bald selbst aus der Bahn. Ich war verrückt nach Jungs, die nicht verrückt nach mir waren. Nach reichen Jungs, die sich alle Mühe gaben, arm auszusehen, Hände und Gesicht mit Farbe verschmiert, Kohle unter den Fingernägeln. Anfangs war das genau der »Typ« für alle Mädchen an der Kunsthochschule, aber nach und nach mutierten sämtliche Jungs zu tragischen tätowierten Klonen voneinander, und die meisten Mädchen (die ihre Chancen, der nächste britische Kunststar zu werden, realistischer einschätzten) begriffen, dass es weder hygienisch noch ihrer Gesundheit zuträglich war, sich von einer dieser möchtegerngequälten Seelen fingern zu lassen. Sie brachen zu neuen Ufern auf. Ich blieb zurück.

3

Am Mittelmeer

Das Licht weckt mich früh. Ich entdecke sie am Fenster, sie zieht die Vorhänge auf und blickt aufs Meer. Schon jetzt ist sie geschminkt – ich sehe sie nie ohne ihren goldenen Eyeliner. Sie zieht ihre muntere morgendliche Yoganummer ab.

Ich: Das machst du nur, um mich zu nerven –

Sie: Nein, ich lade meine Seele mit Energie auf.

Ich: Deine Seele braucht keine Energie.

Sie: Komm, wir suchen uns ein hübsches Plätzchen –

Ich: Eine Stunde noch, bitte –

Sie: Du musst nur deinen Badeanzug anziehen und vor die Tür gehen –

Ich bin noch nicht bereit, das Zimmer zu verlassen. Ein Weilchen möchte ich noch im Bett bleiben, mir Zeit lassen. Im Gegensatz zu ihr bin ich kein Morgenmensch. Bevor sie geht, zieht sie für mich die Vorhänge zu und streichelt mir über die Wange.

Ich schlafe wieder ein, und als ich aufwache, bin ich unruhig und will sofort zu ihr. Auf dem Weg zum Strand, den großen Hügel hinunter, schicke ich ihr ein paar Emojis. Sie wird verstehen, dass ich damit sagen will: »Tut mir leid, dass ich so lang geschlafen habe.« Kurz darauf antwortet sie mit Emojis, die heißen sollen: »Keine Sorge.« Sie ist echt unverschämt fröhlich, seit sie ihn kennengelernt hat, sogar, wenn sie Nachrichten schreibt.

Am Hang fallen mir schöne Blumen auf. Sie leuchten rosa und rot; alles hier wirkt bunter. Ich hocke mich hin und schnuppere, aber die salzige Meeresluft überdeckt alles. Es wäre mir peinlich, wenn jemand bemerken würde, dass ich an Blumen rieche, also stehe ich auf und suche den Strand weiter unten ab.

Sofort entdecke ich sie, sie trägt ihren purpurrosa Badeanzug, der eine Nummer zu klein ist, sodass ihr Po ein wenig hervorlugt. Sie legt gerade ein Handtuch auf einen Liegestuhl. Es kommt mir vor, als müsste ich dringend ihren Namen rufen, also tue ich es, obwohl ich bezweifle, dass sie mich von hier oben hört.

Ich: HANNAH!!!!

Aber sie hört mich. Sie blickt auf und winkt. Ich winke zurück, und einen Moment lang stehen wir da, winken albern und lachen. Als ich die Stühle erreiche, die sie für uns ausgesucht hat, dreht sie mir den Rücken zu. Das ist für mich das Zeichen, sie mit der Sonnenschutzcreme einzusprühen.

Sie: Gut geschlafen?

Ich: Ich weiß nicht, was los war, tut mir leid. Ich habe komisches Zeug geträumt.

Sie: Das ist immer so, wenn man noch mal einschläft.

Ich: Hast du dich ohne mich gelangweilt?

Sie: Nein. Ich habe einen netten kleinen Spaziergang gemacht. Siehst du die Leute, die da hinten von der Klippe springen?

Sie zeigt auf eine hohe Klippe rechts von uns. Als ich hinüberschaue, springt gerade ein kleiner Mensch herunter, so winzig, als würde eine Lego-Figur vom Tisch purzeln.

Sie: Lass uns das auch machen!

Ich: Was?

Sie: Was die anderen machen, sieh mal –

Ich: Ich spring doch nicht von einer blöden Klippe – bist du irre?

Ich kaufe einen dieser kleinen Eiskaffees in einem winzigen Plastikbecher, die man nur am Strand bekommt. Er ist absolut köstlich.

Sie: Du solltest nicht nur von Zucker und Koffein leben.

Ich: Hast du so einen Kaffee denn schon mal probiert?

Ich überrede sie, daran zu nippen. Sie lächelt.

Sie: Na gut, vorhin habe ich auch einen getrunken. Sie sind großartig.

Ich: Zehn davon wären meine letzte Mahlzeit in der Todeszelle.

Sie: Du denkst zu oft über deine letzte Mahlzeit in der Todeszelle nach.

Sie steht auf und läuft zum Wasser. Ich grabe mit den Händen ein Loch in den Sand, lege unsere Handys in dem kleinen Plastikbeutel, in dem wir am Flughafen unsere Waschsachen verstaut haben, hinein und schütte das Loch zu. Unser provisorischer Safe. Ich laufe zu ihr, dann schwimmen wir zusammen raus. Ich schlucke Meerwasser und huste. Sie nimmt mich huckepack und stellt sich auf einen Felsen, bis ich mich erholt habe. Als wir um die Wette zu der Boje schwimmen, die fünfundzwanzig Meter weiter auf den Wellen schaukelt, sehen wir eine Qualle. Zum ersten Mal bin ich schneller als sie.

Ich: Hast du mich gewinnen lassen?

Sie: Vielleicht.

Ich: Warum bist du so nett? Das macht mir Angst.

Sie: Bin ich gar nicht –

Ich: Doch, bist du.

Sie spritzt mit Wasser, damit ich still bin, dann erzählt sie mir was mäßig Interessantes über Quallen – »Wusstest du, dass Quallen ihren Mund in der Mitte des Körpers haben?« –, und ich äffe sie mit oberschlauer Stimme nach. Sie verliert ihre Sonnenbrille im Wasser. Wir suchen nach ihr, haben aber beide kein Glück. Normalerweise regt sie sich über so etwas furchtbar auf, sie kann es nicht ausstehen, Dinge zu verlieren, aber heute lässt sie sich davon nicht die Laune verderben. Wieder blickt sie zu der Klippe hinüber, als würde die ihren Namen rufen.

Wir schwimmen zurück zum Ufer. Sie summt dieses Lied, das sie ständig summt und dessen Titel ich nicht kenne. Typisch schief summe ich mit. Am Strand dösen Leute selbstvergessen in der Sonne und verbrutzeln. Ich sehe mir an, was sie lesen; drei Frauen haben das gleiche Buch dabei.

Hannah legt mir die Hände auf die Schultern und sieht mich ungewohnt durchdringend an. Die Sonne lässt den Hauch Grün, den sie in ihren Augen immer sehen will (während ich behaupte, sie seien schlicht blau), wunderschön aufscheinen. Sie sieht aus wie eine Göttin. In diesem Moment würde ich sie hassen, wenn ich sie nicht so sehr lieben würde.

Sie: Ich muss dich etwas fragen, aber du kannst problemlos nein sagen, das wäre völlig in Ordnung.

Ich: O Gott, was ist los?

Sie: Na ja … ich habe überlegt, ob es dir was ausmachen würde – werde bitte nicht sauer –, wenn Rowan herkäme.

Ich: Was soll denn der Scheiß?

Sie: Ich würde es wirklich verstehen, wenn du dagegen wärst …

Ich: »Was soll denn der Scheiß?« legt schon irgendwie nahe, dass ich dagegen bin, oder?

Sie: Aber kannst du darüber nachdenken? Bitte?

Sie lässt mich los und lächelt. Sie wirkt ein wenig angespannt; es ist ihr wichtig, dass ich einwillige. Diese Machtverschiebung gefällt mir. Aber ich ertrage schon die Vorstellung nicht, wie die beiden vor meinen Augen herumturteln, wie sie auf seinem Schoß sitzt, wie sie sich aus Höflichkeit nur keusch küssen, und dann das Getuschel in ihrer geheimen Sprache – allein der Gedanke daran macht mich rasend.

Ich: Nein. Ich will mich nicht verbiegen müssen, damit er mich mag –

Sie: Er mag dich doch schon –

Verärgert lasse ich mich in den Sand fallen. Sie setzt sich neben mich und legt mir eine Hand auf die Knie, die neben ihren knochig wirken.

Sie: Es ist nur so – er ist schon unterwegs. Es tut mir echt leid, ich dachte wirklich, du hättest nichts dagegen. Im Moment scheint es dir richtig gutzugehen –

Ich: Was soll das denn heißen? »Im Moment«?

Ich werde zu schnell wütend.

Sie: Bitte! Wir haben noch den ganzen Tag für uns allein. Wir können irgendwo was essen und einen Spaziergang machen oder so. Ich kaufe dir was.

Sie beißt sich auf die Unterlippe.

Ich: Nicht nur was, sondern viel.

Sie: Heißt das ja? Das heißt ja.

Ich: Ich brauche was zu essen.

Sie: Wusste ich’s doch, ich hätte nicht fragen sollen, wenn du hungrig bist –

Ich: Wir wissen beide, dass du überhaupt nicht richtig gefragt hast, Miststück.

Mit einem Freudenschrei umarmt sie mich. Dann schlendern wir am Ufer entlang. Sie zeigt unauffällig auf eine große brünette Frau. Ihr Körper mit perfekter Wespentaille sieht aus, als wäre er für ihren neonpinken Bikini modelliert worden. Sie ist braun gebrannt und hat muskulöse Oberschenkel und einen so runden Hintern, dass sie als Kardashian durchgehen würde. Sogar vom anderen Ende des Strands aus starren die Männer sie an. Hannah und ich bleiben stehen und starren auch.

Sie: Ich tue nicht genug für meinen Hintern.

Ich: Du hast schon genug zu tun –

Sie: Aber ich bin dreißig. Ich muss mir angewöhnen, mehr Lunges zu machen.

Ich: Du bist noch keine dreißig –

Sie: Aber fast, und das ist im Grunde dasselbe.

Ich: Stimmt. O Gott, ich kann mir nicht vorstellen, so alt zu sein.

Sie: Wirst du aber. Also musst du dein Leben auf die Kette kriegen, in Ordnung –

Ich: Für Motivationsreden ist es zu früh –

Sie: Und ich trainiere mir einen Hintern wie diese Frau an.

Mit großen Ausfallschritten geht sie durch den Sand, was wirklich albern aussieht. Ich stelle mir vor, wie es mit einer Schwester wäre, mit der man über Philosophie und Politik diskutieren und ernsthafte Gespräche über das Ende der Welt führen könnte. Bestimmt ist sie bestens gerüstet, um mit anderen solchen Debatten zu führen. Bei mir dagegen zeigt sie ihr wahres Selbst. Meine Hannah mag schlechtes Reality-TV, tratscht gerne über Promis und weiß genau, wie viele Kalorien Twix, KitKat, Twirl und Marsriegel haben. Ich bin gern diejenige, mit der sie sich über Marsriegel unterhält.

Als die Frau mit dem hübschen Hintern ins Meer watet und Selfies macht, gehen wir mit normalen Schritten weiter. Hannah wirft einen Blick auf ihr Handy und seufzt.

Sie: Solche Gefühle hatte ich noch nie für jemanden –

O doch, das hatte sie, auf jeden Fall. Sie lässt sich mitreißen und vergisst, dass ihr das schon neunzehn oder zwanzig Mal passiert ist. Aber es stört mich nicht, wenn sie ihre Geschichte neu schreibt.

Sie: Ehrlich, dieses Mal ist es anders. Ich liebe ihn.

Ich: Die anderen hast du auch geliebt –

Sie: Aber er ist wirklich was Besonderes. Er ist verletzlich und lieb. Er ist kreativ, schreibt sofort zurück, hat einen großen –

Ich: Von Brian hast du auch gesagt, dass er »verletzlich und lieb« war, und Francis hatte auch einen großen –

Sie: Ja, aber da wusste ich nicht, dass seiner tatsächlich Durchschnitt war, richtig Durchschnitt –

Ich: Du hast gesagt –

Sie: Nein, Ruth, dieses Mal glaube ich echt, das ist es. Ich werde nicht weiter suchen. Er ist der Richtige.

Ich: So was wie den Richtigen gibt es nicht, hast du gesagt –

Sie: Ich weiß, ich weiß. Aber jetzt habe ich den Richtigen für mich getroffen, ich bin mir ganz sicher.

Ich: Herrje.

Wieder zeigt sie zur Klippe hinüber, und wir sehen, wie die Leute springen, einer nach dem anderen, manche paarweise Hand in Hand. Im Fallen werden sie getrennt.

Sie: Ich habe Lust auf eine Herausforderung.

Die Klippe könnte man gut zeichnen. Mir gefallen die sandige Farbe des Gesteins und die kleinen Fleckchen Gras und Blumen; sie sieht schon fast aus wie ein Gemälde. Bei dieser Reise war mein Plan, jeden Tag ein Bild zu malen. Hannah nimmt meine Hand.

Sie: Komm schon. Sei nicht langweilig.

»Langweilig« ist ein Reizwort für mich, das weiß sie. Damit hat sie gewonnen. Wir gehen zu unseren Liegestühlen zurück und buddeln unsere Handys aus. Als ich den Sand aus meiner Handyhülle schüttele, drehe ich mich um und will ihr sagen, dass ich einen Bärenhunger habe – aber sie telefoniert schon. An ihrem Gang erkenne ich, dass sie ihm sagt, ich hätte ihrer Romanze grünes Licht gegeben.

Ich besorge mir noch einen winzigen Kaffee und trinke ihn, bevor sie schimpfen kann. Sie geht schnell und schaut dabei aufs Meer. Ich versuche, sie einzuholen, aber es hat keinen Sinn. Sie ist schon zu weit entfernt.

4

Auf dem Weg die Klippe hinauf fängt die Blase an meinem Fuß an, richtig zu zwirbeln. Ich muss nachher eine Apotheke suchen. Als wir oben ankommen, fühle ich mich schwach und schwindlig und muss mich setzen. Mir fällt ein verblasstes Schild auf, an das jemand seine Tasche gehängt hat. Es steht windschief, als hätte jemand dagegen geschlagen. Der italienische Text darauf interessiert mich nicht genug, um ihn mit Google zu übersetzen.

Eine nasse junge Frau in einem Badeanzug geht zu dem Schild und macht davor ungeniert ein Foto mit einem Selfiestick. An ihrer Wade klebt etwas Seetang. Hannah wirft einen Blick über den Rand der Klippe und weicht zurück. Sie hat Angst. Mir wird klar, dass meine Chance gekommen ist, sie hier wegzulotsen, mit ihr etwas essen zu gehen, zurück in unser hübsches klimatisiertes Zimmer, weit weg von den Selfiesticks.

Ich: Bitte – lass uns einfach gehen, Hannah. Das ist zu riskant …

Sie: Risiken sind etwas Gutes.

Sie beobachtet die Leute, die sich auf den Sprung vorbereiten. Während ihr Wetteifer zutage tritt, flackert mein Spielverderberinstinkt auf.

Ich: Wir könnten auf einen Felsen fallen –

Sie: Sind die anderen auch nicht. Ein paar sind schon zwei- oder dreimal gesprungen. Ich habe die Klippe den ganzen Vormittag beobachtet –

Ich: Ich mache den Mist jedenfalls nicht mit. Auf keinen Fall.

Sie: Ruth! Bleib mal locker. Es klappt schon alles.

Sie nimmt mich in die Arme. Ich liebe es, ich liebe sie, und ich habe sie heute Morgen mit meiner Faulheit enttäuscht. Ich enttäusche sie viel zu oft.

Hannah fängt an, den Hampelmann zu machen. Als sie so herumhüpft, erinnert sie mich an die leicht durchgeknallte Hannah mit Anfang zwanzig. Es gefällt mir. So habe ich sie nicht mehr gesehen, seit ein Typ mit ihr Schluss gemacht hat, der aussah wie Brian von den Backstreet Boys. Danach ist sie eine Zeit lang nachts oben im Doppeldeckerbus durch die Gegend gefahren, mit dem Kopf zwischen den Knien. Ich streichelte ihr dann den Rücken, schaute aus dem Fenster und war froh, dass ich bei ihr im Nachtbus war und nicht da draußen.

Sie trinkt einen Schluck aus dem öffentlichen Wasserbrunnen, was mich überrascht, weil sie sich normalerweise mit Keimen furchtbar anstellt, und wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Mit ihren geröteten Wangen, auf denen sich schon die ersten Sommersprossen zeigen, sieht sie plötzlich ganz jung aus.

Sie: Komm mit! Scheiß drauf! Denk an das Foto!

Ich: Wir machen keine Fotos.

Sie: Alle machen ein Foto, von da unten. Siehst du?

Sie deutet auf einen Vorsprung gleich unterhalb der Klippenkante. Jemand nimmt gerade seine Freundin mitten im Sprung auf. Sie landet im Wasser und winkt ihm, als er noch ein Foto schießt. Wie wäre mein Leben wohl bisher gewesen, wenn ich der Typ Mädchen für einen Freund wäre? Wie würde Hannahs Leben jetzt aussehen, wenn sie es nicht wäre?

Jetzt macht sie seitliche Dehnübungen, als wollte sie gleich an einem olympischen Sprint teilnehmen. Ich schmecke Salz. Es erinnert mich an unsere Mum, die immer einen kleinen Salzstreuer in ihrer Handtasche hatte, weil sie alles »supersupersalzig« mochte. Wenn sie das sagte, klang sie wie ein mäkeliges Kind. In ihren extrem abergläubischen Schauspielereiphasen warf sie sich Salz über die linke Schulter, wenn sie auf der Straße eine Elster sah. Einmal bekam ich es ins Auge.

Die Frau, die gerade gesprungen ist, läuft den felsigen Weg zu ihrem Freund hinauf. Sie küssen sich, dann sehen sie sich nach jemandem um, der sie zusammen fotografiert. Sie fragen Hannah, weil sie ansprechbarer wirkt als ich; es sieht so aus, als könnten sie und diese Frau mit ihrem ähnlichen Badeanzug und dem festen Freund sich gut verstehen. Hannah macht ein Foto von dem Pärchen, das nach dem gewagten Sprung noch ganz aufgedreht ist, und dann noch eines und noch eines, damit sie eine Auswahl haben. Die drei unterhalten sich auf Italienisch, was mich daran erinnert, dass meine Schwester fünf Sprachen mehr oder weniger gut spricht. Zwar nur mit einfachem Vokabular, aber dafür hat sie ein Talent zum Improvisieren.

Sie: Du zuerst? Oder ich?

Es geschieht, und ich kann es nicht aufhalten. Koffein und Zucker erreichen den perfekten Pegel in meinen Blutbahnen, und mit einem Schlag fühle ich mich, als könnte ich einen Marathon laufen oder vielleicht einen Halbmarathon. Ich bin nicht langweilig, ich kann das, ich schaffe das.

Ich: Ich springe zuerst. Aber ich will kein Foto von mir –

Sie: Du siehst doch so hübsch aus –

Ich: Ich will einfach keines, in Ordnung?

Sie: In Ordnung.

Ich bin bissig, hungrig und ängstlich, eine scheußliche Kombination. Am Rand der Klippe breite ich die Arme aus und spüre die Sonne auf meinem Gesicht. Ich winke Hannah zu, und einen Moment lang fühle ich mich tatsächlich hübsch, weil sie gesagt hat, ich sei es. Als ich springe, ruft sie –

Sie: LOS, RUTHIE!

Ich freue mich immer, wenn sie mich so nennt, auch wenn ich so tue, als könnte ich es nicht ausstehen, weil ich nicht kindisch wirken will. In der Luft denke ich an Donuts, keine Ahnung, warum. Der Zucker in mir ruft nach mehr. Wenn Hannah gesprungen ist, sollten wir einen Laden suchen, der Donuts verkauft. Sie wird keinen nehmen, aber mich einen essen lassen, weil ich damit einverstanden bin, dass ihr blöder Freund den Urlaub mit uns verbringt und uns die gemeinsame Zeit stiehlt.

Dann stürze ich ins Wasser und empfinde nichts dabei. Ich bin nicht euphorisch, nicht einmal aufgekratzt. Ich fühle mich bloß, als wäre ich gerade von einer Klippe gesprungen. Unter Wasser versuche ich, die Augen zu öffnen, aber ich tauche zu schnell auf. Sofort höre ich Hannah rufen.

Sie: DUHASTESGESCHAFFT!

Keuchend und nass beeile ich mich, wieder die Klippe hinaufzukommen. Oben drückt Hannah mich an sich und hüpft mit mir auf und ab. Ich kann die Sonnencreme riechen, mit der sie sich gerade das Gesicht eingecremt hat. Eine Stelle hat sie ausgelassen, und ich verreibe die Creme richtig. Sie gibt mir unsere Handys und den kleinen Plastikbeutel.

Sie: Du warst klasse! Richtig großartig!

Ich: Na los, du bist dran, Miststück.

Sie: Ich habe es mir anders überlegt. Ich habe dich springen sehen, das reicht mir –

Ich: Was? Du hast mich doch überredet!

Sie: Du wolltest es selbst! Es hat bei dir so leicht ausgesehen! Lass uns einfach –

Ich: Du wolltest hierher. Jetzt springst du auch. Los.

Sie: Gehen wir lieber was essen –

Ich: Danach. Mach schon. Das ist unfair.

Sie: Na gut. Na gut. Gott, warum habe ich so eine Angst? Na schön. Wehe, das Foto wird nicht verdammt gut. Mach gleich ein paar –

Ich: Beeil dich, ich habe Hunger.

Sie will mich umarmen, aber ich schiebe sie zurück und zeige auf den Rand der Klippe.

Ich: Los jetzt, hör auf, Zeit zu schinden.

Sie macht noch ein paar alberne Dehnübungen, während ich zu dem Vorsprung gehe, um Fotos zu schießen. Ich winke.

Sie: Hab dich lieb!

Ich: Hab dich auch lieb, Dummerchen. Jetzt spring!

Sie streicht ihre Haare zurück und wirft mir einen Kuss zu.

Dann springt sie. Eine Sekunde lang scheint sie in der Luft zu schweben. Ich mache ein Foto. Sie lächelt, sie fliegt.

Sie knallt ins Wasser. Voll Freude warte ich darauf, dass sie auftaucht. Das Foto, das ich von ihr gemacht habe, sieht perfekt aus, sie wird begeistert sein. Jetzt können wir zum Hotel zurückgehen, ich kann einen Donut essen und den restlichen Tag genießen. Ich erinnere mich an Rowan, und meine Freude wird zu Ärger, weil er schon bald ankommt. Warum können wir nicht allein bleiben?

Vor lauter Ärger fällt mir nicht auf, wie lange sie unter Wasser ist.

5

2018

Als es zu offensichtlich wurde, dass ich ihren neuen Freund nicht kennenlernen wollte, legte sie mich eines Tages rein.

Beim Aufwachen erwartete mich schon eine herablassende Benachrichtigung auf dem Handy, dass meine fruchtbaren Tage nicht richtig zu bestimmen waren, weil ich irgendeine entscheidende Information über meine Vagina nicht in die App eingegeben hatte. Eigentlich ging es mir gar nicht darum, wann ich fruchtbar war, ich wollte nur wissen, an welchen Tagen ich ungeschützt Sex haben konnte. Die Pille wollte ich nicht nehmen, weil Hannah davon zu einer echten Furie geworden war, und gegen Kondome hege ich eine tiefe Abneigung.

Ich bin zu unsicher, um einen Mann zu bitten, ein Kondom zu benutzen; sonst fragt er sich noch in der Zeit, wenn er das Kondom sucht und überstreift, warum er überhaupt mit mir schlafen will. Falls ich mal wieder länger keinen Sex hatte, vergaß ich die App, und die sporadischen Benachrichtigungen schienen mich zu verspotten.

Es war früh am Morgen, mein Hals war steif, und als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, merkte ich schnell, dass ich nicht in meiner Wohnung war. Ich musste schleunigst verschwinden, bevor der Mann neben mir wach wurde. Er hatte mich die ganze Nacht lang umarmt, und wäre er aufgewacht, wäre ihm diese Nähe peinlich gewesen, und er hätte auf Sex gedrängt, grob und von hinten, um so etwas wie Macht wiederzuerlangen. Möglichst sanft nahm ich meinen BH unter seinem Fuß weg und zog mich an. Als ich die Tür öffnete, warf ich ihm einen letzten Blick zu. Er zuckte und öffnete kurz die Augen, dann stellte er sich schlafend. Ich war gleichzeitig beleidigt und erleichtert.

Diesen Typen – Alexis – hatte ich ein paar Wochen vorher auf Tinder kennengelernt. Alexis stand auf Würgespiele, und der Einfachheit halber gab ich vor, es auch zu tun. Er war sehr höflich und hatte einen großen Schwanz, eine relativ neue Erfahrung für mich. Es war nicht gerade ein Genuss und tat sogar ziemlich weh, deshalb nahm ich es einfach als nächtliches Training, als etwas, das sich am Ende vielleicht lohnen würde. Weil er über einem Starbucks wohnte, holte ich mir zum Frühstück immer einen Frappuccino. Dieses Treffen war das vierte und wahrscheinlich letzte. Wir hatten eine stillschweigende Übereinkunft, es bei weniger als fünf zu belassen.

Beschämt darüber, wie gefügig ich manchmal war, verließ ich das Haus. Ich überlegte, wie viele Tinder-Dates er wohl jede Woche würgte, wie viele Frauen morgens um zwei für einen fünfminütigen Blowjob vorbeikamen. Wahrscheinlich heiratet Alexis irgendwann und wird Vater. Wird er dann seine Frau »zum Spaß« würgen, während das Baby neben ihnen in seinem Bettchen schläft?

Für mich wäre ein Baby nichts. Hannah war schon immer bereit für ein Kind, sie hat genug Erfahrung dabei gesammelt, sich um mich zu kümmern. Seit Jahren zeigte sie mir jedes Baby, an dem wir vorbeikamen, als wüsste sie, dass mir dieser natürliche Instinkt fehlte, und wollte ihn in mir wecken.

Ich: Ich werde einfach die schräge Tante für deine Kinder, das würde mir gefallen.

Sie: Ein Kind könnte dir helfen, mehr –

Ich: Wie alle anderen zu sein? Normal? Ha. Leck mich.

Sie: Du weißt, was ich meine.

Ich: Wer würde mit mir ein Kind bekommen wollen? Die Männer wollen nicht mal, dass ich über Nacht bleibe.

Sie: Mein Gott, das ist zu traurig.

Ich: Ich bin gern allein –

Sie: Nein, bist du nicht, du bist ständig bei mir. Es gibt auch gute Männer, weißt du.

Ich: Du glaubst, dein Freund wäre einer von den Guten, aber vielleicht ist er das gar nicht.

Sie: Du musst ihn erst mal kennenlernen. Bitte.

Den Menschen, an den ich möglicherweise meine Schwester verliere? Nein, den wollte ich wirklich nicht kennenlernen.

Hannah wollte mit mir vor der Arbeit frühstücken, deshalb nahm ich meinen Frappuccino und marschierte von Alexis’ Wohnung in Farringdon aus los. Wir trafen uns im Pret a Manger in der Old Street, einem der schickeren Sandwichläden. Als ich ankam, war sie schon da, trank einen Latte mit Kokosmilch und aß aus einem winzigen Schüsselchen Müsli mit Joghurt. In ihrem scharlachroten Power-Suit sah sie umwerfend aus. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Power-Suit war, aber auf jeden Fall wirkte sie damit total professionell. Sie hatte einen anständigen Job, wobei mir schleierhaft war, was sie machte – es war irgendwas im Bereich Wirtschaft, sie trug eine Schlüsselkarte um den Hals und fuhr manchmal zu Tagungen nach Deutschland.

Sie hatte ein eigenes Büro, das ich nur einmal betreten durfte. Es war auffällig schmucklos, ohne jede persönliche Note von Hannah. Wahrscheinlich, weil sie bei der Arbeit nicht wirklich sie selbst war; ihr Herz hing daran, Menschen zu helfen, und das machte sie bei ihrer zweiten Tätigkeit, ihrer Berufung – PaperbackKids. Schon an der Uni hat sie diese Wohltätigkeitsorganisation für Kinder gegründet, aber es fehlten ihr immer noch Geld und Einfluss, um sie in Vollzeit zu betreiben. Das gehörte zu ihrem hochgepriesenen Fünfjahresplan, danach wollte sie sich mit ganzem Schwung auf die Philanthropie stürzen. Über ihre wohltätigen Ambitionen durfte ich keine Witze machen.

In ihrem Büro hing ein gerahmtes Foto von ihrem geliebten Bill Gates. Sie fand es toll, dass er immer eine große Tasche Bücher mit sich herumschleppte, deshalb versuchte sie das auch. Anfangs waren in ihrer Tasche Wirtschaftstitel, aber nach und nach ersetzte Hannah sie durch Kinderbücher. Ein paarmal war ich dabei, als Hannah in der U-Bahn ein Kind sah und ein Buch auf ihren Sitz legte, bevor wir ausstiegen. Ich nannte sie eine »verkappte Mary Poppins«. Wenn die U-Bahn davonrauschte, standen wir auf dem Bahnsteig und beobachteten, wie das Kind nach dem Buch griff.

In ihrem Büro in der City war Hannah stiller und lächelte weniger. An dem Tag, an dem ich sie besuchte, trug ich meinen Jogginganzug von Adidas, wahrscheinlich hat sie mich deshalb nie wieder eingeladen. Sie behauptete fest, daran habe es nicht gelegen, Besucher seien wegen der Sicherheitsrisiken eigentlich generell verboten, aber ich wusste, dass sie log. Einmal versuchte ich, mich richtig in Schale zu werfen mit einem ihrer Hosenanzüge und ihren hochhackigen Schuhen, die mir zu groß waren, und fing sie ohne Vorwarnung vor dem Bürogebäude ab, als sie zum Mittagessen gehen wollte. Sie fand es sehr witzig, hielt aber an ihrer Lüge fest und ließ mich nicht hinein. Mit den Schuhen in der Hand ging ich auf Socken nach Hause und kam mir ziemlich albern vor.

Sie holte für mich auch eine Tasse Kaffee und ein Schälchen Müsli mit Joghurt. Von meinem Frappuccino erzählte ich ihr nichts. Ich beobachtete, wie sie sich lebhaft mit einem Barista mit gepierctem Kinn unterhielt. Sie hatte ein echtes Talent für banalen Smalltalk, egal, mit wem. Rowan kam herein, ich erkannte ihn, weil ich ihn online gestalkt und Hannah mir verlegen ein paar Fotos gezeigt hatte. Er schlich sich zu ihr und streichelte ihr über den Rücken. Ohne sich umzudrehen – sie plauderte immer noch über belangloses Zeug –, griff sie hinter sich und drückte seine Hand, und die Geste wirkte so vertraut und intim, dass ich plötzlich verlegen wurde. Er nahm den Kaffee und das Müsli, schaute sich um und bemerkte, dass ich ihn beobachtete.

Er: Ruthie?

Ich: Ja. Na ja. Ruth.

Er: Sie nennt dich immer Ruthie, tut mir leid –

Ich: Ist schon gut.

Ich wollte mir ein Lächeln abringen, aber ich war widerlich angespannt, und es ging mir quer runter, wie gut er aussah. Braune Haut, schwarze Locken, komplett in Blautöne gekleidet. Die Skinny Jeans hochgekrempelt, damit man seine weißen Sportsocken und die schwarzen Converse sehen konnte. Sein T-Shirt war eingelaufen, der Bund seiner Boxershorts lugte hervor. Er streckte mir die Hand entgegen, und ich schüttelte sie absichtlich schlaff. Hannah kam zu uns.

Sie: Tut mir echt leid. Ich weiß, du bist jetzt wütend –

Ich: Bin ich nicht –

Sie: Aber ich wollte einfach, dass ihr euch kennenlernt.

Ich war tatsächlich wütend, weil sie mich reingelegt hatte, versuchte aber, fröhlich zu klingen. Rowan küsste sie, und sie erwiderte den Kuss und schielte dabei mit einem Auge zu mir. Er musterte sie von oben bis unten.

Er: Ich habe dich noch nie in einem Anzug gesehen –

Sie: Ach Gott, ich weiß. Ich muss heute Investoren ein Projekt vorstellen und dafür – professionell aussehen.

Er: Ich find’s toll.

Sie wurde rot. Auf ihrer Oberlippe formten sich Schweißperlchen. An der verwischten leicht orangefarbenen Linie an ihrem Kinn sah ich, dass sie mehr Foundation als sonst trug. Ihren goldumrandeten Augen merkte man an, wie aufgedreht sie war, ihr Blick huschte zwischen ihm und mir hin und her. Sie wünschte sich so sehr, dass wir uns gut verstanden.

Er: Und, was machst du, Ruth?

Ich: Ähmmm … na ja, ich …

Sie: Sie sucht ihren Weg.

Hannah sagte oft, »meinen Weg zu finden« sei meine Arbeit. Es brachte mich immer auf die Palme. Ich verdrehte die Augen.

Ich: Nein, ich habe meinen Weg gefunden. Zu Wahaca.

Sie: Mit deinem Talent kannst du doch nicht in einer Restaurantkette arbeiten –

Ich: Warum musst du immer dazusagen, dass es eine Kette ist? Warum findest du Restaurantketten so –

Sie: Weil sie langweilig sind. Das passt nicht zu dir.

Ich: Vielleicht gefällt es mir, in der Masse unterzugehen. Bist du auch so ein cooler Mensch, der Restaurantketten nicht leiden kann?

Er antwortete nicht, und ich merkte, dass ihm unser zwar schwesterliches, aber auch kritisches Verhältnis unangenehm war – er dachte wohl, dass wir uns wirklich stritten. Hannah konnte es nicht ausstehen, dass ich bei Wahaca arbeitete. Sie hasste es richtig. Wahrscheinlich blieb ich deshalb so lange dort. Ich weiß, ich hätte etwas anderes machen können, selbst wenn es nicht unbedingt das war, was ich machen wollte, malen und zeichnen; ich hätte etwas Sinnvolles tun können, das etwas bewirkte, so wie sie. Aber ich war noch nicht bereit, diesen Sprung zu wagen, aus meiner Deckung zu gehen und verletzlich zu wirken, weil ich mich an etwas versuchte, das mir wichtig war. Und sich irgendwo einzufügen kann manchmal großartig sein. Ein fades Leben ist ein sicheres Leben.

Sie sah auf ihr Handy.

Sie: Tja – also – ich muss gehen, tut mir leid. Ich muss helfen, den Konferenzraum vorzubereiten –

Ich: Du haust nicht echt schon ab, oder?

Sie: Du hast dich verspätet, Ruthie –

Ich: Ruth –

Sie: Ruth, hör auf! Lern endlich, deine Zeit besser einzuteilen.

Ich: Sag nicht –

Sie: Wo warst du letzte Nacht?

Ich: Ich habe mich würgen lassen –

Sie: Gott, nicht schon wieder –

Rowan nippte verlegen an seinem Kaffee.

Sie: Hör mal, es tut mir leid. Bitte bleib noch – trink mit Rowan deinen Kaffee aus. Hast du Lust, Samstagabend mit uns essen zu gehen?

Das war ein Hinterhalt. Rowan küsste sie wieder, aber auf die Wange, als er meinen durchdringenden Blick bemerkte. Hannah machte sich so schnell wie möglich aus dem Pret davon. Sie umarmte mich nicht und drehte sich nicht mal zu mir um, weil sie es wusste. Sie wusste, dass sie mich reingelegt hatte. Ich sah ihr nach, als sie davonlief und ihr großer, großartiger Hintern in ihrem scharlachroten Power-Suit hin und her wackelte. Rowan starrte ihr auch nach.

Dann setzte er sich. Wir hockten an einem dieser hohen Tische mit unbequemen Stühlen. Er aß ihr Müsli auf und trank ihren Kokoslatte, als stünde es ihm zu. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trank ich in kleinen Schlucken meinen Flat White. An seinem Mund klebte Joghurt, was mir so weit die Anspannung nahm, dass ich auch zum Löffel griff. Eine Weile saßen wir nur da und aßen verkacktes Müsli. Er schien es kein bisschen schräg zu finden.

Er: Was hast du heute noch vor?

Ich: Ich weiß noch nicht. Vielleicht – gehe ich einfach spazieren oder so. Es ist komisch, so früh in der City zu sein.

Er lächelte zustimmend. Ein schönes Lächeln, weiße Zähne – gute, gerade Zähne. Hannah hatte Glück. Ein Großteil der Männer, mit denen ich schlief, hatte scheußliche Beißer. Ich lächelte zurück.

Später liefen wir zusammen durch die City, vorbei an der Chancery Lane, auf den Fluss zu, ohne viel zu reden. Ich weiß noch, dass ich ihn nach unserem Spaziergang sehr mochte und ein winziges bisschen eifersüchtig auf meine Schwester war. Na ja, eifersüchtiger als sonst.

6

An einem der ersten Abende zu Hause ließ ich mich unglaublich volllaufen und kaufte bei Tesco zwanzig Packungen Lasagne.

Als wir noch Kinder waren, kochte unsere Mum nur selten, aber einmal gab sie sich Mühe und bereitete für uns eine richtige hausgemachte Lasagne zu. Das Essen war widerlich; in den kleinen Löchern im Käse stand das Fett, und durch die viele Tomatensauce glich die Lasagne eher einer klumpigen Suppe. Trotzdem aß Hannah ihre Portion komplett auf – Mum sollte glauben, sie habe gut gekocht. Als sie die Küche verließ, schlich ich mich vom Tisch weg und kippte mein Essen in den Mülleimer. Nur merkte ich nicht, dass keine Tüte im Eimer war, und als Mum es mitbekam, wurde sie richtig wütend und kochte fast gar nicht mehr für uns.

Vor ein paar Tagen habe ich mir abends die erste gefrorene Lasagne in der Mikrowelle aufgewärmt. Ich probierte zu früh und verbrannte mir so übel die Zunge, dass ich überlegte, in die Notaufnahme zu gehen, aber ich war noch nicht bereit, wieder ein Krankenhaus zu betreten. Aus lauter Ärger warf ich die Lasagne aus dem Fenster. Zum Glück landete sie nicht auf einem Fußgänger, sondern auf einem Buswartehäuschen. Die Tauben machten sich sofort über sie her und picken immer noch an ihr herum. Ich habe Fotos davon gemacht, wie sie die Lasagne fressen – keine Ahnung, warum. Es ist immer noch was übrig. Und meine Zunge ist auch noch nicht verheilt.

Frühmorgens, wenn die Welt still ist und mich niemand entdecken kann, gehe ich zu ihrer Wohnung und gieße die Blumen. Ich sehe nach, ob ihr Kühlschrank noch läuft. Ich lege mich auf ihr Bett oder auf ihr Sofa, manchmal dusche ich auch lange. Ich benutze ihre Shampoos und die anderen Sachen und stelle alles genauso wieder hin, wie sie es mag. Lange kann ich nicht bleiben, sonst denke ich zu viel nach, deshalb gehe ich nach Hause und höre unterwegs meine Playlist voller Disney-Prinzessinnen-Songs.

Meistens schlafe ich einfach, tagsüber genau wie nachts. Ich bewege mich so wenig, dass ich zugenommen habe, und ich bin langsamer geworden. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt Wasser getrunken habe. Irgendwann habe ich nachts im Halbschlaf online fünfhundert Dosen Cola Light bestellt, also trinke ich kaum was anderes. Die Dosen liegen überall auf dem Boden verstreut, eine Angewohnheit, die ich von meinem Vater geerbt habe. Neulich Nacht bin ich schlaftrunken zur Toilette gewankt und auf eine Dose getreten, jetzt habe ich im linken Fuß einen riesigen Schnitt, den ich nicht verarztet habe.

Hannah unternahm bei Schnitten nichts, bis sie sich entzündeten. Ich begriff es nicht, weil sie alles andere in ihrem Leben so organisiert und sorgfältig anging. Ich brachte sie dazu, die Wunden zu waschen, und wenn es nötig war, versuchte ich, sie zu einem Arztbesuch zu überreden, aber sie sagte, sie habe keine Zeit. Ich tue so, als könnte ich sie noch hören.

Sie: So was heilt von allein.

Ich komme mir komisch vor, weil ich sie wirklich höre. An ihren Armen und Beinen hatte sie lauter blasse Narben, weil sie jahrelang Schorf abgeknibbelt hatte, Narben, die nur ich sehen konnte.

7

Einmal fand ich mich morgens um fünf an der Haltestelle King’s Cross St. Pancras wieder, kurz bevor die Sonne aufging. Ich hatte die Nacht damit verbracht, Kettle-Chips zu essen, Wein zu trinken und ziellos durch London zu streifen. Irgendwie war ich vierzigtausend Schritte nach Ealing, wo wir aufgewachsen sind, und wieder zurück gelaufen. Ich hatte Wein auf meine Ballerinas gekleckert. Ich beobachtete die Anzeigetafeln für die Bahn, die monotonen blechernen Durchsagen hatten etwas Tröstliches an sich, es war, als würden sie mir Anweisungen geben, als wollten sie vorschlagen, wohin ich fahren könnte. Ich beschloss, nach Edinburgh zu fahren und Evelyn zu besuchen. Wir hatten uns schon eine Weile nicht gesehen, und ich wusste nicht genau, wo in Edinburgh sie wohnte, trotzdem hielt ich es für eine gute Idee. Als der Zug abfuhr, schrieb ich ihr, ich würde am Nachmittag ankommen.

Evelyn war an der Kunsthochschule mit mir in einem Jahrgang. Am ersten Tag erzählte sie mir, sie wolle Porträtmalerin werden und sei asexuell, und sie war so nett zu mir, dass ich mich regelrecht an sie klammerte. Sie hatte extrem lange Haare und eine vollkommen flache Brust. Sie trank nicht und rauchte nicht und konnte wunderschön zeichnen und malen. Ich fand sie faszinierend, und eine Zeit lang versuchte ich, so rein wie sie zu leben. Hannah gefiel meine Freundschaft mit Evelyn nicht; sie konnte nicht glauben, dass ein so junger und so hübscher Mensch asexuell sein konnte. Sie vertraute Evelyn nicht; Hannah sagte, sie würde bestimmt ein Doppelleben führen, wenn sie an den Wochenenden nach Hause fuhr.

Ich schlief im Zug ein, und als ich aufwachte, war ich voller Kaffee. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, dass ich mir einen Kaffee geholt hatte, und im ersten Moment dachte ich, jemand hätte mich damit überschüttet, während ich vom Meer geträumt hatte. Ich sah nach, ob ich mich verbrüht hatte. Dann schrieb ich Evelyn wieder, dass es schön wäre, sie zu sehen. Sie antwortete sofort, sie habe um zwei ihre Mittagspause, und schickte mir eine Adresse. Ich hatte erwartet, sie in einer Galerie zu finden, wo sie ihr neuestes Porträt aufhängte, stattdessen führte mich die Adresse zu einem EE-Handyladen. Evelyn kam heraus und begrüßte mich unterkühlt. Ihr rasierter Schädel war nicht zu übersehen. Er betonte ihr jüngstes Tattoo: An ihrem Halsansatz hing Jesus am Kreuz.

Sie hatte eine halbe Stunde Pause, die sie mit mir im Costa nebenan verbrachte. In einem Costa war ich zuletzt am Flughafen mit Hannah gewesen. Evelyn bestellte ein Panini und Chips, und ich nahm einen Caffè Mocha, aber ich konnte ihn nicht trinken. Mir gefiel die vertraute Atmosphäre im Costa, ich fühlte mich sicher. Wir unterhielten uns über alltägliches, uninteressantes Zeug; sie war weder besonders nett zu mir noch bot sie mir an, bei ihr zu übernachten. Sie habe ihren neuen Freund in der Kirche kennengelernt, erzählte sie, er sei Immobilienmakler. Sie sparten auf ein Haus in Leith und wollten in den nächsten zwei Jahren Kinder bekommen, nachdem sie geheiratet hatten, wozu ich nicht eingeladen war.

Ich fragte sie, was die Kunst mache, und sie meinte nur, sie wolle nicht mehr malen. Warum, fragte ich nicht. Sie fragte nicht nach Hannah, und ich erzählte es ihr nicht.

Wir umarmten uns, dann machte ich mich auf den Rückweg zum Bahnhof Waverley. Als ich an den Edinburgh Dungeons vorbeikam, winkte mich eine junge Frau, die als Zimmermädchen mit blutverschmiertem Kleid ausstaffiert war, herein. Sie schien so versessen darauf, ihre Show abzuspulen, dass ich ihr folgte und 19,95 Pfund Eintritt zahlte. Außer mir war an diesem Tag niemand da, deshalb wirkte die Horrorvorstellung sehr persönlich. Bei der Stelle mit Jack the Ripper musste ich im Dunkeln weinen. Bevor ich ging, bat ich um ein Bewerbungsformular, das ich im Zug nach Hause ausfüllte.