Commissaire Marquanteur
und die Todesliste des Rächers: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
In Marseille werden mehrere Polizisten einer aufgelösten
Spezialeinheit brutal ermordet. Commissaire Marquanteur und sein
Kollege Leroc werden beauftragt, den oder die Täter zu finden. Will
sich ein Verbrecher rächen, oder gibt es andere Gründe für die
Morde? Die FoPoCri befürchtet weitere Tote, hat aber keinen
Anhaltspunkt auf den Täter.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Jack Raymond,
Robert Gruber, Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet
Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
Die beiden Männer saßen in einer Bar in der Nähe des Hafens
von Marseille. Es war eine laue Nacht. Der Wind, der sonst
eigentlich unablässig entweder vom Meer oder vom Land her urch die
Stadt wehte, schien eingeschlafen zu sein. Die Luft schien zu
stehen. Und die Hitze wirkte drückend.
“Kennst du Marquanteur?”
“Den Flic?”
“Ja, den Flic aus dieser Spezialabteilung."
“Ich bin ihm noch nie persönlich begegnet.”
“Dann kannst du von Glück sagen!”
“Aber ich habe viel von ihm gehört.”
“Nur Schlechtes, wie ich annehme.”
“Natürlich.”
“Der versaut uns die Geschäfte.”
“Ein einzelner Flic?”
“Ja.”
“Übertreibst du nicht ein bisschen? Du lässt dir von einem
einzelnen Commissaire der Kriminalpolizei von Marseille die Laune
verderben?”
“Bin sensibel.”
“Ach so.”
“Nein, im Ernst: Dieser Kerl wirkt demoralisieren auf meine
Dealer und Knochenbrecher. Die trauen sich schon gar nicht mehr
richtig, ihrer Arbeit nachzugehen. Und wenn meine Leute nicht mehr
arbeiten, dann habe ich ein Problem, verstehst du?”
“Ja, so langsam dämmert es mir.”
“Schwer von Begriff warst du ja immer schon.”
“Jetzt werd nicht frech, klar? Ich habe dich schließlich
eingeladen! Da könntest du ruhig etwas netter sein.”
“Sei nicht so empfindlich.”
“Ich bin empfindlich?”
“Du bist wie ein Mädchen.”
“Wie bitte?”
“So empfindlich wie ein Mädchen. Und zwar ein Mädchen, dass
seine Periode hat. Das ist zum Kotzen.”
“Weißt du was, jetzt reicht es mir! Glaubst du, ich trinke
zusammen mit einem, dem ich zuerst den Drink ausgebe und der mich
dann zum Dank auch noch beschimpft? Ich glaube, bei dir tickt es
nicht so ganz richtig.”
“Immer cool bleiben. Klar? Vergiss nicht, wer dich mit Stoff
versorgt und wer die Mademoiselle, die für dich anschaffen gehen,
wieder zur Räson bringt , wenn sie durchdrehen oder glauben, dass
sie in einem spanischen Puff mehr verdienen können!”
“Leider können sie das, seit diese Idiotenregierung in
Frankreich das Sexkaufverbot eingeführt hat!”
“Willst du jetzt über die Politik jammern?”
“Warum nicht? Du jammerst über einen Flic, ich jammere über
die Politik.”
Einige Augenblicke herrschte dann Schweigen zwischen den
Männern. Und der Barkeeper kam und schenkte ihnen nach. Die Gläser
waren nämlich leer.
“Eines Tages werde ich diesen Pierre Marquanteur umbringen,
weißt du? Der stört einfach."
“Wahrscheinlich ist das nur mal wieder großes Gerede von
dir.”
“Nein, das meine ich ernst.”
“So?”
“Ich zieh das durch.”
“Weißt du, es müssen viele sein, die diesen Pierrre Marqunteur
hassen.”
“Sicher sind das viele.”
“Du bist nicht der erste, von dem ich so einen Racheschwur
gehört habe.”
“Kann ich mir denken.”
“Aber bisher hat niemand es wirklich durchgezogen, weißt
du?”
“Mag sein. Ich bin anders.”
“Da waren ein paar richtig harte Jungs dabei.”
“Alles Luschen, würde ich sagen."
“Und du bist anders?”
“Ich bin anders. Ich ziehe es durch. Du wirst sehen.”
*
Ich öffnete den Kofferraum. Da lagen fein säuberlich
abgepackte Päckchen mit einem weißen Pulver darin. Es sah aus wie
Puderzucker. War aber Kokain. Der ganze Kofferraum voll.
Ich wandte mich an Ünal Karasov.
Er gehörte zur Tschetschenen-Mafia, die sich in den letzten
Jahren im Marseiller Milieu wie eine Pest ausgebreitet hat.
Ich bin Pierre Marquanteur, Commissaire in Marseille und
gehöre zur Force spéciale de la police criminelle, kurz FoPoCri.
Zusammen mit meinem Kollegen Commissaire François Leroc, unserem
Chef Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police
und all den anderen, die mit uns zusammenarbeiten, ermitteln wir
vornehmlich im Bereich der organisierten Kriminalität.
Und dies war ein verdeckter Einsatz.
Undercover sozusagen.
François und ich hatten die Rolle von Drogenhändlern
angenommen.
Und jetzt sollte unserer erster größerer Deal über die Bühne
gehen, der gleichzeitig dazu führen sollte, dass Ünal Karasov
endlich das Handwerk gelegt werden konnte.
Denn bislang war noch jemand so richtig an ihn
herangekommen.
Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen, heißt es.
Und das ist leider allzu oft wahr. An die großen Bosse kommt man
deswegen so selten heran, weil die Drecksarbeit meistens vom
Fußvolk der Mafia-Organisationen gemacht wird. Und die Chefs halten
sich schön raus. Jeder weiß, dass sie mit drinstecken und auch das
meiste an diesen krummen Geschäften verdienen. Jeder weiß das, aber
juristisch hat man meistens keine direkte Handhabe.
Die sorgen schon dafür, dass sie sich selbst nicht die Hände
schmutzig machen.
Aber es gab eben auch manche Dinge, die sie nicht anderen
überlassen konnten.
Sehr wichtige Geschäfte zum Beispiel. Insbesondere dann, wenn
es darum ging, das Vertrauen neuer Geschäftspartner zu erwerben.
Und da hatten wir uns eingeklinkt.
Ünal Karasov war unser Mittelsmann zu einer Drogen-Connection,
über die Drogen aus Tschetschenien und Afghanistan nach ganz Europa
gingen.
Der Schmuggel ging über einen Schlepper, der eigentlich einen
Containerfrachter in den Marseiller Hafen zu ziehen hatte. Auf dem
Weg dorthin nahm er die Drogen mit und übergab die Ladung an einen
anderen Frachter, der im Golf von Marseille auf ihn wartete.
Die Drogen, die mein Kollege François Leroc und ich im
Kofferraum hatten, stammten aus beschlagnahmten Beständen, die auf
diese Weise noch mal einem sinnvollen Gebrauch zugeführt wurden.
Ünal Karasov war mit drei Leibwächtern und einer
Protzlimousine angereist. Er sah sich den Stoff in unserem
Kofferraum an.
»Muss ich den erst selbst überprüfen?«, fragte er.
»Musst du nicht«, sagte ich. »Die Qualität ist 1 A.«
»Na gut. Wenn sich was anderes herausstellen sollte, bist du
tot, das weißt du.«
»Ich halte, was ich verspreche«, sagte ich.
»Also, der Schlepper wird hier gleich anlegen. Kann sich nur
noch um Minuten handeln. Einer meiner Leute hat mir gerade Bescheid
gegeben. Er hat im Marseiller Hafen abgelegt und müsste hier gleich
auftauchen.«
Er deutete mehrfach Richtung Meer, während er das sagte.
Es kam ein Schlepper.
Aber von der falschen Seite. Er kam von Cap Croisette her und
hatte einen ganzen Schwarm Möwen mitgebracht, die ihm folgten und
über ihm kreisten. Der Schlepper zog ein großes Containerschiff
hinter sich her. Signalhörner ertönten.
»Es ist Flut«, sagte Karasov. »Dann brauchen Schlepper, die
rausfahren, länger. Die müssen ja gegen das kommende Wasser
anfahren.«
»So viel Zeit haben wir«, versicherte ich.
»Immer mit der Ruhe. Wird schon alles gut über die Bühne
gehen. Und wenn nicht …«
»Was dann?«, fragte ich.
Er grinste. »Dann bist du tot.« Er wandte sich an François
Leroc. »Und du auch.«
François Leroc lachte. »Aber du bist dann vielleicht auch
tot!«, meinte er.
Eine Bemerkung, die Karasov nicht gefiel.
Er quittierte sie mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck und
einer tiefen Furche, die plötzlich mitten auf seiner Stirn
erschien. Wirkte fast so, als wäre in seinem Schädel plötzlich der
Blitz eingeschlagen.
Ich sah auf die Uhr. »Ich hoffe, der Schlepper kommt noch«,
sagte ich. »Für meinen Stoff finde ich auch andere Abnehmer.«
»Geduld«, sagte Karasov. »Immer mit der Ruhe!«
*
Natürlich wusste ich längst, dass der Schlepper kam. Die
Kollegen hatten es mir über den Knopf, den ich im Ohr hatte,
gemeldet. War nur eine Frage der Zeit.
Schließlich kam er auch und quälte sich gegen die Tide.
Wir befanden uns auf dem Gelände eines kleinen, weitgehend
stillgelegten Industriehafens am Meer. Der war wie geschaffen für
solche Deals.
Der Schlepper kam, legte an. Und ein paar Leute mit Koffern
kamen an Land.
Koffer und Uzis.
Das trugen sie bei sich.
In den Koffern war das Geld, wie ich annahm.
Und die Uzis waren für den Fall, dass irgendwas schief
ging.
Sowas kam ja vor.
Und dann war der Ausgang oft tödlich.
Tja, was soll ich sagen? Es ging was schief.
Wie hätte es auch anders sein können?
Einer der Kerle – ein Mann mit einem schwarzen Bart und
schwarzem, gegeltem Haar sah mich an und erstarrte.
»Ey, Mann, dich kenne ich doch!«
Leider hatte er recht.
Wir kannten uns wirklich, auch wenn es schon lange her war.
Ich hatte ihn mal in den Knast gebracht.
Seitdem hatte ich ihn nicht wiedergesehen.
Nach seiner Haftentlassung hatte er sich offenbar in Marseille
nicht mehr blicken lassen, was auch ganz bestimmt besser so gewesen
war.
Und jetzt standen wir uns wieder gegenüber.
Das war nicht unbedingt ein günstiger Moment für so ein
Wiedersehen – mal abgesehen davon, dass unsere gegenseitige
Sehnsucht ohnehin ziemlich begrenzt war.
Er griff zu seiner Uzi und ballerte sofort in meine
Richtung.
Und dann brach die Hölle los.
Ich spürte, wie die Kugeln in meinen Oberkörper einschlugen
und die Kleidung aufrissen. Während ich nach hinten gerissen wurde,
griff ich zur eigenen Waffe und feuerte zurück. Ich trug am ganzen
Körper Kevlar unter der Kleidung. Da sieht man zwar etwas fetter
mit aus, als man in Wirklichkeit ist, aber es gehört einfach bei so
einer Sache zu den notwendigen Sicherheitsmaßnahmen.
Ich feuerte zurück.
Aber nicht nur ich. Auch die Kollegen, die versteckt in den
alten Industrieanlagen gewartet hatten und jetzt aus der Deckung
kamen.
Das ganze Gefecht dauerte kaum länger als eine halbe
Minute.
Dann waren eine Menge Leute tot.
*
»Sie beide haben großes Glück gehabt, dass Sie jetzt noch
lebend hier sitzen«, sagte Monsieur Marteau, als François und ich
uns später im Besprechungszimmer unseres Chefs einfanden.
»Wir hätten das wirklich gerne vermieden«, sagte ich. »Aber
das war leider nicht möglich.«
»Ich weiß«, sagte Monsieur Marteau.
»Der Kerl hat mich wiedererkannt, und dann ist bei ihm eine
Sicherung durchgebrannt.«
»Wir hätten Sie nie für diesen Einsatz einteilen dürfen!«,
meinte Monsieur Marteau.
»Das weiß man hinterher.«
»Glücklicherweise sind Sie beide mit dem Leben
davongekommen.«
Unsere Gegner hatten weniger Glück gehabt. Die Leute, die wir
eigentlich hatten verhaften wollen, waren alle tot.
Und in der Presse war jetzt von einem Massaker die Rede.
»Nehmen Sie beide sich ein paar freie Tage«, schlug Monsieur
Marteau vor. »Und ich hoffe, dass Sie mir dann für den nächsten
Fall wieder voll zur Verfügung stehen.«
»Überstunden haben wir ja noch genug«, lautete der Kommentar
meines Kollegen François Leroc dazu – womit er zweifellos recht
hatte.
*
Einige Tage später …
Das Motorboot hob sich am Bug stark aus dem aufgewühlten
Wasser, während es nun beschleunigte. Robert Matisse grinste breit
und wölfisch, während er das Steuer jetzt herumriss.
»Na, was sagst du, Be jetzt Bertrand?«, rief er dem Mann neben
ihm zu, der alle Mühe hatte, sich gut genug festzuhalten. »Habe ich
zu viel versprochen?«
Das Grinsen wurde breiter.
Noch breiter ging es nicht.
»Allein von der Pension eines Polizisten kann man sich so ein
Boot aber nicht leisten«, gab Bertrand zurück.
»Darauf bin ich glücklicherweise nicht angewiesen«, rief
Matisse. »Marseille wird von Geizkragen regiert, die kein
Verständnis für ihre Polizisten haben. Und davon mag ich die Stadt
nicht .«
»Dafür bist du aber lange dort geblieben, Robert!«
»Kann ich im Nachhinein kaum noch nachvollziehen!«
Das Boot fuhr jetzt auf die Küste zu. Die Silhouette der
Anlegestellen von Niolon breitete sich vor ihnen aus. In rasender
Geschwindigkeit näherten sie sich dem Yachthafen. Eine gewaltige
Bugwelle schäumte hinter ihnen her.
Plötzlich tanzte der zitternde rote Lichtpunkt eines
Laserpointers auf Matisses Stirn.
»Vorsicht!«, rief Bertrand.
Aber es war schon zu spät. Man hörte den Schuss nicht.
Aber er traf.
Ganz genau.
2
Ein Ruck ging durch Matisses Körper, als die Kugel in seine
Stirn eindrang, am Hinterkopf wieder austrat und dort eine
klaffende Austrittswunde in die Schädeldecke riss.
Matisse ließ das Steuerrad des Motorbootes los, taumelte einen
Schritt zurück und schlug dann zu Boden. Das austretende Blut wurde
durch die hereinspritzende Gischt verdünnt. Bertrand duckte sich,
denn er sah noch immer den Laserstrahl des Zielerfassungsgerätes
durch die Luft tanzen und mal hier und mal dort auf der weißen,
glatten Polyesteroberfläche auftauchen. Das Boot raste inzwischen
weiter vorwärts.
Es dauerte nur Augenblicke, dann krachte es mit voller Wucht
gegen einen Bootssteg des Yachthafens. Der ohnehin schon stark aus
dem Wasser gehobene Bootsrumpf rutschte über den Steg hinüber –
geradewegs in eine dort vertäute Yacht hinein. Der Bug des
Motorbootes rammte die Yacht, drückte deren Außenhaut ein und
bohrte sich regelrecht fest. Der Motor heulte auf, klang jetzt
tiefer und machte schließlich gurgelnde Geräusche, als sich die
Schraube in das Holz des Bootsstegs hineinfraß. Der Motor
verreckte.
Bertrand wurde unterdessen mit dem Kopf gegen eine harte Kante
geschleudert. Alles drehte sich vor seinen Augen. Er sackte in sich
zusammen und verlor das Bewusstsein.
»Hector Santini, Polizei Niolon.« Das waren die ersten Worte,
die dann irgendwann, sehr viel später in sein Bewusstsein drangen.
Bertrand öffnete die Augen.
»Sie sind Bertrand Arthur Fissou?«
»Was?«, murmelte Bertrand, noch ehe er überhaupt die Augen
geöffnet hatte. Und er hatte auch keine Eile damit, denn irgendwie
hatte Bertrand das Gefühl, dass alles, was er jetzt vielleicht zu
sehen bekommen konnte, auf die eine oder andere Art unerfreulich
war.
»Dieser Name steht in dem Führerschein, der bei Ihnen gefunden
wurde«, sagte die Stimme, die sich als Hector Santini vorgestellt
hatte.
Bertrand öffnete jetzt die Augen und sah einen kleinen,
rundlichen Mann in einem viel zu engen und vor allem völlig
zerknitterten Anzug. Die Dienstmarke trug er deutlich sichtbar an
der Jacke, die weit genug offen stand, um sehen zu können, dass
Santini Gürtel und Hosenträger trug.
Ein Mann, der auf Sicherheit Wert legt, dachte Bertrand.
»Sie haben Glück gehabt, Monsieur Fissou«, erklärte Santini.
»Die Ärzte sagen, Sie würden keine ernsthaften Schäden
davontragen.«
»Na, das ist doch wenigstens mal eine gute Nachricht«,
murmelte Bertrand.
»Monsieur Fissou, haben Sie irgendeine Ahnung, wer auf
Monsieur Matisse und Sie geschossen haben könnte?«
»Auf mich?«
»Wir haben ein zweites Projektil gefunden, bei dem wir davon
ausgehen, dass es Sie verfehlt hat, Monsieur Fissou.«
»Kann ich mir – ehrlich gesagt – nicht vorstellen«, murmelte
Bertrand.
»Dann wollen Sie damit sagen, dass beide Schüsse für Monsieur
Matisse bestimmt waren?«
»Sie fragen mich Sachen … Scheiße, woher soll ich das wissen?
Ich habe Robert längere Zeit nicht gesehen, und er wollte mir sein
Boot zeigen.«
»Sie sind für uns der wichtigste Zeuge, Monsieur Fissou. Ich
möchte Sie also bitten, sich trotz der Kopfschmerzen, die Sie im
Moment zweifellos haben, sich Mühe zu geben und uns weiterzuhelfen.
Jede noch so unwichtig erscheinende Einzelheit kann unter Umständen
für uns sehr entscheidend sein.«
Ja, dachte Bertrand traurig. Und er erinnerte sich daran, wie
er selbst diese Sätze so oft gesagt hatte. Damals, in Marseille,
als Matisse noch sein Chef gewesen war und sie als Teil der
Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität dem Verbrechen in
Marseille die Stirn geboten hatten.
»Ist Irene schon informiert?«, fragte Bertrand
unvermittelt.
»Sie meinen die Witwe?«
»Ja.«
»Natürlich. Sie weiß Bescheid.«
3
Zwei Wochen später …
Möwen kreisten über dem Wasser. Der Wind riss an den Kleidern
der beiden Männer, die auf der Terrasse des kleinen Sandsteinhauses
standen.
Baptiste Dubois sog die frische Luft ein. Das schüttere Haar
wirbelte zur anderen Seite, als er nur ein bisschen den Kopf
drehte.
»Dieser Blick ist unbezahlbar!«, meinte er. »Und was ganz
anderes als die Abgase in Marseille-Zentrum, was, Bertrand?«
»Hast du eigentlich gar nichts davon mitgekriegt, was mit dem
Chef passiert ist?«
»Du meinst Matisse?«
»Natürlich meine ich den – nicht die Flasche, die man uns
damals in den letzten zwei Monaten vor die Nase gesetzt hat, die
unsere Einheit noch existiert hat, nachdem … du weißt schon!«
Baptiste Dubois’ Gesicht wurde sehr ernst. Tiefe Furchen
bildeten sich auf der Stirn und an den Mundwinkeln. Er sah Bertrand
an.
»Natürlich habe ich gehört, was mit Robert passiert ist. Böse
Sache. Man sollte eben wissen, wann man aufhört.«
»Wieso warst du nicht auf der Beerdigung?«
»Hätte das etwas geändert?«
»Ich finde, du hättest dort sein sollen.«
»Ich habe Robert schon vor Jahren gesagt, er soll aufhören.
Man muss wissen, wann man genug hat – und seien wir mal ehrlich,
Robert wusste es nie. Er hat es immer übertrieben, ist immer bis an
die Grenzen gegangen und oft genug darüber hinaus.«
»Und was soll jetzt das Gerede? Er war unser Chef – unser
Freund. Er hätte alles für dich getan, Baptiste, und vielleicht
denkst du mal daran, aus welcher Scheiße er dich früher so ab und
und zu herausgeholt hat!«
Baptiste Dubois’ Zeigefinger ging hoch wie ein Klappmesser,
als er ihn seinem Gegenüber unter die Nase hielt.
»Okay, Bertrand, es geht mir verdammt nahe, dass der Chef eine
Kugel in den Kopf gekriegt hat. Aber das kann doch niemanden
wirklich überraschen. Ich habe ihn schon vor Jahren gewarnt, aber
der gierige Hund konnte den Hals nicht voll kriegen. Stattdessen
hätte er es wie ich machen sollen: Die Vergangenheit ruhen lassen
und das schöne Leben genießen!«
»Bei dir hört sich das fast so an, als wäre er selbst Schuld
dran, dass er abgeknallt wurde«, meinte Bertrand – und der Vorwurf,
der in seinen Worten mitschwang, war nicht zu überhören.
Baptiste Dubois nickte.
»Ja, genau so ist es auch! Weißt du nämlich, wie das kommt,
dass man plötzlich ein Stück Blei in den Kopf kriegt? Wenn man sich
mit den falschen Typen trifft und nicht damit aufhören kann, mit
ihnen die falschen Geschäfte zu machen! So ist das nämlich. Es tut
mir leid für seine Witwe. Irene hat eine Menge mit ihm aushalten
müssen. Aber niemand kann von mir verlangen, dass ich mir auch noch
mitansehe, wie sich jemand selbst zugrunde richtet, den ich mal
sehr geschätzt habe!«
»Der Chef war für uns alle ein Vorbild.«
»Für dich irgendwann nicht mehr, Bertrand.«
»Ach, nein?«
»Das hat schon aufgehört, als wir alle noch im Dienst waren
und dafür gesorgt haben, dass in Marseille die Straßen sauber
blieben. So einigermaßen jedenfalls.«
»Na dann …«
Keiner der beiden Männer sah den roten Laserpunkt. Er
markierte zitternd eine bestimmte Stelle auf Baptiste Dubois’
Rücken. Ziemlich genau in Herzhöhe kam der Punkt beinahe völlig zur
Ruhe. Der Schuss, der dann folgte, war nicht zu hören. Die Kugel
durchschlug Baptiste Dubois’ Körper von hinten und trat aus der
Brust wieder aus. Blut spritzte auf und färbte Bertrands Hemd rot.
Er wirbelte herum, aber noch ehe er sich zu Boden werfen konnte,
traf auch ihn ein Schuss. Die Kugel erwischte ihn am Kopf. Bertrand
taumelte einen Schritt zurück und schlug dann der Länge nach
hin.
Dann waren da für lange Stunden nur ein Haus, dessen
Terrassentür offen stand, das Meer und zwei Tote. Als sich der Wind
nach ein paar Stunden etwas drehte, ließ er die Terrassentür immer
wieder geräuschvoll zuklappen.
4
Als ich François an diesem Morgen wieder an der bekannten Ecke
abholte, unterdrückte er ersteinmal ein Gähnen. Wir waren alle
beide ziemlich müde, weil die letzte Nacht leider ziemlich kurz
gewesen war. Normalerweise hat das dann mit den Besonderheiten
unseres Jobs zu tun. Die Gangster richten sich nun mal nicht nach
den Bürozeiten von Kriminalbeamten. Ganz im Gegenteil.
Drogengeschäfte im Morgengrauen, bei denen wir dann endlich
jemanden in flagranti erwischen und verhaften können, oder
langwierige Rund-um-die-Uhr Observationen gehören eben dazu.
Aber heute hatte unser Schlafmangel nur einen privaten Grund.
Wir hatten uns einen Schwergewichtsboxkampf in der Opale-Arena
angesehen und waren anschließend noch in charmanter Begleitung
ausgegangen. So was kommt selten genug vor, umso mehr muss man es
genießen.
Wir gerieten auf dem Ring in einen Stau. Es dauerte nicht
lange, und es herrschte völliger Stillstand. Es ging wieder vor
noch zurück.
»Wenigstens haben wir gegenüber Monsieur Marteau jetzt eine
Ausrede, wenn wir unpünktlich sind«, meinte François.
Ich warf einen kurzen Blick zur Uhr.
»Wenn wir dieses flotte Null-Tempo noch eine Weile
beibehalten, wird es wohl auf mehr als nur ein bisschen
Unpünktlichkeit hinauslaufen.«
»Beruhige dich, Pierre! Wir sind alle Marseiller. Auch
Monsieur Marteau. Und jeder, der hier in Marseille lebt, weiß doch,
wie das manchmal auf den Straßen zugeht.«
Wir warteten fünf Minuten, zehn Minuten. In den
Radionachrichten wurde über diese Verkehrsbehinderung nichts
gesagt. François aktivierte den TFT-Bildschirm unsres Bordrechners,
um Näheres zu erfahren. Es dauerte nicht lange, und wir wussten
Bescheid. Über das Datenverbundsystem SIS meldete die Polizei einen
Mord an einer Fußgängerampel. Ein Mann war auf offener Straße
erschossen worden. Die Hintergründe waren natürlich noch
unbekannt.
»Das ist auf der Höhe Kreuzung Rue Gerando und La Canebière«,
stellte François fest.
»Rutsch du ans Steuer, François – für den Fall, dass es hier
irgendwann doch noch weitergeht«, sagte ich und öffnete die
Tür.
»Was hast du vor?«
»Sehen, was los ist?«
»Das bekommen wir sowieso mit!« François deutete auf den
Bildschirm unseres Bordrechners.
»Ja, aber ich bin neugierig!«
Ich schlug die Tür zu und ging zwischen den stehenden
Fahrzeugen her. Hier und da waren bereits die ersten Insassen
ausgestiegen. Die meisten hatten irgendwelche Termine in der City
oder mussten genau wie wir schlicht und ergreifend pünktlich beim
Job erscheinen. Entsprechend gereizt hörten sich die
Gesprächsfetzen an, die ich so im Vorübergehen mitbekam.
Ich setzte zu einem kurzen Spurt an. Bis zur Kreuzung war es
nicht weit. Ein Lastwagen stand quer auf der Straße. Ich las das
Logo eines bekannten Getränkeherstellers. Der Anhänger war
ausgebrochen und umgestürzt. Ein Dutzend weitere Fahrzeuge waren
auf die eine oder andere Weise in Unfälle verwickelt, die mit
diesem Fahrzeug zusammenhingen. Die Einsatzfahrzeuge der Polizei
und der Notfallambulanz hatten den Ort des Geschehens über die Rue
de Villiers erreichen können und dabei auf den letzten Metern die
Bürgersteige überfahren. Die deutlich sichtbaren Spuren ließen
keinen Zweifel daran.
»He, Sie!«, rief mich ein uniformierter Kollege an, der wohl
die Aufgabe hatte, Schaulustige vom Tatort fernzuhalten.
»Marquanteur, FoPoCri!«, stellte ich mich vor und hielt meinen
Dienstausweis gut sichtbar hoch.
»Sie sind schon hier, bevor man Sie gerufen hat?«, meinte der
Beamte. »Alle Achtung! Unser Chef meinte nämlich eben noch, das sei
ein Fall, den wir selbst übernehmen.«
»So?«
»Es ist einer von unseren Leuten betroffen. So viel wissen wir
schon.«
»Wer denn?«
»Commissaire Daniel Poincheval. War schon pensioniert. Aber er
war einer von uns, und wir werden herausfinden, wer das getan hat.«
»Was ist denn genau passiert?«
»Vielleicht reden Sie am besten doch mit unserem Chef. Das ist
Commissaire Jean-Martin Lambert.«
»Und wo finde ich den?«
Der Beamte streckte die Hand aus und deutete auf einen Mann im
hellen Mantel, korpulent, breitschultrig und mit einem Gesicht, das
ausgesprochen kantig wirkte.
Bei ihm waren mehrere Polizisten.
»Danke«, sagte ich und ging los.
Mir fiel auf, dass die Vorderfront des Lastwagens voller Blut
war. Der Tote war wohl schon geborgen worden. Jedenfalls sah ich
einen Zinksarg. Auf der Straße war ebenfalls viel Blut.
»Wir müssen auf die Spurensicherung warten«, meinte einer der
Beamten der Polizei.
»Sie sehen doch, was hier los ist! Bis es die Kollegen vom
Erkennungsdienst aus Pointe-Rouge hierher geschafft haben, reicht
der Stau bis nach Noailles«, meinte der Mann, der mir als
Commissaire Jean-Martin Lambert gezeigt worden war. Er wischte sich
mit einem Taschentuch über das Gesicht. Offenbar schwitzte er, was
allerdings nicht an der Temperatur liegen konnte. Es war nämlich
ein lausig kalter Tag. »Suchen Sie das Projektil! Das brauchen wir
unbedingt. Auf alles andere werden wir wohl verzichten
müssen.«
Als ich Commissaire Lambert ansprach und mich vorstellte,
schien er alles andere als begeistert darüber zu sein, dass ich
hier auftauchte. Aber dann wurde er doch etwas zugänglicher, als es
zunächst zu erwarten gewesen war.
»Commissaire Daniel Poincheval hat offenbar im Parc de la
Ville gejoggt. Er wohnt hier in der Nähe und wollte über die
Straße. Anscheinend hat er nicht die Grünphase abgewartet, sondern
versucht, zwischen den Autos über die Straße zu kommen. Dabei hat
ihn eine Kugel getroffen.«
»Von wo wurde geschossen?«
»Vom Park aus. Irgendwo dahinten zwischen den Büschen muss
sich der Täter verborgen haben. Es gibt ein paar Zeugen, die genau
gesehen haben, was geschehen ist. Der Schütze hat sich für seinen
Schuss einen Moment ausgesucht, in dem maximales Chaos entstehen
musste. Wahrscheinlich hätte es Daniel Poincheval geschafft, die
Straße zu überqueren, aber durch den Schuss taumelte er vor den
Lastwagen. Und der hat versucht auszuweichen. Das Ergebnis sehen
Sie ja. Es gibt noch ein halbes Dutzend leicht verletzter
Verkehrsteilnehmer, einen Lastwagenfahrer, der unter Schock steht,
und einen umgestürzten Anhänger, der geborgen werden muss, ehe es
hier wieder fließen kann.«
»Verstehe«, sagte ich, obwohl das reichlich übertrieben war.
Ich hatte bis jetzt nur ein sehr grobes Bild der
Geschehnisse.
Commissaire Lambert atmete tief durch und seufzte hörbar. Sein
Gesicht bekam jetzt einen ziemlich finsteren Zug.
»Ich sage Ihnen eins: In all den Jahren, die ich schon im
Dienst bin, habe ich kaum je eine Leiche wie diese gesehen. Der
Lastwagen hat Daniel Poincheval voll erwischt. So einen Anblick
vergisst man nicht. Ehrlich, wenn ich am Steuer des Lastwagens
gesessen hätte, ich glaube nicht, dass ich meinen Job noch machen
könnte.«
»Aber der Fahrer konnte nichts dafür«, schloss ich.
Commissaire Lambert schüttelte den Kopf.
»Natürlich nicht! Ich frage mich wirklich, wer so etwas
macht!«
Ich deutete auf das Gebäude, in dem Poincheval wohnte.
»Und das Opfer hat wirklich hier gewohnt?«
»So stand es in dem Ausweis, den er bei sich trug.«
»Ich wundere mich nur.«
»Wieso?«
»Weil das Haus dort eine ziemlich teure Adresse ist.
Eigentlich zu teuer, um sich die Miete von einer Pension der
Polizei von Marseille leisten zu können.«
Lambert runzelte die Stirn.
»Wollen Sie dem armen Kerl noch was anhängen? Er hat eine
Kugel in den Kopf gekriegt und wurde auch noch vom Lastwagen
erwischt, das ist schon schlimm genug. Da sollte man nicht auch
noch seinen Ruf infrage stellen, wozu es nun wirklich keinen Anlass
gibt.«
Er wirkte sehr entschieden, und ich war mir sicher, dass das
nur einen Grund haben konnte.
»Sie kannten Poincheval persönlich?«
Jean-Martin Lamberts Gesicht wurde zur grimmigen Maske. Die
ganze Wut über das Geschehene kam darin zum Ausdruck. Eine
ohnmächtige Wut, denn niemand konnte es ungeschehen machen. Und
selbst wenn der Täter schnell gefasst und der Justiz zugeführt
wurde, konnte das den Schmerz nicht lindern. Ich wusste das nur zu
gut. Denn schließlich hatte ich im Laufe der Zeit auch immer wieder
Kollegen im Einsatz verloren. Ob man sich nahegestanden hat, ist
dabei gar nicht so entscheidend. Man denkt eben immer, dass es
genauso gut auch einen selbst hätte treffen können und
identifiziert sich mit dem Opfer.
»Wir haben ein paar Jahre zusammen auf demselben Revier
gearbeitet«, sagte Lambert. »Poinchevals Abteilung war geschlossen
worden, und man hatte ihn kurz vor der Pension auch noch im Rang
degradiert. Er musste sich in den letzten Jahren wieder
hocharbeiten.«
»Wieso das denn?«
»Was weiß ich. Da hat ihm jemand was angehängt. Aber so ist
das heute! Da bleibt einem bei einer Razzia etwas Koks am Ärmel
haften, weil eine von diesen Zuckertüten aufgeplatzt ist, und schon
schreit irgendjemand: Beweismittelunterschlagung! Ich kann Ihnen da
was erzählen …«
»Und wie war das genau bei Poincheval? Hat er Ihnen mal
Genaueres darüber gesagt?«
»Ich wusste es doch! Sie wollen ihm doch noch nachträglich was
am Zeug flicken.«
»Nein, wirklich nicht. Es ist einfach nur so: Jemand hat ihm
eine Kugel in den Kopf gejagt, und dafür muss es ein Motiv
geben.«
»Komisch, dass mich niemand angerufen hat, dass die FoPoCri
den Fall übernimmt. Sonst läuft das eigentlich etwas anders.«
Ich merkte, dass ich bei Lambert in ein Wespennest gestochen
hatte. Er war reichlich empfindlich, was den toten Poincheval
anging, und ich biss bei ihm wohl auf Granit. Im Moment hatte es
wohl keinen Sinn, weiter nachzubohren. Und im Grunde hatte er ja
recht. Das war nicht unser Fall. Vielleicht war einfach die
berufsbedingte Neugier mit mir durchgegangen.
»Monsieur Lambert!«, rief eine durchdringende Stimme. »Wir
haben das Projektil!«
»Na, wenigstens etwas«, knurrte Lambert. Er wandte sich an
mich: »Sie sehen, dass mein Typ verlangt wird. Ich muss arbeiten.
Vermutlich laufen wir uns noch einige Male hier über den
Weg.«
»Ja, vermutlich«, murmelte ich.
Ich konnte Lambert sogar etwas verstehen. Ich selbst hätte
vielleicht auch etwas unwirsch reagiert, wenn sich jemand anderes
in meinen Fall eingemischt hätte.
Mir fiel der Lastwagenfahrer auf. Jemand von der
Notfallambulanz hatte ihm eine Decke um die Schulter gelegt. Aber
im Moment konnte sich wohl niemand weiter um ihn kümmern, denn die
Verletzten hatten natürlich Vorrang. Er stand neben seinem Fahrzeug
und hielt zitternd einen Becher mit einem Getränk. Sein Blick war
starr, und es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn das Geschehene
mitgenommen hatte. Ich ging zu ihm. Er sprach mich gleich an.
»Ich konnte nichts dafür«, stammelte er. »Wirklich, ich konnte
nichts dafür.«
»Das hat auch niemand behauptet«, sagte ich. Ich zeigte ihm
meinen Ausweis. Er achtete nicht weiter darauf. Es war ihm offenbar
völlig gleichgültig, wen er vor sich hatte. Er suchte einfach nur
jemanden, dem er sagen konnte, was ihn im Moment belastete.
»Ich fahre die Strecke hier öfter«, sagte er. »Den Kerl habe
ich schon öfter gesehen. Der achtet nie auf die Ampel. Ist ein
guter Läufer und heute …« Er schluckte. »Der hätte schon an mir
vorbei sein müssen! Mein Gott, wie kann das nur geschehen sein
…«
»Er wäre Ihnen nicht vor den Wagen gelaufen, wenn er keine
Kugel in den Kopf bekommen hätte«, sagte ich. »Derjenige, der das
getan hat, hat ihn auf dem Gewissen, nicht Sie. Und selbst sein
Leichtsinn hätte ihn wohl sonst auch nicht getötet.«
»Ich habe versucht auszuweichen.«
»Ja, ich weiß.«
»Scheint, als hätte ich alles nur noch schlimmer gemacht,
was?«
»Das würde ich so nicht sagen. Und im Übrigen hatten Sie nur
einen Sekundenbruchteil Zeit, um zu entscheiden, was Sie tun
würden. Und ganz ehrlich: Ich wüsste nicht, was ich in Ihrer
Situation getan hätte.«
»Wenn Sie das sagen …«
»Das können Sie mir ruhig glauben.«
»Scheiße, ich weiß nicht, ob ich je wieder in eine
Fahrerkabine steigen kann! Ich sehe ihn dauernd vor mir.«
»Sie hätten den Tod dieses Mannes nicht verhindern können«,
sagte ich, auch wenn man so etwas streng genommen nie vor Abschluss
einer Untersuchung äußern sollte. Schließlich wird die ja
ergebnisoffen geführt, und man weiß nie, was am Ende dabei
herauskommt. Aber in diesem Fall ging es einfach nur darum, einen
Mann psychisch etwas zu stabilisieren, der jeden inneren Halt
verloren hatte.
»Ich glaube, Sie brauchen dringend jemanden, mit dem Sie über
diese Dinge reden können«, gab ich meiner Überzeugung
Ausdruck.
»Einen Anwalt«, meinte er. »Ja, ich schätze, den werde ich
brauchen. Und ich schätze, die Versicherung wird mich vermutlich
wohl auch im Stich lassen.«
»Ich dachte eigentlich an einen Psychologen und nicht an einen
Anwalt«, erwiderte ich. »Haben die von der Notfallambulanz Ihnen
jemanden genannt, an den Sie sich wenden können?«
»Nein. Die haben alle Hände voll mit denen zu tun, die
wirklich was abgekriegt haben.«
»Sie haben auch etwas abgekriegt, auch wenn man äußerlich
nichts sieht.« Ich gab ihm eine Karte, auf der die Nummer eines
Psychologen stand, der mit der FoPoCri zusammenarbeitete. Dort
würde man ihn auf jeden Fall weiter verweisen können. »Rufen Sie
hier an!«, riet ich ihm.
»Mal sehen.«
»Versprechen Sie es mir!«
»Ich verspreche es.«
»Okay.«
»Da war übrigens noch ein zweiter Jogger, der am Straßenrand
gewartet hat. Aber die beiden gehörten zusammen, da bin ich mir
sicher.«
»Können Sie diesen zweiten Jogger beschreiben? Er könnte ein
wichtiger Zeuge sein.«
»Grauhaarig, hager, Mitte fünfzig, aber fit. Ein Gesicht so
zerfurcht wie das von Clint Eastwood. Aber wenn man sich beim
Laufen zu sehr anstrengt, sieht wohl jeder so aus.«
»Danke.«
Ich ließ ihn allein und sah mich nach dem zweiten Jogger um.
Es war aber nirgends etwas von ihm zu sehen. Inzwischen fingen die
Kollegen der Polizei damit an, den aufgestauten Verkehr über
Nebenstraßen abzuleiten. Damit waren dort kleinere Staus wohl
vorprogrammiert. Aber so lange der Lastwagen und die anderen
Unfallwagen nicht weggeräumt waren, war das die einzige
Möglichkeit, den Stau zu entschärfen.
Ich musste mich also auf den Weg zurück zum Jaguar machen.
Aber vorher berichtete ich noch Commissaire Jean-Martin Lambert von
dem zweiten Jogger.
»Mir ist nichts von einem zweiten Jogger bekannt«, meinte
Lambert.
»Warum sollte der Lastwagenfahrer ihn erfinden? Ich bin
überzeugt, dass es ihn gegeben hat – und wenn er sich aus dem Staub
gemacht hat, bevor die Polizei hier war, dann macht ihn das
eigentlich nur noch interessanter.«
»Wir kümmern uns darum«, versprach Lambert. Für mich klang das
nicht so, als stünde der zweite Jogger bei Lambert ganz oben auf
der Prioritätenliste seiner Ermittlungsarbeit. Aber ich hatte
zumindest meine Pflicht erfüllt.
5
Ich spurtete zurück und erreichte den Jaguar gerade noch
rechtzeitig, bevor sich die ganze Blechlawine wieder in Bewegung
setzte. Mehr als Schritttempo war allerdings zunächst nicht
drin.
Ich setzte mich neben François auf den Beifahrersitz.
»Ich hoffe, du hast deine Neugier stillen können.«
»Hast du mal irgendwann einen Polizisten kennengelernt, der
Daniel Poincheval heißt?«
»Ich bin mir nicht sicher … Marseille ist keine Kleinstadt,
und es gibt hier mehr Polizisten und Commissaires, als ich mir
merken könnte. Und wenn man dann noch die Personalfluktuation
bedenkt … Aber war da nicht mal was mit einem, der sich wieder zum
Commissaire hochgedient hat, nachdem er zwischenzeitlich degradiert
worden war? Ich kann mich dunkel erinnern.«
»Da erinnerst du dich richtig. Poincheval ist auf offener
Straße erschossen worden. Mit einem einzigen Schuss.«
»Ein Profi?«
»Jedenfalls jemand, der verdammt gut schießen konnte. Saß in
den Büschen beim Park und hat darauf gewartet, dass Poincheval die
Straße überquert, um nach dem Jogging zu seiner Wohnung auf der
gegenüberliegenden Seite zurückzukehren.«
»Ich dachte immer, es sei ziemlich teuer dort!«
»Poincheval muss entweder eine besonders dicke Pension gehabt
haben, oder er hat nach seinem Dienst bei der Kripo noch
irgendetwas anderes angefangen.«
»Vielleicht reich geheiratet?«
»Auch möglich.«
»Ist aber nicht unser Fall, Pierre.«
»Kann schon sein, aber irgendwie beschäftigt mich die
Sache.«
»Monsieur Marteau wird schon dafür sorgen, dass wir in Kürze
so mit Arbeit überhäuft werden, dass sich deine Gedanken wieder auf
Sachen konzentrieren, die uns auch was angehen, Pierre.«
Aber irgendwie hatte ich es im Gefühl, dass uns dieser Fall
noch länger beschäftigen würde.
6
Als wir im Büro unseres Chefs ankamen, hatte das Meeting
längst begonnen. Allerdings waren wir nicht die einzigen, die zu
spät dran waren. Wie uns Monsieur Marteau mitteilte, fehlte noch
eine Kollegin aus Paris. Ihr Name war Madeleine Donnaire, und sie
sollte uns eigentlich mit den jüngsten Erkenntnissen über einen
Fall vertraut machen, mit dem wir uns in Zukunft zu befassen
hatten. Commissaire Donnaire hatte einen Flieger aus Paris
genommen, und der war mit Verspätung gestartet.
Aber wie uns Monsieur Marteau berichtete, war Madame Donnaire
inzwischen am Marseiller Flughafen gelandet und auf dem Weg zu uns.
Außer François und mir waren noch die Kollegen Stéphane Caron
und Boubou Ndonga anwesend. Außerdem unser Innendienstler Maxime
Valois, der die Anwesenden wohl schon mit einem ersten Schwung an
Informationen versorgt hatte.
»Ihre Kollegen Josephe Kronbourg und Léo Morell sind bereits
unterwegs, um Ermittlungen in Niolon anzustellen«, erklärte uns
Monsieur Marteau. »Es geht um eine landesweite Mordserie an
Ex-Polizisten, die allesamt in einer Marseiller Spezialeinheit
gegen das organisierte Verbrechen gedient haben. Die meisten von
Ihnen werden die Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität
wohl nur noch dem Hörensagen nach kennen.«
»Die Truppe hatte keinen ganz astreinen Ruf«, meinte François.
»Jedenfalls habe ich so was gehört.«
»Deswegen ist diese Abteilung ja schließlich auch aufgelöst
worden«, erklärte Monsieur Marteau. »Es gab alle möglichen
Unregelmäßigkeiten und Gesetzesverstöße in den Reihen der
Abteilung. Das meiste davon konnte oder wollte seinerzeit niemand
wirklich bis zum bitteren Rest aufklären. Es ging um Unterschlagung
und Manipulation von Beweismitteln, unter Druck gesetzte Zeugen,
Polizeigewalt, und noch eine Handvoll anderer Dinge. Das erste
Opfer der Mordserie war der Chef der Abteilung Schwere und
Organisierte Kriminalität, Commissaire Robert Matisse. Er wurde auf
seinem Motorboot durch einen Scharfschützen umgebracht. Opfer
Nummer zwei und drei starben in Aubagne: Baptiste Dubois und
Bertrand Arthur Fissou. Wobei zu erwähnen ist, dass Bertrand Fissou
Zeuge des Anschlags auf Matisse in Niolon vor zwei Wochen war und
sich vielleicht schon zu diesem Zeitpunkt im Visier des Täters
befand.«
»Gehörte zufällig auch ein gewisser Ex-Commissaire namens
Daniel Poincheval zu dieser Abteilung?«, fragte ich.
Unser Chef sah mich an. Für einen kurzen Moment konnte er
seine Überraschung nicht verbergen, obwohl er ansonsten seine
Gesichtszüge immer ziemlich gut unter Kontrolle zu halten vermag,
sodass man nie genau weiß, was gerade in ihm vorgeht.
»Der Fall Poincheval ist heute Morgen dazugekommen. Ich habe
schon mit dem Chef der zuständigen Mordkommission, Commissaire
Jean-Martin Lambert, telefoniert. Poincheval gehört auch zu dieser
Serie.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Besprechungsraums,
und Melanie führte eine Frau mit langen, roten Haaren herein. Sie
war klein und zierlich, aber der Blick ihrer grünen Augen verriet
sehr viel Energie.
»Madeleine Donnaire, FoPoCri Paris«, sagte Melanie. Die
Sekretärin unseres Chefs stellte uns Commissaire Donnaire gegenüber
der Reihe nach kurz vor.
»Schön, dass Sie es doch noch geschafft haben, Commissaire
Donnaire«, sagte Monsieur Marteau. »Ich denke nicht, dass wir auf
Ihre Erkenntnisse verzichten können.«
»Ich werde noch eine Weile hier in Marseille bleiben und stehe
Ihnen zur Unterstützung Ihrer Ermittlungen zur Verfügung«, sagte
Madeleine Donnaire. »Alle Spuren unserer bisherigen Ermittlungen in
Paris führten ohnehin in Richtung Marseille.«
»Ihr Präsidium hat Sie abgeordnet«, stellte Monsieur Marteau
fest.
Madeleine Donnaire nickte.
»Das ist angesichts der Lage naheliegend.«
»Dann freuen wir uns auf die Zusammenarbeit, Commissaire
Donnaire.«
Unsere Kollegin aus Paris holte ein Netbook aus ihrer Tasche
und schloss einen Beamer an.
Wir sahen eine Video-Sequenz, die zwei Männer in einem
Nachtclub zeigte. Die Latino-Musik, die hier gespielt wurde, war
viel zu laut, um verstehen zu können, was gesagt wurde. Und da der
Blickwinkel nicht immer ganz günstig war, hätten wohl selbst
Lippenleser Schwierigkeiten gehabt, zu ermitteln, was unter den
beiden besprochen wurde.
»Sie sehen hier Robert Matisse zusammen mit Murat Abbas. Abbas
ist der Chef eines Syndikats von Libanesen, das sich die Schwarze
Gesellschaft nennt. Sie beherrscht in einigen Stadtteilen von Paris
den Kokainhandel und die Prostitution.«
Die Video-Sequenz zeigte, wie sich sowohl Matisse als auch
Murat Abbas Kokain schnupften. Zwei junge Frauen kamen dazu,
lachten so schrill, dass sie sogar durch die stampfenden Beats zu
hören waren, und bedienten sich dann ebenfalls an dem Kokain, das
einfach so auf dem Tisch lag. Die Stimmung war ausgelassen.
Insbesondere Matisse schien ausgesprochen guter Laune zu sein. Er
lachte sehr dröhnend und auffällig.
»Wann ist das aufgenommen worden?«, wollte Maxime Valois
wissen.
»Ungefähr einen Monat vor Robert Matisses Ermordung«, erklärte
Madeleine Donnaire. »Die Aufnahme entstand im Rahmen einer längeren
Observation, die eigentlich Murat Abbas galt. Die Kollegen hofften
eigentlich, Abbas an diesem Abend bei einem Drogendeal erwischen zu
können, der groß genug gewesen wäre, um ihn für die nächsten Jahre
aus dem Spiel nehmen zu können. Wir hatten einen Tipp
gekriegt.«
»Und?«, hakte Monsieur Marteau nach.
»Das hat leider nicht geklappt. Der Tipp war wohl faul, oder
Abbas ist rechtzeitig durch irgendwen gewarnt worden.«
»Ich hoffe nicht, dass so jemand bei Ihnen einen Maulwurf im
Präsidium hat.«
»Können Sie so etwas in Ihrem Präsidium denn definitiv
ausschließen?«, gab Madeleine Donnaire zurück. Und als Monsieur
Marteau darauf nicht sofort antwortete, fuhr sie fort: »Ich glaube,
das kann niemand. So etwas kommt leider immer wieder vor. Und davon
abgesehen, genügt es inzwischen häufig schon, wenn man einen guten
Hacker bezahlt. Dann braucht man noch nicht einmal einen Polizisten
zu bestechen, weil man dann direkten Zugriff auf alle Einsatzdaten
hat. Wir geben uns zwar in puncto Sicherheit der Systeme alle Mühe,
aber Sie wissen ja, wie das ist.«
»Wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel«, sagte Monsieur
Marteau.
»Nur, dass unsere Seite leider nicht der schlaue Igel ist, der
immer schon da ist, wenn der Hase endlich ankommt. Aber zurück zu
Murat Abbas. Abbas hat enge, kriminelle Beziehungen zu seinem
Bruder Selim Abbas, der sich vor fünf Jahren hier in Marseille
niedergelassen hat. Ein schlimmer Finger, Sie sollten von ihm
gehört haben.«
»Drogen, Geldwäsche und alles, was sonst noch einträglich und
illegal ist«, sagte Stéphane Caron dazu. »Nur gehört er zu denen,
die sich clever genug anstellen, um nicht in den Maschen der Justiz
hängen zu bleiben.«
»Richtig«, nickte Madeleine Donnaire. »Und das liegt wohl
daran, dass solche Leute die heiklen Dinge immer von anderen
erledigen lassen und dann selbst mit einem weißen Kragen dastehen.
Die Kugel, die Matisse tötete, wurde untersucht und einer Waffe
zugeordnet, die von einem Profi-Killer benutzt wurde. Bekannt ist
dieser Killer nur unter dem Namen der Knipser. Er war hier in
Marseille besonders aktiv, und in den Akten steht, dass man immer
vermutet hat, dass er Teil der Marseiller Unterwelt ist.«
»Der Knipser«, murmelte Monsieur Marteau nachdenklich. »Das
ist schon lange her …«
»Der Knipser ist den SIS-Daten nach seit fast zwei Jahrzehnten
nicht mehr tätig gewesen«, erklärte Madeleine Donnaire. »Aber aus
irgendeinem Grund muss er seinen Ruhestand aufgegeben haben. Und
das, würde ich sagen, ist bei einem Lohnkiller dieser Kategorie nur
dann anzunehmen, wenn er sehr, sehr viel Geld dafür bekommen
hat.«
»Sie meinen, es steckt ein ganz großer Fisch dahinter?«,
schloss Monsieur Marteau.
»Auf jeden Fall jemand, der Geld genug hat, um sich die
Dienste des Knipsers leisten zu können. Da gibt es auch in
Marseille nur eine überschaubare Anzahl von Personen. Und wenn Sie
das noch in Verbindung mit Robert Matisses ehemaliger Arbeit bei
der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität abgleichen und
außerdem seine offensichtlich freundschaftlichen Verbindungen zum
Abbas-Clan berücksichtigen …«
»Wir werden einen entsprechenden Abgleich durchführen und
freuen uns über Ihre Unterstützung«, sagte Maxime Valois, in dessen
Ressort diese Art von Fahndungsarbeit fiel.
»Ich habe bereits etwas vorgearbeitet«, erklärte Madeleine
Donnaire. »Meiner Ansicht nach bleiben da nur ein paar Namen übrig:
Alle, die zum Abbas-Clan gehören oder mit ihm verbunden sind, und
deren Feinde. Entweder musste Matisse sterben, weil er zu eng mit
den Abbas’ verbunden war, oder er wurde für die Abbas’ selbst zum
Risiko, weil er vielleicht zu viel über deren Geschäfte wusste und
man ihn sich deswegen vom Hals schaffen musste.«
»Das würde noch nicht die anderen Toten erklären«, mischte ich
mich ein.
»Es sei denn, wir fänden auch bei denen eine Verbindung zu den
Abbas’.«
»Das heißt, bisher hat man da noch nichts gefunden?«,
vergewisserte ich mich.
Madeleine Donnaire sah mich an und hob die Augenbrauen auf
eine Weise, die fast schon einem Tadel gleichkam. »Wir stehen erst
am Anfang unserer Ermittlungen, Monsieur …«
»Marquanteur. Aber Sie können ruhig Pierre sagen.«
»Für den Anfang belasse ich es lieber bei Monsieur
Marquanteur.«
Monsieur Marteau ergriff nun das Wort: »Ihr Ermittlungsansatz
ist durchaus plausibel, und wir werden Sie gerne dabei
unterstützen, dieser Spur nachzugehen. Ich schlage vor, Sie
arbeiten dabei mit Commissaire Caron zusammen, meinem
Stellvertreter.«
»Freut mich, dass Sie meiner Meinung sind und …«
»Allerdings werden wir die Ermittlungen ergebnisoffen und in
verschiedene Richtungen führen«, unterbrach Monsieur Marteau
Madeleine Donnaire auf eine Weise, die deutlich machte, dass er in
diesem Punkt nicht bereit war, sich auf Diskussionen einzulassen.
»Die Abteilung, die Robert Matisse hier in Marseille geleitet hat,
ist nicht gerade für ihre vorbildliche Einhaltung der Gesetze
bekannt gewesen. Da wird es mehr als genug Leute geben, die ein
Mordmotiv hätten …«
»Die aber zum größten Teil wohl nicht die Mittel hätten, um
sich einen Killer wie den Knipser zu leisten«, fuhr Madeleine
Donnaire unserem Chef in die Parade.
Monsieur Marteau ging auf diesen Einwurf nicht weiter ein.
Äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Aber wer ihn besser kannte,
wusste, dass er es nicht besonders schätzte, auf diese Weise
unterbrochen zu werden.
»Maxime, haben Sie bereits die gegenwärtigen Aufenthaltsorte
aller ehemaligen Mitglieder der besagten Abteilung
ermittelt?«
»Wir sind dabei. Einige Ex-Commissaires der Abteilung Schwere
und Organisierte Kriminalität sind anscheinend regelrecht
untergetaucht.«
»Also, um nach Paris umzuziehen, wie dieser Matisse, genügt
schon das bessere Wetter als Argument«, kommentierte unser Kollege
Boubou Ndonga.
»Jedenfalls sind inzwischen alle ehemaligen Mitglieder von der
Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität, die erreichbar
waren, gewarnt und aufgefordert worden, sich bei der FoPoCri zu
melden«, ergänzte Maxime.
7
Zwanzig Minuten später saßen François und ich im Wagen und
waren auf dem Weg nach Noailles. In der Nähe des Hafens bewohnte
Jérôme Tambour eine der schönen Villen, die es dort gab. Es war
eine Traumlage. Man hatte eine freie Sicht aufs Meer und konnte den
Schiffen zusehen, die in Richtung Marseiller Hafen einfuhren.
Eine Frau in den Fünfzigern empfing uns.
»Ich bin Elaine Tambour – und falls Sie nicht etwas wirklich
Wichtiges mit meinem Mann zu besprechen haben, sollten Sie wieder
gehen.«
François und ich zeigten ihr die Dienstausweise. Sie sah nicht
einmal hin.
»Mein Name ist Pierre Marquanteur, und dies ist mein Kollege
François Leroc. Wir sind Kriminalbeamte und …«
»Ich glaube, Sie sagten so etwas ähnliches schon, als Sie die
Sprechanlage benutzten. Und ich muss anscheinend ebenfalls
wiederholen: Überlegen Sie sich ehrlich gut, ob es nötig ist,
Jérôme damit zu belästigen. Aber das müssen Sie
verantworten.«
»Ich denke, das Leben von Monsieur Tambour sollte uns allen
wichtig genug sein. Und genau darum geht es im Moment.«
Elaine Tambour verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das von
tiefer Bitterkeit gezeichnet war. Sie strich sich eine verirrte
Strähne ihres leicht angegrauten dunklen Haares zurück, die sich
aus ihrer ansonsten recht strengen Knotenfrisur irgendwie
herausgestohlen hatte.
»Was Sie nicht sagen.«
»Es ist mir wirklich sehr ernst«, sagte ich vielleicht eine
Spur zu ungeduldig. »Und jetzt führen Sie uns bitte zu Ihrem Mann.«
»Jérôme ist sehr krank. Ich nehme an, dass Sie davon gehört
haben.«
»Nein, davon war mir nichts bekannt.«
»Er hat nicht mehr lange zu leben, und ich weiß nicht, ob es
wirklich nötig ist, dass Sie einem Kollegen die letzten Tage zur
Hölle machen, indem Sie irgendeinen dieser alten Fälle aus seiner
aktiven Zeit bei der Abteilung Schwere und Organisierte
Kriminalität ausgraben, um ihm daraus einen juristischen Strick zu
drehen. Nur, weil sich irgend so ein Drogendealer, der etwas hart
angefasst wurde, plötzlich nach zwanzig Jahren daran erinnert, dass
er misshandelt wurde oder unter Druck gegen jemanden ausgesagt
hat.« Sie hob das Kinn. »Das sind doch alles nur Leute, die darauf
hoffen, dass ihnen irgendein Gericht Geld zuspricht. Geld, das
diese seelenlosen Kreaturen nicht selbst erarbeiten müssen.«
»Haben Sie davon gehört, dass in letzter Zeit einige ehemalige
Mitglieder der Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität von
einem Unbekannten umgebracht wurden?«
Ihr Gesicht veränderte sich. Es schien zu erstarren. Elaine
Tambours Blick war schwer zu deuten. Und nach einem kurzen Moment
hatte sie ihre Gesichtszüge auch wieder vollkommen unter Kontrolle.
Ihr Lächeln wirkte geschäftsmäßig und nichtssagend.
»Nein, das ist mir neu. Und ich glaube auch nicht, dass es der
richtige Moment ist, um meinen Mann damit zu belasten.«
»Hatte er noch Kontakt zu den Mitgliedern seiner
Sondereinheit?«
»Es kamen da immer ein paar Karten zu Weihnachten. Aber Jérôme
hat sie nicht weiter beachtet.«
»Irgendjemand hat einen Killer losgeschickt, der nach und nach
die ehemaligen Mitglieder der Abteilung Schwere und Organisierte
Kriminalität umbringt. Wir wissen nicht, weshalb, aber Ihr Mann
dürfte ebenfalls in Gefahr sein.«
»Wie ich Ihnen gegenüber schon erwähnte – mein Mann ist aus
ganz anderen Gründen in Gefahr. Und davor wird ihn wohl auch kein
Polizeischutz, oder was immer Sie ihm ansonsten noch möglicherweise
anbieten wollen, schützen können.« Madame Tambours Stimme bekam
einen rauen, bitteren Unterton.
»An was für einer Krankheit leidet Ihr Mann?«, fragte
François.
Elaine Tambour wandte den Kopf um ein paar Grad und musterte
meinen Kollegen einen Moment.
»Es handelt sich um eine degenerative Erkrankung der Nerven
und Muskeln, die sehr selten ist und unweigerlich zum Tod führt.
Irgendwann in nächster Zeit wird Jérôme nicht einmal mehr in der
Lage sein zu atmen, so schwach wird er dann sein. Wer weiß,
vielleicht würde für ihn der Schuss dieses Killers sogar so etwas
wie Erlösung bedeuten.« Sie verschränkte die Arme vor Brust. »Es
mag Ihnen hart erscheinen, wenn ich das sage, aber es ist
tatsächlich die Wahrheit. Jérôme hat selbst oft genug davon
gesprochen.« Sie wandte sich um. »Kommen Sie – und vermiesen Sie
einem todkranken Mann seine letzten Tage mit Fragen, die für ihn
gar keine Bedeutung mehr haben, Messieurs!«
François und ich sahen uns kurz an.
Bei allem Respekt vor dem schweren Schicksal, das Jérôme
Tambour ereilt hatte, so schien es mir doch, als hätte Elaine
ziemlich dick aufgetragen.
Wir folgten ihr. Sie führte uns hinaus auf die Terrasse. Dort
saß der ehemalige Commissaire Jérôme Tambour in einem Rollstuhl. Er
war zum Skelett abgemagert. Ich hatte Fotos von ihm aus seiner
aktiven Zeit gesehen. Natürlich war seitdem eine lange Zeit
vergangen, die an niemandem spurlos vorübergerauscht wäre. Aber die
Veränderung, die Tambour hinter sich hatte, war erschreckend. Er
atmete schwer. Er blickte hinaus und schien den traumhaften
Ausblick zu genießen.
Ein Schiff machte durch ein Signalhorn auf sich aufmerksam. Es
handelte sich um einen Frachter. Und eine der Fähren war im Moment
exakt auf halbem Weg und wurde von der Sonne auf eine Weise
angestrahlt, dass sich das Licht in den Scheiben spiegelte und
grell aufblitzte.
»Jérôme, es ist Besuch für dich da«, sagte Elaine Tambour.
»Zwei Kriminalbeamte.«
Tambour war offenbar nicht in der Lage, seinen Kopf aus
eigener Kraft zu wenden. Als Elaine den Rollstuhl etwas drehte,
bemerkte ich, dass der Kopf des ehemaligen Commissaire von einer
Halterung fixiert wurde. Er war offenbar auch nicht in der Lage,
ihn aus eigener Kraft zu halten.
Er sprach schleppend und undeutlich. Ich konnte ihn kaum
verstehen. Seine Lippen bewegten sich kaum dabei.
»Er freut sich, Sie zu sehen«, übersetzte uns seine Frau, was
Tambour gerade gesagt hatte.
Die Vernehmung Tambours würde wohl etwas langwieriger und
schwieriger werden, als wir gedacht hatten. Aber so schrecklich
sein gesundheitlicher Zustand auch sein mochte, so bot er für
unsere Ermittlungen doch auch eine Chance. Die Nähe des Todes
verändert einen Menschen. Das ist unweigerlich so und vollkommen
unvermeidlich. Oft genug haben die Betreffenden dann vor ihrem
nahen Ende das Bedürfnis, noch einmal reinen Tisch zu machen. Ganz
gleich, welcher religiösen Überzeugung der Betreffende auch sein
mochte oder wie viel Mühe er sich bis dahin gegeben hatte, gewisse,
ihn selbst belastende Informationen unter der Decke zu halten, so
änderte sich im Angesicht des Todes die Einstellung dazu. Es
scheint einfach ein allgemeines menschliches Bedürfnis zu sein,
sich vor dem Ende zu offenbaren, und nicht umsonst messen auch
unsere Gerichte den letzten Worten Sterbender eine besondere
Glaubwürdigkeit zu.
»Sie kommen wegen Mahmud Hagira?«, hauchte er. Ich hatte mich
offenbar schon etwas besser auf seine undeutliche Sprechweise
eingestellt. Zumindest verstand ihn ihn einigermaßen, auch wenn ich
mir bei der genauen Bedeutung einzelner Worte nach wie vor nicht
ganz sicher war. Aber ich erfasste die Bedeutung dessen, was er
gesagt hatte. Zumindest einigermaßen.
»Wer war Mahmud Hagira?«, fragte ich und vergewisserte mich
dabei gleichzeitig darüber, ob ich diesen Namen überhaupt richtig
verstanden hatte.
»Ein Dealer«, murmelte er. Er setzte dreimal an, um diese zwei
Worte auszusprechen, und beim ersten Versuch verschluckte er sich
und lief dunkelrot an. Elaine Tambour rief nach einer
Krankenschwester, die offenbar im Haus war und sofort herbeigeeilt
kam.
»Ruth, warum sind Sie denn eigentlich nicht bei ihm?«,
herrschte Elaine Tambour sie an.
»Weil Ihr Mann allein sein wollte«, verteidigte sich die
Schwester.
Nachdem Jules-Gerard Tambours Kopf zunächst eine dunkelrote
Farbe bekommen hatte, und es so wirkte, als müsste er jeden Moment
ersticken, erholte er sich jedoch relativ schnell wieder. Sein
Gesicht blieb starr, als er sprach. Hätte er gelächelt, wäre mir
die Ironie in seinen folgenden Worten wahrscheinlich sofort klar
gewesen.
»Jeder … Atemzug kann … der letzte sein«, sagte er. »Sind Sie
… im Außendienst?«
»Ja, bin ich«, sagte ich.
»Dann gilt das auch … für Sie. Ich …« Den Rest verstand ich
nicht. Er sprach zu undeutlich. Aber Elaine schien ihn verstanden
zu haben.
»Er meint, dass das während seiner Zeit bei der Polizei bei
ihm genauso gewesen sei. Insofern sei er die Situation gewöhnt«,
erklärte sie.
»Wir … haben Mahmud Hagira umgebracht«, brachte Jérôme Tambour
jetzt überraschend klar und deutlich heraus. »Er war … ein Schwein
… und hatte es nicht anders …«
»Jérôme, was redest du da?«, unterbrach ihn Elaine.
»Ich … wollte das schon lange jemandem …«, murmelte er. »Es
war nicht … richtig … Wir … das Gesetz … gebrochen … nicht …
richtig … nicht … ich …«
Was er sagte, wurde immer unverständlicher. Er drohte sich
wieder zu verschlucken und einen Hustenanfall zu bekommen. Sein
Gesicht bekam bereits wieder eine bedenklich rote Farbe. Und Elaine
Tambour, die ihren Mann ansonsten so gut verstand, konnte oder
wollte diesmal nicht übersetzen, was er gesagt hatte.
In diesem Moment sah ich den roten Punkt an seiner Schläfe.
Weil die Sonne schien, fiel er gar nicht so sehr auf. Eine
Schrecksekunde verging. Ich konnte gerade noch den Gedanken daran
fassen, Tambour zu Boden zu reißen, aber dazu war es zu spät. Ein
Kopfschuss tötete ihn augenblicklich. Und da Tambour auf Grund
seiner Muskelschwäche ohnehin vollkommen fixiert war, saß er noch
immer starr in seinem Rollstuhl.
8
»Auf den Boden! Alle! Sofort!«, rief François
durchdringend.
Wir rissen unsere Dienstwaffen heraus. Ich ging in Deckung und
riss dabei Madame Tambour mit mir, die einfach nur starr
dagestanden und nicht reagiert hatte.
Das Gelände war abschüssig. Das Nachbargrundstück wurde von
einer brusthohen Mauer umgrenzt, dahinter wuchsen dichte Sträucher.
Aber aufgrund der Abschüssigkeit stellte das Nachbaranwesen keine
Behinderung für die Aussicht dar.
Ich bemerkte eine Bewegung in den Sträuchern. Gut möglich,
dass der Schuss von dort gefallen war. Aber sicher war das nicht.
Die Waffe des Knipsers war eine Präzisionswaffe für Scharfschützen
gewesen. Vermutlich eine Spezialanfertigung, wie man in den über
SIS zugänglichen Dossiers nachlesen konnte. Aber es war davon
auszugehen, dass sie über ähnliche Eigenschaften verfügte, wie man
sie bei Waffen für Scharfschützen finden konnte. Abgesehen von der
lasergestützten Zielerfassung gehörte eine große Reichweite dazu.
Der Täter konnte sich also sonstwo verborgen haben. Allerdings gab
es hier kaum höhere Gebäude, die sich als Ausgangspunkt für einen
derartigen Killer-Job wirklich eigneten.
Ich dachte nicht lange nach, sondern spurtete einfach los.
Dass François Verstärkung rief und sich um die Dinge kümmerte, die
jetzt unbedingt erledigt werden mussten, kalkulierte ich mit ein.
Und ebenso rechnete ich damit, dass der Täter so schnell wie
möglich davonzukommen versuchte, anstatt weiter auf der Lauer zu
liegen und jetzt auch mich ins Visier zu nehmen.
Ich näherte mich der Mauer.
Viel Deckung gab es hier nicht, und ich war mir des Risikos
voll bewusst. Wieder bemerkte ich Bewegungen in den Büschen. Ich
erreichte die Mauer in geduckter Haltung, hatte die Dienstwaffe vom
Typ SIG Sauer P 226 dabei in der Faust, und schnellte dann
plötzlich hoch.
»Nicht schießen!«
Es war eine Kinderstimme, die mir diese Worte entgegenschrie,
als ich die Waffe über die Mauer richtete. Oder eine Frau. Wieder
war da eine Bewegung zwischen den Büschen. Ein Schatten bewegte
sich.
»Komm raus!«, sagte ich. »FoPoCri!«
Das Geäst teilte sich. Ein Junge trat hervor. Er war nicht
älter als fünf und trug eine Spielzeugpistole.
»Ich habe nichts gemacht«, sagte er. »Nur mich versteckt. In
den Büschen.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht
erschrecken.«
»Bist du wirklich ein echter Polizist?«, fragte der
Junge.
»Ja.«
»Hast du auch einen Ausweis?«
»Ja.« Ich hielt ihm den Ausweis über die Mauer. Er sah ihn
sich stirnrunzelnd an. »Mein Name ist Pierre Marquanteur. Und wie
heißt du?«
»Michel.« Er streckte den Arm aus. »Ist der Ausweis echt?«,
fragte er mich dann.
»Natürlich.«
»Und deine Pistole – ist die auch echt?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Ich glaube, das Gewehr von dem Mann hier war nicht echt. Es
hat nämlich nicht geknallt, als er geschossen hat.«
Ich sah ihn ziemlich verwirrt an.
»Was für ein Mann?«, fragte ich.
»Na, der vor dem ich mich versteckt habe. Ich habe ihn genau
beobachtet. Er stand an der Mauer und hatte etwas, das sah aus wie
ein Gewehr. Oder eine Pistole.«
Dachte der Junge sich da vielleicht eine Geschichte aus? Eine,
bei der er sich schon ganz am Anfang in Ungereimtheiten
verwickelte, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er die Story
mit einem Gewehr oder einer Pistole erzählen sollte?
Das war eine Möglichkeit.
Die andere war, dass er wirklich etwas gesehen hatte, was mit
dem gerade geschehenen Mord an Jérôme Tambour zu tun hatte. In der
Ferne hörte ich die Sirenen von Einsatzfahrzeugen. François musste
sie gerufen haben. In Kürze würde es auf dem Grundstück von
Tambours Villa wie in einem Taubenschlag zugehen.
»Warte mal einen Moment!«, sagte ich. Ich steckte die Pistole
ein und kletterte über die Mauer, wobei ich mir Mühe gab, mich
nicht allzu dreckig zu machen. »Wo genau war dieser Mann?«, hakte
ich nach.
»Da vorne, wo der Stein ist.«
»Und du weißt nicht mehr, ob er eine Pistole oder ein Gewehr
hatte?«
»Erst war es eine Pistole. Und dann wurde ein Gewehr daraus.
Er hat an die Pistole Teile drangemacht, bis es ein Gewehr und so
lang war.« Er breitete die Arme aus, um mir die Länge zu
verdeutlichen, die die Waffe des Unbekannten seiner Meinung nach
gehabt hatte. »Ich habe hier nur gespielt, und dann tauchte er
plötzlich auf. Er ist genauso über die Mauer geklettert wie du. Nur
auf der anderen Seite vom Grundstück.«
Ich ließ mir von dem Jungen genau zeigen, von wo aus der
Unbekannte geschossen hatte. Und tatsächlich waren dort im Boden
Schuhabdrücke zu sehen. Abdrücke, die erstens frisch waren, und
zweitens mit absoluter Sicherheit nicht von dem Jungen stammten.
Ich griff zum Handy und machte ein paar Fotos. Und dann fiel
mir etwas Metallisches am Boden auf, ich hatte kaum zu hoffen
gewagt, so etwas zu finden.
»Was hast du da?«, fragte mich der Junge, als ich mich bückte,
um meinen Fund aufzuheben.
»Eine Patronenhülse«, murmelte ich. »Es scheint, als hättest
du die Wahrheit gesagt.«
»Natürlich habe ich das!«, gab der Kleine ziemlich empört
zurück. Das daran überhaupt jemand zweifeln konnte, verstand er
nicht.
9
Ich telefonierte kurz mit François. Der hatte schon alles
Nötige in die Wege geleitet. Um den Kerl aus den Büschen jetzt noch
zu fangen, war es wohl zu spät. Er war längst über alle Berge. Zwar
baten wir die Polizei, weiträumig Kontrollen durchzuführen, aber da
wir bisher noch nicht einmal genau wussten, nach wem wir eigentlich
suchten, war auch nicht anzunehmen, dass er uns ins Netz gehen
würde.
Der Junge hatte jedenfalls ein ziemlich großes Glück gehabt.
Der Täter schien den Kleinen tatsächlich nicht bemerkt zu haben.
Wäre es anders gewesen, hätte ein Profi-Killer dieses Kind nicht am
Leben gelassen. Das war sicher.
Ob wir allerdings von dem kleinen Michel eine brauchbare
Beschreibung bekamen, stand noch in den Sternen. Vernehmungen von
Kindern sind immer eine schwierige Sache. Und die Auswertung
solcher Aussagen ist noch komplexer. Es war jedenfalls nicht
gesagt, dass wir dadurch gleich einen brauchbaren Hinweis
bekamen.
Immerhin hatte er uns allerdings eine sehr detaillierten
Hinweis auf die Waffe gegeben. Eine Pistole, die zu einem Gewehr
wurde, so hatte er sich ausgedrückt. Das sprach für eine
zusammensetzbare Sonderanfertigung. Die Waffe eines Profi-Killers,
der nicht ständig mit einem langen Futteral durch die Gegend gehen
oder sich als Golfspieler tarnen wollte. Vielleicht ergab sich
daraus eine Spur. Schließlich gab es nicht viele, die solche Waffen
mit der notwendigen Präzision herstellen konnten. Ein Hitman wie
der Knipser hätte sich in seinem mörderischen Gewerbe kein Versagen
leisten können, denn dadurch wäre er sehr schnell selbst in
Schwierigkeiten gekommen. Und die wichtigste Voraussetzung dafür
war eine gute Waffe.