Suppe Seife Seelenheil - Matto Kämpf - E-Book

Suppe Seife Seelenheil E-Book

Matto Kämpf

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Beschreibung

Der Mann gehört abgeklärt. In Belgrad der Polizei entlaufen, irrt er in Handschellen durch die serbische Provinz. Ob das gut kommt? Auf der Schweizer Botschaft in Sarajewo wird der zerzauste Mann wieder aufgepäppelt und anschliessend repatriiert. Zurück in der Schweiz wird seine Ausflucht unter die Lupe genommen. In seinem dritten Roman seziert Matto Kämpf so liebevoll wie gnadenlos den Lebensentwurf eines mittelalten Mannes, der an der Welt und sich selbst verzweifelt. Die grosse Kämpfsche Kunst zeigt sich dabei einmal mehr in der Art, wie er in ausgelassener Komik ganz beiläufig die grossen, existenziellen Fragen aufwirft.

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Matto Kämpf

Suppe Seife Seelenheil

1. Auflage, 2022

ISBN 978-3-03853-182-1

© Der gesunde Menschenversand GmbH, Luzern

Alle Rechte vorbehalten

www.menschenversand.ch

Lektorat: Stefan Humbel

Korrektorat: Stefan Graber

Gestaltung: hofmann.to

E-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Matto Kämpf bedankt sich bei: Franziska Geiser, Stefan Humbel, Stefan Graber, Roland Reichen, Magdalena Nadolska, Ariane von Graffenried, Sina Müller und Jens Nielsen.

«Suppe Seife Seelenheil» entstand mit Unterstützung von Kultur Stadt Bern (Atelieraufenthalt) und Pro Helvetia (Werkbeitrag).

Der Verlag bedankt sich für die Unterstützung bei: Burgergemeinde Bern, KulturStadtBern, SWISSLOS – Kultur Kanton Bern.

Der gesunde Menschenversand wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Sitzen oder liegen? Das ist hier die Frage. Heutzutage sitzen die meisten. Das wirkt wacher. Du bist müde. Auf dem Sofa könntest du schlafen. Du musst abgeklärt werden, du musst abklären, so ist das. Du möchtest nicht therapiert werden, nicht therapieren. Ein Missverständnis. Aber abgeklärt muss werden. Weil du vor 37 Stunden in einem bosnisch-herzegowinischen Gebüsch gefunden wurdest. Von einem netten Bauern. Der die Polizei alarmiert hat. Die Polizei hat dich auf die Schweizer Botschaft in Sarajewo gebracht. Dort wurdest du aufgepäppelt und später repatriiert. Du wolltest nach Kroatien, warst aber schlecht informiert. Und bist in der Republik Srpska gelandet. Die Republik Srpska ist Teil von Bosnien-Herzegowina. Dein Gebüsch steht in der Nähe von Bijeljina, einer Stadt unweit der Grenze von Serbien und Bosnien-Herzegowina. Die Polizei von Bijeljina hat einen Bericht über dich geschrieben. Und übersetzen lassen.

In Strauchwerk bei Bijeljina ruinierte Kreatur aufgeladen. Kreatur zerzaust, musste geweckt sein bevor wach. Widerstand null. Transportation nach Revier. Kreatur war Hunger und Durst. Deponiert am Diwan. Viel Zeit später Beschaffenheit gut. Interrogation sofort. Kreatur scheint Schweiz. Transportation zu Sarajewo. Ambassador helvetische Union am Platz. Polizeidomäne von Bijeljina wünscht Rüstigkeit und Daseinsfreude.

Die Botschaft in Sarajewo schreibt, du seist in Belgrad mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Wird aber nicht näher erläutert. Du wirst das sicher genauer erzählen. Dazu bist du hier.

Was bist du eigentlich? Patient, Häftling, das wird sich weisen. Du kannst jederzeit aufstehen und gehen. Unter gewissen Umständen. Nicht ohne Abklärung. Vorne kommst du aber nicht raus. Das hier ist ein Polizeigebäude. Freiwillig hereinspaziert, aber jetzt bist du drin. Du befindest dich im klassischen Setting. Du liegst, du sitzt. Du schaust an die Decke, du hast den Notizblock in der Hand. Zur Notiz entschlossen. Du liegst gut. Funktionale Liege mit Nackenrolle, mehr Physiotherapie als Freud. Freud war mehr orientalischer Schnickschnack. Vom Sofa her. Vom Sofa her, da komm ich her. Nur noch die Nostalgiker liegen. Starren an die Decke hinauf und assoziieren auf sich herunter.

Wo könntest du anfangen? Als du nach Belgrad gegangen bist. Als du von der Polizei davongerannt bist. In einem Bahnhof. Du bist von der Polizei davongerannt, weil du Füsse hast. Haben sie dich verfolgt? Das weisst du gar nicht, weil du gerannt bist. Weil du Handschellen hattest und nicht hinfallen wolltest. Weil zurückschauen in jemanden hineinrennen bedeutet hätte. Hätte bedeuten können. Und mit Handschellen aufstehen geht länger als ohne. Du warst sozusagen verhaftet. Einigermassen sehr verhaftet. Vorgängig im Zug von zwei Polizisten. Sie sprachen kein Englisch. Du sahst dich bereits in einer serbischen Zelle verschmoren. Nicht mit dir. Du bist losgerannt. Fühltest dich verwegen und tollkühn. Auf der Flucht. Menschen und Lichter sind an dir vorbeigeflitzt. Aber du hast kein Aufsehen erregt. An Bahnhöfen ist rennen normal. Zum Glück ist beim Ausgang eine Schwingtüre aufgesprungen. Die Handschellen waren hinten, du hättest dich kopfvoran hindurchstossen müssen. Du hast dich zwischen Taxis hindurchgezwängt, bist hupenden Autos ausgewichen und schliesslich in einem Park gelandet. Dort hast du dich umgedreht. Nichts. Niemand auf den Fersen. Dann hast du gelacht. Puls 200, metalliger Geschmack im Mund und Lachanfall. Bei welcher Krankenkasse bist du? Sanitas. Und lachst immer noch?

Du stehst in der Abenddämmerung in einem Park in Belgrad und lachst. Hast nichts mehr und lachst. Nichts mehr zu verlieren, weil alles schon verloren. Geld, Kreditkarte, Handy, Pass, alles weg, futsch. Nur noch Handschellen. Existenzielles Theater. Du hast dich selber enteignet. Lustiger Gedanke. Man muss bei sich selber anfangen. Nicht nur die Reichen müssen enteignet werden. Auch du selber musst enteignet werden. Geld macht traurig. Es gibt nichts Deprimierenderes als die Atmosphäre in einem 5-Sterne-Hotel. Egal ob Speisesaal, Lobby oder Hotelbar, alles durchtränkt von tiefer Traurigkeit. Wie wenn eine ausgleichende Gerechtigkeit zu all den Putzfrauen und Dienern sagen möchte: Seid froh, dass ihr nicht reich seid. Kein Geld zu haben ist allerdings auch nicht ideal. Führt ebenfalls zu viel Ungutem. Drum: Unbedingt die Reichen enteignen. Um sie zu schützen. Liebe Reiche, wir nehmen euch das Geld weg, weil es euch traurig macht und verblödet. Dem können wir nicht länger tatenlos zuschauen. Wir geben euer Geld den Armen, dort verhindert es Ärger.

Du hast dich auf eine Parkbank gesetzt. Das war gar nicht so einfach. Es ging nur, weil du die Arme mit den Handschellen seitlich hinter die Lehne schieben konntest. Handschellen hinten sind blöd. Vorne ist besser. Da lässt sich noch etwas machen. Zum Beispiel an einem Strauch herumzupfen. Notfalls liesse sich aber auch hinterrücks an einem Strauch herumzupfen.

Wieso bist du nach Belgrad gegangen? Wegen einer Hochzeit. Die Hochzeit von Claudia, einer ehemaligen WG-Mitbewohnerin. In einem Städtchen in der Nähe von Belgrad. Claudia hatte in einem Seminar in Heidelberg einen Serben kennengelernt, Milan. Den hat sie geheiratet. Sie wohnen in Belgrad, aber die Hochzeit war dort, wo seine Eltern leben. Vor langer langer Zeit warst du in einer 5er-WG. Du hast mit Claudia, Marlies, Lea und Ritschi in einem Häuschen am Stadtrand gewohnt. 30 Jahre ist das her. Aus Geldmangel habt ihr alles bewohnt: die zwei Zimmer, den Keller, den Estrich und die Garage. Überall wohnte jemand. Wenn alle bei Kasse waren, habt ihr rotiert. Wer kein Geld hatte, musste in den Keller, der war gratis. Die Klammsten hausten im Keller. Bis sie wieder zu Geld kamen und den sozialen Aufstieg antreten konnten. Ihr wart alle anfangs zwanzig und im Aufruhr: Was tun? Was nicht? Wie leben? Wie nicht? Auswüchse aller Art. Schlimm und schön. Ihr habt im Nebel gelebt. Alle Informationen waren von irgendwoher, vom Hörensagen, von entfernten Kolleginnen, diffus, kein Internet, alles ein Mysterium. Alles seltsam und verstörend, aber auch verheissungsvoll. Du warst dauerirritiert. Laufend kamen dir Sachen zu Ohren. Der Sänger von Black Sabbath hatte einer Fledermaus den Kopf abgebissen. Ein gewisser Ozzy Osbourne. Das schien dir ungeheuerlich und beschäftigte dich jahrelang. Heute zwei-drei Mausklicks und fertig. Damals blieb dir nur der Brockhaus deiner Eltern. Da stand aber nichts über Ozzy Osbourne. Nur das Ozelot hatte seinen Eintrag.

Claudia hat allen ein Mail geschrieben. Es würde sie freuen, euch nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen. Sie lebe neuerdings in Belgrad und heirate in drei Monaten und dass ihr alle herzlich eingeladen seid. Du hattest zu niemandem mehr Kontakt. Bei den anderen wusstest du es nicht. Claudia vermutlich auch nicht. Sie schrieb, bei der Suche nach Ritschi sei sie beim Sozialamt gelandet. Dort habe sie eine Mailadresse erhalten, die funktioniere aber nicht. Eine Telefonnummer wollte das Amt nicht rausrücken. Ob ihr helfen könntet? Konntet ihr aber nicht.

Ritschi war euer Unikum. Er ist am höchsten geflogen und am tiefsten gefallen. Während ihr noch eine vage Vorstellung einer Zukunft hattet, war er in anderen Sphären unterwegs. Ihr verschobt und versifftet laufend euer Studium, er zog gar keines in Betracht. Ritschi wollte keine Zukunft. Er wollte Party. Und Drogen. Und Reisen. Zuerst lebte er von seinen Eltern, wie ihr alle. Als sie ihm das Geld abstellten, wurde er kriminell. Ohne lange zu fackeln. Neben seinem Bett lag eine Schachtel, gefüllt mit Banknoten. Wenn sie leer war, zog er aus, um sie zu füllen. Wie er das machte, sagte er euch nicht. Einmal hat er versucht, einen Kiosk auszurauben. Ohne Waffe und ohne Maske, einfach so, spontan. Er öffnete die Kasse und nahm das Geld. Die Verkäuferin stand daneben und staunte. Dummerweise kam in dem Moment ein ambitionierter Kunde herein. Dies führte zu einer wüsten Schlägerei, während der Ritschi immer wieder gesagt haben soll: Das geht Sie nichts an, das ist nicht Ihr Geld. Womit er im Grunde Recht hatte. Schliesslich lag Ritschi unten und der Kerl oben. So warteten sie auf die Polizei. Es seien zähe Minuten gewesen. Den Mundgeruch des Kerls beschrieb Ritschi als käsig-warm.

Fürwahr, es gibt diese seltsamen Situationen, wo Männer aus sportlichen Gründen aufeinander zu liegen oder zu kleben kommen. Beim Schwingen oder beim Boxen. Beides soll maximal männlich sein, wird aber maximal kurios, respektive intim. Wenn beim Boxen beide erschöpft sind und sich nur noch aneinanderklammern. Ermattet, in verzweifelter Erwartung des Gongs. Nur noch den Gegner umarmen und hoffen, dass nichts mehr passiert. Wie ausgelaugte Partner in einer Beziehung, die mit letzter Kraft aneinander festhalten. Beim Schwingen kommt der eine auf dem anderen zu liegen. Der Obere presst nach unten, der Untere drückt nach oben. Der Untere stemmt sich mit aller Kraft dagegen, auf den Rücken gelegt zu werden. Das zieht sich manchmal in die Länge und lässt seltsame Sekunden verstreichen. Die Kräfte neutralisieren sich und die beiden wirken wie erstarrt, wie sich belauernde Katzen im Garten. Meistens gibt der Untere irgendwann nach, ergibt sich in sein Schicksal, schickt sich in seine Bezwingung.

Nachdem du Claudias Mail gelesen hattest, dachtest du: Wenn du einmal in deinem Leben nach Belgrad gehst, dann jetzt. In einem freudigen Impuls hast du zugesagt. Und die beiden anderen gefragt, ob sie mitkommen. Marlies und Lea. Marlies schrieb sofort, sie sei dabei. Sie lebe mittlerweile in Genf, sei Städteplanerin und habe zwei Kinder. Lea meldete sich erst auf mehrmaliges Nachfragen. Sie lebe in München und habe kein Interesse, an die damalige Zeit erinnert zu werden. Von Ritschi wusste niemand etwas. Er war euer Huckleberry Finn. The Wild One. Die Zukunft lässt sich nicht ewig verschieben. Irgendwann kommt sie. Auch eurer WG war ein Ende beschieden. Bei späteren Begegnungen mit Ritschi hast du die Strassenseite gewechselt. Einmal liefst du direkt in ihn hinein. Du schlugst vor, ein Bier zu trinken. Er meinte, ein alkoholfreies wäre möglich, bei einem normalen müsse er erbrechen. Er sei bei verschiedenen Genossenschaftsprojekten dabei gewesen, später bei Startups, diverse Geschäftsideen, jählings auf dem Sozialamt gelandet. Er war beschädigt. Er wohne in einer betreuten WG und sei so weit stabil. Euer Treffen dauerte keine fünf Minuten. Er machte dich nervös, berührte dich unangenehm. Du musstest fliehen.

Bist du froh, dass Ritschi gescheitert ist? Wieso solltest du das? Es ist üblich. Wer wild lebt, gehört bestraft. TV-Shows, in denen Auswanderinnen und Auswanderer ihr Glück nicht finden, sind sehr beliebt. Balsam für die Daheimgebliebenen.