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Die Nazis sind an der Macht, und der Krieg ist auch in der Stadt spürbar, aber der 16-jährige Johnny und seine Freunde wollen lieber im Swingtakt tanzen als im Gleichschritt marschieren – mit Jazz, schicken Klamotten und langen Haaren. Die Bremer Swingkids wollen ihre Freiheitsträume trotz HJ-Streifen und Razzien, Gestapo und Luftkrieg leben. Doch ihre Liebe zur amerikanischen Musik und die Abneigung gegen das Regime bringen sie unweigerlich in Gefahr. Ein Roman zwischen heißen Rhythmen und Bombennächten, erster Liebe und Verrat. Basierend auf Zeitzeugenberichten entwirft die Autorin ein genaues Bild von Bremen im Zweiten Weltkrieg und jenen rebellischen Jugendlichen, die von den Nazis wegen harmloser Swingtänze gehasst wurden.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2024
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BIRGIT KÖHLER
Swinging Bremen
Jazzgrooves bei Luftalarm
Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de
DISCLAIMER: Der folgende Roman handelt in der Zeit des Dritten Reiches und verwendet zeitgenössische Sprache. Da antisemitische, rassistische und homophobe Haltungen ein Teil des menschenverachtenden Nationalsozialismus sind, spiegeln sich diese in der Ausdrucksweise wider. Ich bitte daher alle Menschen, die davon getriggert werden könnten, diese Warnung ernst zu nehmen und selbstfürsorglich zu entscheiden, ob und wann sie lesen möchten. Es wird im Text keine weitere Triggerwarnung geben, um den Lesefluss und den Spannungsbogen nicht zu unterbrechen. Selbstverständlich ist eine solche Sprache außerhalb des historischen Kontextes nicht zulässig.
SWING IM BUNKER
Ein klopfendes und pulsierendes Geräusch drang aus dem Nebenraum. Als ob jemand nervös mit einem Knöchel auf einem Blecheimer trommelte, schnell und rhythmisch. Johnny saß auf der Holzpritsche im Bunker, wippte mit dem Fuß und starrte in die Richtung, aus der die Laute kamen. Was war das? Ein Trommelsolo? Es klang fast wie das Intro von ›Sing sing sing‹, einem seiner Lieblingssongs des amerikanischen Jazzmusikers Benny Goodman. Aber wer wäre so verwegen, in einem deutschen Luftschutzbunker bei Fliegeralarm Swing zu spielen?
Johnny, der mit richtigem Namen Johann Donandt hieß, rieb sich die Augen. Draußen waren die Sirenen verebbt, und ein tiefes Grummeln kündigte die Flugzeugmotoren der englischen Bomber über Bremen an. Sie waren mal wieder mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden und in den Hochbunker am Bürgerpark geflohen. Das geschah in diesen ersten Tagen des Jahres 1941 häufig. Die nächtlichen Fliegeralarme nervten Johnny. Aus dem warmen Bett springen, in dem er schon angekleidet lag, um keine Zeit zu verlieren, den Trenchcoat überwerfen und seine widerspenstigen dunklen Locken unter den breitkrempigen Hut stopfen, das gelang dem Sechzehnjährigen im Halbschlaf. In der Zwischenzeit hatte die Mutter Martha seine schlaftrunkene kleine Schwester Ida angezogen.
Und jetzt saßen sie eng aneinandergedrängt im Luftschutzbunker, atmeten staubige Luft und horchten auf die gedämpften Geräusche draußen. Die achtjährige Ida mit ihren dunklen langen Zöpfen strich immer wieder die karierte Wolldecke glatt, die sie über ihre und Johnnys Knie gebreitet hatte, klammerte sich an den Arm ihres Bruders und presste die Augen zu. Ihre Mutter saß aufrecht in ihrem eleganten Pelzmantel. Nur an ihren Händen sah man die Anspannung: Mit der einen umklammerte sie den Griff eines Koffers, mit der anderen quetschte sie die Finger von Ida, bis die Kleine leise protestierte. Johnny hatte seinen Pappkoffer unter die Pritsche geschoben und lehnte sich vorsichtig an die Wand hinter sich. Aber die Kälte kroch durch den dicken schmutzigen Beton, und sein Mantel war zu dünn.
Dennoch liebte er seinen hellen Staubmantel, der mittlerweile unbezahlbar war. »Vorkriegsqualität, so was kriegste heute gar nicht mehr«, hatte sein bester Freund Werner grinsend gesagt und ihm das ungewöhnliche Stück vor ein paar Wochen für fünf Mark verkauft. Zum Freundschaftspreis, wie das Schlitzohr versicherte. Dabei hatte er ihn ja selbst vom Vater geschenkt bekommen. Der, ein Bremer Kaufmann, hatte den Mantel nach amerikanischer Mode vor einigen Jahren in Berlin gekauft. Aber Werner hatte ihn zu seinem Leidwesen nur kurze Zeit getragen, denn er war in den letzten Monaten so schnell gewachsen wie Gras im Sommerregen. Jetzt war der lange Lulatsch zu groß und hatte den Mantel an Johnny weitergereicht. Der trug ihn jeden Tag, sogar im tiefsten Winter, obwohl seine Mutter stets den Kopf schüttelte, wenn sie ihren Sohn darin sah.
Ein ohrenbetäubendes Krachen erschütterte die dicken Wände, Staub rieselte von der Decke und die Lampe flackerte ein paar Mal. Einige Frauen schrien auf, Martha Donandt stöhnte. Ida hüpfte vor Schreck hoch und vergrub ihr Gesicht in Johnnys Schoß. Er strich ihr beruhigend über den Rücken und ließ sich seine eigene Angst nicht anmerken. Über die brummenden englischen Flieger und das Zischen der nahen Flakgeschosse hinweg rief er ihr zu:
»Keine Bange, Ida, die Engländer werfen ihre Bomben nicht hier ab, die wollen doch nur den Hafen treffen. Hier in Schwachhausen gibt’s ja nichts, was die kaputt machen wollen.«
Seine Mutter schaute ihn nur stumm an. Aber ein alter Mann auf der Holzbank gegenüber schnalzte abfällig mit der Zunge. »Na, hoffentlich weiß der Tommy das auch!«
Seine Frau neben ihm zupfte ihn am Ärmel und schüttelte mahnend den Kopf. Was sie murmelte, ging in dem Donner, der folgte, unter. Alles vibrierte, und Ida wimmerte.
»Jo, das war aber tüchtig nah!«, meinte der Bunkerwart fast anerkennend. »Das wird ’n paar Bäume im Bürgerpark umgehauen haben.«
Alle in dem Bunker lauschten auf die folgende Stille. Ein Baby jammerte leise. Heute waren die Bomberverbände nicht nur über die Hansestadt hinweggeflogen, wie in anderen Nächten, sondern hatten ihre Fracht einmal mehr auf die Bremer Häfen und Fabriken abgeworfen. Da war schon ziemlich viel kaputt, hatte Johnny gehört. Wie hatten sie sich vor ein paar Monaten erschreckt, als die ersten Sirenen zu hören waren. Die alte Diehl im Nachbarhaus, die immer den Blockwart spielte, schien da ernsthaft überrascht zu sein. Immerhin hatte der dicke Reichsmarschall Göring doch versprochen, dass kein feindlicher Flieger jemals deutschen Luftraum erreichen würde. Das hatten sie jetzt von ihrer Überheblichkeit, fand Johnny.
Seine Finger umschlossen etwas Kühles in seiner Hosentasche: Seinen Glückspfennig hatte er zum sechsten Geburtstag von seinem alten Herrn bekommen, eine Münze mit dem Bild des Kaisers. Er hielt sie in Ehren und trug sie immer bei sich. Sein Vater war gleich bei Kriegsausbruch zur Wehrmacht eingezogen worden und hatte von der Westfront Briefe geschickt, in denen er nur über das Wetter in Belgien oder Frankreich berichtete. Als wenn er zum Sommerurlaub verreist wäre, hatte sich sein Sohn gewundert. Jetzt baute der Jurist in Paris die deutsche Militärverwaltung auf.
Aber allzu schwer schien das Leben dort nicht zu sein: Als sein Vater vor ein paar Wochen über Weihnachten auf Heimaturlaub war, hatte er französischen Cognac mitgebracht. Nach der Bescherung schwärmte er vor seinem Schwager begeistert von den Pariser Nachtlokalen. Gregor Müller, SS-Sturmbannführer und aufgrund einer Beinverletzung nicht eingezogen, hatte die Augenbrauen nur hochgezogen und kopfschüttelnd gemeint:
»Übertreib es mal nicht, lieber Wilhelm. Denk dran, deutsche Tugend ist wichtiger als französischer Schlendrian.«
Wann kommt endlich Entwarnung, fragte sich Johnny und schob seine Haarlocke unter den Hut. Ich brauche dringend eine Mütze Schlaf. Morgen schreib ich Mathe, und Meier bringt mich um, wenn ich schon wieder verhaue. Dem ist es egal, dass ich im Bunker übernachte. In die Stille hinein vernahm er erneut das leise rhythmische Klopfen, diesmal präzise von einem Rascheln unterbrochen wie von einem Zweig oder einem Jazzbesen. Johnny beugte sich vor, erkannte jedoch im Dämmerlicht nichts.
Endlich rumorte im Vorraum der Bunkerwart, steckte seinen Kopf durch die Tür und rief: »Entwarnung! Aber passen Sie auf, meine Damen, es könnten ein paar Äste runtergekommen sein.«
Er kurbelte die schwere Eisenschleuse nach außen auf, sofort drangen eiskalte Luft, der Duft von gesplittertem Holz und leichter Brandgeruch in die Dunkelheit des Bunkers. In die Menschen kam Bewegung, sie standen von ihren Bänken auf, schnappten sich ihre Habseligkeiten und drängten zum Ausgang.
Johnny schob Ida sanft zur Mutter und nickte ihr zu. Fragend schaute sie ihn an, wurde aber sofort mit dem Strom der anderen hinausgetrieben. Er tat so, als schnüre er sich die Schuhe zu, blieb auf der Bank sitzen und bückte sich vornüber. Der Hut rutschte vom Kopf, und durch die langen Haare, die ihm in die Stirn fielen, beobachtete er den Durchgang zum hinteren Nebenraum. Von dort strömten müde und schlurfend viele Leute, aber keiner sah so aus, als wüsste er, wer Benny Goodman war.
Dann endlich trat ein schmächtiger Junge mit rötlichen unordentlichen Haaren und runder Brille aus dem Dunkel in den helleren Lichtkegel der Lampe am Ausgang. Johnny hatte ihn noch nie gesehen. Neben ihm bahnte sich eine ältere Frau den Weg nach draußen, im Gefolge ein dünnes Mädchen mit einem dunklen Bubikopf, das dem Rothaarigen ähnlich sah. Der Junge schleppte einen knallroten Koffer mit sich, der eine merkwürdige Kastenform hatte. Johnny staunte: War das etwa ein Koffergrammophon? Na, der hatte ja Mumm, ausgerechnet sein Hottophon in den Bunker mitzuschleppen.
Der Koffer schien schwer zu sein, und zu gerne hätte er gewusst, welche Platten in der Deckeltasche verstaut waren. Aber schon war der Junge mit seiner Familie an ihm vorbei, und Johnny beeilte sich, sie einzuholen.
Draußen vor der Tür des Bunkers herrschte eine unheimliche Mischung aus Dunkelheit, im Mondschein leuchtendem Schnee und in der Ferne flackernden Flammen. Nach dem schummerigen Licht im Schutzraum brauchten Johnnys Augen eine Zeit, um sich an die unbeleuchtete Nacht zu gewöhnen.
Fast wäre er in den Jungen gelaufen, der direkt vor ihm auf der Treppe zum Bunkereingang stehen geblieben war. »Hey!«, entfuhr es Johnny.
Da drehte sich der andere lässig um und zwinkerte ihm durch seine runde Brille zu. »Hi-de-ho! Du hast auch Rhythmus im Blut, oder? Ich hab dich eben wippen sehen!«
»Dann warst du das?«, fragte Johnny vorsichtig nach.
»Wer denn sonst? Meinst du etwa, der olle Opa da?« Der fremde Junge deutete grinsend auf einen zahnlosen Alten, der vor ihnen die Treppe blockierte. Die beiden zuckelten hinter ihm her.
»Bist du neu hier? Ich hab dich noch nie gesehen«, wollte Johnny wissen.
»Ja, wir sind aus Hamburg, aber nachdem wir da ausgebombt wurden, hat unsere Mutter mich und meine Schwester bei unserer Tante Magda in Bremen untergebracht. Hier soll es angeblich ruhiger sein als in Hamburg.« Der Junge verzog skeptisch das Gesicht.
»Im Vergleich zu Hamburg bestimmt. Vor allem hier im Stadtteil haben wir noch keine aufs Dach bekommen. Übrigens, ich bin Johnny, und du?«
»Ich heiße Theo. Wir wohnen in der Hartwigstraße gleich um die Ecke.«
»Und das da ist deine Schwester?« Sein Finger zeigte auf das dürre Mädchen, das ein paar Schritte vor ihnen bei der älteren Frau stand.
»Ja, Lulu, meine Zwillingsschwester.«
»Lulu?«
»Eigentlich Luise, aber wir nennen sie nur Lulu. Sie ist ziemlich in Ordnung für ein Mädchen.«
»Joooohaaann?!«, hörten sie einen Ruf aus der Dunkelheit. »Wo bleibst du denn? Wir müssen nach Hause!«
»Ich komme, Mutter!«, rief Johnny zurück.
»Johann? Ich dachte Johnny!«, fragte Theo grinsend.
Dieser trat einen Schritt vor, drehte sich noch einmal um. »Ja, für Freunde Johnny! Wir sehen uns!«
»Na hoffentlich! Goodbye, Johnny!« Dann fiel Theo etwas ein: »Ach übrigens, auf welche Schule gehst du?«
»Aufs Alte Gymnasium natürlich!«
»Ja, natürlich …«, murmelte Theo.
Johnny hörte ihn nicht mehr. Seine kleine Schwester hatte ihn an beiden Händen vom Bunker weg auf die dunkle Parkallee gezogen, wo ihre Mutter wartete. Im Taschenlampenlicht tapsten sie durch die Wachmannstraße heim. Kurz vor ihrer Wohnung kam ihnen ein kleiner Hitlerjunge entgegen, der aufgeregt winkte.
»In Findorff ist was runtergekommen!«, rief er. »Da brennt es tüchtig.«
Martha Donandt war nach der Entwarnung entspannter. »Wie gut, dass wir nicht in Findorff leben.«
»Mutter!«, riefen ihre Kinder gleichermaßen erschrocken. »Oma Kakao wohnt in Findorff!« Oma Kakao war die ehemalige Zugehfrau der Familie. Sie hatte früher im Haushalt geholfen, hatte auf Johnny aufgepasst und war sogar bei der Geburt von Ida zugegen. Eigentlich hieß sie Bärbel Tee, aber weil sie die Kinder immer mit heißer Schokolade verwöhnte, nannten sie sie Oma Kakao.
»Na, die wird es schon nicht erwischt haben!« Achselzuckend stapfte die Mutter weiter durch den Schnee. »Unkraut vergeht nicht, sagt sie doch selbst immer.«
Insgeheim beschloss Johnny trotzdem, morgen nach der Schule bei Oma Kakao vorbeizufahren. Jetzt musste er aber schleunigst ins Bett. Der Himmel wurde bereits etwas heller, und Johnny fragte sich, ob das die Feuer in der Ferne waren oder die bald aufgehende Sonne in dieser eiskalten Januarnacht im Jahr 1941.
MÄDCHENTRÄUME AN DER KLEINEN HELLE
»Hast du schon gehört? In Findorff soll einiges runtergekommen sein!«
»Ja, und die Flak hat einen Bomber abgeschossen, hab ich gehört, der ist mitten auf den Gleisen gelandet!«
»Was? Ein echter Tommy?«
Aufgeregte Stimmen flogen Hetty entgegen, als die schmale Fünfzehnjährige die schwere Holztür ihrer Schule an der Kleinen Helle aufschob. In der großen Eingangshalle stand eine Traube von Mädchen um Barbara herum. Die war stets am besten informiert, denn ihr Vater war bei der Gestapo und meldete jeden Bombenangriff auf Bremen telegrafisch weiter nach Berlin. Hetty schüttelte ihre schneebedeckte Mütze aus und stellte sich zu ihnen, um die neuesten Nachrichten zu erfahren, wurde aber sofort von hinten an den langen blonden Zöpfen gezogen.
»Komm, wir müssen zum Fahnenappell, die Königin kommt gleich!« Ihre Freundin Marianne griff ihre Hände und zog sie zum Hof.
Mit der ›Königin‹ Mathilde Plate, der Direktorin der Studienanstalt an der Kleinen Helle, wollte es sich niemand verscherzen, erst recht nicht Hetty. Sie verdankte dieser Frau, dass sie bald an dieser Schule ihren Gymnasialabschluss machen konnte. Ihre Eltern waren zunächst entschieden dagegen: »Wozu braucht eine Deern denn so was, Hedwig, lern lieber was Ordentliches und heirate ’nen netten Mann, wenn du Kinder kriegst, nützt kein Abi was.« Hetty verstand ihre Eltern, die kannten ja selbst nichts anderes als schuften. Um sie und ihre zwei Schwestern durchzubringen, arbeitete ihre Mutter als Änderungsschneiderin oft bis in die Nacht. Ihr Vater hatte seinen Lohn von der Werft meist versoffen, und jetzt war er im Krieg. Hetty half im Haushalt mit, aber immer nur dieses Leben wäre ihr zu wenig. Ihr Traum war, als Ärztin den Menschen zu helfen. Dafür hatte sie sich erst einmal gegen ihre Eltern durchsetzen müssen, was sie ohne die Hilfe der patenten Schulleiterin nicht geschafft hätte.
Bislang hatte sie Frau Plate nie enttäuscht und bemühte sich, nächstes Jahr gute Noten bei der Abschlussprüfung zu schaffen – wenn der blöde Krieg sie denn ließ. Sehr viel gelernt hatte sie seit Kriegsausbruch nicht. Erst war die gesamte Schule mehrfach umgezogen, weil das große Backsteingebäude an der Kleinen Helle von der Marine beschlagnahmt wurde. Dann waren die Schülerinnen in Schichten unterrichtet worden, und mittlerweile fiel Unterricht aus, weil die Lehrer fehlten. Dazu kam ständige Müdigkeit durch die nächtlichen Bombenangriffe. Aber der glorreiche Sieg der deutschen Wehrmacht stand ja kurz bevor, hieß es in den Nachrichten. Die Fünfzehnjährige war sich nicht sicher, ob sie darauf vertrauen konnte.
Nach dem Fahnenappell, den die meisten Schülerinnen als lästige Pflicht hinter sich brachten, stiegen Hetty und ihre Freundin Marianne Händchen haltend die Treppen hinauf in den Klassenraum. Kaum hatten sie sich auf ihre Bank in der ersten Reihe gesetzt, da öffnete sich die Tür, und Frau Plate rauschte ins Klassenzimmer. Sie war eine Erscheinung: großgewachsen, aufrecht und stets elegant gekleidet. Nicht ohne Grund nannten ihre Schülerinnen sie heimlich ›Königin‹ oder ›Fürstin‹. In ihrem Fahrwasser hatte sie eine dünne Brünette mit einem Bubikopf mitgebracht, die abwartend neben der Tür stehen geblieben war. Die Direktorin zog sie nach vorne.
»Mädchen, das ist Luise. Sie ist neu in Bremen, die Arme wurde in Hamburg ausgebombt und wird ab heute hier zur Schule gehen. Seid nett zu ihr.« Die Neue lächelte mit einem koketten Augenaufschlag in die Runde. Frau Plate drückte sie sanft in die erste Reihe neben Hetty. »Hier, Hedwig wird sich um dich kümmern!« Die musterte den Bubikopf von der Seite und rückte näher zu Marianne. Für die Direktorin war damit das Thema erledigt. »Dann wollen wir uns mal wieder unserem Goethe zuwenden.«
Hetty schlug ihr Buch auf. Als Luise zu ihr hinüber schielte, seufzte sie und schob es in die Mitte des Tisches. »Hier, wir lesen gerade Faust.«
»Och, den hatten wir auch gerade in Hamburg«, meinte die Neue kurz, »ist ganz in Ordnung.«
Schweigend blätterten alle bis zu der Stelle, an der sie stehen geblieben waren. Frau Plate schaute sich fragend um. »Barbara, lies du doch mal die nächste Seite vor.«
Die Angesprochene stand auf, quetschte sich aus ihrer Bank und trat vor die Klasse. Es war ein Genuss, ihrer angenehmen Stimme zuzuhören. Hetty schloss sogar kurz die Augen, um die Worte besser wirken zu lassen. Aber Frau Plate bemerkte es sofort und fuhr sie an: »Hedwig, geschlafen wird nachts, nicht in der Schule!«
Hetty lief knallrot an. Da murmelte Luise leise in die Stille: »Versuchen Sie das mal im Bunker.« Alle grinsten: Die Neue hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ungerührt überhörte Frau Plate die Bemerkung und forderte Barbara auf, weiterzulesen.
In der großen Pause schlenderten Hetty und Marianne Arm in Arm und dick vermummt gegen die Kälte über den Hof. Im Sommer brachten die vielen alten Bäume Schatten, doch jetzt ragten nur die nackten Äste in den grauen Winterhimmel. Luise lehnte sich an die Mauer des Nebengebäudes.
Hetty winkte ihr zu. »Hey, hast du Lust, zu uns zu kommen? Ist besser, als alleine rumzustehen!«
»Ja, komm nur – Hedwig wird sich um dich kümmern!«, neckte Marianne sie und imitierte den Tonfall von Frau Plate, dann brach sie in gehässiges Gelächter aus.
»Nee, is’ schon gut, ich kann mich um mich selbst kümmern!«
Hetty errötete und trat auf die Neue zu. Marianne hatte sich inzwischen zu einer anderen Gruppe von Mädchen gestellt. »Tut mir leid, die ist manchmal albern. Musst du nicht so ernst nehmen.«
Luise zuckte nur mit den Schultern.
»Du bist aus Hamburg, hat Frau Plate gesagt?«
»Aus Altona.«
»Ist das nicht Hamburg?«
»Ja, jetzt ja. Ist erst vor ein paar Jahren ein Stadtteil von Hamburg geworden, vorher gehörte es zu Preußen.«
»So ähnlich wie Bremerhaven. Das war früher der Hafen von Bremen, und jetzt ist es ein Teil von Wesermünde, was zu Hannover gehört.«
Luise zuckte mit den Schultern. »Diese ganzen Länderneuordnungen kann ich mir nie merken.«
»Ist ja auch egal. Außer bei Herrn Nuntius, unserem Erdkundelehrer. Da musst du aufpassen. Der ist ein ganz Scharfer und verfolgt mit uns den Frontverlauf auf der großen Karte. Und wehe, wir kommen durcheinander, was jetzt zum Deutschen Reich gehört und was noch nicht.«
»So einen scharfen Hund hatte mein Bruder auch in Hamburg. Der hat fast dafür gesorgt, dass er von seiner Penne flog.«
»Du hast einen Bruder? Wie alt ist der?«
»Fünf Minuten jünger als ich«, grinste Luise.
»Was?« Hetty stutzte. »Ach, ein Zwillingsbruder, drollig. Und warum ist er fast von der Schule geflogen?«
»Na, weil er unbedingt vor dem Musikunterricht die Nationalhymne von England auf dem Klavier spielen musste, aber eben etwas schneller, als sie eigentlich ist …«
»Ja und?«
»Der Lehrer meinte, das sei Jazz und kulturell unerwünscht. Das gab dann erst mal tüchtig Ärger für Theo.«
Hetty schaute sie ungläubig an. »So was hat der sich getraut? Ist Jazz nicht verboten?«
Luise grinste. »Ach nee, in Hamburg tanzen sogar die Nazis Jitterbug. Nur eben nicht dieser eine Lehrer an Theos alter Schule.«
»Tanzt du etwa auch Jitterbug?«, staunte Hetty. Sie betrachtete ihre neue Mitschülerin fasziniert. Im Radio hatte sie zwar gehört, wie über diese amerikanische ›Urwaldmusik‹ geschimpft wurde, dieses ›entartete Gestampfe‹, das die jungen Leute angeblich so verrückt machte. Aber persönlich hatte sie niemanden getroffen, der so verwegen war, diese Musik zu mögen.
»Na klar!«, lachte Luise, wippte auf den Fersen, tänzelte ein paar kleine Schritte und raffte ihren Rock kokett etwas hoch. »Du etwa nicht?«
Hetty kicherte verschämt und schüttelte leise den Kopf.
»Ach, weißte, mein Bruder, der Theo, der ist ein echter Swingboy. Hat ’ne Plattensammlung, da würdeste staunen. Sein Heiligtum, seinen Hotkoffer, nimmt er sogar mit in den Bunker! Wenn wir uns gerade nicht zanken, dann hören wir zusammen die Platten an. Und manchmal tanzen wir auch dazu Swing.«
»Wie geht das denn?«
»Ein bisschen wie ein schneller Foxtrott, nur verrückter, wilder. Warst du schon in der Tanzschule?«
»Ich wollte mich bald anmelden. Bei Schipfer-Hausa.«
»Schlüpfer-was?«, prustete Luise laut raus.
»Nein, Schipfer-Hausa«, wehrte Hetty ab. »Eine gute Tanzschule hier, da geht die halbe Klasse hin.«
»Weißte was, da komm ich mit, dann zeig ich dir, wie man Swing tanzt.«
»Ich weiß nicht …«, Hetty zögerte, »also ich weiß nicht, ob man da Swing tanzen kann.«
»Wir werden sehen!«, Luise zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Übrigens, du kannst mich Lulu nennen, Luise hat nur mein Vater gesagt, wenn ich was ausgefressen hatte.«
»Ach, gut, ich bin eigentlich auch Hetty, zumindest außerhalb der Schule.«
Ein Klingeln rief die Mädchen wieder in den Klassenraum.
SWING HEIL AM ALTEN GYMNASIUM
»Hey, Johnny, wo warste gestern?«
»Meine Mutter ist mit mir in den Bürgerpark-Bunker gegangen«, rief Johnny seinem Freund Werner zu, während sie nach dem Morgenappell auf dem Hof des Alten Gymnasiums ins Gebäude an der Dechanatstraße schlenderten.
»Aber ich hatte doch gesagt, ihr könnt auch zu uns kommen. Da ist genug Platz, und unser Haus hat so dicke Mauern, da ist ein Bunker nix gegen.«
»Ja, ich weiß, Werner, aber du kennst ja meine Mutter, die will es am liebsten bombensicher haben und traut den Hauskellern nicht. Unserem ja auch nicht.«
»Ach schade, bei uns hätten wir mehr Spaß. Wir beide könnten unter der Treppe leise Platten hören und die Alten würden nix mitkriegen. Meine Mutter will nichts hören, und die anderen aus dem Haus sind sowieso halbtaub.« Werner zog aus der Tasche seines Sakkos einen Kamm, spuckte kurz drauf und kämmte sich sein langes dunkelblondes Haar sorgfältig in den Nacken. »Das wäre doch großartig!«
»Ich werd noch mal mit meiner Mutter reden.« Johnny fuhr mit den Fingern durch seine Haare, aber seine Stirnlocke sprang wie immer wieder unzähmbar vor. »Übrigens, gestern war ein Typ im Bunker, der hat doch glatt das Intro von ›Sing sing sing‹ getrommelt. Mitten im Luftalarm!«
»Mensch, dascha ‘n Ding! Wer war das denn?«
»So’n Stenz aus Hamburg, wohnt jetzt in der Nähe vom Bunker. Hab seinen Namen wieder vergessen. Der hatte auch ein ganz schniekes Hottophon dabei, so ein rotes.«
»Na, den sollten wir uns ma’ genauer ankieken«, meinte Werner, klopfte Johnny auf den Rücken und überholte ihn. »Komm, der alte Meier ist bestimmt schon auf dem Weg. Haste gelernt? Ich hab’s glatt vergessen.«
Johnny schüttelte lächelnd seinen Kopf und lief hinter ihm her. Der große Schlacks war sein bester Freund, seitdem sie zusammen auf dem Alten Gymnasium waren. Dabei konnten sie nicht unterschiedlicher sein: Werner Knigge war Kaufmannssohn, dessen reiche Eltern ihm alles durchgehen ließen. Den elterlichen Betrieb würde sein älterer Bruder Stefan übernehmen, daher hatte der jüngere viele Freiheiten. Johnnys Vater dagegen meinte abfällig, Werner sei ein Heiopei und Großmaul, und seine Mutter war sich sicher, dass ›aus dem nie was Ordentliches‹ wird. Sie waren nicht glücklich über die Freundschaft der beiden und fürchteten einen negativen Einfluss auf Johann, den Anwaltssohn. Der sollte, das war für seine Eltern klar, nach einem erfolgreichen Jurastudium in die Kanzlei des Vaters einsteigen.
Aber Johnny gefiel die flapsige Art seines Freundes. Der hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und schien nichts ernst zu nehmen. Außerdem besaß Werner eine exzellente Sammlung heißer Swingplatten, die sein Bruder ihm vor dem Krieg aus London mitgebracht hatte. Stefan hatte die beiden Jungen auch zum ersten Mal mit ins Kino genommen, in ›Broadway Melody of 1938‹. Damals hatte Johnny seine Liebe für die amerikanische Musik entdeckt und genoss seitdem das heimliche Plattenhören bei seinem Freund. Der war für Johnny der größte Swing-Fan überhaupt: Werner kannte scheinbar jedes Detail über Jazz. Er sah auch wie ein Engländer aus: Stefans Vorkriegsanzüge statt der üblichen kurzen Hosen, Sakkos in Überlänge und Schuhe mit gelben Kreppsohlen, alles feinste Swingmode. Johnny dagegen besaß nur den geliebten Trenchcoat, den Filzhut seines Vaters und ab und zu ein altes Sakko von Werner, das Johnny oft zu groß war.
Inzwischen war Herr Meier, der Mathelehrer, leise und von den lärmenden Jungen unbemerkt in den Klassenraum getreten und knallte das Klassenbuch auf das Pult. Alle fuhren erschrocken zusammen. »Heil Hitler! Wie schön, dass ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit habe, meine Herren. Wenn Sie die Güte hätten, sich zu setzen und Ihre Stifte zu zücken, ich verteile die Klausurblätter.«
Die Klasse stöhnte kurz auf und holte die Stifttaschen heraus. Johnny rieb schnell seinen Glückspfennig in der Hosentasche, dann war eine Zeit lang nur das Kratzen der Füllfederhalter auf Papier zu hören. Ein kräftiges Klopfen an der Tür ließ Meier von seinem Stuhl hochfahren.
Werner stupste Johnny grinsend an: »Haste gesehen, der war glatt eingepennt!«
Meier fing sich schnell wieder. Auf sein gebrülltes »Herein« wurde die Tür schwungvoll geöffnet, und Herr Schaal trat ein, der Direktor des Alten Gymnasiums. Der Mathelehrer stand erschrocken stramm.
»Heil Hitler, Herr Direktor! Ich lasse gerade eine Klausur schreiben«, stotterte er etwas verlegen. »Wenn Sie vielleicht später für die Unterrichtsprobe wiederkommen wollen?«
Der hochgewachsene Schulleiter hatte nur lasch die Hand gehoben, halb zum Gruß, halb zur Abwehr. »Nein, Herr Meier, keine Bange, ich will gar nicht lange bleiben. Ich wollte nur eben diesen jungen Mann abliefern, der ab sofort hier in die Unterprima geht. Theodor Stratmann war in Hamburg am Johanneum, hat nun aber in Bremen Zuflucht gefunden, weil seine Familie ausgebombt wurde.«
Jetzt erst erkannte Johnny den Jungen mit den rötlichen Haaren und der Brille, der hinter Schaals imposanter Gestalt verdeckt stand. »Das isser!«, zischte er Werner zu. »Der von gestern mit Benny Goodman!«
Sein Freund lehnte sich entspannt zurück, grinste breit und verschränkte die Arme vor der Brust. Leise flüsterte er: »Na denn, Swing Heil!«
OMA KAKAO
Nach Unterrichtsende fuhr Johnny mit dem Rad einen kleinen Umweg nach Findorff, um Oma Kakao zu besuchen. Die Bemerkung seiner Mutter spukte in seinem Kopf herum. »Unkraut vergeht nicht!« Besorgt lenkte er am alten Torfhafen vorbei in das Weidedammviertel. Die Straßen verengten sich zu Wegen und waren unter Schnee und Eis kaum zu erkennen. Hier sah alles ländlich aus. Die eleganten Stadthäuser im vorderen Teil wurden von Häuschen abgelöst, dahinter Wiesen, auf denen im Sommer die Kühe grasten. Kurz vor dem Bahndamm sah man einen alten Bauernhof. Inmitten kleiner Parzellen daneben lebte Johnnys geliebte Oma Kakao. Manchmal hatte sie ihn hierher mitgenommen, dann durfte er als ›lütter Pöks rumstromern‹, wie Oma Kakao das nannte. Einmal war er dabei in den Torfkanal gefallen und fast ertrunken. Daraufhin hatte die Oma ihm das Schwimmen beigebracht. Erst gab es Trockenübungen auf dem Land, dann hatte sie ihn an einer Leine um den Bauch an der Anlegestelle im Kanal paddeln lassen und später an der Weser. ›Damit du mir nich’ mehr unnergehst!‹, hatte sie nur gesagt.
Johnny schlitterte um die letzte Kurve des Weges, und da lag das kleine, etwas windschiefe Häuschen von Oma Kakao. Im Garten hinter dem Haus pflanzte sie Gemüse an, und vorne unter einer Linde saß sie im Sommer auf einer hölzernen Bank, schnackte mit den Nachbarn und strickte oder stopfte Socken. Sie musste immer etwas in den Händen haben. Wenn sie mal nichts zu tun hatte, knetete sie ihr Taschentuch zwischen ihren schwieligen Fingern.
Heute saß sie nicht vor dem Haus, dafür war es zu kalt. Johnny sprang vom Rad, lehnte es gegen den Zaun und hüpfte über die niedrige Gartenpforte. Mit zwei Schritten war er an der Haustür und klopfte laut. Nach einer kleinen Weile hörte er das Schlurfen von Pantoffeln, die Tür öffnete sich langsam, und ein faltiges Gesicht mit erstaunlich blauen Augen, von grauen Haaren umrahmt, schaute ihn an.
»Och, du bist dat, min Jung, ich dacht’ erst, der Blockwart kommt schon wieder an und wüll wat von mir!«
»Hallo, Oma! Was will der Blockwart denn von dir?«
»Och, jümmers wat, mal soll ich besser verdunkeln, mal soll ich wat fürs Winterhilfswerk spenden. Aber der kann mi mol …, der Töffel! Jetzt komm doch erst mal rin in die gute Stube! Kakao?«
»Klar!«
Seine ehemalige Kinderfrau legte Holz im Ofen nach, damit die Milch in dem Topf warm wurde. Die ›gute Stube‹, wie es die alte Bremerin norddeutsch aussprach, war eine lustige Übertreibung, denn das Haus von Oma Kakao bestand nur aus zwei Zimmern: der Küche und einem kleinen Schlafzimmer. Ein Plumpsklo war hinten im Garten, Strom gab es nicht, und gewaschen wurde sich am Spülstein. Aber die Küche mit ihrem niedrigen Tisch und den wackeligen Hockern war sowieso der gemütlichste Ort.
»Na, wie geit di dat in der Schule?«, fragte Oma Kakao. »Jümmers schön fleißig?«
»Natürlich, sonst würde ich ja Ärger von meiner Mutter kassieren!«, lachte Johnny.
»Und meene lütte Ida? Ich hab die Deern so lange nicht gesehen! Muss bald mal wieder vorbeikommen. Und wie geht’s der Frau Mama?«
»Wie soll es ihr schon gehen? Wie immer, würde ich sagen. Sie schreibt Vater lange Briefe und schickt ihm Salami, aber er konnte nur ganz kurz zu Weihnachten von der Front heimkommen. Ich glaube, sie vermisst ihn, und Ida fragt auch dauernd nach ihm.«
»Und du?«
»Ach ja, klar, aber …«, sagte Johnny gedehnt. »Immerhin bleibt der Rohrstock im Schrank, wenn er nicht da ist.«
Sie schob ihm einen großen Becher mit dampfendem Kakao hin und setzte sich auf einen kleinen Hocker. Die heiße Schokolade erinnerte ihn an die Zeit, da er kaum auf diesen Stuhl klettern konnte. Woher sie jetzt im Krieg das Luxusgut bekam, war ihm ein Rätsel, aber sie schien ihre eigenen Quellen zu haben.
»Lass man gut sein, dein Vadder meint es nur recht mit dir!«
»Ach, darauf könnte ich verzichten«, knurrte Johnny. »Aber sag mal, Oma Kakao, hast du gestern Nacht mitgekriegt, was da am Himmel los war?«
»Na, wie soll ich dat nicht gewahr worn, war ja direkt vor miene Nees. Dat war ein groter Feuerball, sech ich dir!«
»Wie, Feuerball? Ich dachte, da ist ’ne Bombe in Findorff runtergekommen?«
»Nu ja, nich’ nur eene, und denn noch so’n Flieger, ist wohl abgeschossen worden und nahe der Bahnstrecke runtergekommen. Hat den Himmel beleuchtet wie’n Komet.«
»Echt? Haste das gesehen?«
»Na, weißt doch, ich geh doch nicht innen Bunker. Is mir zu eng da. Und in meinem Bett kann ich allens aus’em Fenster sehn.«
»Oma Kakao«, protestierte Johnny in liebevollem Ton, »du solltest wirklich besser in den Bunker gehen, das ist zu gefährlich hier neben der Bahn!«
»Ach, min Jung, was soll mir denn passieren? Mehr als sterben kann ich auch nicht!«
»Aber das sollst du noch nicht!« Johnny drückte die raue Hand der alten Frau.
»Irgendwann isses soweit, kannste nicht vor wechlaufen. Wat mutt, dat mutt! Un’ denn doch besser mit ’em Sternenhimmel über mir.«
»Ach, sag doch so was nicht!«
»Weißte, wenn ich eins verstaan hab in mein’m langen Leben, dann dat: Do wat du wullt, de Lüe snackt doch!«
Mach was du willst, die Leute reden sowieso, dachte Johnny, während die alte Frau Holz nachlegte. Oma hat gut reden …
»Un’ so mach’ ich mein’ Kram. Die Nazis sind ja ganz malle, wollen allens anders un’ sind doch die größten Dösbaddel. Un’ die wollen mir vertelln, wat ich don soll? Machen diesen Krieg un’ denn sollen wir uns verkriechen? Nee, nich’ mit mich. Un’ du wirst dat auch noch lernen, min Jung. Nich’ mit die Wölfe heulen. Na, weißt schon, wat ich mein’ … un’ keine Bange, wenn du mutig bleibst, kann dir keiner wat.«
»Oma, nicht so laut, wenn das einer hört!« Vorsichtig schielte er aus dem Fenster auf den Weg.
»Wer soll denn hier wat lustern?« Mit einem leichten Kopfschütteln wechselte sie das Thema. »Sech mol, könnt ihr noch ein paar Wurzeln brauchen? Meine letzte Ernte wird hier nicht schöner in der Erdmine, un’ lütten Ida braucht doch jümmer wat Gesundes, die wächst ja noch.«
Kurz darauf verabschiedete sich Johnny von Oma Kakao, beladen mit einem großen Beutel schrumpeliger Möhren, beruhigt, dass sie wohlauf war, aber zugleich beunruhigt, dass es sie eines Tages doch erwischen könnte.
Zurück radelte er am Bürgerpark entlang mit dem prächtigen Parkhaus und dem kleinen Bahnhof der Jan-Reiners-Bahn am Hollersee, am SA-Hauptquartier vorbei. In der Lürmanstraße brachte Johnny sein Rad in den Vorgarten und sprang die fünf Stufen zum Windfang hoch: »Ich bin zu Hause!«
SWINGBOYS UNTER SICH
»Johnny, du schaust gut aus!« Zufrieden betrachtete er am Nachmittag sein Spiegelbild: Werner hatte ihm neulich ein kariertes Sakko und enge Hosen geliehen, dazu der helle Staubmantel. ›So sieht die wahre Uniform eines Swingboys aus‹, hatte Werner gemeint, und der musste es ja wissen. Johnnys Mutter hatte entsetzt den Kopf über ›diese Clownsjacke‹ geschüttelt, sie war der Meinung, so sehe ›doch kein deutscher Junge aus‹. Aber das konnte ihm egal sein: Er brachte gute Noten nach Hause, übte brav Klavier und war ein wahrer Musterknabe, da sollte sie sich nicht beklagen. Zuletzt kämmte Johnny seine widerspenstigen dunklen Locken, die immer wieder in die Stirn fielen, sorgfältig mit Zuckerwasser zu einem ›Entenschwanz‹ in den Nacken. Jetzt noch den Filzhut seines Vaters auf und dann los. Mit einem Griff vergewisserte er sich, dass sein Glückspfennig in der Manteltasche steckte.
In diesem Aufzug huschte er schnell über die Straße zu Werner und blickte sich aufmerksam um. Wenn nur die olle Diehl im Nachbarhaus nicht ausgerechnet jetzt aus dem Fenster schaute. Dann müsste er sich morgen wieder was anhören, von wegen verlotterte Jugend und wohin das alles führen sollte. Aber die Nachbarin hatte schon die Verdunkelungsrollos heruntergelassen. Umso besser für Johnny.
Werners Familie bewohnte die Beletage im Hochparterre des weißen Eckhauses, die anderen vier riesigen Wohnungen wurden vermietet. In dem Haus gab es einen ausgebauten Dachboden mit einer Kammer, in der früher die Dienstmädchen gewohnt hatten. Heute stand das Zimmer neben dem Trockenboden leer und diente Werner und seinen Freunden als geheime Swinghöhle. Da die alte Witwe in der Etage darunter schwerhörig war, konnten sie die Lautstärke gefahrlos aufdrehen.
Frau Knigge öffnete Johnny die Tür. »Ach Johann, du weißt ja, wo du Werner findest.«
Am Ende des langen dunklen Flures klopfte er kurz an die letzte Tür und drückte sie auf. Im ersten Moment schien das Zimmer leer. Dann entdeckte Johnny den Freund mit dem Kopf unter einer Wolldecke und einem Draht am langen Arm. Er schlich sich leise heran und tippte ihm auf den Rücken. Werner zuckte heftig zusammen, zog hastig die Decke herunter und schaute sich schuldbewusst um. Dann hellte sich sein Blick auf: »Mensch, du bist das, Johnny! Hast du mich erschreckt!«
»Was machst du denn da?«
»Pscht, nicht so laut, Feind hört mit! Hier, wir haben von Stefan ein Telefunken-Radio bekommen. Eigentlich sollte es ein Weihnachtsgeschenk für die Familie sein, aber er hat es erst jetzt mitbringen können, als er auf Heimaturlaub war. Mit dem kann man richtig was hören, hat er mir gezeigt! Nicht nur den Reichssender Hamburg! Nur die Störsender nerven. Der Klang ist jedenfalls fantastisch.«
»Hast du das gut, so einen großen Bruder zu haben!«
Werner schlug vor, das Gerät in die Dachkammer zu tragen. »Vielleicht hat man da oben einen besseren Empfang. Auf alle Fälle sind wir da ungestörter. Aber pass bloß auf, lass es nicht fallen!«
Dieses Röhrengerät war so groß wie ein Nachtschrank und aus schwerem schwarzem Holz, stellte Johnny unterwegs fest. Das war ein anderes Kaliber als der billige Volksempfänger, die ›Göbbelsschnauze‹, die in seinem Elternhaus stand. Auf der dunklen Glasscheibe vorne las er so ferne Städtenamen wie London, Kalundborg, Breslau, Paris, Rom oder Moskau, und die verheißungsvollen Worte Kurz-, Mittel- und Langwelle.
Oben angekommen, kontrollierte Werner, ob jemand nebenan Wäsche aufhängte, und verschloss sorgfältig die Tür zum Treppenhaus. Sobald er einen dicken, weißen Schalter drückte, ertönte ein Knacken und Brummen, dann drangen aus dem Lautsprecher sphärische Geräusche und einzelne Tonfetzen. Werner drehte am Knopf, bis ein klares, lautes Signal kam.
»Das müsste jetzt Radio Oranje sein«, erklärte er fachmännisch.
»Mach mal leiser!«, ermahnte Johnny ihn mit einem besorgten Blick aus dem Giebelfenster auf die Straße, die weit unten lag. »Sonst hört uns doch noch jemand.«
»Was schaust du denn so ängstlich?«
»Na, du weißt schon, auf Rundfunkverbrechen steht die Todesstrafe.«
»Da spricht der Anwaltssohn.« Werner klopfte ihm leicht belustigt auf die Schulter. »Wir hören doch gar nicht ausländische Nachrichten, wir sind doch nur auf der Suche nach flotter Musik.«
Johnny schluckte seine Angst hinunter. Sein Freund war nicht zu stoppen, und er mochte den Swing ja ebenfalls. Aber heute hörten sie nur Wellensalat. Es fiepte und jaulte auf allen Frequenzen, so dass Werner entnervt das Radio ausstellte.
»Diese blöden Störsender der Nazis! Stefan hat mir erzählt, dass die das nur ausstellen, wenn englische Bombengeschwader im Anmarsch sind. Sonst können sie ja nicht die Funksprüche der Tommys abhören.«
»Doof nur, dass wir in dem Moment immer in den Bunker müssen …«, warf Johnny ein.
Werner drehte sich zu ihm. »Apropos Bunker, sag mal, dieser Neue, der Theo, weißte, wo der wohnt?«
»Hm, nee, er hat nur Hartwigstraße gesagt. Und dass seine Tante, bei der er wohnt, Magda heißt.«
»Wollen wir mal ’n büschen ummen Pudding gehen und gucken, wo der wohnt? Ich würd ja zu gern mal sein knallrotes Hottophon sehen.«
»Wenn der aus Hamburg kommt, dann hat der bestimmt heiße Scheiben mit.«
»Glaub ich auch. Die Hamburger Swingheinis sollen ganz schön flotte Feger sein und sich tüchtig mit den Nazis anlegen. Hat zumindest mein Cousin erzählt.«
Johnny sah aus dem Fenster, hinter dem sich ein grauer Winterhimmel langsam blau färbte. »Dann lass uns mal los, bevor es zu spät wird. Du weißt doch, meine Mutter hat immer Angst um mich, wenn es duster ist.«
In Hut, Mantel und weißen Schals gegen die Kälte polterten sie die Treppen hinab. Unterwegs begegneten sie der schwerhörigen Witwe von unten, lüfteten freundlich die Hüte, grüßten und kicherten übermütig.
Draußen war der frühe Januarabend heraufgedämmert, und die Jungen liefen die unbeleuchteten leeren Straßen entlang in Richtung Bürgerpark. Nur hier und da schimmerte es leicht durch die Ritzen der Verdunkelungsrollos, sonst wirkte die Gegend wie ausgestorben. Nach ein paar Straßenecken kamen sie an der Apotheke vorbei und bogen ab in die Hartwigstraße.
»Tja, und wo sollen wir jetzt suchen?« Johnny sah sich zweifelnd um.
»Weiß nicht, aber vielleicht hören wir ja was.« Sie tappten ein paar Schritte weiter, dann stieß Werner Johnny an: »Pst, sei mal still. Ist da nicht was?«
Vor ihnen quietschte, kreischte, schepperte es, und ein kleiner schwarzer Schatten flitzte panisch über die Straße. Werner lachte auf: »Von wegen Jazzklänge, das waren nur kämpfende Katzen.«
Johnny schüttelte den Kopf. »Ach, das war eine dumme Idee. Vielleicht sollten wir Theo einfach am Montag fragen, wo er wohnt?«
In diesem Moment wurde eine Haustür auf der linken Seite geöffnet. Der schmale Lichtspalt wurde breiter, und sie sahen einen Jungen mit runder Brille, der in den dunklen Vorgarten trat: »Ja, Tante Magda, ich bring den Müll raus.«
Werner grinste Johnny zu. Sie schlenderten mit den Händen in den Hosentaschen wie zufällig über die Straße und lehnten sich lässig gegen den Zaun. Theo, der von seinem Gang zur Mülltonne vors Haus trat, war überrascht: »Ach, seid ihr nicht … was macht ihr denn hier?«
»Wir haben grad einen kleinen Spaziergang gemacht und wollten nur mal Hello sagen«, antwortete ihm Werner. Johnny lüpfte dabei knapp den Hut.
»Na, ihr seht aus wie meine Swingboys in Hamburg. Das hätte ich ja nicht gedacht!« Theo machte hinter seiner runden Brille große Augen.
»Auch im provinziellen Bremen wird die rhythmische Musik teilweise sehr geschätzt.« Johnny hob scherzhaft die Augenbrauen.
»Darüber sollten wir uns mal unterhalten.« Theo sah sich kurz um. »Wie wär’s, wenn ihr mich morgen Nachmittag mal zu Hause besuchen kommt. Ihr wisst ja jetzt, wo ich wohne. Dann können wir schnacken. Jetzt muss ich ins Bett, meine Tante wird gleich nach mir rufen …«
Wie auf Kommando hörten sie eine laute Frauenstimme durch die angelehnte Haustür: »Theodor, wo steckst du denn. So lange kann das doch nicht dauern, tüdel nicht immer so rum!«
»Komme schon, Tante Magda!«, rief Theo in Richtung Haus und wandte sich achselzuckend an Johnny und Werner. »Bis morgen dann!«
MARKTTAG
In dieser Nacht gab es endlich einmal wieder keinen Luftalarm. Lange ausschlafen konnte Johnny dennoch nicht, denn seine Mutter hatte andere Pläne mit ihm. Seit die Samstage unterrichtsfrei waren, mussten eigentlich alle deutschen Jungen und Mädchen an diesem Tag verpflichtend zum Dienst in ihren Gruppen der Hitler-Jugend, sammelten für das Winterhilfswerk oder buddelten in den Wallanlagen. Johanns Mutter aber fand, ihr Sohn sollte besser zu Hause helfen. Heute schickte sie ihn auf den Markt vor dem Rathaus. Sie hatte gehört, dass es beim Kohlhöker Kartoffeln gab. Zusammen mit den Möhren von Oma Kakao ergab das einen sättigenden Eintopf für Sonntag. Johnnys Schwester Ida hatte lange gedrängelt und erreicht, dass sie ihn begleiten durfte. Der Weg führte sie vom Spanischen Platz am Eingang des Bürgerparks durch die Parkallee, die hier jetzt Franco-Allee hieß, unter den Eisenbahnschienen hindurch am Remberti-Stift und der alten Reitkaserne kurz vor der Bischofsnadel vorbei. Ida hüpfte unbeschwert neben ihm auf dem Bürgersteig durch die Schneereste.
Einmal zeigte sie mit großen Augen auf eine Häuserreihe, bei der das halbe Dach abgedeckt war.