Sword Art Online – Early and Late – Light Novel 08 - Tamako Nakamura - E-Book

Sword Art Online – Early and Late – Light Novel 08 E-Book

Tamako Nakamura

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Beschreibung

Zurück in die Vergangenheit! Auf einer der mittleren Ebenen von Aincrad wird ein Spieler ermordet! Da sich der Tatort in einer sicheren Zone befindet, in der die Spieler eigentlich unantastbar sein sollten, wirft dies einige Fragen auf. Auch die Mordmethode ist mysteriös. Kann etwa einer der Spieler die Regeln brechen? Kirito und Asuna gehen dem rätselhaften Fall nach. Die Sword Art Online-Saga wird in drei Kurzgeschichten fortgesetzt – sowohl in der Aincrad- als auch in der Alfheim-Ära.

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1

Was ist nur los mit diesem Mädel?

Ja, ich hatte selbst gesagt, sie solle ein Schläfchen machen, weil das Wetter so schön war, und ja, ich war selbst mit gutem Beispiel vorangegangen und lang ausgestreckt auf der Wiese eingeschlafen.

Allerdings hätte ich nie im Leben erwartet, sie tatsächlich tief und fest schlafend neben mir vorzufinden, als ich nach einem nicht einmal dreißigminütigen Nickerchen wieder aufwachte. Entweder war sie todesmutig, unglaublich stur, oder sie litt einfach unter Schlafmangel.

Also echt mal. Vor lauter Verwunderung schüttelte ich den Kopf und betrachtete das Gesicht der mit ruhigen Atemzügen schlafenden Fechterin – Asuna, Vizekommandantin der Ritter des Blutschwurs, auch bekannt als »der Blitz«.

Die ganze Sache hatte damit begonnen, dass ich wegen des schönen Wetters keine Lust gehabt hatte, in irgendeinem modrigen Labyrinth zu versacken, und mich stattdessen für diesen Tag dazu entschieden hatte, lieber die Schmetterlinge auf den flachen Hügeln um das Teleportgate der Stadt zu zählen.

Es war wirklich großartiges Wetter. In der virtuellen schwebenden Festung Aincrad verliefen die vier Jahreszeiten synchron zur Wirklichkeit. Allerdings nahm das Spiel es mit der Wiedergabe etwas zu genau, sodass es im Sommer ständig brütend heiß war, während die Winter eisig kalt waren. Abgesehen von der Temperatur gab es noch eine Menge weiterer Klimaparameter, wie Niederschlag, Wind, Feuchtigkeit, Staub oder sogar Insektenschwärme. Wenn einer davon für gute Bedingungen sorgte, war in der Regel ein anderer Parameter ungünstig.

Doch nicht so heute. Es war behaglich warm, sanftes Sonnenlicht erfüllte die Luft, eine angenehme leichte Brise streifte mich, und keine lästigen Insekten schwirrten umher. Auch wenn gerade Frühling war, gab es im gesamten Jahr vermutlich nicht mehr als fünf Tage, an denen alle Klimaparameter so günstig eingestellt waren.

Das interpretierte ich als Wink des digitalen Gottes, mich an diesem Tag bei einem Mittagsschläfchen von den Strapazen der ständigen Raids zu erholen, also folgte ich seinem Zeichen gehorsam.

Ich legte mich an einer Böschung ins weiche Gras und war gerade eingedöst, als direkt neben meinem Kopf ein Stiefel aus weißem Leder auftrat. Gleichzeitig hörte ich eine wohlbekannte, strenge Stimme sagen: »Wie kannst du hier herumliegen und ein Nickerchen halten, während die anderen aus der Raid-Gruppe so hart arbeiten, um das Labyrinth zu erobern?«

Mit geschlossenen Lidern erwiderte ich: »Das Wetter am heutigen Tag mag wohl das schönste des ganzen Jahres sein. Das nicht zu genießen, wäre Frevel.«

Die strenge Stimme widersprach: »Das Wetter gleicht dem an jedem anderen Tag.«

Worauf ich antwortete: »So lege dich an meine Seite, dann sollst du es selbst verstehen.«

Natürlich war das tatsächliche Gespräch in weitaus informellerem Ton abgelaufen. Jedenfalls hatte sich dieses Mädel daraufhin aus unerfindlichen Gründen allen Ernstes neben mich gelegt und war dann wirklich auch noch eingeschlafen.

Nun.

Es war noch vor Mittag, und die Spieler, die am Teleportgate kamen und gingen, gafften ungeniert zu mir und dem »Blitz« herüber, wie wir nebeneinander im Gras lagen. Manche rissen überrascht die Augen auf, andere kicherten, und ein besonders unverschämter Spieler fotografierte uns sogar mit einem Screenshot-Kristall.

Aber das war nicht weiter verwunderlich. Asuna, die Vizekommandantin der Ritter des Blutschwurs, war ein Raid-Teufel, dessen Anblick selbst weinende Kinder zum Verstummen gebracht hätte, ein Turbomotor, der den Spielfortschritt in stürmischem Tempo vorantrieb. Dagegen war der Solospieler Kirito – auch wenn ich es nicht gern zugab – der Problemschüler der Raid-Gruppe, der sich mit leichtfertigen Leuten umgab und nichts als dumme Späße ausheckte.

Ich fand es selbst zum Lachen, dass solch ein Duo zusammen ein Nickerchen hielt. Aber wenn ich sie geweckt hätte, hätte ich nur wieder Ärger bekommen, also blieb mir eigentlich nichts anderes übrig, als sie zurückzulassen und nach Hause zu gehen.

Zumindest würde ich das nur zu gern, aber das kann ich leider nicht machen.

Solange »der Blitz« tief und fest schlief, konnte sie nicht nur zum Opfer von allen möglichen Belästigungen werden – im schlimmsten Fall bestand sogar das Risiko, dass sie durch einen PK getötet wurde.

Zwar befanden wir uns in der sicheren Zone des Platzes der Hauptstadt der 59. Ebene.

Genauer gesagt also in einem »Antikriminalitätscode-Gebiet«.

Innerhalb dieses Bereichs konnte kein Spieler einen anderen verletzen. Selbst bei einem Waffenangriff leuchteten nur die violetten Lichteffekte auf, aber die HP-Leiste fiel nicht einen Millimeter, und auch sämtliche Gift-Items hatten keine Wirkung. Selbstverständlich stand auch ein Diebstahl von Items außer Frage.

Mit anderen Worten, wie die Bezeichnung »Antikriminalität« schon verriet, konnte innerhalb dieser Zone kein direktes Verbrechen an einem anderen Spieler verübt werden. Diese Regel war in SAO ebenso unumstößlich wie diejenige, die besagte, dass ein Spieler starb, wenn seine HP auf null fielen.

Doch leider gab es ein paar Schlupflöcher.

Eines davon war der Fall, wenn ein Spieler schlief. Wenn Spieler erschöpft von den langen Kämpfen in einen fast komatösen Schlaf fielen, wachten manche selbst durch kleinere Reize nicht auf. Diese Situation konnte ausgenutzt werden, um demjenigen eine Anfrage für ein Duell im »Volle HP«-Modus zu schicken und mit der Hand des Schlafenden den OK-Button zu betätigen. Dann konnte derjenige wortwörtlich im Schlaf getötet werden.

Verwegener war die Methode, das Opfer außerhalb der sicheren Zone zu befördern. Solange ein Spieler aufrecht mit beiden Beinen auf dem Boden stand, wurde er durch den Code geschützt und konnte nicht gewaltsam bewegt werden, aber auf einer Trage konnte er nach Belieben transportiert werden.

Beide Fälle waren in der Vergangenheit bereits in die Praxis umgesetzt worden. Die kranke Passion der »Red Players« kannte keine Grenzen. Die Spieler hatten aus diesen Tragödien ihre Lehre gezogen und schliefen ausschließlich in Spielerhäusern oder Gasthäusern mit abschließbaren Türen. Ich selbst hatte meinen Aufspür-Skill so eingestellt, dass ich bei jedem sich nähernden Spieler gewarnt wurde, bevor ich mich ins Gras gelegt hatte, und zudem schlief ich nicht fest.

Doch der tief schlummernde »Blitz« neben mir sandte ganz offensichtlich Delta-Wellen aus. Sie wäre vermutlich nicht einmal dann aufgewacht, wenn ich ihr Gesicht mit Make-up-Items angemalt hätte. Entweder war sie todesmutig, unglaublich stur oder …

»Sie muss wohl ziemlich erschöpft sein …«, murmelte ich zu mir selbst.

Je nach Build konnte es zum Leveln am effektivsten sein, solo zu spielen. Aber dieses Mädchen behielt den Levelfortschritt aller Gildenmitglieder genau im Auge und verbesserte dabei auch noch ihre eigenen Werte in einem ähnlichen Tempo wie ich. Vermutlich hatte sie auf Schlaf verzichtet, um bis spät in die Nacht Mobs zu jagen.

Ich wusste, wie hart das sein konnte. Als ich mich vier oder fünf Monate zuvor genauso eifrig dem Sammeln von Erfahrungspunkten gewidmet hatte, hatte ich gleich für mehrere Stunden geschlafen wie ein Toter, sobald ich mich einmal hingelegt hatte.

Mit einem unterdrückten Seufzer nahm ich ein Getränk aus meinem Inventar und setzte mich wieder ins Gras, gefasst auf eine lange Wartezeit.

Ich hatte ihr gesagt, sie solle sich hinlegen. Also war es jetzt auch meine Pflicht, bei ihr zu bleiben, bis sie wieder aufwachte.

Als das Licht der orangen Abendsonne durch eine Öffnung in der Außenwand der schwebenden Festung hereinfiel, wachte »der Blitz« Asuna mit einem kleinen Nieser endlich wieder auf.

Sie hatte tatsächlich gute acht Stunden geschlafen. Das hatte nichts mehr mit einem kleinen Nickerchen zu tun. Nachdem ich ihr ohne Mittagessen Gesellschaft geleistet hatte, starrte ich sie nun erwartungsvoll an, neugierig, welches Gesicht die unerbittliche Vizekommandantin machen würde, sobald sie sich der Situation bewusst wurde.

»Hmm …«, murmelte Asuna unverständlich, dann blinzelte sie ein paarmal und sah zu mir auf.

Ihre wohlgeformten Brauen zogen sich leicht zusammen. Mit der rechten Hand im Gras richtete sie sich schwankend auf und blickte mit schwingenden kastanienbraunen Haaren nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts.

Schließlich sah sie wieder zu mir, der neben ihr im Schneidersitz saß.

Ihre klare, helle Haut färbte sich augenblicklich rot (wahrscheinlich Scham), wurde dann blass (wahrscheinlich Besorgnis) und schlussendlich wieder rot (wahrscheinlich Zorn).

»Wa… du … wie …«, stieß »der Blitz« stammelnd hervor, worauf ich mit meinem strahlendsten Lächeln antwortete: »Guten Morgen. Gut geschlafen?«

Ihre Hand im weißen Lederhandschuh zuckte.

Aber wie nicht anders zu erwarten von der Vizekommandantin der stärksten Gilde im Spiel, gelang es Asuna offenbar, ihre Selbstbeherrschung zu wahren, sodass sie weder ihr Rapier zog noch davonstürmte.

Zwischen ihren fest zusammengebissenen, perfekten Zähnen presste sie knapp hervor: »Ein Essen …«

»Was?«

»Ich lade dich zu einem Essen ein, was oder wie viel du magst. Dann sind wir quitt. Okay?«

Ihre direkte Art gefiel mir irgendwie. Selbst mit ihrem noch verschlafenen Kopf hatte sie sofort begriffen, warum ich die ganze Zeit über bei ihr geblieben war. Ich hatte sie nicht nur vor einem PK innerhalb der sicheren Zone beschützt, sondern ihr auch ermöglicht, sich einmal richtig auszuschlafen, um sich von ihrer geistigen Erschöpfung zu erholen.

Ich grinste schief – dieses Mal von Herzen – und bejahte ihre Frage. Fast hätte ich mich hinreißen lassen, nach einem selbst gekochten Essen in ihrem Zuhause zu verlangen, aber ich hielt mich zurück. Ich holte mit ausgestreckten Beinen Schwung und kam auf die Füße, dann reichte ich ihr meine Hand.

»Auf der ٥٧. Ebene gibt es einen Laden, der für ein NPC-Restaurant echt gut ist. Lass uns dorthin gehen.«

»Gut.«

Mit abweisendem Gesicht ließ sich Asuna von mir aufhelfen, dann wandte sie brüsk den Blick ab und streckte sich ausgiebig, als wolle sie die Abendröte in ihre Lungen saugen.

Seit dem Start von Sword Art Online, diesem Spiel auf Leben und Tod, waren bereits ein Jahr und fünf Monate vergangen.

Anfangs war der Weg bis zur hundertsten Ebene der schwebenden Festung Aincrad noch unglaublich weit erschienen. Doch ehe wir es uns versahen, hatten wir schon fast sechzig Prozent durchquert, und inzwischen lag die vorderste Front auf der 59. Ebene. Grob überschlagen brauchten wir also etwa zehn Tage pro Ebene. Auch als Frontkämpfer konnte ich nicht sagen, ob das nun eher schnell oder langsam war, aber seitdem sich ein stetiges Tempo eingependelt hatte, war auf den mittleren Ebenen bei den Spielern eine gewisse Gelassenheit eingekehrt, endlich wieder ein wenig das Leben zu genießen.

Auch Marten, die Hauptstadt der 57. Ebene, war erfüllt von dieser Atmosphäre. Die große Stadt nur zwei Ebenen unterhalb der vordersten Front diente den Raid-Gruppen als Basislager und war außerdem ein beliebter Touristenort. Wenn es Abend wurde, tummelten sich hier die von der Front zurückgekehrten Kämpfer, genauso wie Spieler von den unteren Ebenen, die zum Abendessen hierher kamen.

Asuna und ich reisten durch das Teleportgate auf der 59. Ebene nach Marten und gingen Seite an Seite die überlaufene Hauptstraße entlang. Ich amüsierte mich köstlich darüber, wie viele der an uns vorbeigehenden Spieler bei unserem Anblick schockiert die Augen aufrissen. Das war aber auch selbstverständlich, wenn ein zwielichtiger Solospieler mit wichtigtuerischer Miene an der Seite dieser stolzen und einsamen Blume ging, die sogar ihren eigenen Fanclub hatte. Asuna wäre wohl am liebsten so schnell zum Zielort gerannt, wie es ihr Agilitätsparameter zuließ, aber zu ihrem Pech – und meinem Glück – wusste nur ich, wohin wir gingen.

Während ich in vollen Zügen dieses Gefühl genoss, das ich zweifelsohne bis zum letzten Tag von SAO nie wieder erleben würde, gingen wir für fünf Minuten weiter, bis am rechten Straßenrand ein großes Restaurant auftauchte.

»Hier?«, fragte Asuna erleichtert und beäugte das Restaurant argwöhnisch. Ich nickte.

»Ja. Ich empfehle den Fisch mehr als das Fleisch.«

Als ich die Schwingtür aufdrückte und offenhielt, schlüpfte die Fechterin mit unbewegter Miene hindurch.

Auch während wir von der Stimme einer NPC-Kellnerin begrüßt wurden und durch das überfüllte Restaurant liefen, spürte ich, wie wir etliche Blicke auf uns zogen. Allmählich wurde es eher ermüdend als lustig. Es war sicher nicht leicht, jeden Tag so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Doch Asuna ging mit würdevollen Schritten mitten durch den Raum zu einem abgelegenen Tisch hinten am Fenster. Unbeholfen zog ich ihr den Stuhl zurück, und sie setzte sich mit einer eleganten Bewegung.

Obwohl sie eigentlich mich zum Essen einlud, bekam ich langsam das Gefühl, dass sie sich von mir eskortieren ließ. Ich setzte mich ihr gegenüber und beschloss, dafür zumindest ihre Einladung voll auszukosten. Nachdem ich Aperitif, Vorspeise, Hauptgericht und Dessert bestellt hatte, holte ich tief Luft.

Asuna setzte das unverzüglich herbeigebrachte flötenförmige Glas an die Lippen, dann stieß sie ebenfalls einen langen, erleichterten Seufzer aus.

Ihre hellbraunen Augen sahen mich etwas weniger scharf an als zuvor, und mit gerade noch hörbarer Stimme flüsterte sie: »Nun … wie soll ich sagen … danke für heute.«

»Hä?!«, entfuhr es mir verblüfft.

Sie starrte mich an und wiederholte: »Danke, habe ich gesagt. Dass du auf mich aufgepasst hast.«

»Ach … tja, also, äh, gern geschehen.«

Da wir bei den Strategiebesprechungen der Raid-Gruppen ständig heftig aneinandergerieten, wenn es um die Schwachpunkte der Bosse oder die Aufteilung der Truppen ging, fing ich bei diesen unerwarteten Worten von ihr unwillkürlich an zu stammeln. Da kicherte Asuna und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Mit jetzt noch sanfteren Augen sah sie nach oben und murmelte: »Ich glaube … das war das erste Mal, dass ich richtig gut geschlafen habe, seitdem ich hier bin …«

»Jetzt übertreibst du aber.«

»Nein, im Ernst. Normalerweise wache ich nach etwa drei Stunden wieder auf.«

Ich befeuchtete meinen Mund mit der süßsauren Flüssigkeit im Glas und fragte: »Und das ohne Wecker?«

»Ja. Ich würde es nicht eine Schlafstörung nennen … aber ich habe oft Albträume und schrecke dann hoch.«

»Verstehe …«

Plötzlich spürte ich einen scharfen Stich tief in meiner Brust. Das Gesicht von jemandem, der mir einmal etwas ganz Ähnliches erzählt hatte, kam mir in den Sinn.

Auch »der Blitz« war nur ein Mensch wie jeder andere. Nachdem mir diese Selbstverständlichkeit nun endlich bewusst geworden war, suchte ich nach den richtigen Worten.

»Äh … also … na ja, wenn du mal wieder draußen ein Nickerchen halten willst, sag Bescheid.«

Mir war selbst bewusst, wie dämlich das klang, aber Asuna lächelte mir zu und nickte.

»Ja, wenn es wieder mal so einen Tag mit perfektem Wetter gibt, werde ich das tun.«

Ihr Lächeln machte mir auch bewusst, wie unfassbar schön sie war, und mit einem Mal war ich vollkommen sprachlos.

Glücklicherweise wurde die aufkommende unangenehme Situation von einem NPC unterbrochen, der zwei Teller mit Salat brachte. Sofort streute ich ein paar der mysteriösen Gewürze auf dem Tisch über das ebenso mysteriöse, farbenfrohe Gemüse und stopfte mir mit der Gabel den Mund voll.

Ich kaute geräuschvoll und schluckte laut, dann versuchte ich die Situation zu überspielen, indem ich murrte: »Ich frage mich, warum ich überhaupt noch rohes Gemüse esse, obwohl hier Nährwerte keine Rolle spielen.«

»Wieso, ist doch lecker«, gab Asuna zurück, während sie vornehm auf etwas Kopfsalatartigem kaute.

»Ich sagte ja nicht, dass es nicht schmeckt … Aber ich hätte zumindest gern Mayonnaise dazu.«

»Oh, ja. Ganz deiner Meinung.«

»Und Dressing … und Ketchup … und …«

»Sojasoße!«, riefen wir wie aus einem Mund und lachten.

In diesem Moment war aus der Ferne ein unverkennbarer Angstschrei zu hören.

»Kyaaaaaaaah!«

Mit angehaltenem Atem erhob ich mich leicht und legte eine Hand an mein Schwert auf dem Rücken.

Auch Asuna hatte ihre Hand an die Scheide ihres Rapiers gelegt und flüsterte in nun scharfem Tonfall: »Das kam von draußen!«

Gleich darauf stieß sie ihren Stuhl zurück und rannte zum Ausgang. Hastig lief ich dem Mädchen im weißen Rittergewand nach.

Gerade waren wir auf die Hauptstraße getreten, als erneut ein markerschütternder Schrei ertönte.

Wahrscheinlich kam er von dem Platz einen Häuserblock entfernt. Asuna warf mir einen kurzen Blick zu und rannte mit voller Geschwindigkeit los in Richtung Süden.

Ich tat mein Bestes, mit dem rasenden, weißen Blitz Schritt zu halten. Die Spikes an den Sohlen meiner Stiefel sprühten Funken, als wir um eine Ecke nach Osten abbogen und auf den runden Platz direkt voraus zurannten.

Dort angekommen, erblickte ich etwas Unfassbares.

Am Nordende des Platzes stand ein Steingebäude, das an eine Kirche erinnerte.

Aus dem mittleren Zierfenster im Obergeschoss hing ein Seil, dessen eines Ende zu einer Schlinge geknüpft war – und daran hing ein Mann.

Es war kein NPC. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Heimweg von der Jagd gewesen, denn er trug eine vollständige schwere Plattenrüstung und einen großen Helm. Das Seil grub sich tief in die Halsregion seiner Rüstung, aber das war es nicht, was die dicht gedrängte Menge auf dem Platz vor Grauen nach Luft schnappen ließ. In dieser Welt war es nicht möglich, durch ein Seil zu ersticken.

Die Quelle des Schreckens war ein schwarzer Kurzspeer, der sich tief in die Brust des Mannes gebohrt hatte.

Der Mann hatte den Schaft des Speers mit beiden Händen gepackt, sein Mund öffnete und schloss sich. Währenddessen strömten unaufhörlich flackernde rote Lichteffekte wie Blut aus der Wunde in seiner Brust.

Das bedeutete, dass in genau diesem Augenblick die HP des Mannes kontinuierlich Schaden nahmen. Es war ein spezieller Damage-over-Time-Effekt, also Schaden über Zeit, der nur bei bestimmten Spießwaffen auftrat.

Allem Anschein nach war dieser schwarze Kurzspeer also eine Waffe mit eben diesem Spezialeffekt. Am Speerschaft konnte ich unzählige Widerhaken erkennen.

»Zieh den Speer heraus, schnell!«

Der Mann warf mir einen kurzen Blick zu. Seine Hände bewegten sich langsam und versuchten, den Speer herauszuziehen, aber die Klinge steckte zu tief in seiner Brust und rührte sich nicht. Die Todesangst raubte ihm alle Kraft.

Er hing mindestens zehn Meter über dem Boden an der Wand. Mit meinem Agilitätswert konnte ich ihn in dieser Höhe auf keinen Fall mit einem Sprung erreichen.

Konnte ich das Seil mit einer Wurfnadel zerschneiden? Aber was, wenn ich das Ziel verfehlte und stattdessen den Mann traf? Was, wenn das seine restlichen HP auf null senkte?

Logisch betrachtet befanden wir uns innerhalb der sicheren Zone, also konnte das nicht passieren. Aber eigentlich hätte es genauso unmöglich sein sollen, dass dieser Speer ihm Schaden zufügte.

Während ich noch hin und her überlegte, hörte ich Asunas scharfe Stimme.

»Fang du ihn hier unten auf!«

Gleich darauf rannte sie in irrsinniger Geschwindigkeit los zum Eingang der Kirche. Sie wollte drinnen zum Obergeschoss hinauflaufen und das Seil zerschneiden.

»Alles klar!«, rief ich ihr hinterher und sprintete zu der Stelle genau unterhalb des herabhängenden Mannes.

Doch als ich gerade die halbe Strecke zurückgelegt hatte, starrten seine Augen unter dem Helm so angestrengt auf einen Punkt in der Luft, dass sie ihm fast aus dem Kopf zu fallen schienen. Intuitiv begriff ich, was er da anstarrte.

Es war seine eigene HP-Leiste. Oder genauer gesagt, den Moment, als diese auf null fiel.

Inmitten all der angsterfüllten und überraschten Schreie auf dem Platz schien er irgendetwas zu rufen.

Und mit einem Geräusch, als würden zahllose Gläser zersplittern, erhellte ein blauer Blitz den Nachthimmel. Wie geistesabwesend starrte ich zu den Fragmenten der zerberstenden Polygone hinauf.

Ohne das Gewicht baumelte das Seil nun schlaff an der Wand. Eine Sekunde später fiel der schwarze Speer – die Mordwaffe – herunter und bohrte sich mit einem harten, metallischen Klirren aufrecht in die Pflastersteine vor mir.

Die Schreie zahlreicher Spieler übertönten die friedliche BGM, die in der Stadt spielte.

Obwohl ich unter Schock stand, ließ ich mit weit geöffneten Augen den Blick über den großen Platz um die Kirche schweifen. Ich suchte nach etwas ganz Bestimmtem – etwas, das auf jeden Fall auftauchen musste, nämlich die Meldung über den Sieger des Duells.

Wir waren in der Stadt, mit anderen Worten, mitten innerhalb des Antikriminalitätscode-Gebiets. Es gab nur einen Weg, wie ein Spieler hier Schaden erleiden konnte, erst recht, wenn er dabei starb: ein Duell im »Volle HP«-Modus anzunehmen und zu verlieren.

Es gab keine andere Möglichkeit, auf keinen Fall.

Und dann musste im Moment seines Todes in der Nähe ein großes Systemfenster auftauchen, das den Namen des Siegers und die Duelldauer verkündete. Wenn ich es sehen würde, wüsste ich sofort, wer diesen Mann in voller Rüstung mit einem einzigen Speer getötet hatte.

Aber …

»Wo ist es …?«, murmelte ich zu mir selbst.

Es gab kein Systemfenster. Nirgendwo auf dem Platz war es zu entdecken. Und es würde nur für dreißig Sekunden angezeigt werden.

»Leute! Sucht nach der Meldung des Duellsiegers!«, schrie ich über den Lärm ringsum hinweg. Die Spieler begriffen meine Absicht sofort und begannen sich in alle Richtungen umzusehen.

Doch keiner rief, dass er etwas entdeckt hätte. Schon fünfzehn Sekunden waren verstrichen.

Dann also im Gebäude? Vielleicht tauchte die Meldung in dem Raum im Obergeschoss auf, von wo das Seil herabhing? Dann müsste Asuna sie sehen.

Gerade als ich das dachte, erschien das weiße Rittergewand des »Blitzes« am fraglichen Fenster.

»Asuna! War dort eine Siegermeldung?!«, wollte ich wissen.

An jedem anderen Tag hätte ich es nicht gewagt, so salopp mit ihr zu sprechen, aber jetzt fehlte mir die Zeit für Förmlichkeiten. Sie schüttelte nur ihren Kopf. Ihr Gesicht war fast genauso weiß wie ihr Gewand.

»Nein! Auch kein Systemfenster, hier drinnen ist niemand!«

»Wie kann das sein …?«, stöhnte ich und sah mich erneut vergeblich um. Ein paar Sekunden später hörte ich jemanden leise murmeln: »Das bringt doch nichts, die dreißig Sekunden sind längst vorbei …«

Ich schlüpfte an der NPC-Nonne vorbei, die permanent im Erdgeschoss der Kirche postiert war, und rannte die Treppe im hinteren Teil des Gebäudes hoch.

Das Obergeschoss war in vier kleine Zimmer aufgeteilt, ähnlich den Zimmern eines Gasthauses. Anders als dort konnten die Türen jedoch nicht abgeschlossen werden. In den ersten drei Zimmern, an denen ich vorbeikam, war weder mit dem bloßen Auge noch meinem Aufspür-Skill ein versteckter Spieler zu entdecken. Ich biss mir auf die Lippe und betrat das vierte Zimmer.

Am Fenster drehte sich Asuna zu mir um. Sie bewahrte eine gefasste Miene, doch innerlich schien sie geschockt zu sein. Auch ich konnte meine Anspannung, die sich in einer harten Furche zwischen meinen Augenbrauen zeigte, nicht verbergen.

»In der Kirche ist niemand außer uns«, berichtete ich.

Sofort fragte die Vizekommandantin der Ritter des Blutschwurs: »Wäre es möglich, dass sich jemand mit einem Tarnumhang versteckt?«

»Selbst an der vordersten Front droppen keine Items, die meinen Aufspür-Skill unwirksam machen würden. Außerdem habe ich den Ausgang der Kirche zur Sicherheit von Spielern blockieren lassen. Selbst wenn sich derjenige unsichtbar gemacht hat, würde er sie beim Verlassen der Kirche berühren und damit automatisch sichtbar werden. Einen Hinterausgang hat dieses Gebäude auch nicht, und das hier ist das einzige Zimmer mit einem Fenster.«

»Hm … verstehe. Sieh dir das hier mal an.« Asuna nickte mir zu und zeigte mit einem weiß behandschuhten Finger in eine Ecke des Zimmers.

Dort stand ein schlichter Holztisch, ein sogenanntes »Objekt mit festen Koordinaten«, das sich nicht bewegen ließ.

An eines der Tischbeine war ein recht dünnes, aber robust wirkendes Seil gebunden. Das hieß nicht, dass es tatsächlich mit den Händen festgebunden worden war. Um ein Seil festzubinden, rief man das Pop-up-Fenster für das Seil auf, klickte erst auf den Button zum Festbinden und dann auf das entsprechende Objekt, wodurch das Seil automatisch daran befestigt wurde. Einmal festgebunden, löste sich das Seil nicht, bevor es über seine Haltbarkeit hinaus belastet oder mit einer Klinge zerschnitten wurde.

Das dunkel glänzende Seil spannte sich etwa zwei Meter durch den Raum und hing aus dem südlichen Fenster. Von mir aus war das andere Ende nicht zu sehen, das zu einer Schlinge geknüpft und an dem der Mann erhängt worden war.

»Hmm …«, brummte ich grübelnd. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Logisch betrachtet«, antwortete Asuna ebenso nach-denklich, »hat sein Duellgegner dieses Seil hier festgebunden, ihm den Speer in die Brust gestoßen, dann hat er ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ihn aus dem Fenster ge-stoßen …«

»Als abschreckendes Beispiel, oder was …? Nein, vor allem …« Ich holte tief Luft und erklärte klar und deutlich: »Es ist nirgendwo eine Siegermeldung aufgetaucht. Von den Dutzenden Spielern da unten auf dem Platz hat keiner die Meldung entdecken können, obwohl sie bei einem Duell garantiert in der Nähe angezeigt worden wäre.«

»Aber … das kann doch nicht sein!«, protestierte sie heftig. »Ein Duell ist die einzige Möglichkeit, in der sicheren Zone den HP eines Spielers Schaden zuzufügen. Das weißt doch wohl auch du!«

»Ja, genau so ist es …«

Schweigend sahen wir uns an.

Es war genau wie Asuna sagte, hier war etwas absolut Unmögliches geschehen. Wir wussten nur, dass ein Spieler in aller Öffentlichkeit getötet worden war, hatten aber nicht die geringste Ahnung, von wem, wieso und wie.

Vom Platz unter dem Fenster war unaufhörlich die lärmende Menschenmenge zu hören. Auch sie mussten mittlerweile die Abnormität dieses Vorfalls bemerkt haben.

Schließlich sah mich Asuna direkt an und sagte: »Wir können das jedenfalls nicht ignorieren. Falls jemand eine Methode für PK innerhalb der sicheren Zone entdeckt hat, müssen wir das schnellstens herausbekommen und Gegenmaßnahmen bekannt geben, sonst gibt es noch eine Katastrophe.«

»Das kommt zwar selten vor, aber dieses Mal stimme ich dir voll und ganz zu.«

Ich nickte ihr zu und lächelte grimmig. »Der Blitz« streckte mir die rechte Hand entgegen.

»Dann lass uns zusammenarbeiten, bis die Sache geklärt ist. Aber ich sag’s dir gleich, wir werden keine Zeit für Nickerchen haben.«

»Du hast doch selbst geschlafen …«, murmelte ich und streckte ebenfalls die Hand aus.

Und so wurde mit einem festen Händeschütteln eines weißen und eines schwarzen Handschuhs kurzerhand ein Duo aus Detektiv und Assistent gebildet – auch wenn unklar war, wer von uns welche Rolle hatte.

2

Wir stellten das Seil als Beweisstück sicher, verließen das kleine Zimmer und gingen zurück zum Eingang der Kirche. Den Speer als zweites Beweisstück hatte ich zuvor bereits in meinem Inventar verstaut.

Ich bedankte mich bei den beiden Spielern, die dort Wache gehalten hatten, und sie bestätigten mir, dass niemand an ihnen vorbeigekommen war. Als ich auf den Platz trat, hob ich eine Hand zu den Schaulustigen, die zu uns herübersahen, dann rief ich laut: »Entschuldigung, wenn irgendjemand den Vorfall von Anfang an beobachten konnte, würden wir uns gerne mit demjenigen unterhalten!«

Einige Sekunden später trat eine Spielerin zögerlich aus der Menschenmenge hervor. Ich konnte mich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Ihre Waffe war ein normales, von einem NPC gemachtes Schwert, was vermuten ließ, dass sie zu den Touristen von den mittleren Ebenen gehörte.

Leider schien mein Anblick sie etwas einzuschüchtern, also trat Asuna vor und sprach sie freundlich an: »Es tut mir leid, das war sicher schrecklich mit anzusehen. Wie heißt du?«

»Äh… Ähm, ich heiße Yolko.«

Ihre dünne Stimme kam mir bekannt vor, und ich schaltete mich ein: »Der erste Schrei vorhin … kam der etwa von dir?«

»Ja …« Die Spielerin namens Yolko nickte, wobei ihre leicht gewellten, dunkelblauen Haare wippten. Dem Aussehen ihres Avatars nach schätzte ich sie auf etwa siebzehn oder achtzehn Jahre.

In ihre großen unschuldigen Augen, ebenso dunkelblau wie ihre Haare, stiegen plötzlich Tränen.

»Ich … ich war befreundet mit dem Spieler, der gerade … ermordet wurde. Wir wollten heute zusammen essen gehen, aber dann haben wir uns hier auf dem Platz aus den Augen verloren … und … dann …«

Offenbar nicht in der Lage weiterzusprechen, presste sie beide Hände vor den Mund.

Asuna fasste sie sanft an den zitternden, schmalen Schultern und führte sie in die Kirche. Dort setzte sie sich mit Yolko auf eine der Bänke, die in mehreren Reihen aufgestellt waren.

Ich blieb ein Stück entfernt stehen und wartete, dass sich das Mädchen beruhigte.

Wenn sie mit angesehen hatte, wie ihr Freund auf grausame Art und Weise ermordet worden war, musste sie einen unermesslichen Schock erlitten haben.

Asuna strich ihr über den Rücken, bis Yolko schließlich aufhörte zu weinen und sich mit schwacher Stimme entschuldigte.

»Nein, schon gut«, sagte Asuna sanft zu ihr. »Ich warte so lange wie nötig, und du erzählst mir einfach alles in Ruhe, wenn du so weit bist, ja?«

»Okay … es geht schon wieder.«

Yolko war wohl doch tapferer als gedacht, sie rückte von Asunas Hand weg und nickte.

»Sein Name … war Kains. Wir waren mal in derselben Gilde … Und manchmal haben wir noch eine Gruppe gebildet oder uns zum Essen getroffen … Heute wollten wir hier essen gehen …«

Sie schloss einmal fest die Augen und fuhr dann mit zitternder Stimme fort.

»Aber es war so voll hier, dass wir uns auf dem Platz aus den Augen verloren haben … Und als ich mich umgesehen habe, sah ich jemanden – Kains – plötzlich aus dem Kirchenfenster in der Luft hängen … und in seiner Brust steckte ein Speer …«

»Hast du noch jemanden gesehen?«, fragte Asuna.

Yolko schwieg einen Moment lang. Dann nickte sie langsam, aber deutlich.

»Ja … Es war nur für einen Augenblick, aber ich glaube, ich habe jemanden hinter Kains stehen sehen …«

Unbewusst ballte ich meine Hände zu Fäusten.

Der Täter war also tatsächlich in dem Zimmer gewesen. Dann musste er ganz gelassen in aller Öffentlichkeit entkommen sein, nachdem er das Opfer Kains aus dem Fenster gestoßen hatte.

In dem Fall musste der Täter tatsächlich einen Ausrüstungsgegenstand mit Tarnfunktion verwendet haben, aber der Effekt solcher Items wurde während der Bewegung schwächer. Hatte derjenige etwa einen derart hohen Tarn-Skill, dass er diesen Nachteil ausgleichen konnte?

Der bedrohliche Begriff »Assassine« schoss mir durch den Kopf.

Existierte in SAO womöglich eine Kategorie von Waffen-Skills, von der nicht einmal ich oder Asuna wussten? Was, wenn mit einer besonderen Eigenschaft solch eines Skills der Antikriminalitätscode außer Kraft gesetzt werden konnte …?

Asuna erschauderte kurz, als hätte sie gerade denselben Gedanken gehabt. Doch gleich sah sie wieder auf und wandte sich an Yolko: »Kam dir diese Person bekannt vor?«

Yolko dachte für einen Moment mit zusammengekniffenen Lippen nach, schüttelte dann aber verneinend den Kopf. Dieses Mal stellte ich ihr so sanft wie nur irgend möglich eine Frage: »Also … ich frage das nur ungern, aber hast du vielleicht einen Verdacht, warum es jemand auf Kains abgesehen haben könnte …?«

Wie befürchtet erstarrte Yolko bei dieser Frage augenblicklich. Das war zu erwarten gewesen. Ihr Freund war gerade getötet worden, und jetzt fragte ich sie, ob er etwas getan hatte, um das zu verdienen. Es war eine taktlose Frage, doch eine, die gestellt werden musste. Falls sie eine Ahnung hatte, wer einen Groll auf Kains hegte, wäre das unser bester Anhaltspunkt.

Doch Yolko schüttelte abermals nur leicht mit dem Kopf.

Ich war etwas enttäuscht. »Verstehe, entschuldige die Frage.«

Natürlich war es auch möglich, dass Yolko einfach nur nichts darüber wusste. Doch derjenige, der Kains getötet hatte, war zum einen ein tatsächlicher Mörder, zum anderen aber auch ein PKer in einem MMO-Spiel. Und im Grunde war das Töten anderer Spieler an sich Motiv und Lebensinhalt der PKer. Die Red Players, die sich neuerdings in den dunklen Ecken von Aincrad verbreiteten, waren das beste Beispiel dafür.

Mit anderen Worten, als Verdächtige an diesem rätselhaften Mord an Kains innerhalb der sicheren Zone kamen neben den Orange und Red Players, von denen es mehrere Hundert geben sollte, auch noch alle Spieler infrage, die potenziell diese Tendenz hatten. Ehrlich gesagt hatte ich momentan keine Ahnung, wie wir den Schuldigen aus dieser Menge bestimmen sollten.

Wieder schien auch Asuna gleichzeitig zu demselben Schluss gekommen zu sein und seufzte kraftlos.

Da Yolko Angst hatte, allein zu den niedrigeren Ebenen zurückzukehren, begleiteten wir sie zum nächsten Gasthaus und gingen dann zurück zum Platz mit dem Teleportgate.

Seit dem Vorfall war eine halbe Stunde vergangen, und allmählich zerstreute sich die Menschenmenge wieder. Trotzdem warteten immer noch fast zwanzig Spieler, vor allem Frontkämpfer, auf unseren Bericht.

Asuna und ich teilten ihnen mit, dass der Name des verstorbenen Spielers Kains war und die Mordmethode zum derzeitigen Zeitpunkt noch vollkommen unklar. Auch von unserer Befürchtung, dass jemand einen Weg für PK in der sicheren Zone gefunden hatte, erzählten wir ihnen.

»Deswegen wär’s gut, wenn ihr möglichst viele Leute warnt, dass wir fürs Erste auch innerhalb der Städte vorsichtig sein sollten«, schloss ich. Die anderen nickten mit ernsten Gesichtern.

»Alles klar. Dann werde ich einen Infohändler bitten, dass sie in ihrem nächsten Flugblatt eine Warnung veröffentlichen«, antwortete ein Spieler einer der größeren Gilden stellvertretend für die Gruppe. Danach gingen wir auseinander.

»Also … was machen wir jetzt?«, wandte ich mich an Asuna neben mir.

Ihre Antwort kam prompt. »Lass uns die Informationen überprüfen, die wir haben, insbesondere das Seil und den Speer. Wenn wir herausfinden, wo die herkamen, könnte uns das vielleicht zum Täter führen.«

»Verstehe … du meinst, wenn wir keinen Anhaltspunkt zum Motiv haben, halten wir uns an die Sachbeweise. Dafür bräuchten wir allerdings den Gutachten-Skill. Hey, hast du den gelevelt … eher nicht, was?«

»Natürlich nicht, genauso wenig wie du. Und außerdem …« Asuna verzog das Gesicht und sah mich scharf an. »Könntest du mich vielleicht mal vernünftig anreden?«

»Wie? Äh, klar … dann also … mein Fräulein? Vizekommandantin? Edler Blitz?«

Letzteres war die Bezeichnung, die in der Vereinszeitschrift ihres Fanclubs benutzt wurde. Deren Erwähnung führte unmittelbar dazu, dass sie mir einen bohrenden Blick wie Laser zuschoss und sich dann brüsk von mir abwandte.

»Nenn mich einfach Asuna. Vorhin hast du mich doch auch so genannt.«

»Okay.« Ich willigte demütig ein und kehrte dann schnell zum ursprünglichen Thema zurück. »Also, was den Gutachten-Skill angeht – kennst du vielleicht jemanden, der den beherrscht …?«

»Hmm.« Sie dachte für einen Moment nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kenne eine Waffenhändlerin, die den Skill hat, aber um diese Zeit hat sie am meisten zu tun, also wird sie uns vermutlich nicht sofort helfen können …«

In der Tat war gerade die Zeit, in der die Spieler nach den Abenteuern des Tages ihre Ausrüstung warten oder neu anfertigen ließen.

»Verstehe. Dann lass uns zuerst einen Bekannten von mir fragen, den Itemhändler mit der Axt, auch wenn ich fürchte, dass sein Skilllevel zu wünschen übrig lassen wird.«

»Meinst du diesen Riesenkerl …? Agil hieß er, richtig?«, fragte Asuna, während ich schon ein Fenster öffnete und begann, eine Nachricht an ihn zu tippen. »Aber als Itemhändler wird er doch gerade auch alle Hände voll zu tun haben?«

»Mir doch egal«, erwiderte ich und drückte erbarmungslos auf Senden.

Algade, die Hauptstadt der 50. Ebene, empfing uns mit ihrem üblichen Lärmen und Treiben, als Asuna und ich aus dem Teleportgate traten.

Obwohl es noch nicht allzu lang her war, dass das Gate aktiviert worden war, hatten auf der Hauptstraße schon zahllose Spielerläden eröffnet und drängten sich dicht an dicht. Das lag vor allem daran, dass die Kosten für ein Ladenlokal hier verglichen mit den unteren Ebenen überraschend günstig waren.

Natürlich waren die Läden hier auch vergleichsweise klein und unansehnlich, aber es gab viele Spieler, die Gefallen fanden an dem asiatischen Flair – oder auch diesem geschäftigen Treiben, das sehr an ein gewisses Elektronikviertel in Tokyo erinnerte. Auch ich gehörte zu diesen Spielern und beabsichtigte, in absehbarer Zeit hier ein Spielerhaus zu kaufen.

Exotische BGM, die Rufe der Verkäufer und der Geruch von Fastfood mischten sich in der Luft, als ich Asuna schnellen Schrittes durch die Straße führte. In ihrem weißen Minirock, der einen großzügigen Blick auf ihre nackten Beine freigab, fiel sie in dieser Stadt etwas zu sehr auf.

»Komm schon, beeilen wir uns …«, sagte ich nach hinten. Als ich bemerkte, wie sich das Geräusch ihrer Absätze entfernte, drehte ich mich um, nur um dann überrascht auszurufen: »Wieso kaufst du dir jetzt was zu futtern?«

»Der edle Blitz« geruhte gerade, an einem fragwürdigen Verkaufsstand ebenso fragwürdiges gegrilltes Fleisch am Spieß zu kaufen. Sie nahm einen Bissen davon und erwiderte gelassen: »Na, wir hatten doch vorhin gerade erst mit dem Salat angefangen, als wir rausgerannt sind … Hm, das ist ziemlich gut.«

Kauend reichte sie mir einen zweiten Spieß.

»Huch, für mich?«

»Na, das war doch unsere Abmachung.«

»Oh … ach so …«

Aus Reflex verbeugte ich mich leicht beim Entgegennehmen des Fleischspießes. Erst dann begriff ich, dass ihre Einladung zu einem Mehrgängemenü gerade zu einer Einladung zum Fleischspieß herabgestuft worden war. Nebenbei bemerkt war die Restaurantrechnung uns zu gleichen Teilen abgezogen worden, als wir aus dem Lokal gerannt waren.

Während ich mir den Mund vollstopfte mit dem exotisch gewürzten, rätselhaften Fleisch, fasste ich im Weitergehen den festen Entschluss, sie eines Tages auf jeden Fall dazu zu bringen, für mich zu kochen.

Wir hatten unsere Spieße gerade aufgegessen, als wir unser Ziel erreichten. Nachdem die abgenagten Spieße lautlos verschwunden waren, wischte ich meine Hand am Ledermantel ab, obwohl sie nicht einmal schmutzig war. Der Ladeninhaber hatte uns den Rücken zugewandt, also rief ich laut: »Hi! Ich bin’s.«

»Da du kein Kunde bist, werde ich dich auch nicht willkommen heißen«, brummte Agil, der Itemhändler und Axtkämpfer, wobei sein beleidigter Tonfall nicht so recht zu seiner hünenhaften Statur und den imposanten Gesichtszügen passen wollte. Der Kundschaft in dem beengten Laden rief er zu: »Sorry, für heute hat der Laden geschlossen.«

Mit entschuldigenden Verbeugungen seines massiven Körpers scheuchte er die murrenden Spieler hinaus und schloss das Geschäft dann über das Verwaltungsmenü.

Die völlig chaotischen Ausstellungsvitrinen wurden automatisch eingelagert, und nachdem sich der Front-Rollladen quietschend und ratternd geschlossen hatte, drehte sich Agil endlich zu uns um.

»Hör mal, Kirito, für den Lebensunterhalt eines Händlers kommt Vertrauen an erster Stelle und auch an zweiter Stelle. Der große Reibach kommt nicht an dritter oder vierter, sondern erst an fünfter Stelle …«

Als er die Spielerin neben mir erblickte, verstummte der Vortrag seiner fragwürdigen Lebensweisheit. Der Kinnbart des Glatzkopfes erzitterte, und Agil erstarrte zur Salzsäule. Asuna verbeugte sich mit einem adretten Lächeln. »Lange nicht gesehen, Agil. Es tut mir sehr leid, dass wir dich so unangemeldet stören müssen, aber wir benötigen dringend deine Unterstützung …«

Sofort wurden Agils strenge Gesichtszüge weich, er klopfte sich mit einem »Verlass dich auf mich« auf die Brust und brachte sogar Tee.

Wir Männer waren schon eine armselige Gattung, unseren angeborenen Parametern konnten wir uns einfach nicht widersetzen.

In einem Zimmer im Obergeschoss berichteten wir Agil in groben Zügen von dem Vorfall. Wie zu erwarten, begriff er sofort, wie ernst die Angelegenheit war, und seine Augen unter dem hervortretenden Brauenbogen wurden schmal.

»Also sind seine HP innerhalb der sicheren Zone auf null gefallen? Und ihr seid euch sicher, dass es kein Duell war?«, knurrte der Hüne in seinem tiefen Bariton.

Ich nickte ihm von meinem Platz im Schaukelstuhl zu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass in der Situation niemand die Siegermeldung entdeckt hätte, also sollten wir das erst mal annehmen. Außerdem … selbst wenn es ein Duell war, hätte er doch niemals eine Anfrage angenommen, wenn er eigentlich gerade zum Essengehen verabredet war, noch dazu für eines im Volle-HP-Modus.«

»Und wenn er kurz davor noch mit diesem Mädchen … ich meine, mit Yolko unterwegs war, kann es auch kein Schlaf-PK gewesen sein«, ergänzte Asuna, während sie über dem kleinen Tisch ihre Teetasse schwenkte.

»Vor allem war die Vorgehensweise zu komplex für ein spontanes Duell. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass der PK im Voraus geplant wurde. Und … da wäre noch das hier.«

Mit diesen Worten holte ich das Seil aus meinem Inventar und überreichte es Agil.

Den Knoten, mit dem das Seil am Tischbein festgebunden war, hatte ich natürlich lösen müssen, aber das andere Ende war noch immer zu einer großen Schlinge geknüpft.

Agil ließ die Schlaufe vor seinem Gesicht baumeln und schnaubte verächtlich, dann tippte er es mit einem breiten Finger an.

In dem Fenster, das sich daraufhin öffnete, wählte er das »Gutachten«-Menü. Asuna und mir wäre dabei aufgrund des fehlenden Skills nur eine Fehlermeldung angezeigt worden, doch der Händler Agil sollte in der Lage sein, zumindest ein paar Informationen herauszufinden.

Tatsächlich erläuterte uns der Hüne anschließend mit tiefer Stimme den Inhalt des Fensters, der nur für ihn sichtbar war.

»Leider wurde das Seil nicht von einem Spieler hergestellt, sondern ist ein ganz gewöhnliches Item aus dem Shop. Der Rang ist auch nicht sonderlich hoch. Die Haltbarkeit ist etwa zur Hälfte verbraucht.«

Ich rief mir die schreckliche Szene wieder ins Gedächtnis und nickte. »Wundert mich nicht, nachdem ein Spieler in einer schweren Rüstung daran hing. Das muss ein gewaltiges Gewicht gewesen sein.«

Doch für den Mörder musste das Seil nur die paar Dutzend Sekunden halten, bis das Opfer sämtliche HP verloren hatte und in Polygone zerborsten war.

»Na ja, von dem Seil habe ich mir sowieso nicht viel erhofft. Jetzt kommt der aussichtsreichere Kandidat.« Ich tippte auf mein geöffnetes Inventar und materialisierte das nächste Item.

In dem kleinen Zimmer schien der schwarz glänzende Kurzspeer eine noch gewichtigere Aura auszustrahlen. Der Waffenrang war vermutlich nicht einmal annähernd so hoch wie Asunas und meine Hauptwaffen, aber das war nicht der Punkt. Dieser Speer hatte auf brutale Art das Leben eines Spielers geraubt, es war eine »Mordwaffe« im wahrsten Sinne des Wortes.

Darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen, übergab ich den Speer an Agil.

Die gesamte Waffe war aus dem gleichen dunklen Metall gefertigt, was ungewöhnlich für Waffen dieser Kategorie war. Der Speer war etwa anderthalb Meter lang, hatte einen dreißig Zentimeter langen Griff und am anderen Ende des Schaftes eine scharfe Spitze von fünfzehn Zentimetern Länge.

Eigentümlich waren die Widerhaken, mit denen der Schaft dicht besetzt war. Sie hatten den Spezialeffekt, dass der Speer nur noch schwerlich herausgezogen werden konnte, wenn er sein Ziel erst einmal tief durchbohrt hatte. Daher war ein recht hoher Stärkewert erforderlich, um den Speer aus dem Körper zu ziehen.

In diesem Fall bezog sich der Stärkewert neben dem numerischen Parameter des Spielers auch auf die Intensität der vom Gehirn erzeugten Signale, die vom NerveGear im verlängerten Mark abgefangen wurden. Doch Kains, der Mann in der Panzerrüstung, war im entscheidenden Moment so von seiner Todesangst überwältigt gewesen, dass er keinen klaren Befehl an seinen virtuellen Körper hatte senden können, damit dieser sich bewegte. Es war demnach nicht verwunderlich, dass er selbst mit beiden Händen nicht in der Lage gewesen war, den Speer herauszuziehen.

Das verstärkte erneut meine Annahme, dass es kein spontaner PK gewesen war, sondern vorsätzlicher Mord. Durch Schaden über Zeit zu sterben, war ein besonders grausamer Tod. Denn man starb weder durch eine Schwerttechnik des Angreifers noch durch die Macht von dessen Waffe, sondern durch seine eigene Furcht.

Agil hatte sein Gutachten fertiggestellt und unterbrach meinen Gedankengang: »Der wurde von einem Spieler hergestellt.«

Asuna und ich fuhren gleichzeitig auf und riefen: »Wirklich?!«

Wenn die Waffe von einem Spieler hergestellt worden war, also jemandem mit Schmiede-Skill, musste sie auch die Inschrift desjenigen tragen. Und dieser Speer war vermutlich eine Sonderanfertigung zu einem bestimmten Zweck gewesen. Wenn wir den Hersteller direkt befragen würden, standen die Chancen gut, dass er sich noch an den Spieler erinnern konnte, der den Speer in Auftrag gegeben und gekauft hatte.

»Und wer hat ihn angefertigt?«, fragte Asuna angespannt.

Mit Blick auf sein Systemfenster antwortete Agil: »›Grim-lock‹ … den Namen hab ich noch nie gehört. Ist jedenfalls kein erstklassiger Schmied. Na, es gibt genug Spieler, die den Schmiede-Skill leveln, um ihre eigenen Waffen zu verbessern …«

Wenn nicht einmal Agil als Händler diesen Schmied kannte, würden Asuna und ich ihn erst recht nicht kennen. Erneut kehrte ein kurzes Schweigen in dem beengten Raum ein.

Dann ergriff Asuna wieder mit entschlossener Stimme das Wort.

»Aber wir sollten trotzdem in der Lage sein, ihn ausfindig zu machen. Wenn er den Skill so hoch gelevelt hat, dass er damit eine Waffe dieser Klasse herstellen konnte, kann er unmöglich immer nur solo gespielt haben. Wenn wir uns in den Städten auf den mittleren Ebenen umhören, finden wir bestimmt jemanden, der schon mal in einer Gruppe mit diesem Grimlock war.«

»Stimmt. Allzu viele Idioten wie ihn dort wird’s wohl nicht geben«, pflichtete Agil ihr lebhaft bei. Dann sahen die beiden zu mir, dem idiotischen Solospieler.

»Was denn …? Ich trete doch auch manchmal Gruppen bei.«

»Aber auch nur bei Bosskämpfen«, warf Asuna kühl ein. Darauf wusste ich nichts zu erwidern, also schwieg ich gezwungenermaßen.

Asuna schnaubte und sah wieder auf den Speer in Agils Hand. »Na … um ehrlich zu sein, auch wenn wir Grimlock finden, habe ich nicht wirklich viel Lust, mit ihm zu reden …«

Da war ich ganz ihrer Meinung.

Kains’ Mörder musste ein noch unbekannter Red Player sein, der diesen Speer in Auftrag gegeben hatte, nicht der Schmied Grimlock. Jemanden zu töten mit einer selbst angefertigten Waffe, die also die eigene Inschrift trug, wäre das Gleiche gewesen, wie in der Wirklichkeit jemanden mit einer Mordwaffe zu erstechen, auf die man seinen Namen geschrieben hatte. Doch andererseits musste jeder Handwerker mit einem gewissen Maß an Wissen und Erfahrung zumindest eine Vermutung haben, zu welchem Zweck eine solche Waffe dienen sollte.

Schaden über Zeit war gegen Monster nur wenig effektiv. Denn vom Algorithmus gesteuerte Mobs fühlten keine Angst. Selbst wenn sie von einer Spießwaffe getroffen wurden, packten sie einfach die Waffe und zogen sie heraus, sobald der Breakpoint ausgelöst wurde. Natürlich gaben sie die Waffe nicht zurück, sondern warfen sie weit fort, sodass man sie nicht zurückerhielt, bis der Kampf vorbei war.

Was bedeutete, dass dieser Speer für den PvP-Gebrauch angefertigt worden war. Alle mir bekannten Schmiede hätten solch einen Auftrag sofort abgelehnt, sowie ihnen die Spezifikationen mitgeteilt worden wären.

Grimlock dagegen hatte diesen Speer geschmiedet.

Auch wenn er wohl kaum selbst der Mörder war – angesichts der Leichtigkeit, mit der sein Name durch ein Gutachten ermittelt werden konnte –, war er eine Person von schwacher Moral oder gehörte womöglich heimlich zu einer roten Gilde.

»Jedenfalls werden wir unsere Antworten wahrscheinlich nicht umsonst bekommen. Falls er eine Informationsgebühr von uns verlangt …«, murmelte ich.

Agil schüttelte den Kopf, und Asuna warf mir einen scharfen Blick zu. »Dann halbieren wir die Kosten eben.«

»Alles klar, dann gibt’s jetzt kein Zurück mehr.«

Ich zuckte mit den Schultern und stellte dem durchtriebenen Händler vor mir eine letzte Frage: »Ich glaube zwar nicht, dass es uns weiterhilft, aber könntest du mir noch den Namen der Waffe sagen?«

Der glatzköpfige Hüne sah zum dritten Mal auf sein Fenster hinunter.

»Ähm … ›Guilty Thorn‹. Also Dorn der Schuld.«

»Hmm …«

Erneut betrachtete ich die dicht stehenden Widerhaken auf dem Speerschaft. Natürlich wurde der Waffenname zufällig vom System vergeben. Es steckte also keine persönliche Intention hinter diesen Worten selbst.

Und dennoch …

»Dorn … der Schuld …«, wisperte Asuna, und ihr Flüstern verlieh dem Namen einen eisigen Klang.

3

Asuna und ich sowie Agil reisten nacheinander von Algades Teleportgate in die Stadt der Anfänge auf der untersten Ebene von Aincrad.

Dort wollten wir das Monument des Lebens im Eisernen Palast überprüfen. Wenn wir den Schmied Grimlock finden wollten, musste er zunächst einmal am Leben sein.

Obwohl es Frühling war, wirkte die weitläufige Stadt der Anfänge etwas trist.

Das lag nicht nur an den Klimaparametern. Auf den abendlichen Straßen waren nur wenige Spieler zu sehen, und selbst die NPC-Musikanten schienen nur BGMs in schwermütigen Molltonarten zu spielen.

Mir waren lächerliche Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die Aincrad-Befreiungsarmee, die als größte Gilde die untere Ebene kontrollierte, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hatte, aber allem Anschein nach waren diese Gerüchte vielleicht sogar wahr. Die einzigen Personen, denen wir begegneten, waren Patrouillen der Armee in ihren einheitlichen metallgrauen Rüstungen.

Zudem war es nervenaufreibend, wie sie zu uns herübergerannt kamen, sobald sie uns entdeckten – wie Streifenpolizisten, die Mittelschülern die Leviten lasen. Allerdings reichte meist ein eiskalter Blick von Asuna aus, um sie wieder in die Flucht zu schlagen.

»Kein Wunder, dass in Algade so viel los ist, trotz der hohen Preise …«, brummte Agil unwillkürlich und erzählte uns von einem noch erschreckenderen Gerücht. »Ich hab gehört, dass die Armee bald auch noch Steuern von den Spielern verlangen will.«

»Was?! Steuern? Das kann doch nicht sein, wie wollen sie die denn eintreiben?«

»Das weiß ich auch nicht … Vielleicht ziehen sie automatisch einen Teil der Monsterdrops ein.«

»Oder sie beschlagnahmen den Ertrag deines Ladens.«

So schwadronierten Agil und ich weiter, doch sobald wir auf die Pflastersteine des Eisernen Palastes traten, verstummten wir.

Wie der Name schon sagte, war das kolossale Gebäude aus Eisensäulen und Eisenplatten konstruiert, und die Luft war hier drinnen deutlich kühler als draußen.

Asuna ging mit eiligen Schritten voran und rieb sich fröstelnd ihre nackten Arme.

Außer uns war niemand im Palast, wohl wegen der fortgeschrittenen Stunde. Tagsüber waren hier unaufhörlich die Wehklagen der Spieler zu hören, die kamen, um sich ungläubig des Todes ihrer Freunde oder Geliebten zu vergewissern und dann beim Anblick der nüchtern eingravierten Linien über den Namen der Verstorbenen in Tränen auszubrechen. Wahrscheinlich würde auch Yolko, die den Mord an ihrem Freund Kains mit eigenen Augen gesehen hatte, an einem der nächsten Tage herkommen, um sich zu überzeugen. So wie auch ich es vor gar nicht allzu langer Zeit getan hatte. Selbst jetzt hatte ich diese schmerzhaften Erinnerungen noch nicht vollständig verwunden.

Mit schnellen Schritten durchmaßen wir die menschenleere Halle, die von bläulichen Flammen beleuchtet wurde.

Als wir das mehrere Dutzend Meter breite Monument des Lebens erreichten, starrten wir auf den Abschnitt »G« der unzähligen alphabetisch sortierten Namen.

Agil lief ohne anzuhalten weiter nach rechts. Asuna und ich gingen mit angehaltenem Atem die aufgelisteten Spielernamen durch und entdeckten den Namen fast gleichzeitig.

Grimlock – nicht durchgestrichen.

»Er lebt also …«

»Sieht so aus.«

Wir seufzten beide erleichtert. Agil, der ein Stück weiter den Abschnitt »K« betrachtet hatte, kam gleich wieder zurück und sagte mit ernstem Gesicht: »Kains ist definitiv tot. Todeszeitpunkt war der 22. Tag im Monat der Kirschblüte, also April, 18:27 Uhr.«

»Der Tag und die Zeit passen. Es war, gleich nachdem wir heute Abend aus dem Restaurant gekommen sind«, murmelte Asuna und wandte sich ab, die langen Wimpern niedergeschlagen. Auch Agil und ich verfielen für einen kurzen Moment in eine andächtige Stille. Es bestand kein Zweifel, Yolko hatte uns die richtige Schreibweise von Kains’ Namen mitgeteilt.

Nachdem all unsere Angelegenheiten dort erledigt waren, verließen wir den Eisernen Palast wieder und stießen draußen alle den angehaltenen Atem aus. In der Zwischenzeit hatte die BGM zu dem ruhigen Walzer der nächtlichen Stadt gewechselt. Auch die Rollläden aller NPC-Shops waren geschlossen, und nur die vereinzelten Laternen erleuchteten die Straßen. Selbst die Patrouillen der Armee waren nicht mehr zu sehen.

Schweigend kehrten wir zum Teleportgate-Platz zurück, wo sich Asuna zu uns umdrehte und sagte: »Lasst uns morgen nach Grimlock suchen.«

»Gute Idee …«, stimmte ich zu.

Agil zog seine kräftigen Brauen hoch. »Hört mal … in erster Linie bin ich nicht Krieger, sondern Händler, wisst ihr …?«

»Schon klar. Du bist hiermit aus dem Dienst als Gehilfe entlassen.«

Ich klopfte ihm auf den Rücken, worauf er etwas erleichtert brummte: »Danke.«

Der gutmütige Hüne dachte nicht wirklich, sein Handel hätte oberste Priorität oder die Untersuchung wäre ihm zu lästig, er wollte nur nicht dem Spieler begegnen, der diesen unheilvollen Kurzspeer angefertigt hatte. Nicht, dass er Angst vor ihm gehabt hätte, ganz im Gegenteil: Ich wusste, er befürchtete, dass sein Zorn, den er sonst ausschließlich gegen Monster richtete, explodieren könnte.

Er wünschte uns beiden gutes Gelingen und verschwand durch das Teleportgate. Asuna musste erst einmal in das Hauptquartier ihrer Gilde zurückkehren, also trennten sich für den Tag unsere Wege.

»Treffen wir uns doch morgen um neun Uhr vor dem Teleportgate auf der ٥٧. Ebene. Verschlaf nicht!«

Sie redete mit mir wie eine Lehrerin oder eine ältere Schwester – auch wenn ich in der Realität keine ältere Schwester hatte –, also grinste ich gequält und nickte.

»In Ordnung. Sieh zu, dass du heute Nacht ordentlich Schlaf bekommst. Wenn du willst, kann ich ja wieder auf dich aufpassen …«

»Kein Bedarf!«, blaffte die Vizekommandantin der Ritter des Blutschwurs, drehte sich schwungvoll um und sprang in einem weiß-roten Blitz durch das Teleportgate.

Nun allein, blieb ich vor dem bläulich wabernden Tor stehen und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Er hatte einfach nur als ein Tag mit schönem Wetter begonnen, dann hatte ich gezwungenermaßen über Asunas Nickerchen Wache gehalten, und als wir gerade zusammen zu Abend essen wollten, waren wir in einen unerwarteten Mordfall in der sicheren Zone verwickelt worden, und nun untersuchten wir diesen rätselhaften Vorfall als Detektiv und Gehilfe.