Sword Art Online – Fairy Dance – Light Novel 03 - Tamako Nakamura - E-Book

Sword Art Online – Fairy Dance – Light Novel 03 E-Book

Tamako Nakamura

5,0

Beschreibung

Kirito kehrt aus dem tödlichen Battle-MMORPG Sword Art Online in die Wirklichkeit zurück. Er macht sich auf den Weg zu seiner Partnerin und Freundin Asuna. Doch die ist noch nicht wieder aus diesem albtraumhaften Spiel zurückgekommen. Ratlosigkeit und Verzweiflung übermannen Kirito. Sein einziger Anhaltspunkt ist eine rätselhafte Bilddatei, auf der Asuna in Elfengestalt in einem Vogelkäfig zu sehen ist. Wie es scheint, ist sie in einem Hightech-VRMMO namens ALfheim Online gefangen. Um Asuna zu retten, stürzt sich Kirito in ALO, wo sich die Spieler als fliegende Elfen tummeln.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Copyright

Title

1

2

3

Sword Art Online

Nachwort

Drei tiefblau leuchtende Punkte, aneinandergereiht wie ein kleines Sternbild.

Suguha Kirigaya streckte die Finger ihrer rechten Hand aus und berührte die Lichter.

Die LED-Anzeigen zeigten den Betriebsstatus des »NerveGear«, einem Virtual-Reality-System vom Full-Dive-Typ. Installiert auf der Vorderseite des Helms zeigten sie von rechts nach links den Status der Stromversorgung, der Netzwerkverbindung sowie der Verbindung zum Großhirn an. Wenn die linke Anzeige rot aufleuchtete, bedeutete dies, dass das Gehirn des NerveGear-Nutzers zerstört worden war.

Der Träger des Gear lag in einem unaufhörlichen Schlaf auf einem breiten Bett mitten in einem vollständig weißen Zimmer. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. In Wahrheit kämpfte seine Seele Tag und Nacht in einer weit entfernten Alternativwelt für seine Befreiung und die von Tausenden anderen gefangenen Spielern.

»Brüderchen ...«

Leise sprach Suguha zu ihrem schlafenden Bruder Kazuto.

»Es sind schon zwei Jahre vergangen ... Ich komme bald in die Highschool ... Wenn du nicht schnell zurückkommst, werde ich dich noch überholen ...«

Sie nahm ihre Finger von den LEDs und strich über seine Wange. Während des langen Komas war er abgemagert, und die scharfen Linien seiner Wangenknochen gaben seinem ohnehin androgynen Gesicht ein noch mädchenhafteres Aussehen. Ihre Mutter nannte ihn sogar scherzhaft »unser Dornröschen«.

Nicht nur sein Gesicht war schmaler geworden. Sein ganzer Körper war erbärmlich ausgemergelt und er wog deutlich weniger als seine Schwester Suguha, die von klein auf Kendo trainiert hatte. In letzter Zeit überkam sie die Angst, dass er irgendwann einfach verschwinden würde, wenn das so weiterginge.

Doch Suguha versuchte seit einem Jahr im Krankenzimmer die Tränen zurückzuhalten, so gut es ging. Zu dieser Zeit war sie von einem Mitglied des Innenministeriums aus der Abteilung für das Management der SAO-Krise kontaktiert worden. Der Beamte mit dem langen Pony über einer schwarz gerahmten Brille teilte ihr mit vor Hochachtung triefender Stimme mit, dass der Spielerlevel ihres Bruders sehr hoch sei und er als einer der wenigen Eroberungsspieler ständig an der gefährlichen Front kämpfe.

Wahrscheinlich kämpfte er auch genau in diesem Moment, den Tod immer an seiner Seite. Deswegen konnte Suguha hier nicht weinen. Stattdessen wollte sie lieber seine Hand halten und ihm beistehen.

»Halt durch ... halt durch, Brüderchen.«

Wie immer hielt sie Kazutos dünne Hand in ihren beiden Händen und betete inständig für ihn, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich hörte.

»Nanu, du bist hier, Suguha?«

Hastig drehte sie sich um. »Oh, Mama ...«

Dort stand ihre Mutter Midori. Die automatischen Schwebetüren hatten sich so lautlos bewegt, dass Suguha sie nicht hatte kommen hören.

Rasch stellte Midori den Kosmeenstrauß, den sie in ihrer rechten Hand hielt, in eine Blumenvase auf dem Nachttisch und setzte sich auf einen Stuhl neben Suguha. Sie trug ein lässiges Outfit aus Lederblouson über einem Baumwollshirt und figurbetonter Jeans, also war sie vermutlich auf dem Heimweg von der Arbeit. Mit ihrem leichten Make-up und den am Hinterkopf schlicht zusammengebundenen Haaren sah sie überhaupt nicht aus wie eine Frau, die im kommenden Jahr vierzig werden würde. Sie schien noch lange nicht daran zu denken, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten, was womöglich auch ihrer Arbeit als Redakteurin eines Computermagazins geschuldet war. Für Suguha war sie mehr ältere Schwester als Mutter.

»Du bist ja auch wieder hier, Mama. Seid ihr nicht kurz vor der Druckfreigabe?«

Bei Suguhas Worten grinste Midori. »Ich habe meine Arbeit einem anderen aufgedrückt und mich rausgeschlichen. Zumindest heute wollte ich kommen, wo ich es doch so selten schaffe.«

»Stimmt ... Heute ist schließlich ... sein Geburtstag.«

Einen Moment lang schwiegen beide und betrachteten den im Bett liegenden Kazuto. Der Wind der Abenddämmerung blies ins Zimmer und bewegte die Vorhänge. Ein schwacher Duft von Kosmeen hing in der Luft.

»Kazuto ... ist jetzt schon sechzehn Jahre alt ...«, murmelte Midori stockend. »Ich erinnere mich immer noch daran, als wäre es gestern gewesen. Minetaka und ich haben im Wohnzimmer einen Film geguckt, da stand Kazuto auf einmal hinter uns und sagte: ›Erzählt mir von meinen echten Eltern.‹«

Suguha beobachtete, wie sich ihre blassroten Lippen wie vor Wehmut zu einem bitteren Lächeln verzogen.

»Damals bin ich wirklich erschrocken. Kazuto war erst zehn Jahre alt. Wir wollten es eigentlich noch sieben Jahre für uns behalten ... bis du in die Highschool gekommen wärst, aber er hatte den gelöschten Eintrag im Einwohnerregister bemerkt.«

Diesen Teil der Geschichte hörte sie zum ersten Mal, aber statt überrascht zu sein, lächelte Suguha ebenso bitter wie ihre Mutter. »Das ist so typisch für ihn, oder?«

»Ich war so perplex, dass ich es nicht mal mehr abgestritten habe. Genau das war anscheinend Kazutos Plan, deswegen ärgerte sich Minetaka hinterher, dass er uns reingelegt hatte.«

Beide lachten laut auf und schauten dann eine Weile wortlos auf den schlafenden Kazuto.

Ihr Bruder Kazuto, mit dem sie zusammengelebt hatte, seit Suguha denken konnte, war in Wahrheit ihr Cousin.

Im Gegensatz zu Suguha, dem leiblichen Kind von Minetaka und Midori Kirigaya, war Kazuto das Kind von Midoris Schwester, also Suguhas Tante. Ihre Tante und deren Mann waren bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ihr einziges Kind noch kein Jahr alt gewesen war. Kazuto hatte trotz schwerer Verletzungen überlebt und war von Midori aufgenommen worden.

Im Winter vor zwei Jahren hatten Suguhas Eltern ihr die Wahrheit erzählt – kurze Zeit nachdem Kazuto in einer virtuellen Welt namens »Sword Art Online« gefangen worden war. Suguha, die durch diesen Vorfall bereits einen Schock erlitten hatte, war vollends verwirrt gewesen und hatte Midori angefahren, warum sie ihr nicht früher davon erzählt hätten und warum sie es ihr ausgerechnet in diesem Moment erzählen würden.

Selbst jetzt nach zwei Jahren bedrückte sie im Grunde ihres Herzens noch immer ein Gefühl der Entfremdung, weil sie die Einzige war, die nichts davon gewusst hatte. Doch langsam begann sie, die Gefühle ihrer Eltern zu jener Zeit zu verstehen.

Der ursprüngliche Plan ihrer Eltern war es gewesen, Suguha die Wahrheit zu sagen, sobald sie in die Highschool käme. Doch dann fassten sie den bitteren Entschluss, ihr alles früher zu erzählen, solange Kazuto noch am Leben war. Schon im ersten Monat nach dem SAO-Vorfall war eine schreckliche Zahl von zweitausend Todesopfern zu beklagen. In dieser Situation blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf Kazutos Tod gefasst zu machen. Zweifellos wollten sie zumindest nicht bereuen müssen, dass Suguha nichts gewusst hatte, wenn alles vorbei wäre.

Während Suguha mit etlichen zwiespältigen Gefühlen zu kämpfen hatte, hatte sie Kazuto oft in diesem Krankenzimmer besucht, in dem er untergebracht war, und angestrengt nachgedacht. Was hatte sie eigentlich verloren, wenn ihr Bruder nicht ihr wahrer Bruder war?

Die Antwort, zu der sie letztendlich gekommen war, war: Nichts.

Nichts würde sich ändern. Nichts war kaputtgegangen. Ob bevor oder nachdem sie die Wahrheit kannte, sie hatte sich immer nur Kazutos Überleben und seine Rückkehr gewünscht.

Doch seit zwei Jahren wurde nur eine Hälfte ihres Wunsches erfüllt.

»Du, Mama ...?« Suguha sprach leise, ohne den Blick von Kazutos Gesicht abzuwenden.

»Was denn?«

»Glaubst du, dass Kazuto seit der Mittelschule nur noch Onlinespiele gespielt hat, hat etwas damit zu tun?«

Dass er nicht das leibliche Kind der Kirigayas war, sprach Suguha zwar nicht aus, doch Midori schüttelte prompt den Kopf.

»Nein, das hat nichts damit zu tun. Immerhin hat er sich schon mit sechs Jahren aus Schrottteilen in meinem Zimmer eigene Geräte zusammengebastelt. Er hat wohl eher meine Leidenschaft für Computer geerbt.«

Suguha kicherte und stieß den Arm ihrer Mutter mit dem Ellbogen an. »Übrigens, Oma hat mir mal erzählt, dass du in deiner Kindheit auch ein großer Spielefan warst.«

»Stimmt, ich habe schon als Grundschülerin Onlinespiele gespielt. Dagegen ist Kazuto gar nichts.«

Abermals lachten beide, dann warf Midori einen liebevollen Blick auf den im Bett liegenden Kazuto. »Aber ich gehörte in keinem der Spiele zu den Top-Playern. Mir fehlte es an Ausdauer und Entschlossenheit. Das hat er nicht mit mir, sondern mit dir gemeinsam. So wie du schon acht Jahre lang Kendo trainierst, ist Kazuto noch immer am Leben. Bald wird er ganz unerwartet zurückkehren.«

Midori tätschelte Suguhas Kopf und stand auf. »Also, ich gehe schon mal nach Hause. Komm du bitte auch, bevor es allzu spät wird, ja?«

»Ja, ist gut.«

Als Suguha nickte, sah Midori wieder zu Kazuto und sagte leise: »Alles Gute zum Geburtstag.« Dann blinzelte sie einige Male schnell, drehte sich um und verließ eilig das Krankenzimmer.

Suguha verschränkte ihre Hände auf dem Rock ihrer Schuluniform, stieß einen tiefen Seufzer aus und betrachtete wieder die LED-Anzeigen des Helms, der das Gesicht ihres Bruders verbarg.

Die blauen Sterne, die die Verbindung zum Netzwerk und zum Großhirn anzeigten, blinkten unaufhörlich weiter.

Gerade jetzt wurden zwischen dem SAO-Server in den Weiten des Netzwerks und Kazutos Bewusstsein zahllose Signale ausgetauscht.

Wo er wohl gerade war? Vielleicht irrte er mit einer Landkarte in einer Hand durch ein dämmriges Labyrinth. Oder er begutachtete die Waren in einem Itemshop. Oder aber er kreuzte unerschrocken die Klingen mit einem schrecklichen Monster.

Sachte streckte sie ihre Hände aus und nahm wieder seine blasse, schmale Hand.

Kazutos reale Wahrnehmungen über die Haut wurden im verlängerten Rückenmark vollständig vom NerveGear aufgehoben und erreichten das Gehirn nicht. Doch Suguha war überzeugt, dass der Trost durch die Berührung ihn erreichen würde.

Denn Suguha konnte es spüren. Die starke Wärme, die von der Seele ihres Bruders – des Jungen, der genau gesagt ihr Cousin war – ausging. Den entschlossenen Willen, unbedingt zu überleben und in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Hinter den weißen Vorhängen färbte sich das flimmernde goldene Licht bald tiefrot und dann purpurn. Selbst als das Krankenzimmer in Dämmerung getaucht war, blieb Suguha noch dort. Ohne sich zu rühren, lauschte sie unentwegt den ruhigen Atemzügen ihres Bruders.

Die eilige Nachricht, dass Kazuto erwacht war, kam einen Monat später, am 7. November 2024.

1

Klack, klock.

Das Geräusch eines hölzernen Schaukelstuhls auf der Veranda.

Das sanfte Sonnenlicht des Spätherbsts fällt durch die Wipfel der Zypressen. Eine leichte Brise weht über den fernen See her.

Sie schlummert mit der Wange an meiner Brust, mit ruhigen Atemzügen.

Die goldenen Stunden voller Frieden plätschern dahin.

Klack, klock.

Beim Schaukeln streiche ich sanft über ihre kastanienbraunen Haare. Im Schlaf beginnt sie leicht zu lächeln.

Auf der Wiese des Vorgartens spielt eine Gruppe junger Eichhörnchen. In der Küche köchelt brodelnd ein Eintopf. Ich wünschte, diese freundliche Welt mit dem kleinen Haus im Herzen des Waldes würde ewig währen. Doch ich weiß bereits, dass dieser Wunsch nicht erfüllt werden wird.

Klack, klock.

Mit jedem Knarren des Stuhls fällt ein weiteres Korn des Sands der Zeit.

Wie um mich dagegen zu wehren, versuche ich, das Mädchen an meiner Brust mit aller Kraft an mich zu ziehen.

Doch meine Arme greifen ins Leere.

Überrascht reiße ich die Augen auf. Eben noch hatten sich unsere Körper berührt, und plötzlich ist sie wie eine Täuschung spurlos verschwunden. Ich richte mich auf und sehe mich um.

Wie bei einem Bühneneffekt verdunkeln sich die Farben des Sonnenuntergangs zusehends. Die heranschleichende Dunkelheit färbt den Wald tiefschwarz.

Ich stehe im kalten Wind und rufe ihren Namen.

Keine Antwort. Weder im Garten, aus dem die Eichhörnchen nun verschwunden sind, noch in der Küche hinter mir ist sie zu sehen.

Ehe ich mich’s versehe, wird die gesamte Umgebung des Hauses von der Dunkelheit verschluckt. Wie aus Papier fallen die Möbel und Wände des kleinen Hauses flatternd zu Boden und verschwinden. Schließlich bleiben nur ich und der Schaukelstuhl in der Finsternis zurück. Obwohl niemand mehr darin sitzt, schaukelt der Stuhl unverändert weiter.

Klack, klock.

Klack, klock.

Ich schließe die Augen, halte mir die Ohren zu und rufe nach Leibeskräften ihren Namen.

Meine Stimme hatte so real geklungen, dass ich mir auch nach dem Aufwachen nicht sicher war, ob ich nur im Traum oder auch tatsächlich geschrien hatte.

Ich blieb im Bett liegen und ließ die Augen noch einen Moment geschlossen, um zum Anfang des Traums zurückzukehren. Doch schließlich gab ich auf und öffnete die Lider einen Spalt.

Mein Blick fiel nicht auf weiße Krankenhauswände, sondern die schmalen Leisten einer Holztäfelung. Die Bettauflage war nicht aus Gelschaum, sondern eine Matratze, die mit einem Baumwolllaken bezogen war. In meinem Arm steckte keine Infusionsnadel.

Dies war das Zimmer meines wirklichen Selbst, Kazuto Kirigaya.

Ich stand auf und sah mich um. Das zwölf Quadratmeter große Zimmer hatte einen heutzutage seltenen Holzboden. Die einzigen Möbel waren ein schlichter Computertisch, ein Wandregal und das Metallbett, auf dem ich gerade saß.

Auf dem mittleren Regalbrett lag ein Helm in verblasstem Dunkelblau. Dieses Gerät namens »NerveGear« war ein VR-Interface vom Full-Dive-Typ und hatte mich für zwei Jahre an die virtuelle Welt gefesselt. Am Ende eines langen und harten Kampfes wurde ich von dieser Maschine befreit und konnte wieder so wie jetzt die wirkliche Welt sehen, berühren und fühlen.

Ja, ich war zurückgekehrt.

Doch das Mädchen, das mit mir sein Schwert geschwungen und mir am nächsten gestanden hatte ...

Ich blinzelte einmal fest, wandte meinen Blick vom NerveGear ab und stand auf. Ich sah flüchtig in den Spiegel, der an der Wand gegenüber vom Bett hing. Das eingebettete LCD-Panel zeigte über meinem Kopf das Datum und die Uhrzeit an.

Sonntag, der 19. Januar 2025, 7:15 Uhr.

Es waren bereits zwei Monate seit meiner Rückkehr in die wirkliche Welt vergangen, aber ich konnte mich noch immer nicht an mein eigenes Aussehen gewöhnen. Der frühere Schwertkämpfer Kirito und der jetzige Kazuto Kirigaya hätten im Wesentlichen die gleiche Erscheinung haben sollen, aber da ich mein verlorenes Körpergewicht noch nicht ganz zurückerlangt hatte, war mein dürrer Körper unter dem T-Shirt ziemlich schwächlich.

Im Spiegel bemerkte ich auf meinen Wangen zwei glitzernde Spuren von Tränen und wischte sie mit der rechten Hand fort.

»Ich bin eine totale Heulsuse geworden ... Asuna«, murmelte ich und ging zu dem großen Fenster an der Südseite des Zimmers. Ich öffnete mit beiden Händen die Vorhänge weit, und das gedämpfte Licht des Wintermorgens färbte das Zimmer in einem blassen Gelb.

Suguha Kirigaya lief mit einem angenehm knirschenden Geräusch über den Raureif im Garten.

Der Schnee, der neulich gefallen war, war bereits fast vollständig geschmolzen, doch die Morgenluft war Mitte Januar immer noch schneidend kalt.

Sie blieb am Rand des zugefrorenen Teichs stehen und lehnte ihr Bambusschwert an den Stamm einer Schwarzkiefer. Sie tat einen tiefen Atemzug, um die letzten Reste der Schläfrigkeit aus ihrem Körper zu vertreiben, legte beide Hände auf die Knie und begann mit ihren Beugeübungen.

Langsam lockerte sie die Muskeln ihres ganzen Körpers, der noch nicht ganz wach war. Als ihre Zehenspitzen, Achillessehnen und Waden nach und nach durchblutet wurden, entstand ein prickelndes Gefühl.

Als sie ihre verschränkten Hände nach unten streckte und ihre Hüfte in einem Zug beugte, hielt Suguha plötzlich inne. Ihre vornübergebeugte Gestalt spiegelte sich auf der glatten Eisschicht, die sich an diesem Morgen auf dem Teich gebildet hatte.

Ihre bläulich schwarzen Haare waren über den Augenbrauen und den Schultern kurz geschnitten. Die ebenso schwarzen, vollen Augenbrauen und die großen, entschlossenen Augen darunter gaben dem Mädchen im Eis eine jungenhafte Ausstrahlung. Die traditionelle Trainingskleidung aus weißer Jacke und schwarzem Hakama verstärkte diesen Eindruck nur noch mehr.

Wir beide sehen uns wirklich nicht ähnlich ...

In letzter Zeit kam ihr dieser Gedanke häufig. Sie dachte jedes Mal daran, wenn sie ihr Gesicht im Badezimmer oder im Spiegel im Flur sah. Es war nicht so, dass sie ihr Aussehen nicht mochte, sie hatte sich sonst nie viel darum gekümmert, doch seit ihr Bruder Kazuto wieder zu Hause war, hatte sie unbewusst begonnen, sich mit ihm zu vergleichen.

Es ist sinnlos, darüber nachzudenken.

Sie schüttelte energisch den Kopf und fuhr mit ihren Übungen fort.

Nach Beenden ihrer Dehnübungen nahm sie das Bambusschwert auf, das an der Schwarzkiefer lehnte. Die vielen Jahre der Benutzung hatten es ihr so vertraut gemacht, dass es sich perfekt in ihre Hand schmiegte, als sie es jetzt ergriff. Sie machte sich gerade und nahm die Kendo-Grundstellung ein.

Einen Moment lang brachte sie in dieser Position ihre Atmung unter Kontrolle – und schlug dann schwungvoll mit dem erhobenen Bambusschwert nach vorn. Aufgeschreckt von dem Sirren, das die Morgenluft zerschnitt, flogen ein paar Spatzen in den Baumwipfeln über ihr auf.

Das Zuhause der Kirigayas war ein altmodisches japanisches Haus, das in einem Teil einer ehemaligen Burgstadt im Süden Saitamas stand, in dem besonders alte Gebäude erhalten geblieben waren. Ihr Familienzweig konnte weit zurückverfolgt werden und Suguhas Großvater, der vor vier Jahren verstorben war, war ein strenger und konservativer Mann gewesen.

Er war für viele Jahre im Polizeidienst und in seiner Jugend als Kendo-Kämpfer berühmt gewesen. Er hatte gehofft, dass sein einziger Sohn, Suguhas Vater, den gleichen Weg einschlagen würde. Zwar trainierte ihr Vater noch bis zur Highschool, ging dann aber kurzerhand für ein Auslandsstudium nach Amerika, wo er dann eine Anstellung bei einer ausländischen Wertpapierfirma fand. Nach seiner Versetzung in die japanische Zweigniederlassung lernte er ihre Mutter Midori kennen und sie heirateten. Doch da er auch weiterhin regelmäßig über den Pazifik reisen musste, wandte sich der Ehrgeiz des Großvaters Suguha und dem ein Jahr älteren Kazuto zu.

Suguha und ihr Bruder wurden in einem nahe gelegenen Dojo angemeldet, als sie in die Grundschule kamen. Vielleicht beeinflusst durch die Arbeit ihrer Mutter als Redakteurin eines Computermagazins, liebte ihr Bruder die Tastatur mehr als das Bambusschwert und gab Kendo nach zwei Jahren wieder auf. Obwohl Suguha nur als Begleitung ihres Bruders eingetreten war, sagte Kendo ihr aus irgendeinem Grund mehr zu, und sie trainierte auch nach dem Tod ihres Großvaters weiter.

Suguha war jetzt fünfzehn Jahre alt. Letztes Jahr war sie beim letzten Turnier der Mittelschule bis zur Landesspitze aufgestiegen und hatte durch eine Empfehlung ab dem kommenden Frühling einen Platz an einer angesehenen Highschool erhalten.

Jedoch ...

Früher hatte sie nie Zweifel an ihrem Weg gehabt. Sie liebte Kendo, und mehr als alles andere machte es sie glücklich, die Erwartungen ihres Umfelds zu erfüllen.

Doch seit ihr Bruder vor zwei Jahren in diesen Vorfall verwickelt worden war, der ganz Japan erschüttert hatte, hatte sie etwas ins Wanken gebracht. Man könnte es Reue nennen. Das Bedauern darüber, dass sie sich nicht bemüht hatte, die tiefe Kluft zu überbrücken, die zwischen ihnen entstanden war, als Suguha sieben Jahre alt gewesen war und ihr Bruder Kendo aufgegeben hatte.

Nachdem er das Bambusschwert niedergelegt hatte, war er so vernarrt in seinen Computer gewesen, als müsste er einen großen Durst stillen. Als Grundschüler baute er sich selbst Rechner aus Einzelteilen zusammen und schrieb unter Anleitung ihrer Mutter erste Programme. Für Suguha klang das, was er erzählte, wie eine Fremdsprache.

Natürlich lernte auch Suguha in der Schule einen Computer zu bedienen und hatte einen kleinen Rechner in ihrem Zimmer stehen. Doch den nutzte sie höchstens für den Austausch von E-Mails oder das Surfen im Internet, die Welt ihres Bruders konnte sie nicht begreifen. Besonders befremdeten sie die Netzwerk-RPGs, die ihn so fesselten. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, sich maskiert mit einem ebenso maskierten Gegenüber vertraut zu unterhalten.

Als sie noch ganz klein gewesen waren, hatten sich Suguha und ihr Bruder so nahegestanden, dass selbst ihre Freunde neidisch gewesen waren. Nachdem ihr Bruder in diese weit entfernte Welt verschwunden war, hatte sie sich voll und ganz dem Kendo gewidmet, um die Einsamkeit auszufüllen. Je mehr sie sich darin vertieft hatte, desto größer war die Distanz zwischen ihnen geworden. Tag für Tag redeten sie weniger miteinander, und irgendwann war es zur Normalität geworden.

Doch im Grunde ihres Herzens fühlte sie sich immer einsam. Sie wollte mehr mit ihm reden. Sie wollte die Welt ihres Bruders verstehen, und sie wollte, dass er ihr bei ihren Wettkämpfen zusah.

Aber bevor sie diesen Gefühlen Worte verleihen konnte, kam es zu diesem Vorfall.

Ein Albtraum mit dem Titel »Sword Art Online«. Zehntausend junge Menschen saßen in ganz Japan in einem elektronischen Gefängnis fest und lagen in einem langen Schlaf.

Ihr Bruder wurde in ein großes Krankenhaus in Saitama eingeliefert. Es war an dem Tag passiert, als sie ihn zum ersten Mal dort besuchte.

Als sie ihren komatösen Bruder auf dem Bett liegen sah, mit etlichen Leitungen verbunden und dem unheilvollen Helm auf dem Kopf, weinte Suguha so heftig wie noch nie in ihrem Leben. Sie klammerte sich an ihn und schluchzte laut.

Vielleicht würde sie nie wieder mit ihm sprechen können. Warum hatte sie sich nur nicht schon früher bemüht, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden? Es wäre keineswegs schwierig gewesen, sie hätte es schaffen können.

Zu jener Zeit begann sie ernsthaft, den Sinn und ihre Motivation, mit Kendo weiterzumachen, infrage zu stellen. Aber sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie fand keine Antwort. Suguha wurde erst vierzehn und dann fünfzehn Jahre alt, ohne ihrem Bruder begegnen zu können. Sie wechselte auf die Highschool, was ihr ein Empfehlungsschreiben ermöglicht hatte. Trotzdem hörte sie nie auf zu zweifeln, ob sie diesen Weg wirklich weiterverfolgen sollte.

Wenn ihr Bruder zurück wäre, wollte sie endlich viel mit ihm reden. Sie würde ihm ihre Sorgen und Zweifel anvertrauen, und er würde ihr einen Rat geben. Zu diesem Entschluss war Suguha gekommen, und dann war vor zwei Monaten ein Wunder geschehen. Ihr Bruder hatte aus eigener Kraft den Bann gebrochen und war zurückgekehrt.

Doch zu diesem Zeitpunkt war ihre Beziehung grundlegend verändert gewesen. Denn ihre Mutter Midori hatte ihr die Wahrheit offenbart, dass Kazuto nicht ihr echter Bruder, sondern ihr Cousin war.

Da ihr Vater Minetaka ein Einzelkind und Midoris einzige Schwester jung verstorben war, hatte Suguha bis dahin nie einen Cousin gehabt. Auch wenn sie nun auf einmal erfahren hatte, dass Kazuto das Kind ihrer Tante war, verstand sie dieses Gefühl von Distanz nicht. Einerseits fühlte es sich so an, als hätte er sich endlos weit von ihr entfernt, andererseits schien alles irgendwie unverändert. Sie konnte ihre Beziehung zu Kazuto noch immer nicht in Worte fassen.

Nein ... Eines hat sich geändert ...

Während sie das zu sich selbst murmelte, schwang sie ihr Bambusschwert scharf nach unten, wie um den Gedankenfluss abzuschneiden.

Als sie ihr festes Programm beendet hatte, stand die Morgensonne ein gutes Stück höher. Während sie sich den Schweiß von der Stirn wischte, senkte sie das Bambusschwert und drehte sich um ...

»Ah ...« Sobald Suguhas Augen auf das Haus fielen, hielt sie inne.

Unbemerkt hatte Kazuto in einem Trainingsanzug auf der Veranda Platz genommen und sah zu ihr herüber. Als sich ihre Blickte trafen, grinste er. »Guten Morgen.« Mit diesen Worten warf er ihr eine kleine Flasche Mineralwasser zu.

Suguha fing sie mit der linken Hand auf und sagte: »G... Guten Morgen. Also wirklich, sag doch einen Ton, wenn du mir zusiehst.«

»Na ja, du warst so konzentriert bei der Sache.«

»Überhaupt nicht. Es ist schon zur Gewohnheit geworden ...«

Heimlich freute sie sich darüber, dass sie nach den zwei Monaten wieder ganz natürlich solche Gespräche führen konnten. Sie setzte sich ein kleines Stück entfernt von ihm hin. Sie lehnte das Bambusschwert an die Veranda, schraubte den Verschluss der Flasche ab und führte sie an ihren Mund. Das Wasser rann angenehm kühl durch ihren erhitzten Körper.

»Verstehe, du hast die ganze Zeit weiter trainiert ...« Kazuto ergriff ihr Bambusschwert und schwang es leicht im Sitzen. Dann legte er den Kopf zur Seite. »Wie leicht es ist ...«

»Was?« Suguha nahm die Flasche vom Mund und warf Kazuto einen Blick zu. »Das ist Flachrohrbambus, das ist eigentlich ziemlich schwer. Ungefähr fünfzig Gramm schwerer als eines aus Carbon.«

»Oh, okay. Also ... vielleicht liegt es an meiner Vorstellung ... oder am Vergleich.« Plötzlich schnappte sich Kazuto ihre Flasche und trank das restliche Wasser aus. »Ah ...«

Unbewusst waren ihre Wangen heiß geworden. Um es zu überspielen, zog sie einen Schmollmund. »Verglichen womit denn?«

Ohne darauf zu antworten, stellte Kazuto die leere Flasche auf die Veranda und stand auf. »Hey, wollen wir es mal versuchen?«

»Versuchen ... du meinst, kämpfen?« Suguha sah verblüfft zu Kazuto hoch.

»Genau.« Obwohl er doch angeblich kein Interesse an Kendo hatte, nickte Kazuto wie selbstverständlich.

»Mit richtiger Schutzausrüstung ...?«

»Hmm, wir könnten zwar kurz vor den Treffern abstoppen ... aber ich will dir nicht wehtun. Wir haben doch noch Großvaters Ausrüstung, lass uns ins Dojo gehen.«

Sie vergaß ihre anfängliche Verwirrung, warum er gerade jetzt davon anfing, und lächelte unwillkürlich.

»Hat der feine Herr nicht ziemlich lange Pause gemacht? Ich bin unter den besten acht und du meinst, du hast eine Chance gegen mich? Außerdem ...«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Fühlst du dich schon kräftig genug dafür ...? Du solltest es nicht übertreiben ...«

»He he, ich zeig dir mal, was meine tägliche Physiotherapie im Fitnessstudio gebracht hat.«

Grinsend machte Kazuto sich auf den Weg zur Rückseite des Hauses. Suguha beeilte sich, ihm zu folgen.

Das Anwesen der Kirigayas lag auf einem verschwenderisch großen Grundstück und verfügte über ein kleines, aber feines Dojo an der Ostseite des Hauptgebäudes. Da ihr Großvater in seinem Testament verfügt hatte, dass es nicht abgerissen werden dürfe, und Suguha es für ihr tägliches Training benutzte, war es auch gut gepflegt worden.

Die beiden traten barfuß ins Dojo ein, verbeugten sich leicht und begannen mit den Vorbereitungen. Glücklicherweise hatte der Großvater eine ähnliche Statur wie Kazuto gehabt, und die herausgesuchte Schutzausrüstung war zwar alt, schien ihm aber zu passen. Gleichzeitig verknoteten sie die Bänder ihres Kopfschutzes und begaben sich in die Mitte des Dojos. Noch einmal verbeugten sie sich.

Suguha stand aus der Hocke auf und nahm mit ihrem Lieblingsbambusschwert die Grundstellung ein. Ihr Gegenüber Kazuto dagegen ...

»W... Was machst du denn da, Brüderchen?« Als sie Kazutos Haltung sah, brach sie unwillkürlich in Lachen aus. Man konnte es nur als urkomisch beschreiben. Er stand seitwärts, den linken Fuß nach vorne geschoben, duckte sich und hielt das Bambusschwert in seiner rechten Hand so weit herunter, dass dessen Spitze fast den Boden berührte. Seine linke Hand schien derweil nur leicht auf dem Schwertgriff zu liegen.

»Wenn jetzt ein Richter hier wäre, würdest du richtig Ärger kriegen.«

»Macht doch nichts, das ist mein eigener Stil.«

Suguha seufzte innerlich und nahm erneut die Stellung ein. Kazuto stellte die Füße noch weiter auseinander und senkte seinen Schwerpunkt.

Um einen Treffer auf seinem ungeschützten Kopf zu landen, belastete sie ihr hinteres Bein, stutzte dann aber. Kazutos Stellung war zwar absurd, sah aber irgendwie seltsam gut aus. Er hatte zwar überall Stellen ohne Deckung, trotzdem hatte sie das Gefühl, als könne sie nicht einfach drauflosschlagen. Es schien, als hätte er diesen Stil lange Zeit eingeübt.

Doch das konnte nicht sein. Kazuto hatte nur die zwei Jahre seines siebten und achten Lebensjahrs ein Bambusschwert gehalten und sollte in dieser Zeit nur die elementarsten Grundlagen erlernt haben. Als hätte Kazuto ihre Verwirrung durchschaut, setzte er sich plötzlich in Bewegung. Er bewegte sich in geduckter Haltung, als würde er gleiten, während sein Bambusschwert nach rechts oben schoss. Es war keine verblüffende Geschwindigkeit, aber er hatte ihre momentane Unachtsamkeit ausgenutzt, also bewegte sie sich reflexartig. Sie wich nach rechts aus und ...

»Teee!«

Sie ließ ihr Bambusschwert auf Kazutos linken Armprotektor herabsausen. Ihr Timing sollte perfekt gewesen sein, doch Suguhas Schlag zerschnitt seltsamerweise nur die Luft.

Es war ein unglaubliches Ausweichmanöver. Kazuto löste seine linke Hand vom Griff und zog sie an seinen Körper. Wie war so etwas möglich? Das Bambusschwert in seiner rechten Hand schnellte auf die verdatterte Suguha zu. Sie drehte den Kopf und wich hastig aus.

Sobald die beiden die Positionen getauscht und wieder Abstand gewonnen hatten und sich erneut einander zuwandten, war Suguhas Bewusstsein wie ausgewechselt. Im ganzen Körper spürte sie eine angenehme Anspannung, als würde ihr Blut kochen. Dieses Mal war es Suguha, die zum Angriff überging. Ihre besondere Stärke, das »Kotemen«* ...

Doch diesmal parierte Kazuto ihren Angriff sauber. Er zog seine Arme zurück, drehte seinen Körper und ließ Suguhas Bambusschwert um Haaresbreite an sich vorbeisausen. Suguha war vollkommen verblüfft. Sie war in ihrem Kendo-Klub für ihre schnellen Angriffe bekannt, und sie konnte sich nicht erinnern, dass jemals jemand so geschickt einem ihrer Serienangriffe ausgewichen war.

Jetzt machte Suguha Ernst und griff stürmisch an. In atemberaubender Geschwindigkeit stieß sie unablässig mit ihrer Schwertspitze zu. Doch Kazuto wich Angriff für Angriffaus. Den Bewegungen seiner Augen hinter der Maske nach zu urteilen, musste man annehmen, dass er all ihre Angriffe durchschaute.

*Angriffstechnik im Kendo mit zwei aufeinanderfolgenden Schlägen auf »kote« (Handgelenk) und »men« (Kopf)

Suguha verlor die Geduld und ging aggressiv zum Nahkampf über. Unter dem Druck der durchtrainierten Suguha fing Kazuto an zu schwanken. Sie ließ sich diese Gelegenheit für einen letzten, entschlossenen Angriff nicht entgehen.

»Haaa!«

Bevor sie sich zurückhalten konnte, war es schon zu spät. Ihr schonungsloser Schlag explodierte frontal auf dem Gesichtsgitter von Kazutos Kopfschutz. Ein durchdringendes Tschinggg! hallte durch das ganze Dojo.

Kazuto taumelte ein paar Schritte, blieb aber irgendwie auf den Beinen.

»B... Bist du okay, Brüderchen?«, fragte sie ihn hastig, doch Kazuto hob nur leicht die linke Hand, um ihr zu bedeuten, dass es ihm gut ging.

»Uff, ich gebe auf. Du bist stark, Sugu. Heathcliff hätte keine Chance gegen dich.«

»Geht’s dir wirklich gut ...?«

»Ja. Lass uns Schluss machen.«

Mit diesen Worten ging Kazuto ein paar Schritte zurück und zeigte abermals ein seltsames Verhalten. Er schwang sein Bambusschwert nach links und rechts und hielt es dann auf seinen Rücken. Gleich danach erstarrte er und kratzte sich durch den Kopfschutz am Kopf. Suguha machte sich zunehmend Sorgen um ihn.

»Hast du dir den Kopf gestoßen ...?«

»Nein! Das ist nur eine alte Angewohnheit ...«

Kazuto verbeugte sich, ließ sich auf den Boden plumpsen und begann, die Bänder seiner Rüstung zu lösen.

Zusammen verließen sie das Dojo und wuschen sich am Waschplatz hinter dem Haus platschend den Schweiß aus dem Gesicht. Es hatte nur ein kleiner, spielerischer Kampf sein sollen, aber mittendrin war Ernst daraus geworden, sodass ihre Körper erhitzt waren.

»Wie dem auch sei, ich war ziemlich überrascht. Hast du zwischendurch geübt?«

»Hmm, die Fußarbeit war ganz okay, aber der Angriff ... Ohne die Systemunterstützung kann ich die Sword Skills wohl nicht nachahmen ...« Kazuto murmelte wieder irgendetwas Unverständliches. »Aber es hat wirklich Spaß gemacht. Vielleicht sollte ich wieder mit Kendo anfangen ...«

»Wirklich?! Echt jetzt?!« Suguha wurde auf einmal munter. Sie war sich selbst bewusst, dass sie über das ganze Gesicht grinste.

»Sugu, würdest du mich trainieren?«

»Na klar! Lass uns wieder zusammen trainieren!«

»Wenn ich wieder etwas mehr Muskeln aufgebaut habe.«

Suguha strahlte, als Kazuto ihren Kopf tätschelte.

»Du, Brüderchen, ich habe auch ...«

Sie wusste nicht, warum Kazuto wieder Interesse an Kendo gefunden hatte, aber vor lauter Freude wollte sie ihm von ihrem neuen Hobby erzählen. Doch im nächsten Moment überlegte sie es sich anders und hörte auf zu reden.

»Hm?«

»Nein, das bleibt noch mein Geheimnis.«

»Wovon redest du?«

Während sie sich die Köpfe mit großen Handtüchern trocken rieben, betraten sie das Haus durch den Lieferanteneingang. Da ihre Mutter Midori für gewöhnlich fast bis mittags schlief, bereitete Suguha das Frühstück vor, in letzter Zeit auch abwechselnd mit Kazuto.

»Ich geh mich mal duschen. Was hast du heute vor?«

»Ah ... ich gehe heute ... ins Krankenhaus ...«

Suguha hielt inne.

Die Antwort auf ihre arglose Frage versetzte ihrer ausgelassenen Stimmung einen kleinen Dämpfer. »Ach so. Du gehst sie besuchen, ja?«

»Ja ... Mehr kann ich schließlich nicht tun ...«

Etwa einen Monat zuvor hatte sie von Kazuto selbst erfahren, dass es in der anderen Welt jemanden gegeben hatte, der ihm viel bedeutete. Die beiden hatten nebeneinander mit Kaffeetassen in den Händen an der Wand von Kazutos Zimmer gesessen, während er ihr stockend davon erzählt hatte. Die frühere Suguha hätte sich überhaupt nicht vorstellen können, dass man sich in einer virtuellen Welt in jemanden verlieben konnte. Aber jetzt konnte sie es irgendwie verstehen. Zudem stiegen ihm Tränen in die Augen, wann immer er von ihr sprach.

Kazuto sagte, sie seien bis zum letzten Moment zusammen gewesen. Dass sie eigentlich zusammen in die Wirklichkeit hätten zurückkehren sollen. Doch nur Kazuto war wieder zu Bewusstsein gekommen, sie schlief noch immer. Was geschehen war oder was gerade geschah, konnte niemand erklären. Fast täglich besuchte Kazuto sie in ihrem Krankenzimmer.

Suguha stellte sich vor, wie Kazuto vor seiner schlafenden Freundin saß, ihre Hand hielt, so wie sie früher seine gehalten hatte, und verzweifelt versuchte, sie zu erreichen. Jedes Mal, wenn sie sich das vorstellte, ergriff sie ein unbeschreibliches Gefühl. Sie fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust, und das Atmen wurde schwer. Sie wollte die Arme um sich schlingen und sich zu Boden sinken lassen.

Sie wollte, dass Kazuto immer lächelte. Seit seiner Rückkehr aus der anderen Welt war er so fröhlich, dass er kaum wiederzuerkennen war. Er redete oft mit Suguha, war erstaunlich nett und es schien nicht erzwungen zu sein. Es fühlte sich fast so an, als seien sie wieder Kinder. Deswegen war es so schmerzhaft für sie, seine Tränen zu sehen. Das versuchte sie sich jedenfalls einzureden.

Aber ich habe es schon herausgefunden ...

Dieses andere heimliche Gefühl inmitten des Schmerzes, den sie immer wieder fühlte, wenn er bei dem Gedanken an sie den Blick senkte.

Vom Eingang der Küche aus betrachtete sie Kazuto, wie er sich Milch in eine Tasse goss und sie mit großen Schlucken austrank. Innerlich flüsterte sie: Du, Brüderchen, ich weiß es schon.

Suguha verstand noch nicht wirklich, was sich verändert hatte, als sie von Geschwistern zu Cousin und Cousine geworden waren.

Aber eines hatte sich geändert. Ein kleines Geheimnis, das immer in der Tiefe ihres Herzens flackerte und an das sie bis dahin nie einen Gedanken verschwendet hatte.

Falls sie sich in ihren Bruder verlieben sollte, dürfte sie es geschehen lassen.

Nach einer schnellen Dusche zog ich mich um, setzte mich auf mein Mountainbike, das ich vor einem Monat neu bekommen hatte, und verließ das Haus. Ohne Eile fuhr ich in Richtung Süden. Bis zum Ziel waren es fünfzehn Kilometer nur für den Hinweg. Das war eine ziemlich weite Strecke, um mit dem Fahrrad hin- und zurückzufahren, aber als Teil meiner Rehabilitation war es genau richtig.

Ich war auf dem Weg nach Tokorozawa in Saitama. In dessen Vorort stand eine hochmoderne Allgemeinklinik. In einem Krankenzimmer in der obersten Etage schlief sie ruhig.

Vor zwei Monaten hatte ich auf der 75. Ebene der »Schwebenden Festung Aincrad«, dem Schauplatz von SAO, den heiligen Ritter Heathcliff als finalen Boss besiegt und das Todesspiel beendet. Danach war ich in einem fremden Krankenzimmer erwacht und hatte begriffen, dass ich in die Wirklichkeit zurückgekehrt war.

Doch sie – die Fechterin, die mein Spielpartner gewesen war und der Mensch, den ich mehr als alles andere liebte – Asuna, der Blitz, war nicht zurückgekommen.

Ihren Verbleib herauszufinden, war nicht weiter schwierig. Gleich nachdem ich in dem Tokyoter Krankenhaus erwachte, irrte ich mit unsicheren Schritten aus dem Krankenzimmer. Doch die Krankenschwestern entdeckten mich sofort und brachten mich zurück. Ein paar Minuten später stattete mir ein atemloser Mann im Anzug einen Besuch ab. Er bezeichnete sich als Mitarbeiter der Abteilung für das Management der SAO-Krise des Innenministeriums.

Diese Organisation mit ihrem hochtrabenden Namen wurde gleich nach dem Auftreten des SAO-Vorfalls gegründet, konnte jedoch zwei Jahre lang kaum etwas tun. Doch das war wohl unvermeidlich. Wenn sie ungeschickt in den Server eingegriffen hätten oder einen Fehler gemacht hätten beim Aufheben des Schutzes von Akihiko Kayaba, dem Urheber des Spiels, wären die Gehirne von zehntausend Menschen gleichzeitig durchgeschmort. Diese Verantwortung konnte niemand auf sich nehmen.

Das Einzige, was sie tun konnten, war die Verlegung der Opfer in Krankenhäuser – was allein schon gewissermaßen eine großartige Leistung war – und die Überwachung der äußerst spärlichen Spielerdaten.

Dennoch hatten sie offenbar anhand meines Levels und Aufenthaltsorts ermittelt, dass ich einer der höherrangigen »Eroberungsspieler« war. Als im vergangenen November alle gefangenen SAO-Spieler auf einmal erwachten, fielen sie daher gleich in mein Krankenzimmer ein, um mich nach den Geschehnissen auszufragen.

Doch ich stellte dem Beamten mit der schwarz gerahmten Brille eine Bedingung. Ich würde ihm alles erzählen, was ich wusste. Dafür würden sie mir die Information geben, die ich suchte.

Was ich wissen wollte, war natürlich Asunas Aufenthaltsort. Er telefonierte ein paar Minuten mit seinem Handy herum und erzählte es mir dann mit einem Ausdruck, der seine Verlegenheit nicht verbergen konnte.

»Asuna Yuuki ist in einer medizinischen Einrichtung in Tokorozawa untergebracht. Allerdings ist sie noch nicht aufgewacht ... und nicht nur sie, im ganzen Land sind etwa dreihundert Menschen noch immer nicht erwacht.«

Anfangs hielt man es für einen Lag des Servers. Doch wie viele Stunden und Tage wir auch warteten, die dreihundert Menschen, Asuna eingeschlossen, wachten nicht auf.

In der Öffentlichkeit ging das Gerücht um, dass die Intrige des verschollenen Akihiko Kayaba sich fortsetzte. Aber ich konnte das nicht glauben. Ich erinnerte mich an seinen durchdringenden Blick, als wir uns in der Abendröte vor der zerfallenden Festung Aincrad für einen kurzen Moment unterhalten hatten.