Sword Art Online – Phantom Bullet – Light Novel 06 - Tamako Nakamura - E-Book

Sword Art Online – Phantom Bullet – Light Novel 06 E-Book

Tamako Nakamura

5,0

Beschreibung

In dem VRMMO Gun Gale Online treibt der mysteriöse "Death Gun" sein Unwesen. Spieler, die er mit seiner pechschwarzen Pistole erschießt, sterben auch im realen Leben. Kirito loggt sich ins Game ein, um die Sache zu untersuchen, und kommt ihm im Finale des Battle-Royale-Turniers "Bullet of Bullets" schließlich auf die Spur. Kirito muss unbedingt herausfinden, wer dahintersteckt und ob er tatsächlich von der virtuellen Welt aus die Wirklichkeit beeinflussen kann …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 471

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



8

»Brüderchen!«, sprach mich meine liebe Schwester an einem sonnigen Sonntag mit einem strahlenden Lächeln beim Mittagessen an. Dass mich dabei sofort eine böse Vorahnung durchzuckte, bewies wohl, wie wenig mein – Kazuto Kirigayas – Verhalten dieser Tage gutzuheißen war.

Die Gabel mit der Kirschtomate in meiner Hand verharrte vor meinem Mund, und ich fragte: »Was ist denn auf einmal, Sugu?«

Als ich sah, was meine Schwester – richtig gesagt, meine Cousine – vom Stuhl neben ihr nahm, bewahrheitete sich meine Befürchtung. »Weißt du, ich hab heute Morgen diesen Artikel im Internet gefunden.«

Mit diesen Worten hielt sie mir ein A4-Blatt vor die Nase. Es war allem Anschein nach ein Ausdruck der Newssparte der größten nationalen VRMMO-Infoseite MMO Tomorrow, kurz M-Tomo.

Die Schlagzeile in fett gedruckten Lettern lautete: »Die dreißig Finalisten der dritten ›Bullet of Bullets‹-Meisterschaft in Gun Gale Online«.

Nach einer knappen Einleitung waren die Namen aller Finalisten aufgezählt.

Unter dem kurz geschnittenen Nagel von Suguhas Zeigefinger stand klar und deutlich: »F-Block, Platz 1: Kirito (neu)«. Ich warf einen schnellen Blick darauf und versuchte vergeblich, es zu überspielen: »Na so was, da hat jemand einen ähnlichen Namen wie ich.«

»Der ist nicht einfach nur ähnlich, sondern genau der gleiche.« Unter ihrem akkurat geschnittenen Pony grinste sie mich forsch an. Sie hatte die resoluten, klaren Gesichtszüge einer Sportlerin.

In der wirklichen Welt war sie eine Kendo-Kämpferin, die schon in ihrem ersten Jahr der Highschool als reguläres Mitglied der Schulmannschaft für die Wettkämpfe zwischen den Schulen und die große Gyokuryuki-Kendo-Meisterschaft ausgewählt worden war. Ein schwächliches Stadtkind wie ich konnte in Sachen Körperkraft nicht einmal annähernd mit ihr mithalten. In der virtuellen Welt des skillbasierten VRMMOs ALfheim Online spielte Suguha die Elfen-Schwertkämpferin Leafa, deren anmutige, beherzte Schwertstreiche manchmal sogar meinen unkonventionellen Stil bezwangen.

Wenn wir anfangen würden, uns zu streiten, egal ob in der wirklichen oder der virtuellen Welt, würde mir daher nichts anderes übrig bleiben, als sie auf der Stelle um Verzeihung zu bitten. Für gewöhnlich musste ich mir darüber allerdings keine Sorgen machen. In dem Jahr seit meiner Rückkehr in die wirkliche Welt hatten wir unsere Entfremdung aus Kindertagen überwunden und standen uns näher als je zuvor. Selbst unser Vater, der über die Sommerferien nach Hause gekommen war, schien eifersüchtig zu sein.

Da unsere Mutter wie üblich in der Redaktion aufgehalten wurde, hatten Suguha und ich für das Mittagessen an diesem Sonntag, den 14. Dezember 2025, eingekauft und gemeinsam Caesar Salad mit pochierten Eiern und Pilaw mit Meeresfrüchten zubereitet. Wir hatten in schönster Harmonie zusammen am Tisch gesessen und gegessen – bis sie diesen Ausdruck hervorgeholt hatte.

»Tja … nun, ist wohl der gleiche Name, ja.«

Ich riss meinen Blick von dem unübersehbar deutlich abgedruckten Namen »Kirito« los und stopfte mir die Kirschtomate in den Mund. Während ich darauf herumkaute, fügte ich nuschelnd hinzu: »Aber, na ja, es ist eben ein gewöhnlicher Name. Ich habe ja auch nur meinen echten Namen abgekürzt. Dieser Kirito aus GGO heißt vielleicht … Tougorou Kirigamine oder so ähnlich, wer weiß.«

Diese fadenscheinige Ausrede versetzte meinem Herzen einen Stich, denn natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, meiner liebsten Schwester eine solch faustdicke Lüge aufzutischen. Es stimmte, dieser Kirito, auf dessen Namen ihr Finger wies, war zu hundert Prozent, ohne jeden Zweifel, mein eigener Avatar.

Ich musste dies vor ihr geheim halten, da ich meinen Charakter aus seiner Heimatwelt ALO hatte konvertieren müssen, um am Bullet of Bullets, dem großen Turnier im Shooter-MMO Gun Gale Online, teilnehmen zu können.

Die Konvertierung war eine Funktion aller VRMMOs, die auf der Plattform »The Seed« liefen, und erlaubte es dem Spieler, seinen Charakter aus einem Spiel in ein anderes zu übertragen, wobei die Stärke erhalten blieb. Solch ein System wäre bis vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen.

Doch natürlich gab es Einschränkungen. Die größte bestand in der Regel, dass nur der Charakter selbst transferiert werden konnte, jedoch nicht Items oder Geld in seinem Besitz. Daher wurden Konvertierungen normalerweise nicht für kurze Ausflüge in ein anderes Spiel, sondern eher für permanente Wechsel genutzt.

Suguha liebte die Elfenwelt, und wenn ich ihr nun erzählt hätte, dass ich von ALO in ein anderes Spiel umgezogen war, wäre sie zweifelsohne schockiert gewesen. Darüber hinaus war ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich ihr erklären sollte, warum ich Kirito zu GGO konvertiert hatte. Denn dieser Schritt hing vor allem mit dem zusammen, was als die Schattenseite der VRMMO-Welt bezeichnet werden musste.

Ein Staatsbeamter namens Seijirou Kikuoka hatte mich mit einer Untersuchung in der Welt von GGO beauftragt. Ehemals hatte er zur SAO-Sondereinheit der Regierung gehört und war nun bei der Abteilung für Virtuelles des Ressorts für VR-Welten des Ministeriums für Innere Angelegenheiten und Kommunikation.

Am Sonntag vor einer Woche hatte mich Kikuoka zu einem Treffen zitiert und mir von ein paar unerklärlichen Vorfällen erzählt.

In einer Stadt innerhalb der Welt von GGO hatte jemand die Avatare anderer Spieler erschossen und diesen Akt als »richten« bezeichnet. Das allein wäre jedoch allenfalls ein böser Scherz oder Schikane gewesen. Doch die beiden Spieler, deren Avatare erschossen worden waren, hatten genau zum gleichen Zeitpunkt in der Wirklichkeit einen Herzinfarkt erlitten und waren gestorben.

Es war nur ein Zufall. Dessen war ich mir zu neunzig Prozent sicher.

Doch die restlichen zehn Prozent Unsicherheit, dass doch irgendetwas daran war, konnte ich einfach nicht abschütteln. Aus diesem Grund hatte ich Kikuokas mühseligen und gefährlichen Auftrag angenommen, mich in GGO einzuloggen und mit dem betreffenden Schützen in Kontakt zu treten.

Da ich nicht die Zeit hatte, einen neuen Charakter aufzuziehen, hatte ich Kirito aus ALO konvertiert und an der gestrigen Qualifikation für das BoB-Turnier teilgenommen, um die Aufmerksamkeit des Schützen auf mich zu ziehen. Glücklicherweise hatte mir eine Spielerin, der ich gleich zu Beginn begegnet war, alle Grundlagen erklärt. Trotz einiger Schwierigkeiten in den für mich ungewohnten Kämpfen mit Schusswaffen war es mir gelungen, die Vorrunden zu gewinnen, und schließlich war ich sogar einem Mann begegnet, der der gesuchte Schütze zu sein schien.

Noch war ungewiss, ob der Mann, der sich selbst »Death Gun« nannte, tatsächlich die Fähigkeit hatte, Spieler aus der virtuellen Welt heraus zu töten.

Doch zumindest eines war ans Licht gekommen: Zwischen Death Gun und mir gab es eine gänzlich unerwartete Verbindung.

So wie ich war auch Death Gun ein Überlebender aus SAO, jenem Spiel auf Leben und Tod. Und nicht nur das. Wahrscheinlich hatten er und ich früher einmal die Klingen gekreuzt in einem Kampf ums nackte Überleben …

»Brüderchen, du machst schon wieder so ein böses Gesicht.«

Ich zuckte erschrocken zusammen. Ich fokussierte meinen Blick wieder, der ins Leere gerichtet gewesen war, und sah Suguha an, die besorgt die Stirn runzelte.

Sie legte den ausgedruckten Artikel auf den Tisch, dann faltete sie die Hände und starrte mich direkt an. »Hör mal, ich weiß längst, dass du Kirito von ALO zu GGO konvertiert hast«, sagte sie, woraufhin ich erschrocken die Augen aufriss.

Als meine ein Jahr jüngere Schwester das sah, lächelte sie vage, als würde sie mich komplett durchschauen. »Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich es nicht bemerken würde, wenn Kirito plötzlich von meiner Freundesliste verschwindet, oder?«

»A… Aber ich hatte auch vor, nach diesem Wochenende wieder zurückzukonvertieren … und wer schaut schon jeden Tag in seine Freundesliste …«

»Ich hätte es auch bemerkt, ohne hineinzusehen«, behauptete Suguha entschieden. In ihren Augen lag ein geheimnisvoller Glanz, und unpassenderweise wurde ich mir ihrer Weiblichkeit bewusst. Aus Scham über meine Gedanken und wegen meines schlechten Gewissens darüber, dass ich stillschweigend meinen Charakter konvertiert hatte, wandte ich den Blick ab.

Sanfter fuhr sie fort: »Mir ist gestern Abend aufgefallen, dass Kirito verschwunden war. Ich habe mich sofort ausgeloggt und wollte schon fast in dein Zimmer stürmen. Aber du würdest nicht einfach grundlos aus ALO verschwinden, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich dachte mir, dass du schon deine Gründe gehabt haben musst, also habe ich erst mal Asuna kontaktiert.«

»Oje«, murmelte ich und zog den Kopf noch etwas weiter ein.

Nur Asuna Yuuki und unserer »Tochter«, der AI Yui, hatte ich erzählt, dass ich von ALO zu GGO konvertieren würde. Denn vor Yui, die immerhin über eingeschränkte Systemrechte in ALO verfügte, hätte ich mein Verschwinden nicht für zwei Sekunden, geschweige denn für zwei ganze Tage verbergen können.

Zudem mochte Yui es nicht, wenn ich etwas vor Asuna verheimlichte. Vermutlich hätte sie es akzeptiert, wenn ich ihr erklärt hätte, dass ich meine Gründe hatte, doch bei dem Gedanken, dass solch eine Aussage ihr Kernprogramm belastete, hatte ich es nicht über mich gebracht.

Also hatte ich Asuna und Yui lediglich mitgeteilt, dass ich im Auftrag von Seijirou Kikuoka zwecks einer Untersuchung des Aufbaus von The Seed in die Welt von GGO gehen musste. Den eigentlichen Inhalt der Untersuchung konnte ich ihnen beim besten Willen nicht sagen: die Schüsse von Death Gun im Spiel und die zwei Toten in der Wirklichkeit, die damit zusammenhingen …

Es war vollkommen absurd. Aber ich konnte das Unbehagen nicht verleugnen, das mir diese verrückte Geschichte bereitete. Und das war auch der Hauptgrund, aus dem ich Suguha und meinen anderen Freunden nicht von meiner Konvertierung erzählen konnte.

Ich hielt den Blick gesenkt, als ich einen Stuhl über den Boden scharren hörte.

Leise Schritte. Dann legten sich zwei Hände auf meine Schultern. »Brüderchen …«, flüsterte Suguha und lehnte ihren Körper an meinen Rücken. »Asuna hat gesagt, du würdest dich in GGO nur einmal austoben und dann gleich zurückkommen. Aber sie wirkte besorgt. Und ich bin es auch. Ich meine … als du gestern spätabends nach Hause gekommen bist, hast du ein schrecklich grimmiges Gesicht gemacht.«

»Hab ich das …?«

Ich konnte ihr nicht mehr sagen. Suguhas kurze Haare kitzelten meinen Nacken. Dicht an meinem linken Ohr hörte ich sie seufzen. »Du … du machst doch keine gefährlichen Sachen, oder? Ich will nicht, dass du wieder irgendwohin verschwindest …«

»Werde ich nicht«, sagte ich, dieses Mal laut und deut-lich. Ich legte meine Hand auf ihre kleine, die auf meiner linken Schulter ruhte. »Das verspreche ich dir. Wenn das Turnier-Event in GGO heute Abend vorbei ist, komme ich wieder zurück. Nach ALO … und nach Hause.«

»Okay …« Ich spürte, wie sie nickte, und für einen Moment blieb sie reglos an mich gelehnt stehen.

Die zwei Jahre meiner Gefangenschaft in SAO hatten ihr großen Kummer bereitet, und sie wieder derart zu beunruhigen, war unverzeihlich von mir.

Ich hatte immer noch die Option, Seijirou Kikuoka eine E-Mail zu schicken, dass ich den Auftrag abbrechen würde, und dann alles zu vergessen. Aber nachdem ich die gestrige Qualifikation bestritten hatte, war das aus zwei Gründen schwierig geworden.

Zum einen hatte ich Sinon eine Revanche versprochen, der Scharfschützin mit dem riesigen Gewehr, die mir alles so freundlich erklärt hatte, solange sie mich für einen weiblichen Spieler gehalten hatte.

Und der zweite Grund war die Verbindung zwischen mir und Death Gun.

Ich musste diesem Mann im grauen Umhang erneut gegenübertreten und mich vergewissern. Ich musste seinen früheren Namen und die Namen seiner zwei Kameraden, die ich getötet hatte, herausfinden. Es wäre meine Pflicht gewesen, das gleich nach meiner Rückkehr in die Wirklichkeit zu tun …

Ich tätschelte Suguhas Hand auf meiner Schulter und fügte hinzu: »Keine Sorge, ich werde auf jeden Fall zurückkommen. Jetzt lass uns essen, bevor es kalt wird.«

»Ja«, pflichtete sie mir etwas entschlossener als zuvor bei. Sie drückte für einen Moment fest meine Schultern und ließ dann los.

Mit kleinen Schritten kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, und nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, machte sie ihr gewohnt munteres Gesicht. Suguha stopfte sich einen großen Bissen Pilaw in den Mund und schwenkte den Löffel dann leicht. »Übrigens, Brüderchen …«

»Hm …?«

»Ich habe von Asuna gehört, dass dieser Job richtig gut bezahlt wird.«

»Urgs.« Vor meinem inneren Auge erschienen mit einem Katsching das von Kikuoka versprochene Honorar von 300.000 Yen und der PC mit den allerneuesten Spezifikationen, den ich mir von dem Geld kaufen wollte. Ich befand, dass ich wohl notgedrungen die Speicherkapazität etwas verringern musste, und neigte den Kopf. »Ja, okay, ich geb dir aus, was du willst.«

»Jippieh! Weißt du, ich wünsche mir schon lange ein Shinai* aus Nanocarbon!«

Um den Berufsverkehr zu umgehen, brach ich schon um drei Uhr nachmittags mit meiner Schrottmühle auf.

Ich fuhr auf der Kawagoe-Schnellstraße nach Osten, durch Ikebukuro und weiter auf der Kasuga-Straße zum Stadtzentrum. In Hongo bog ich nach Süden ab, um vom Bunkyo- zum Chiyoda-Bezirk zu gelangen, und ein paar Minuten später tauchte mein Ziel, die Allgemeinklinik, vor mir auf.

Ich war erst am Vortag hier gewesen, aber es fühlte sich an wie eine ferne Erinnerung.

Der Grund war offensichtlich. Als ich letzte Nacht endlich in mein Bett gefallen war, hatte ich keinen Schlaf gefunden. Mit offenen Augen hatte ich in der Dunkelheit gelegen und an die Vergangenheit gedacht. Immer wieder war ich im Geiste alle Einzelheiten der dramatischen Vernichtung der PK-Gilde »Laughing Coffin« in SAO durchgegangen – Erinnerungen, die ich lange verdrängt und vergessen geglaubt hatte.

Um vier Uhr morgens gab ich den Versuch, einzuschlafen, auf, setzte mein AmuSphere auf und machte einen Full Dive in einen lokalen VR-Raum. Ich rief meine »Tochter« Yui von ihrem PC im LAN auf und unterhielt mich mit ihr über Belanglosigkeiten, bis ich endlich irgendwann einschlief. Aber ich fand keinen tiefen Schlaf mehr und träumte einen langen Traum.

Zum Glück erinnerte ich mich kaum an den Inhalt, doch seit dem Aufwachen bis jetzt echote ein einziger Satz in meinen Ohren: Bist du Kirito?

Es waren die Worte, die mir der mutmaßliche Death Gun während des Qualifikationsturniers für das BoB zugeflüstert hatte.

Und gleichzeitig war es die Frage der zwei – nein, drei mit Asunas Leibwache – Mitglieder von Laughing Coffin, die ich mit meinem eigenen Schwert getötet hatte.

Bist du es? Bist du der Kirito, der uns getötet hat?

Ob am Veranstaltungsort der BoB-Qualifikation oder in meinem Traum, ich konnte diese Frage nicht bejahen.

Ob ich diesem geisterhaften Mann in der Hauptrunde heute Abend um acht Uhr erneut gegenüberstehen würde? Wenn er mir wieder die gleiche Frage stellte, müsste ich dieses Mal zustimmen.

Aber momentan fehlte mir dazu noch das Selbstvertrauen. »Wenn ich das gewusst hätte …«

… hätte ich Kirito nicht von ALO konvertiert, sondern mit einem neu erstellten Charakter den Dive nach GGO gemacht.

Ich lächelte bitter über meine eigene Sturheit, während ich mein Motorrad anhielt, und ging zur stationären Abteilung des Krankenhauses.

Da ich eine E-Mail geschickt hatte, bevor ich das Haus verlassen hatte, fand ich die Krankenschwester Aki bereits im selben Zimmer wie gestern vor. Ihre Haare waren wieder zu einem lockeren Zopf geflochten, doch heute trug sie eine randlose Brille auf der Nase. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett, die langen Beine übereinandergeschlagen, und blickte auf ein unzeitgemäßes Taschenbuch aus Papier. Als ich die Tür öffnete, klappte sie ihr Buch schwungvoll zu und sah lächelnd zu mir auf.

»Hey, du bist ja früh dran, Kleiner.«

»Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen wieder Arbeit mache, Aki.«

Ich nickte ihr zu und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war noch nicht mal vier, also blieben noch über vier Stunden bis zum Beginn des BoB, aber ich war nicht so wenig lernfähig, dass ich mich wieder erst kurz vor Anmeldeschluss eingeloggt hätte, um dann in kalten Schweiß gebadet zum Turnier zu hetzen. Ich wollte mich lieber schon früher einloggen und vielleicht noch den Kampf mit Schusswaffen trainieren.

Während ich meine Jacke auf einen Kleiderbügel hängte, sagte ich zu Aki: »Der Wettkampf geht eigentlich erst um acht Uhr richtig los, also reicht es, wenn Sie mein EKG ab dann überwachen.«

Die Krankenschwester in ihrer weißen Uniform reagierte mit einem kurzen Schulterzucken. »Schon gut, ich habe heute ohnehin eine Freischicht nach dem Nachtdienst. Ich werde bei dir bleiben, solange es eben dauert.«

»Oh … da habe ich erst recht ein schlechtes Gewissen …«

»Ach ja? Dann leg ich mich vielleicht ein bisschen zu dir, wenn ich müde werde«, erwiderte sie und zwinkerte mir zu. Als VRMMO-Junkie hatte ich nur wenige Erfahrungspunkte im wirklichen Leben, also konnte ich nur vor mich hin stammeln und beschämt den Blick senken. Als Aki das sah, lachte sie hell auf. Sie hatte mich in meinen schwächsten Momenten während meiner Rehabilitation begleitet, gegen sie würde ich nicht ankommen.

Um meine Verlegenheit zu verbergen, ließ ich mich auf das Bett fallen und sah erst zu dem imposanten Überwachungsgerät daneben und dann zu der Kopfbedeckung mit den zwei silbernen Ringen – dem AmuSphere –, die auf dem Kopfkissen ruhte.

Kikuoka hatte ein brandneues Gerät bereitgestellt, dessen Außengehäuse mit Aluminiumpolitur und Innenverkleidung aus Kunstleder noch makellos waren. Verglichen mit dem NerveGear, das ein plumper Helm war, hatte das AmuSphere ein bei Weitem eleganteres Design und war schon fast mehr ein Schmuckgegenstand als ein Elektrogerät.

Gemäß dem Herstellermotto »Garantierte Sicherheit« war seine Hardware zudem so konstruiert, dass von diesem Gerät keine tödlichen, sondern nur extrem schwache Mikrowellen generiert werden konnten.

Daher gab es logisch betrachtet keine Notwendigkeit, in einem Krankenhaus mit Elektroden an ein EKG-Gerät angeschlossen und dazu noch permanent von einer Krankenschwester überwacht zu werden. Egal mit welchen Mitteln, die Wahrscheinlichkeit, dass ich durch das AmuSphere verletzt werden würde, lag bei null. Sie war nicht existent.

Trotzdem waren die berühmten GGO-Spieler XeXeeD und Usujio Tarako unbestreitbar tot.

Death Gun, der virtuelle Patronen auf ihre Avatare abgefeuert hatte, war früher in der Welt von SAO ein roter Spieler, ein Player Killer gewesen – jemand, der bewusst andere Menschen tötete.

Was, wenn es in der Full-Dive-Technologie einen bislang unbekannten Risikofaktor gab?

Was, wenn zum Beispiel ein Spieler, der in der einzigartigen Welt von SAO andere Menschen getötet hatte, gelernt hatte, für die virtuelle Umgebung optimierte, digitale Gefühle von Mordlust und Hass zu entfesseln, die vom AmuSphere in Daten umgewandelt wurden, durch das Netzwerk reisten, schließlich als irgendein Signal in das Nervensystem der Zielperson drangen … und deren Herz tatsächlich zum Stillstand brachten?

Unter dieser Annahme wäre es auch möglich, dass durch Death Guns Angriffe in GGO die Spieler in der Wirklichkeit starben.

Zugleich war es dann auch denkbar, dass Kiritos virtuelles Schwert Death Gun oder jemand anderen töten konnte.

Denn auch ich hatte in Aincrad andere Spieler umgebracht. Und vielleicht hatte ich sogar mehr getötet als der Großteil der PK-Spieler.

Bisher hatte ich bewusst versucht, die Leute zu vergessen, die durch mein Schwert ihr Leben verloren hatten. Doch gestern hatte sich der Deckel auf diesen Erinnerungen schließlich wieder geöffnet.

Ich hatte sie niemals wirklich vergessen können. Im letzten Jahr hatte ich nur die Augen davor verschlossen und so getan, als würde ich sie nicht sehen. Die Schwere meiner Schuld, die ich hätte ertragen und sühnen müssen …

»Was ist los, Kleiner, warum schaust du so böse?« Plötzlich tippte die Spitze eines weißen Slippers gegen mein Knie.

Vor Schreck verkrampften sich meine Schultern, und ich sah zu Aki auf, die mich durch ihre randlose Brille mit einem sanften Blick bedachte.

»Ach … es ist nichts …« Ich schüttelte leicht den Kopf, biss mir dann aber auf die Lippe. Erst vor wenigen Stunden hatte ich aus genau demselben Grund Suguha Sorgen bereitet, und nun tat ich das Gleiche bei Aki, die sich wegen dieses mühseligen Auftrags um mich kümmern musste. So erbärmlich konnte ich doch wohl nicht sein.

Doch die Krankenschwester schenkte mir das gleiche Lächeln, mit dem sie mich schon während meiner Rehabilitation ermutigt hatte, stand vom Stuhl auf und kam herüber zu mir.

»Du hast hier die einmalige Gelegenheit zu einer kostenlosen Beratung bei einer hübschen Krankenschwester, also schütte mir ruhig dein Herz aus!«

»Ich schätze, wenn ich das ausschlage, wird es mir noch leidtun, was?«

Ich stieß einen langen Seufzer aus und blickte zu Boden. Nach kurzem Zögern fragte ich: »Also … vor Ihrer Arbeit in der Abteilung für Rehabilitation waren Sie doch in der Chirurgie, oder?«

»Ja, wieso?«

»Na ja, die Frage ist vielleicht unhöflich oder vollkommen taktlos …« Ich blickte kurz zu ihr und fragte mit noch leiserer Stimme: »Wie gut erinnern Sie sich noch an die Patienten, die verstorben sind …?«

Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sie mich für diese Frage zurechtgewiesen oder zumindest entsetzt angesehen hätte. Ich an ihrer Stelle hätte mich gefragt, warum ein Kind, das keine Ahnung von der Arbeit in der Medizin hatte, meinte, so klug daherreden zu müssen.

Doch Aki lächelte unbeirrt weiter. Nachdenklich blickte sie zur weißen Zimmerdecke auf und begann dann langsam zu sprechen: »Wenn ich versuche, mich zu erinnern, fallen mir die Gesichter und Namen wieder ein. Sogar die Patienten, mit denen ich nur für eine Stunde im selben Operationssaal war … ja, ich erinnere mich an sie. Seltsam, dabei habe ich nur ihre schlafenden Gesichter gesehen, während sie unter Narkose standen.«

Das bedeutete also, dass bei Operationen, bei denen Aki assistiert hatte, Patienten gestorben waren … Obwohl mir bewusst war, dass man dieses Thema nicht leichtfertig ansprechen sollte, platzte die Frage aus mir heraus: »Hatten Sie nie den Wunsch, sie zu vergessen?«

Als hätte Aki irgendetwas in meinem Gesichtsausdruck erkannt, blinzelte sie zweimal. Doch das Lächeln verschwand nicht von ihren blassroten Lippen.

»Hmm … nun ja. Ich weiß nicht, ob das deine Frage beantwortet, aber …«, setzte sie an und fuhr dann mit etwas rauerer Stimme fort: »Wenn man etwas vergessen sollte, wird man es auch vergessen, denke ich. Ohne sich auch nur zu wünschen, es zu vergessen. Denn je öfter man sich wünscht, etwas zu vergessen, desto mehr festigt sich diese Erinnerung, nicht wahr? In dem Fall hält man es im Grunde seines Herzens … also unbewusst wohl für etwas, das man nicht vergessen darf.«

Bei dieser unerwarteten Antwort sog ich scharf die Luft ein.

Je mehr man etwas vergessen wollte, desto weniger sollte man es eigentlich vergessen …?

Während die Worte in mein Bewusstsein drangen, bildete sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund, der sich zu einem sarkastischen Grinsen formte, als ich hervorstieß: »Dann bin ich ein schrecklicher Mensch …«

Um Akis fragendem Blick auszuweichen, sah ich auf den Boden zwischen meinen Füßen. Ich verschränkte meine Arme fest auf meinen Knien und presste die Worte hervor: »Ich habe in SAO drei Spieler … nein, Menschen getötet.«

Meine heisere Stimme hallte von den weißen Wänden wider, und ihr Echo klang seltsam verzerrt. Tatsächlich echote es wohl nur in meinem Kopf.

Während meines stationären Krankenhausaufenthalts für die Rehabilitation im November und Dezember letzten Jahres war Aki als Krankenschwester für mich zuständig gewesen. Daher wusste sie, dass ich zwei Jahre lang in der virtuellen Welt gefangen gewesen war. Aber bisher hatte ich ihr nie von den Geschehnissen innerhalb dieser Welt erzählt.

Jemand, dessen Arbeit darin bestand, Menschenleben zu retten, musste es abscheulich finden, wenn jemandem das Leben genommen wurde – ganz gleich aus welchen Gründen. Aber ich konnte die hervorsprudelnden Worte nicht mehr stoppen. Ich ließ den Kopf noch tiefer hängen und sprach mit trockener Stimme weiter: »Sie alle waren rote Spieler … also Mörder, aber ich hätte die Wahl gehabt, sie einfach unschädlich zu machen, ohne sie zu töten. Stattdessen habe ich sie getötet. Ich habe sie aus Wut und Frust … einfach nur aus Rachsucht getötet. Und ich habe sie im letzten Jahr total vergessen. Nicht einmal jetzt, wenn ich darüber rede, kann ich mich an die Gesichter oder Namen von zwei von ihnen erinnern. Das macht mich also zu jemandem … der die Menschen vergisst, die er eigenhändig umgebracht hat.«

Als ich verstummte, füllte eine drückende Stille das Zimmer.

Nach einer Weile nahm ich das Rascheln von Kleidung und ein Schwanken der Matratze wahr. Ich dachte, Aki würde von ihrem Platz links neben mir aufstehen und den Raum verlassen.

Doch das war nicht der Fall. Plötzlich legte sich eine Hand um meinen Rücken auf meine rechte Schulter und zog mich mit einem Ruck kräftig heran. Ich erstarrte, als mein Körper sich gegen ihre weiße Uniform drückte. Ich spürte ihren Atem, als sie mir aus nächster Nähe mit ruhiger Stimme zuflüsterte: »Tut mir leid, Kazuto. Ich sagte zwar, du würdest eine Beratung von mir bekommen, aber ich kann die schwere Last, die du trägst, weder von dir nehmen noch kann ich sie mit dir teilen.«

Sie nahm die Hand von meiner Schulter und strich mir durchs Haar.

»Ich habe weder Sword Art Online noch irgendein anderes VR-Spiel je gespielt … daher kann ich nicht abschätzen, wie schwerwiegend diese ›Morde‹ waren, von denen du gesprochen hast. Aber eines weiß ich. Du hast es getan oder vielmehr musstest es tun, um jemand anderen zu retten, nicht wahr?«

»Äh …«

Wieder kamen ihre Worte gänzlich unerwartet für mich.

Um jemanden zu retten. Dieser Faktor hatte sicherlich auch eine Rolle gespielt. Und dennoch …

»Auch in der Medizin gibt es Situationen, in denen man sich für ein Leben entscheiden muss. Man muss das Baby aufgeben, um die Mutter zu retten. Man gibt den hirntoten Patienten auf, um denjenigen zu retten, der auf eine Transplantation wartet. Bei großen Unfällen oder Katastrophen wird manchen Patienten nach der Triage Priorität gegeben. Natürlich bedeutet das nicht, dass man jemanden töten darf. Das Gewicht eines verlorenen Lebens bleibt immer gleich, egal unter welchen Umständen. Aber … jeder, dem so etwas widerfährt, hat das Recht, an die dadurch geretteten Leben zu denken. Auch du. Du hast das Recht, dich selbst zu retten, indem du dich an die Menschen erinnerst, die du gerettet hast.«

»Das Recht … mich selbst zu retten?«, flüsterte ich heiser, dann schüttelte ich heftig den Kopf, auf dem immer noch Akis Hand lag. »Aber … aber ich habe diejenigen vergessen, die ich getötet habe. Ich habe auf diese Bürde … auf meine Verantwortung gepfiffen. Also habe ich kein Recht auf Rettung …«

»Wenn du sie wirklich vergessen hättest, würdest du nicht so sehr darunter leiden«, erwiderte Aki entschieden und legte ihre Hand auf meine Wange, um mein Gesicht zu ihr zu drehen. Ein starkes Licht glomm in ihren Mandelaugen hinter den Brillengläsern. Erst als ihr Daumen mit dem kurzen Fingernagel über meinen Augenwinkel wischte, bemerkte ich, dass mir Tränen in die Augen gestiegen waren.

»Du erinnerst dich an sie. Wenn der richtige Moment dafür kommt, wird dir alles wieder einfallen. Und dann musst du dich auch an all die Menschen erinnern, die du beschützt und gerettet hast«, flüsterte sie und legte ihre Stirn an meine.

Die kühle Berührung verlangsamte den Strudel an bedrückenden Gedanken in meinem Kopf. Ich entspannte mich und schloss die Augen.

Ein paar Minuten später lag ich auf dem Bett, mit Gel-Elektroden für das Überwachungs-EKG auf meinem nackten Oberkörper, und hob das AmuSphere hoch.

Die kalte Last der Furcht und Gewissensbisse, die mich seit dem Vorabend geplagt hatte, fühlte sich jetzt weit entfernt an. Aber wenn ich in Gun Gale Online wieder diesem Death Gun begegnen sollte, würde sie gleich wieder da sein und mich erdrücken.

Ich setzte mir das VR-Interface auf, das so schwer wie Gusseisen wirkte. Sobald ich es einschaltete, verkündete ein Ton das Ende des Stand-by-Betriebs. Ich blickte zur Seite und sprach zu Aki neben dem Überwachungsmonitor: »Danke schon mal, dass Sie auf mich aufpassen. Und wegen gerade … danke schön.«

»Ach was, das war doch nicht der Rede wert«, antwortete die Krankenschwester resolut und legte eine dünne Decke über meinen Körper. Ich atmete den sauberen Geruch von Seife ein und schloss fest die Augen.

»Ich denke nicht, dass vor acht Uhr irgendwas passieren wird … Wahrscheinlich werde ich mich gegen zehn Uhr wieder ausloggen. Also dann, bis später … Link Start!«

Ein regenbogenfarbenes Licht breitete sich strahlenförmig vor mir aus und umgab mich.

Bevor meine fünf Sinne vollständig abgetrennt wurden, hörte ich Aki wie aus weiter Ferne sagen: »Alles klar, dann gute Reise, Held Kirito.«

Wa…?!

Doch schon im nächsten Moment wurde mein Bewusstsein aus der wirklichen Welt gerissen und in das öde Land geführt, in dem Sand und Pulverrauch in der Luft hingen.

*Trainings- und Wettkampfschwert aus Bambus oder Carbon

9

»Der kotzt mich an …«

Klonk.

»Dieser Kerl!«, stieß Shino Asada verächtlich hervor, während sie mit der Spitze ihres Sneakers gegen das Metallgerüst der Schaukel trat.

Sie stand in der Ecke eines kleinen Spielplatzes, nicht weit entfernt von ihrer Wohnung. Das Indigoblau des Himmels verdunkelte sich schon, und der Spielplatz, auf dem nur zwei Spielgeräte und ein Sandkasten standen, wirkte seltsam verlassen. Obwohl es Sonntag war, waren keine Kinder hier.

Neben Shino saß Kyouji Shinkawa auf einer der Schaukeln und sah sie mit großen Augen an. »Ziemlich ungewohnt, dich so freiheraus reden zu hören.«

»Na, hör mal …« Die Hände in die Taschen ihres Jeansrocks vergraben, lehnte sie sich an das schräge Gerüst und schürzte die Lippen. »Er war unverschämt, aufdringlich und großspurig … Und was will er überhaupt in GGO, wenn er unbedingt mit einem Schwert kämpfen will?!«

Während sie ihrem Ärger über »diesen Kerl« Luft machte, trat sie kleine Steinchen am Boden weg.

»Außerdem hat er sich am Anfang als Mädchen ausgegeben und sich von mir durch die Shops führen und seine Ausrüstung aussuchen lassen! Fast hätte ich ihm auch noch Geld geliehen! Ach, verdammt, und die Karte mit meinen Daten habe ich ihm auch noch gegeben! Von wegen, ›Würdest du aufgeben?‹!«

Schließlich fanden sich um sie herum keine geeigneten Steine mehr, also unterbrach sie ihre Schimpftirade notgedrungen. Als sie einen Blick zu Kyouji warf, sah er sie mit einer seltsamen Mischung aus Überraschung und Sorge an.

»Was ist denn, Shinkawa …?«

»Ach, nichts … es ist nur, so kenne ich dich gar nicht … dass du so viel über jemand anderen redest.«

»Hm … ist das so?«

»Ja. Sonst hatte ich immer den Eindruck, dass du dich nicht wirklich für andere interessierst.«

Shino schwieg. Wenn sie so darüber nachdachte, konnte er damit vielleicht sogar recht haben.

Sie machte nie den Versuch, aktiv auf andere Leute zuzugehen. Wenn andere – wie Endou und ihre Gang – auf sie zukamen, war es ihr zwar lästig, aber mehr dachte sie nicht darüber nach, da es in ihren Augen nur Energieverschwendung gewesen wäre.

Schließlich hatte Shino genug mit ihren eigenen Problemen zu tun, sie hatte keine Zeit, sich Gedanken um andere zu machen. Und dennoch hatte »dieser Kerl« sie seltsamerweise derart gereizt, dass er selbst jetzt noch, über vierundzwanzig Stunden nach dem gestrigen Samstagnachmittag, einen Großteil ihres Bewusstseins in Beschlag nahm.

Aber das war kaum überraschend.

Shino hatte vor einem halben Jahr mit dem VRMMORPG Gun Gale Online begonnen. In der ganzen Zeit hatte sich ihr kein Spieler je so direkt genähert wie er. Und das war noch nicht alles. Als er in der Pause nach der ersten Runde des Qualifikationsturniers ihre Hand ergriffen hatte, hatte er sie so aus der Fassung gebracht, dass sie in der zweiten Runde zweimal aus mittlerer Distanz ihr Ziel verfehlt hatte.

»Ich reg mich trotzdem ziemlich schnell auf …«

»Hmm … dann ist das wohl so.«

Kyouji starrte sie noch eindringlicher an, doch dann lehnte er sich vor, als sei ihm etwas eingefallen, und er sagte voller Elan: »Also … wollen wir ihm irgendwo auflauern und ihn überfallen? Wenn du ihn snipern willst, spiele ich den Lockvogel … Aber um sich zu rächen, wäre ein Frontalangriff immer noch das Beste. Ich könnte im Handumdrehen zwei oder drei gute Maschinengewehrschützen zusammentrommeln. Oder wir könnten ihn paralysieren und von Monstern töten lassen …«

Shino blinzelte ein wenig verblüfft. Sie hob eine Hand, um Kyoujis eifrige PK-Planung irgendwie zu unterbrechen. »Äh, also … nein, so meinte ich das nicht. Wie soll ich sagen … er regt mich auf, aber sein Kampfstil ist total ehrlich. Deswegen möchte ich ihn auch unter fairen Bedingungen vernichten. Ich habe zwar gestern gegen ihn verloren … aber jetzt kenne ich seine Strategie, und zum Glück habe ich noch die Chance auf eine Revanche.«

Sie schob den Steg ihrer Brille ohne Sehstärke hoch und zog ihr Handy aus der Rocktasche, um die Uhrzeit zu überprüfen. »In dreieinhalb Stunden geht das BoB los. Dieses Mal werde ich ein Loch in seinen irreführenden Avatar pusten!«

Sie richtete ihren Zeigefinger geradewegs auf den östlichen Himmel und visierte den roten Mond an, der gerade aufging.

Am Abend des 13. Dezember hatte die Qualifikation für das dritte Bullet of Bullets stattgefunden, der Meisterschaft der besten Spieler von GGO.

Shino hatte als Sinon mühelos die Runden im F-Block gewonnen, bis dieser Kerl vor ihr aufgetaucht war. Obwohl er angeblich Anfänger war, hatte sie im Grunde ihres Herzens geahnt, dass es so kommen würde.

Sein Name war Kirito. Er war mittels der einzigartigen Konvertierungsfunktion von The Seed aus einem ihr unbekannten VRMMO nach GGO transferiert.

Auf ihrem Weg zur Anmeldung für die Qualifikation in der Generalverwaltung in der GGO-Hauptstadt SBC Glocken war Sinon Kirito begegnet – vermutlich kurz nach seinem Dive in das Spiel. Als er sie nach dem Weg zu einem Waffenshop gefragt hatte, hatte sie ihm nicht einfach nur die Richtung gezeigt und ihn dann stehen lassen, wie sie es sonst getan hätte, sondern sie hatte ihm angeboten, ihn selbst dorthin zu führen.

Der Grund war, dass sie davon überzeugt gewesen war, dass Kirito ein Mädchen war.

Im Nachhinein hatte sie erfahren, dass es in GGO ein männliches Avatarmodell namens »M-9000« gab, das auf den ersten Blick weiblich aussah. Diese Avatare traten nur äußerst selten auf, daher wurden sie mitsamt den Accounts zu ansehnlichen Preisen gehandelt. Natürlich war Kiritos Avatar auch noch eine Schönheit, mit glänzenden, schwarzen Haaren, großen Augen, die leuchteten wie der Nachthimmel, schneeweißer Haut und einem zierlichen Körperbau. Offen gesagt war er viel femininer als Sinons Avatar, der tatsächlich weiblich war. Während ihres halben Jahrs in GGO war sie nie einer weiblichen Anfängerin begegnet. Natürlich hatte sie auch weibliche Bekannte im Spiel, aber diese waren allesamt erfahrenere Spielerinnen als sie, und sie hatte weit mehr Schüsse als Worte mit ihnen gewechselt.

Als Sinon also das schwarzhaarige Mädchen gesehen hatte, das ganz verloren und einsam gewirkt hatte – und eigentlich ein Junge war –, hatte es sie an sie selbst früher erinnert, sodass sie sich wie gebannt als Fremdenführerin angeboten hatte.

Sie ließ ihn nach eigenem Ermessen in einem großen Shop Waffen und Rüstung aussuchen, erklärte ihm die Besonderheiten des Kampfsystems in GGO, wie etwa die »Bullet Lines«, und hatte mit ihm die Anmeldung für die Qualifikation im Turm der Generalverwaltung vorgenommen. Danach waren sie zusammen in die Wartehalle im Untergrund des Turms und einen Umkleideraum gegangen, um von der Stadtkleidung in die Kampfrüstung zu wechseln. Dort hatte Sinon alles bis auf die Unterwäsche abgelegt – und ausgerechnet diesen Moment hatte er sich ausgesucht, um ihr seinen Namen und sein Geschlecht zu offenbaren.

Vor Scham und Wut hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst und ihm erklärt: »Gewinn gefälligst deine Runden, bis wir wieder aufeinandertreffen. Zum Abschluss der Lektionen bringe ich dir auch noch den Geschmack der Kugel bei, die deine Niederlage bedeutet.«

Aber um ehrlich zu sein, hatte sie nicht damit gerechnet, dass es dazu kommen würde.

Kirito war ein Newbie, der gerade erst zu GGO konvertiert war. Aus welchem Grund auch immer hatte er als Hauptwaffe keine Schusswaffe gewählt, sondern ein »Lichtschwert«, eine Nahkampfwaffe.

Er konnte unmöglich mit einem Schwert gegen Gegner mit Gewehren gewinnen. In dieser Erwartung hatte Sinon Kirito schon fast wieder vergessen gehabt …

Doch Kirito hatte sein Versprechen an Sinon gehalten. Nur mit seinem Lichtschwert und einer kleinkalibrigen Pistole hatte er sich durch alle fünf Runden des F-Blocks gekämpft, in dem 64 Spieler gegeneinander angetreten waren, und war bis zur Endrunde vorgerückt, in der Sinon auf ihn gewartet hatte.

Auf dem abendlichen Highway, dem Setting der Endrunde, war Sinon selbst Zeuge von Kiritos beeindruckenden Fähigkeiten geworden. Er hatte die tödliche .50-Kaliber-Patrone ihres geliebten Anti-materiel rifles »Ultima Ratio Hécate II« mit der dünnen Energieklinge seines Lichtschwerts abgewehrt – nein, sogar entzweigeschnitten.

Zwischen den herabfallenden Hälften der Patrone war er vorgeprescht, hatte seine Klinge an Sinons Kehle gehalten und ihr aus nächster Nähe zugeflüstert:

»Würdest du dann aufgeben? Ich mag es nicht, Mädchen zu töten.«

»Hrrrgh!«

Bei der Erinnerung daran durchlebte sie das Gefühl der Demütigung erneut und riss ruckartig ihre Hand herunter, die auf den Mond gezeigt hatte. Sie sah sich nach weiteren Kieseln zum Wegtreten um, doch bedauerlicherweise waren alle geeigneten Steine schon in den Büschen gelandet. Stattdessen trat sie mit der Ferse gegen den Pfosten hinter ihr.

»Wart’s nur ab, das werde ich dir doppelt heimzahlen …«, sagte sie und schnaubte.

Kyouji stand von der Schaukel auf und sah sie mit einem noch besorgteren Blick an.

»Was ist?«

»Na ja … bereitet dir das keine Probleme?« Sein Blick fiel auf ihre rechte Hand. Sie hatte sie locker zur Faust geballt und nur Daumen und Zeigefinger ausgestreckt, sodass sie unbewusst damit eine Pistole nachahmte.

»Ah …« Hastig öffnete sie die Faust und schüttelte sie leicht. Tatsächlich hätte diese Geste ihr für gewöhnlich eine Panikattacke beschert, da sie das Bild einer Pistole in ihr wachrief. Doch seltsamerweise spürte sie nichts dergleichen.

»Äh, ja. Ich schätze … es hat mir nichts ausgemacht, weil ich gerade so wütend war.«

»Aha …« Kyouji schaute hoch und sah Shino direkt in die Augen. Plötzlich streckte er beide Hände aus und umfasste die ihre.

Unwillkürlich sah Shino auf seine Hände hinunter, deren Handflächen warm und leicht verschwitzt waren. »Wa… Was hast du denn, Shinkawa?«

»Ich mache mir nur Sorgen … Du bist heute nicht du selbst, Asada … Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, würde ich alles tun. Beim Turnier kann ich dich nur aus der Ferne anfeuern, aber … wenn ich noch etwas tun kann … sag’s einfach …«

Für einen kurzen Moment erwiderte Shino seinen Blick. Seine Augen in den schmalen, naiv wirkenden Gesichtszügen glühten vor lauter aufgestauten Emotionen.

»Ich … ich weiß nicht, was du damit meinst, dass ich nicht ich selbst sein sollte …«, murmelte Shino. Sie konnte sich spontan nicht einmal erinnern, wie sie sonst war. Da drückte Kyouji ihre Hand noch fester, und die Worte sprudelten hastig aus seinem Mund: »Du bist sonst immer so cool und distanziert … lässt dich durch nichts aus der Fassung bringen. Obwohl du das Gleiche durchmachst wie ich, drückst du dich nicht vor der Schule. Du bist stark, unheimlich stark. Das habe ich schon immer an dir bewundert. Du bist mein Idol, Asada.«

Überwältigt von Kyoujis Inbrunst wollte Shino sich zurückziehen, aber der Pfosten der Schaukel hinter ihrem Rücken hinderte sie daran. »Aber … ich bin überhaupt nicht stark. Du weißt es doch … Wenn ich eine Waffe nur sehe, bekomme ich Panik …«

»Aber Sinon nicht.« Kyouji trat noch einen halben Schritt näher. »Sinon kann problemlos mit dem riesigen Gewehr umgehen … Sie ist jetzt schon eine der stärksten Spielerinnen in GGO. Ich glaube, sie ist dein wahres Ich. Irgendwann kannst du bestimmt auch in der Wirklichkeit so werden. Deshalb … mache ich mir Sorgen, wenn ich sehe, wie du dich über diesen Typen ärgerst. Ich … ich kann dir doch helfen …!«

Aber weißt du, Shinkawa, dachte sie, während sie den Blick von ihm abwandte, früher habe ich geweint und gelacht wie jeder andere Mensch auch. Ich bin nicht so geworden wie jetzt, weil ich es wollte.

In der Tat war es Shinos innigster Wunsch, auch in der Wirklichkeit so stark zu werden wie Sinon. Aber für sie bedeutete das, die Angst vor Waffen zu überwinden, und eben nicht, allen Emotionen zu entsagen.

Vielleicht wollte sie im Grunde ihres Herzens auch nur mit Freunden lachen und Spaß haben wie andere. Deswegen hatte sie sich derart aufopferungsvoll um die Anfängerin gekümmert, die sie in Glocken herumirren gesehen hatte – was für Sinon sonst undenkbar gewesen wäre. Und deswegen war sie auch so wütend gewesen, als sich dieser Neuling als Mann herausgestellt hatte.

Sie freute sich ehrlich über Kyoujis Geständnis. Und dennoch war sie der Meinung, dass seine Gefühle fehlgeleitet waren. Was ich … was ich wirklich will …

»Asada …«, flüsterte mit einem Mal eine Stimme in ihr Ohr, und sie riss die Augen auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass Kyouji seine Arme um sie und den Pfosten geschlungen hatte.

Im menschenleeren Park war es fast vollständig dunkel geworden, doch auf der Straße hinter den kahlen Bäumen waren Passanten. Jeder, der Shino und Kyouji dort stehen sah, musste die beiden für ein Liebespaar halten.

Als ihr dieser Gedanke kam, stieß sie Kyouji instinktiv mit beiden Händen von sich.

Kyouji sah sie mit einem so verletzten Blick an, dass sie erschrak und sich hastig entschuldigte: »Tut mir leid. Ich bin wirklich froh über das, was du gesagt hast … und ich glaube, du bist der einzige Mensch in dieser Stadt, mit dem ich auf einer Wellenlänge bin. Aber … ich bin noch nicht bereit für so etwas. Ich denke, ich kann meine Probleme nicht aus der Welt schaffen, wenn ich sie nicht selbst bekämpfe …«

»Verstehe …«

Als Shino sah, wie er traurig den Kopf hängen ließ, überkamen sie Schuldgefühle.

Kyouji musste von ihrer Vergangenheit, von jenem Vorfall wissen. Bevor er zum Schulverweigerer geworden war, hatten Endou und ihre Gang die Einzelheiten schließlich in der ganzen Schule verbreitet. Ein Teil von ihr dachte, dass sie seine Gefühle erwidern und ihm alles anvertrauen sollte, wenn er ihr schon seine Aufmerksamkeit schenkte, obwohl er davon wusste. Falls sie ihn enttäuschte und er sich von ihr zurückziehen sollte, hätte sie das wirklich einsam gemacht.

Doch aus irgendeinem Grund tauchte in einem Winkel ihres Bewusstseins Kiritos Gesicht auf. Sein fast übersteigertes Selbstvertrauen. Sein unerschütterlicher Glaube an seine eigene Stärke. Um gegen ihn zu kämpfen und zu gewinnen, wollte sie auch das letzte bisschen Stärke aus sich selbst herausholen.

Sie wollte die harte, dunkle Schale der schrecklichen Erinnerungen um ihr Herz durchbrechen und frei sein. Das war alles, was sie wollte. Und dafür würde sie in der dämmrigen Ödnis gegen ihn kämpfen und siegen.

»Also … würdest du so lange auf mich warten?«, murmelte sie kaum hörbar. Kyouji starrte sie wortlos an mit Augen, in denen ein Durcheinander von Gefühlen wirbelte. Doch schließlich nickte er und lächelte. Danke, formte sie mit ihren Lippen und erwiderte sein Lächeln.

Am Ausgang des Parks verabschiedete sie sich von Kyouji und eilte nach Hause. Unterwegs kaufte sie sich im Supermarkt ein Mineralwasser und einen Aloe-Vera-Joghurt zum Abendessen. Normalerweise bemühte sie sich, möglichst ausgewogene Mahlzeiten zu kochen. Aber aus verschiedenen Gründen war es nicht ratsam, sich vor einem längeren Dive von über drei Stunden den Bauch vollzuschlagen.

Die Plastiktüte in ihrer Hand raschelte, als sie die Treppen hochlief und ihr Apartment betrat. Ungeduldig verriegelte sie das elektronische Schloss hinter sich und ging durch die Küche in den kleinen Wohnraum. Sie warf einen flüchtigen Blick zur Wanduhr.

Bis zum Beginn des BoB-Finales um acht war noch etwas Zeit, aber sie wollte sich schnellstmöglich einloggen, um vorher noch in aller Ruhe ihre Ausrüstung und Munition zu überprüfen und sich mental auf den Kampf einstellen zu können.

Rasch zog sie Jeansrock und Baumwoll-Shirt aus und hängte sie auf einen Kleiderbügel. Sie warf ihr Unterhemd in einen Wäschekorb in der Ecke und wechselte in ein bequemeres Outfit aus Tanktop, weitem Sweatshirt und kurzer Hose, wobei die kriechende Kälte im Raum sie frösteln ließ.

Shino stellte die Klimaanlage auf leichten Heizbetrieb und schaltete den Luftbefeuchter ein, bevor sie sich aufatmend auf das Bett setzte. Sie nahm die Wasserflasche aus der Plastiktüte, drehte den Verschluss ab und trank das kalte Wasser in kleinen Schlucken.

Shino hatte die Erfahrung gemacht, dass die Amu-Sphere-Funktion zur Unterbrechung der Sinnessignale während eines Dives bis zu 99 Prozent der Störungen von außen eliminieren konnte, aber um für ein angenehmes Gameplay zu sorgen, war dennoch ein gewisses Know-how notwendig. Vor dem Dive sollte man nur in Maßen essen und natürlich zur Toilette gehen, auf eine angenehme Temperatur und Luftfeuchtigkeit achten und für bequeme Kleidung sorgen. Als sie einmal im Hochsommer direkt vor dem Log-in ein ganzes Glas eiskaltes Wasser getrunken hatte, war sie danach mitten im Kampf auf neutralem Gebiet von heftigen Bauchschmerzen geplagt worden. Das AmuSphere hatte die abnormen Signale registriert und einen Not-Log-out durchgeführt. Als sich ihr Magen endlich wieder beruhigt und sie sich wieder eingeloggt hatte, war ihr Avatar natürlich längst tot gewesen und in die Stadt transferiert worden.

Die Hardcore-VRMMO-Gamer, die genug Geld übrig hatten, nutzten persönliche Isolationstanks, um einen Dive mit vollständigem sensorischen Entzug zu ermöglichen. Manche erstklassigen Internetcafés, die ihren Besuchern auch als Erholungsorte dienten, waren bereits mit solchen Tanks ausgestattet. Im vorigen Monat hatte Kyouji sie in ein solches Etablissement eingeladen.

Der Raum für den Log-in war ein Einzelzimmer gewesen. Nach einer Dusche in der angegliederten Kabine stieg man nackt in eine Kapsel, die den halben Raum einnahm. Das Innere der Kapsel war überraschend geräumig und etwa vierzig Zentimeter hoch mit einer gallertartigen Flüssigkeit gefüllt, deren Dichte auf den Benutzer angepasst wurde.

Als sie sich hineinlegte, schwebte ihr Körper auf der Flüssigkeit, während ihr Kopf auf einer Kopfstütze aus Gelmaterial ruhte, sodass es fast keine Tastempfindungen gab. Sie setzte das AmuSphere auf, das an der Innenwand hing, und schloss die schwere Luke, woraufhin das Innere des Tanks in vollkommene Dunkelheit und Stille gehüllt wurde.

Eigentlich war das Schweben in diesem Raum allein schon eine faszinierende Erfahrung, doch da sie mit Kyouji in GGO verabredet war, loggte sie sich in die virtuelle Welt ein.

Im Spiel stellte sie überrascht fest, dass die virtuellen Wahrnehmungen aller fünf Sinne tatsächlich etwas klarer waren als sonst. Kyouji hatte ihr das damit erklärt, dass es durch die aufs Minimum reduzierten Körperwahrnehmungen keine Störungen von außen gab. Was auch immer die logische Erklärung sein mochte, das Gefühl, selbst die Schritte der Stiefel ihrer Gegner im Sand zu hören, machte sogar fast die hohe Gebühr wieder wett.

Doch zur gleichen Zeit fühlte Shino auch eine Unruhe, die schwer in Worte zu fassen war.

Durch die vollständige Trennung von ihrem echten Körper machte sie sich umso mehr Sorgen um diesen auf der anderen Seite – so konnte man es wohl ausdrücken. Während des Dives in die VR-Welt lag der echte Körper wie eine wehrlose Puppe ohne jede Wahrnehmung in der wirklichen Welt. Dieser Fakt löste eine unbestimmte Furcht in ihr aus, die von dem Tank nur noch verstärkt wurde.

Verglichen mit dem NerveGear – alias »Höllenmaschine« – war das AmuSphere mit fast übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen versehen. Das AmuSphere filterte nicht hundert Prozent der Sinneswahrnehmungen – weswegen die Isolationstanks überhaupt einen Effekt hatten. Durch Reize wie etwa Ton, Licht, Schwingungen oder Ähnliches wurde leicht die Sicherheitsvorrichtung ausgelöst und der Benutzer zurück in die Wirklichkeit geholt.

Dennoch war der Körper während des Dives im Grunde schutzlos. Es war gewissermaßen nicht viel anders als im Schlaf, aber als Shino sich vom Isolationstank aus einloggte, konnte sie sich eines prickelnden Gefühls der Unruhe im Nacken nicht erwehren. Sie kam zu dem Schluss, dass trotz eventueller kleiner Störsignale der Dive von ihrem kleinen Zimmer aus das Beste war – denn das war der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich sicher fühlte.

Während sie ihre Gedanken wandern ließ, löffelte sie ihren Joghurt, und bald war der Becher geleert. Sie wusch ihn flüchtig in der Spüle aus und warf ihn in die Tüte für Recycling-Müll. Dann putzte sie im Bad ihre Zähne, ging zur Toilette und wusch sich Hände und Gesicht, bevor sie zurück in ihr Zimmer ging.

»Los geht’s!«, sagte sie zu sich und klatschte sich mit beiden Händen auf die Wangen, dann legte sie sich auf ihr Bett. Sie hatte ihr Handy auf lautlos gestellt, Türen und Fenster abgeschlossen und die Hausaufgaben für Montag schon mittags erledigt. Damit war sie bestens gewappnet, die Belange der wirklichen Welt aus ihrem Gehirn auszuschließen.

Sie setzte das AmuSphere auf, tastete nach dem Schalter an der Wand und dimmte das Licht. Die Gesichter ihrer Feinde, die sie zu Fall bringen würde, blitzten vor der nun dämmrigen Zimmerdecke auf.

Zum Schluss erschien das Gesicht des Lichtschwertkämpfers mit seinen glänzenden schwarzen Haaren und roten Lippen – Kirito. Mit einer Pistole in der linken, dem Photonenschwert in der rechten Hand und einem frechen, schiefen Grinsen sah er sie direkt an.

Das entfachte die Flamme des Kampfgeistes tief in Shino. Er war der starke Gegner, den sie so lange in der tödlichen Ödnis gesucht hatte. Er würde Shino die Kraft geben, ihre unglückselige Vergangenheit zu besiegen. In gewissem Sinne war er ihre größte Hoffnung.

Sie würde mit ganzer Kraft kämpfen und ihn besiegen. Komme, was wolle.

Shino atmete tief ein und betont langsam aus, dann schloss sie die Augen. Als sie die Worte sprach, die ihre Seele in die andere Welt brachten, klang ihre Stimme kräftiger und klarer als sonst: »Link Start!«

Die Schwerkraft, die horizontal auf ihren Körper wirkte, verschwand und machte einem Gefühl des Schwebens Platz.

Dann rotierte die Welt um neunzig Grad nach vorn. Als würde sie eine sanfte Rutsche hinabgleiten, landete sie mit den Fußspitzen voran auf festem Grund. Sie wartete, bis sich die fünf Sinne ihres virtuellen Körpers angepasst hatten, dann öffnete Sinon die Augen.

Zuerst fiel ihr Blick auf eine riesige holografische Neonreklame, die über den sternlosen Nachthimmel zog. »Bullet of Bullets 3« stand dort in tiefroten Lettern, die ihr helles Licht in die Häuserschluchten warfen.

Sinon spawnte auf dem Platz vor dem Turm der Generalverwaltung am nördlichen Ende der Hauptstraße, die mitten durch Glocken führte. Normalerweise war dieser Bereich fast menschenleer, doch heute drängten sich auf dem Platz unzählige Spieler in ausgelassener Stimmung mit Essen und Getränken in den Händen. Wegen der Wetten anlässlich des bald startenden BoB-Finales war momentan über die Hälfte der Währung von GGO auf diesem Platz im Umlauf.

Um den aufsehenerregenden Stand des Wettbüros, in dessen Holo-Anzeige ihre Konkurrenten angezeigt wurden – verblüffenderweise betrieb das Büro kein Spieler, sondern ein offizieller »Bookmaker NPC« des Spielbetreibers –, und die dubiosen Tippgeber, die streng geheime Informationen verkauften, sammelten sich große Menschentrauben. Plötzlich neugierig geworden, näherte Sinon sich dem Stand des Wettbüros und sah zu dem Holo-Fenster auf. Ihre Gewinnchancen wurden recht niedrig angesetzt. Ohne Frage deswegen, weil sie in der Endrunde der Qualifikation am gestrigen Tag verloren hatte. Daraufhin suchte sie nach Kiritos Namen, doch auch er wurde als eher unwahrscheinlicher Gewinner eingeschätzt.

Sinon schnaubte und überlegte, ob sie ihr gesamtes Geld auf sich selbst setzen sollte. Doch sie hatte das Gefühl, das hätte ihre Zielstrebigkeit getrübt, also drehte sie sich auf dem Absatz um und entfernte sich von dem Gedränge. Natürlich war sie als regelmäßige Teilnehmerin des BoB bekannt unter den Spielern, und zahlreiche Blicke folgten ihr, als sie durch die Menge ging. Doch niemand wagte es, sie anzusprechen. Sinon war weit und breit als Wildkatze berüchtigt, die jedem die Zähne zeigte, den sie einmal als Feind betrachtete.

Sie machte sich auf den Weg zum Gebäude der Generalverwaltung, um sich zeitig in der Wartehalle einzufinden und mental auf das Turnier vorzubereiten, als jemand hinter ihr ihren Namen rief: »Sinon!«

Es gab nur einen Spieler in GGO, der sie auf diese Weise ansprach. Als sie sich umdrehte, sah sie wie erwartet den Avatar von Kyouji Shinkawa, von dem sie sich erst vor Kurzem in der wirklichen Welt verabschiedet hatte. Spiegel kam winkend auf sie zugelaufen. Sein hagerer Körper war von oben bis unten in Urban Camo gekleidet, und sein Gesicht war leicht gerötet, vielleicht vor Aufregung.

»Sinon, du bist aber spät dran. Ich habe mir schon Sorgen gemacht … Ist etwas?«, fragte er sie, als er ihr leises Lächeln bemerkte.

»Nein, nichts. Ich dachte nur gerade, es ist komisch, jemandem hier gleich wieder zu begegnen, den man gerade erst in der Wirklichkeit getroffen hat.«

»Wobei ich da nicht so cool bin wie mein Avatar. Aber egal, wie schätzt du deine Siegeschancen ein? Hast du einen Plan?«

»Meine Siegeschancen … Ich kann nur mein Bestes geben. Im Grunde ist es ein Kreislauf von Aufspüren, Snipern und Weiterbewegen.«

»Das kann sein. Aber … ich bin überzeugt, dass du gewinnen wirst.«

»Oh, danke. Was hast du jetzt vor?«

»Hmm … ich wollte mir die Übertragung in irgendeiner Bar ansehen …«

»Dann stoße ich nach dem Turnier zu dir, und wir können entweder auf meinen Sieg anstoßen oder du kannst mir Gesellschaft leisten, während ich meinen Kummer in Alkohol ertränke«, sagte Sinon und lächelte wieder schwach.

Spiegel sah einen Moment zu Boden und hob dann wieder den Blick. Unvermittelt ergriff er Sinons rechten Arm und zog sie in eine Ecke des Platzes. Sobald sie vor den Blicken der anderen Spieler verborgen waren, drehte er sich schwungvoll zu ihr um. Seine Miene wirkte mit einem Mal so angespannt, dass Sinon verwundert blinzelte.

»Sinon … nein, Asada.«

Spiegel wusste sehr wohl, dass es ein Tabu war, innerhalb eines VRMMOs andere Spieler mit ihrem richtigen Namen anzusprechen. Umso erschrockener war Sinon. »Wa… Was …?«

»Du hast das vorhin doch ernst gemeint, oder?«

»Das vorhin …?«

»Du hast doch gesagt, dass ich auf dich warten soll, oder …? Wenn du dich von deiner eigenen Stärke überzeugt hast, würdest du dann … mit mir …«

»Was redest du denn auf einmal?« Sinon spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und verbarg ihr Gesicht in ihrem Schal.

Doch Spiegel trat einen Schritt auf sie zu und packte wieder ihre Hand. »Ich … ich bin in dich …«

»Entschuldige, bitte nicht jetzt«, sagte Sinon entschlossener und schüttelte den Kopf. »Ich will mich jetzt ganz auf das Turnier konzentrieren. Ich muss alles aus mir herausholen, sonst kann ich diesen Kampf nicht gewinnen …«

»Verstehe, du hast recht …« Spiegel ließ ihre Hand los. »Aber ich glaube an dich. Und ich werde auf dich warten.«

»Okay … Nun, ich muss mich so langsam mal vorbereiten, also … bis dann.«

Sinon hatte das Gefühl, die Aufregung würde sie bis ins Turnier verfolgen, wenn sie noch länger mit Spiegel spräche, also zog sie sich zurück.

»Viel Glück. Ich werde dich anfeuern«, erwiderte er nur noch inbrünstiger. Sie nickte ihm zu und lächelte unbeholfen, dann drehte sie sich um. Sie trat aus dem Schatten des Gebäudes, und noch während sie eilig zum Eingang der Generalverwaltung lief, spürte sie seinen brennenden Blick im Rücken.

Als sie durch die Glastüren in das Gebäudeinnere trat, das im Gegensatz zum Platz menschenleer war, verließ sie endlich die Anspannung. Sie lehnte sich gegen eine große Steinsäule und fragte sich, ob ihr Verhalten ihm vielleicht falsche Signale gegeben hatte.

Sie empfand Zuneigung für Kyouji, dachte sie. Doch um ehrlich zu sein, hatte sie momentan mehr als genug mit sich selbst zu tun.

Shino hatte keine Erinnerungen an ihren verstorbenen Vater. Das männliche Gesicht, das sich ihr am tiefsten eingebrannt hatte, sich bei jeder Gelegenheit wieder in ihr Gedächtnis drängte und ihr Panikattacken bescherte, war das Gesicht des Verbrechers, der vor fünf Jahren die Post überfallen hatte. Seine Augen, trübe wie bodenlose Teiche, lauerten in jeder dunklen Ecke und starrten Shino an.

Wie jedes Mädchen sehnte sie sich danach, einen Freund zu haben, mit dem sie jeden Abend telefonieren und am Wochenende ausgehen konnte. Aber wenn sie nun mit Kyouji ausgehen würde, würde sie diese Augen eines Tages womöglich auch bei ihm entdecken, und davor fürchtete sie sich.

Wenn sie nicht nur der Anblick von Schusswaffen in Panik versetzte, sondern sie sich auch noch vor Männern zu fürchten begann, würde es für sie schwierig werden, überhaupt noch weiterzuleben.

Sie hatte keine andere Wahl, als zu kämpfen. Das war alles, was sie jetzt tun konnte, was sie tun musste.

Ihre Stiefel klapperten auf dem Boden der Eingangshalle, als sie mit energischen Schritten zum Aufzug im hinteren Teil lief.

Doch erneut sprach sie jemand von hinten an. Es war nicht Spiegels maskuline, tiefe Stimme, sondern eine kühle, raue, die ihren Namen rief. Sinon schloss unwillkürlich die Augen.

Als sie sich widerwillig umdrehte, stand da dieser ihr so verhasste Kerl.

10

Ich landete im Norden von GGOs Hauptstadt SBC Glocken, an einer Straßenecke in der Nähe der Generalverwaltung.

Vor der melancholischen Abendröte schwebte ein Schwarm von holografischen Neonreklamen. Es waren zum Großteil Werbeanzeigen tatsächlich existierender Firmen. So etwas hätte in ALO zu heftigen Spielerprotesten geführt, weil es die Atmosphäre der Welt zerstört hätte, doch zu dieser verfallenen, futuristischen Stadt passte es auf eine seltsame Art. Unter all den Neonreklamen fiel besonders die Ankündigung für das dritte Bullet of Bullets ins Auge. Sobald ich die fette rote Schrift erblickte, lief ein leichter Schauer durch meinen ganzen Körper. Nicht, dass ich Angst gehabt hätte; es war die Aufregung vor dem Kampf – zumindest wollte ich das glauben.

Ich atmete tief durch und richtete den Blick wieder nach vorn, wobei ich mit einer unbewussten Geste meine schwarzen Haare, die mir auf die Schultern fielen, nach hinten warf. Ich ließ die Hände sinken, frustriert von meinem eigenen Verhalten, beruhigte mich dann aber damit, dass ich mich offensichtlich an meinen Avatar gewöhnt hatte.