Sword Art Online - Light Novel 05 - Tamako Nakamura - E-Book

Sword Art Online - Light Novel 05 E-Book

Tamako Nakamura

5,0

Beschreibung

Jetzt fliegen die Kugeln! Gun Gale Online, einem VRMMO der Schusswaffen, gibt es plötzlich tödliche Vorfälle. Spieler, die von einem Avatar mit einer pechschwarzen Pistole erschossen werden, sterben auch in der Wirklichkeit. Kirito erhält den Auftrag, diese unheimliche Angelegenheit zu untersuchen und taucht in die Welt von GGO ein, um den mysteriösen "Death Gun" aufzuspüren. Alleine kann er das aber niemals schaffen, daher erhält er Hilfe von der hübschen Scharfschützin Sinon!

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»Dieses Gerede von Agility als Patentlösung ist letztlich doch nur Spinnerei!« Eine schrille Männerstimme hallte durch die weitläufige Bar. »Natürlich ist Agility ein wichtiger Statuswert. Herausragende ›Schnellfeuer‹- und ›Ausweichen‹-Skills haben gereicht, um ein guter Spieler zu sein. Zumindest bis jetzt.« Die überhebliche Stimme gehörte einem Spieler auf einem vierseitigen Holo-Panel, das hoch oben in dem dämmrigen Laden schwebte.

Es war das beliebte Programm Der Gewinner der Woche des Online-Senders »MMO Stream«. Man konnte die Sendung auch in der Realität über Fernsehen oder Computer ansehen, doch da sie in den Gasthäusern und Bars der zahllosen virtuellen Welten als Dauersendung ausgestrahlt wurde, zogen es die Spieler eher vor, sie im Spiel zu schauen.

Besonders natürlich dann, wenn der Gast der Sendung ein Spieler aus »ihrer Welt« war.

»Aber das ist jetzt Schnee von gestern. Lasst mich den Krüppeln, die acht Monate lang wie verrückt ihren AGI-Wert hochgelevelt haben, eines sagen: Mein herzliches Beileid!«

Sein hämischer Tonfall wurde aus allen Ecken der großen Bar mit Buhrufen quittiert, und etliche Flaschen und Gläser wurden auf den Boden geschleudert, wo sie in kleine Polygon-Splitter zerbarsten.

Doch einer beteiligte sich nicht an dem Tumult, sondern blieb still zusammengekauert auf dem Sofa in der hintersten Ecke der Bar sitzen.

Durch die Lücke zwischen der tief in sein Gesicht gezogenen Kapuze seines Ghillie-Anzugs und einem dicken Tuch, das seine untere Gesichtshälfte bedeckte, sah er sich mit kaltem Blick im Laden um.

Der arrogante Typ auf den Bildschirmen war unausstehlich, aber die Spieler, die mit dümmlichen Gesichtern den Fernseher anstarrten, waren noch weitaus schlimmer. Auch wenn sie alle missgünstig »Buh! Buh!« riefen, schienen sie es mehr aus einer Feierlaune heraus zu tun.

Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie sie derart unbekümmert sein konnten. Der Mann im Fernsehen war rein zufällig in den Rang des stärksten Spielers aufgestiegen und gleichzeitig der größte Ausbeuter des Spiels geworden. Er bekam einen Teil der Abogebühren, die alle Spieler zahlten, als Provision und tat jetzt so, als wüsste er alles besser.

Alle Spieler mussten den gleichen Neid und Hass gegenüber diesem Mann empfinden wie er. Wenn diese hässlichen Gefühle schon existierten, dann war es auch hässlich und lächerlich, sie zu verbergen und mit einem Lachen zu überspielen.

Er verkrampfte am ganzen Körper unter dem Anzug und atmete flach durch die zusammengepressten Zähne aus. Noch war es nicht an der Zeit, den Abzug zu drücken.

Als sein Blick wieder auf das Holo-Panel fiel, zoomte die Kamera heraus und erfasste den Moderator der Show rechts neben dem Mann und einen weiteren Gast links daneben.

Die Moderatorin, in Techno-Pop-Mode gekleidet, flötete: »Das ist eine radikale Aussage, wie nicht anders zu erwarten vom Topspieler von Gun Gale Online, das als das härteste VRMMO gilt.«

»Na ja, man bekommt schließlich nicht alle Tage die Gelegenheit, auf ›MST‹ aufzutreten, also wollte ich sagen, was ich zu sagen habe.«

»Du beabsichtigst auch, am nächsten ›Bullet of Bullets‹ teilzunehmen, oder?«

»Natürlich. Und wenn ich schon daran teilnehme, dann um zu gewinnen.«

MMO Stream war zwar kein Inhalt aus Gun Gale Online alias GGO, dennoch waren die mitwirkenden Gäste und die Moderatorin keine echten Personen, sondern Avatare. Der Gewinner der Woche war eine Interview-Sendung, in die jede Woche Topspieler aus den verschiedensten VRMMO-Spielen eingeladen wurden. Diese Woche waren die Gäste der Erst- und Zweitplatzierte des als Bullet of Bullets bezeichneten Battle Royale*, das im vorigen Monat abgehalten worden war.

»Aber weißt du, XeXeeD«, platzte es aus dem Zweitplatzierten heraus, als könne er die ausschweifende Prahlerei des silberhaarigen Mannes nicht mehr länger ertragen, »beim BoB geht es doch um Sologefechte. Es gibt keine Garantie dafür, zweimal das gleiche Ergebnis zu erzielen. Ich bin mir nicht so sicher, dass man sagen kann, der Sieg würde nur vom Build-Typ abhängen.«

»Nein, nein, das Ergebnis dieses Mal war ein Zeichen für eine allgemeine Tendenz in GGO. Ich verstehe natürlich, dass du das als Nutzer eines AGI-Builds nicht wahrhaben willst, Yamikaze«, erwiderte der Sieger namens XeXeeD prompt und redete wie ein Wasserfall weiter. »Bisher war tatsächlich die beste Strategie, seinen AGI-Wert hochzupumpen und Schnellfeuer mit scharfer Munition einzusetzen. Der Bonus, den man damit auf die Ausweichfähigkeit erhielt, entschädigte auch für die fehlende Vitality. Aber anders als in Einzelspieler-Games, ist die Balance in einem MMO ständig im Wandel. Besonders bei levelbasierten Spielen kann man die Statuswerte grundsätzlich nicht mehr ändern, daher muss man beim Verteilen der Punkte immer gut vorausplanen. Der stärkste Build in dem einen Levelbereich muss nicht unbedingt der stärkste im nächsten sein. Na, das siehst du doch auch ein, oder? In Zukunft werden Schusswaffen rauskommen, die immer mehr STR und DEX zum Ausrüsten erfordern werden. Die Vorstellung, man könne sich durchschlagen, indem man ständig nur ausweicht, wird nicht mehr lange gültig sein. Der Kampf zwischen mir und dir hat das symbolisiert. Die Wirkung deiner Waffe wurde von meiner kugelsicheren Rüstung ziemlich abgeschwächt, wohingegen fast siebzig Prozent meiner Schüsse getroffen haben. Ganz offen gesagt, jetzt bricht das Zeitalter der STR-VIT-Builds an.«

Der Mann mit dem Namen Yamikaze verzog verärgert sein hartes Gesicht.

»Das sagst du doch nur, weil du direkt vor dem Turnier an eine rare Waffe gekommen bist, für die du gerade so die erforderlichen STR-Punkte hattest … Wie viel hast du dafür bezahlt?«

»Aber nicht doch, die Waffe habe ich als Drop bekommen. In diesem Sinne ist der wichtigste Statuswert vielleicht das eigene Glück, ha ha ha.«

Mit mürrischem Blick starrte der Mann auf dem Sofa den lachenden, silberhaarigen XeXeeD auf dem Holo-Panel an und bewegte seinen rechten Arm. Seine Hand tastete nach dem Griff, der aus dem Holster an seiner Hüfte ragte, und schloss sich fest um das kühle, harte Metall. Gleich – gleich wäre der Zeitpunkt gekommen. Ein Blick auf die Uhr am Rand seines Sichtfelds. Noch eine Minute und zwanzig Sekunden.

Die zwei Männer am Nebentisch tranken mit großen Schlucken aus ihren Bierkrügen und murrten: »Pah, wie der sich aufspielt. Früher hat XeXeeD doch selbst immer getönt, dass AGI-Builds die besten sind.«

»Jetzt macht es den Anschein, als hätte er die anderen Spieler absichtlich auf eine falsche Fährte gelockt … Und wir sind voll darauf reingefallen.«

»Heißt das, dieses Gerede von STR-VIT ist auch nur ein Bluff?«

»Da fragt man sich doch, was als Nächstes kommt. Ein hoher LUK-Wert?«

»Versuch du’s.«

»Keine Chance.«

Die beiden lachten heiser. Ihr Gelächter feuerte seine Wut nur noch weiter an. Wenn sie doch begriffen, dass sie betrogen worden waren, wie konnten sie so darüber lachen? Er verstand es nicht.

Aber euer dämliches Lachen wird euch gleich im Hals stecken bleiben. Sobald ihr die echte Kraft und den wahren stärksten Spieler seht.

Es war Zeit.

Ohne einen Laut stand er auf. Schritt für Schritt ging er zwischen den Tischen hindurch. Niemand nahm Notiz von ihm.

»Idioten … ihr solltet euch fürchten«, murmelte er, als er in der Mitte der Bar direkt unter dem Holo-Panel stehen blieb. Er zog eine grobe Faustfeuerwaffe aus dem Holster an der Hüfte seines Ghillie-Anzugs.

Sie hatte einen kalten, schwarz-metallischen Glanz, wie komprimierte Dunkelheit. Selbst der Griff war aus Metall gefertigt, und mitten in dessen geriffelte Seite war ein Stern graviert. Dem Aussehen nach war es eine Automatikwaffe ohne nennenswerte Durchschlagskraft, wie sie überall zu finden waren.

Aber diese Waffe hatte »wahre Macht«.

Mit einem Klicken zog er den Schlitten zurück, um die Waffe zu laden, und richtete die Mündung langsam genau nach oben – auf das Holo-Panel. Genau auf die Stirn des grinsenden Topspielers XeXeeD.

Für einen Moment blieb er in dieser Position, bis ein verwundertes Raunen durch die Menge um ihn herum ging. Trotz des nahezu uneingeschränkten PK in GGO waren zumindest innerhalb von Städten keine Angriffe möglich. Zwar konnte man seine Waffe abfeuern, doch keine Objekte zerstören, geschweige denn Schaden bei Spielern verursachen.

Seine sinnlose Handlung erntete einige Lacher, doch er hielt seine schwarze Pistole seelenruhig weiter im Anschlag.

Auf dem Monitor gab XeXeeD immer noch sein hämisches Gerede von sich.

XeXeeDs echter Körper lag irgendwo in der wirklichen Welt und war über das AmuSphere mit dem virtuellen Studio von MMO Stream verbunden. Daher konnte er nicht wissen, dass in einer Bar in »SBC Glocken« – der Hauptstadt von Gun Gale Online – jemand eine Waffe auf sein Bild im Fernsehen richtete.

Dennoch öffnete der Mann seinen Mund und rief so laut er konnte: »XeXeeD! Du Scharlatan! Die wahre Macht wird nun über dich richten!«

Unter den entgeisterten Blicken der Spieler hob er seinen linken Arm und bekreuzigte sich mit den Fingerspitzen von der Stirn zur Brust und von der linken zur rechten Schulter.

Noch während er die Hand wieder sinken ließ, betätigte er mit der rechten Hand den Abzug.

Der Schlitten schlug zurück, und ein Feuerstoß blitzte gelb auf. Ein schrilles, trockenes Explosionsgeräusch.

Die Metallkugel schoss durch das Dämmerlicht in der schwach beleuchteten Bar und traf mitten in das Holo-Panel, wo sie mit einem kleinen Lichteffekt zerbarst.

Das war alles. Auf dem Monitor riss XeXeeD immer noch den Mund auf.

Nun brachen die Leute erst recht in höhnisches Gelächter aus. »Autsch«, »Na, toll gemacht«, hörte er sie frotzeln. Und über ihren Spott hinweg hörte er XeXeeDs Geschwafel.

»… und deswegen kommt es letztendlich auf die Fähigkeiten des Spielers an, was auch die Wahl der Statuswerte und Skills einschließt …«

Plötzlich brach seine Stimme ab.

Die Blicke der Barbesucher wandten sich zurück zum Panel.

XeXeeD war mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen erstarrt. Ganz langsam hob er seine Hand und griff sich an die Brust.

Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und nur ein leerer Stuhl aus Polygonen blieb zurück. Hastig sagte die Moderatorin: »Oje, anscheinend wurde die Verbindung unterbrochen. Ich denke, er wird gleich wieder zurück sein, also bleibt bitte dran …«

Aber das hörte in der Bar schon niemand mehr. Still richteten sich alle Augen wieder auf ihn.

Nun senkte er seine Waffe, die noch immer auf den Monitor gerichtet gewesen war, und hielt sie waagerecht. Dann drehte er sich langsam um und erfasste die Spieler in der Bar in seiner Schusslinie.

Nach einer vollen Umdrehung hielt er seine schwarze Pistole wieder hoch über seinen Kopf und rief: »Das ist die wahre Macht, die wahre Stärke! Prägt euch diesen Namen zusammen mit eurer Furcht gut ein, ihr Narren!« Er holte tief Luft. »Der Name von mir und dieser Pistole ist … Death Gun!«

Er steckte seine Waffe wieder in ihr Holster und rief mit einem Wink der linken Hand das Menüfenster auf.

Während er den Log-out-Button drückte, empfand er ein Gefühl des Triumphes und einen alles verzehrenden Hunger.

*Spielmodus, bei dem der letzte überlebende Spieler gewinnt.

1

»Willkommen. Sind Sie allein?«

Der Kellner verneigte sich höflich. Ich teilte ihm mit, dass ich eine Verabredung hätte, und sah mich in dem großen Café um. Sogleich rief eine laute Stimme von einem Sitz an der hinteren Fensterfront ungezwungen zu mir herüber: »Hey, Kirito, hier drüben!«

Für einen Moment verstummten die leisen Unterhaltungen in dem Raum, in dem elegante, klassische Musik dahinplätscherte, und mir wurden vorwurfsvolle Blicke zugeworfen. Ich zog den Kopf ein und ging eilig zu dem Eigentümer der Stimme hinüber. In meiner abgetragenen Lederjacke und den löchrigen Jeans war ich offensichtlich deplatziert in dem Etablissement, dessen Kundschaft zu einem Großteil aus Damen der Oberschicht bestand, die gerade vom Shopping kamen. Wut kochte in mir hoch auf denjenigen, der mich hierher beordert hatte.

Wenn es ein hübsches Mädchen gewesen wäre, hätte ich darüber hinwegsehen können, aber leider war es ein Mann im Anzug, der mir zuwinkte. Ohne meinen Verdruss zu verbergen, ließ ich mich ihm gegenüber auf einen Stuhl plumpsen.

Auf der Stelle brachte mir der Kellner ein Glas Wasser und ein Erfrischungstuch, dann reichte er mir die Speisekarte, deren Einband anscheinend aus echtem Leder war. Als ich sie entgegennahm, ertönte mir gegenüber eine fröhliche Stimme: »Ich übernehme die Rechnung, bestell dir einfach, was du magst.«

»Das hatte ich ohnehin vor«, antwortete ich harsch und überflog die Karte. Erschreckenderweise war das günstigste Gericht ein »Chou à la Crème« für 1200 Yen. Schon wollte ich reflexartig einen Kaffee ordern, als mir einfiel, dass er ein hochbezahlt0er Beamter war und die Kosten zudem als Bewirtungskosten von den Steuerzahlern gezahlt werden würden. Ich fühlte mich albern, als ich bemüht gelassen eins nach dem anderen bestellte: »Hmm … Ich nehme das Parfait au chocolat … das Mille-feuille framboise … und dazu einen Haselnuss-Kaffee.«

Es gelang mir irgendwie, mich nicht zu verhaspeln, als ich ein Menü für insgesamt 3900 Yen bestellte. Am liebsten hätte ich mich mit einem Hamburger und Milchshake begnügt und ihm gesagt, dass er mir das Wechselgeld in bar geben solle. Nebenbei hatte ich nicht die geringste Ahnung, was ich da gerade bestellt hatte.

»Sehr wohl.« Der Kellner entfernte sich mit einer fließenden Bewegung, woraufhin ich endlich durchatmete und aufsah.

Der Name des Mannes, der gerade mit Genuss einen riesigen Pudding mit einer Menge Sahne verspeiste, war Seijirou Kikuoka. Seine Brille mit dickem, schwarzem Rahmen, die biedere Frisur und die ernsten Züge seines schmalen Gesichts, das an einen Japanischlehrer erinnerte, ließen nicht vermuten, dass er ein Staatsbeamter war. Er gehörte zur zweiten Division der Abteilung für fortgeschrittene Netzwerke des Ministeriums für Inneres und Kommunikation, intern als »Abteilung für den virtuellen Raum innerhalb der Kommunikationsnetze« oder kurz auch als »Abteilung für Virtuelles« bezeichnet.

Kurzum, dieser Mann war ein Staatsagent, der die VR-Welten überwachte, die sich derzeit in einem chaotischen Zustand befanden … beziehungsweise ein Sündenbock. Er beklagte sich bei jeder Gelegenheit, aber ich wusste nicht, wie viel davon wahr war.

Der ach so bedauernswerte Kikuoka schob sich glücklich den letzten Löffel Pudding in den Mund und grinste mich arglos an. »Hi, Kirito. Entschuldige, dass ich dich herbemüht habe.«

»Wenn Sie so denken, lassen Sie mich doch nicht nach Ginza kommen.«

»Die Sahne in diesem Café ist einmalig. Vielleicht sollte ich noch einen Windbeutel bestellen …«

Während ich mir die Hände mit dem Erfrischungstuch abwischte, das einen Zitrusduft verströmte, seufzte ich. »… und ich wüsste nicht, warum Sie mich Kirito nennen sollten.«

»Sei doch nicht so. Immerhin war ich der Erste, der zu dir geeilt ist, als du vor einem Jahr in deinem Krankenhausbett aufgewacht bist, oder?«

Das entsprach leider der Wahrheit. Der Erste, der mich in meinem Krankenhauszimmer besucht hatte, als ich aus dem Spiel auf Leben und Tod entkommen und erwacht war, war Kikuoka gewesen, der als Staatsagent für die SAO-Sondereinheit arbeitete.

Natürlich hatte ich zu Beginn höflich mit ihm gesprochen, aber je mehr mir bewusst wurde, dass er mich nicht aus reiner Nächstenliebe kontaktiert hatte, desto lockerer und ungehobelter wurde mein Mundwerk. Oder vielleicht trieb er mich dazu – aber das war wohl doch zu weit hergeholt.

Ich warf einen Blick zu Kikuoka, der ernsthaft darüber nachzudenken schien, ob er noch etwas bestellen sollte oder nicht, und ermahnte mich innerlich, mich nicht von ihm einwickeln zu lassen.

»Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass vor der Sagami-Bucht große Mengen eines seltenen Metalls gefunden wurden und die hohen Beamten der zuständigen Behörden einen Freudentanz aufgeführt haben. Müssen Sie sich da so den Kopf wegen eines Windbeutels zerbrechen?«

Kikuoka blickte auf, blinzelte ein paarmal und grinste dann breit: »Tja, es kann noch so viel Gewinn abwerfen, da meine Abteilung nichts damit zu tun hat, werden wir fürs Erste nicht davon profitieren. Nein, zugunsten des Staatsbudgets lasse ich es mal besser.«

Der Beamte klappte die Speisekarte zu, und ich seufzte erneut demonstrativ.

»Könnten wir dann langsam zur Sache kommen? Es geht doch sowieso wieder mal um die Untersuchung eines virtuellen Verbrechens, oder?«

»Oh, schön, dass du gleich zum Punkt kommst, Kirito«, gab Kikuoka unverzagt zurück und nahm einen superdünnen Tablet-PC aus dem Aktenkoffer auf dem Stuhl neben ihm.

Ja, letzten Endes benutzte dieser Mann mich, einen Rückkehrer des SAO-Vorfalls – dem größten Internet-Verbrechen in der Geschichte Japans – als Informant.

Wie ich irgendwo gelesen hatte, wurden Informanten bei der Sicherheitspolizei offenbar »Kooperationspartner« oder »Beobachter« genannt, und das Erbringen von Gegenleistungen für das kontinuierliche Bereitstellen von Informationen wurde als »Verwalten« bezeichnet. Demzufolge wurde ich also von Kikuoka »verwaltet«, indem er mich hin und wieder zu einem Stück Kuchen einlud.

Der Gedanke war nicht angenehm, aber da dieser Mann die Regeln gebrochen und mir das Krankenhaus verraten hatte, in dem Asuna gelegen hatte, schuldete ich ihm etwas.

Ohne diese Information hätte ich Asuna Yuuki in der Wirklichkeit nie so schnell finden können. Dann hätte ich zwangsläufig auch nicht Nobuyuki Sugous diabolischen Plan herausgefunden, und ich hätte ihn nicht davon abhalten können, sie an sich zu reißen.

Deswegen nahm ich es in Kauf, bis auf Weiteres für Kikuoka den »Beobachter« zu spielen. Aber ich schmierte ihm keinen Honig um den Mund und bestellte rücksichtslos den teuren Kuchen.

Ob der Beamte mir gegenüber nun meine Gemütsverfassung bemerkte oder nicht, er tippte auf seinem Tablet-PC herum und sagte in ruhigem Tonfall: »Tja, es ist so, in letzter Zeit gibt es wieder eine steigende Tendenz bei Fällen von Cyberkriminalität …«

»Ach ja? Und das heißt konkret?«

»Nun … allein im November wurden über hundert Fälle von Diebstahl oder Beschädigung von virtuellem Eigentum gemeldet. Dazu noch dreizehn Fälle von Körperverletzung aufgrund von Streitigkeiten innerhalb eines VR-Spiels, einer davon mit Todesfolge … Dieser Fall war überall in den Medien, du wirst sicher davon gehört haben. Der Typ hat ein nachgemachtes westliches Schwert geschärft, am Bahnhof Shinjuku damit um sich geschlagen und zwei Menschen getötet. Uff, das Schwert soll 120 Zentimeter lang und dreieinhalb Kilo schwer gewesen sein. Ich frage mich, wie er das überhaupt so schwingen konnte.«

»Es hieß, er war verwirrt, weil er Drogen genommen hatte, um die langen Spielsessions durchzuhalten … Der Fall allein betrachtet scheint jenseits von Gut und Böse zu sein, und es klingt blöd, aber insgesamt gesehen sind solche Fälle …«

»Ja, genauso ist es. Es ist nur ein Bruchteil aller Fälle von Körperverletzung im ganzen Land, und daraus kann man nicht einfach schlussfolgern, dass VRMMOs soziale Probleme verursachen würden. Aber wie du schon mal erwähnt hast …«

»… senken VRMMO-Spiele die Hemmschwelle, andere auch in der wirklichen Welt physisch zu verletzen. Ja, dem würde ich zustimmen.«

In diesem Moment tauchte der Kellner geräuschlos wieder auf und stellte zwei Teller sowie eine Tasse vor mir ab.

»Wäre das alles?«

Als ich nickte, legte er die Rechnung, auf der eine horrende Summe stehen musste, umgedreht auf den Rand des Tisches und verschwand. Ich nippte an meinem Kaffee, der ein nussiges Aroma verströmte, und sprach weiter: »In einem Teil der Spiele wird PK immer alltäglicher, und das ist gewissermaßen eine Trockenübung für einen echten Mord. In den radikaleren Titeln spritzt bei abgetrennten Körperteilen das Blut oder Gedärme fallen aus dem Bauch, wenn er aufgeschnitten wird. Manche Fanatiker sind davon so besessen, dass sie zum Ausloggen Selbstmord begehen.«

Ich vernahm ein Räuspern neben mir und sah, wie mich zwei Damen der Oberschicht scharf anstarrten. Ich zog den Kopf ein und fuhr leiser fort: »Wenn Leute so etwas jeden Tag machen, ist es nicht verwunderlich, wenn manche von ihnen das irgendwann auch mal in der Wirklichkeit ausprobieren wollen. Ich glaube schon, dass man da irgendwelche Maßnahmen ergreifen muss. Aber eine gesetzliche Regelung würde nicht funktionieren.«

»Würde sie nicht?«

»Nein.«

Vorsichtig häufte ich etwas von dem Kuchen aus mehreren Lagen dünnem Teig und rosa Creme auf einen goldenen Löffel und beförderte ihn in meinen Mund. Jeder Löffel von diesem Kuchen musste um die hundert Yen kosten, schoss es mir durch den Kopf. Während ich den Kuchen genoss, der mir auf der Zunge zerging, redete ich weiter über die grausigsten Themen.

»Man müsste sie im Internet isolieren. Der benötigten Bandbreite nach sind VRMMOs eher leichtere Inhalte, daher würden User und Betreiber einfach ins Ausland gehen, wenn man sie hierzulande zu sehr kontrollieren würde.«

»Hm …« Kikuoka sah mit ernstem Blick auf den Tisch und schwieg einige Sekunden, bevor er weitersprach. »Dein Mille-feuille sieht lecker aus. Gibst du mir etwas ab?«

Ich seufzte zum dritten Mal und schob meinen Teller zu Kikuoka hinüber. Freudig stopfte sich der Beamte Kuchen für etwa 280 Yen in den Mund.

»Aber weißt du, Kirito, ich frage mich … Was finden die Leute eigentlich an PK? Würde es nicht mehr Spaß machen, gut miteinander auszukommen, statt sich gegenseitig zu töten?«

»Sie spielen doch selbst ALO, also sollten Sie es nachvollziehen können. Schon lange vor der Entwicklung der Full-Dive-Technologie ging es bei MMORPGs immer um den Wettstreit. Wenn man es genau betrachtet, ist die Motivation der Spieler in den endlosen Onlinespielen … das instinktive Bedürfnis, sich überlegen zu fühlen, denke ich.«

»Oho?«

Kauend hob Kikuoka die Augenbrauen, als warte er auf weitere Erläuterungen. Innerlich fluchte ich, warum ich ihm so etwas erklären musste. Teils, um es ihm heimzuzahlen, sagte ich: »Das beschränkt sich nicht auf Spiele. Es ist doch die grundlegende Struktur unserer Gesellschaft, dass jeder anerkannt werden und andere übertreffen will. Das kennen Sie doch sicher von sich selbst. Selbst Beamte aus dem Ministerium sind neidisch auf die Kollegen, die von besseren Unis kommen und durch den Einfluss ihrer Unigruppe schnell Karriere gemacht haben. Dagegen fühlen Sie sich gut, wenn die Beamten ohne Karriere zu Ihnen aufsehen. Sie können nur so friedlich den Kuchen essen, weil Sie die richtige Balance zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Überlegenheit gefunden haben.«

Kikuoka schluckte das Mille-feuille herunter und grinste säuerlich. »Du nimmst kein Blatt vor den Mund, was? Und wie sieht es mit dir aus? Hast du die Balance gefunden?«

Natürlich hatte ich einen Haufen Komplexe, aber ich hatte nicht die geringste Lust, ihm das auf die Nase zu binden. Mit unbekümmertem Gesicht gab ich zurück: »Tja, immerhin habe ich eine Freundin.«

»Ja, darauf bin ich wirklich neidisch. Kannst du mir demnächst nicht mal ein paar Mädels in ALO vorstellen? Diese Sylphenfürstin ist genau mein Typ.«

»Ich sag Ihnen was, falls Sie versuchen, sie damit zu beeindrucken, dass Sie Staatsbeamter im höheren Dienst sind, sind Sie tot.«

»Ich würde mich gerne mal von ihr killen lassen … Also?«

»Also ist es schwierig, in der Wirklichkeit dieses Gefühl von Überlegenheit zu erreichen. Wenn man sich nicht anstrengt, wird man es kaum erlangen. Sich für gute Ergebnisse anzustrengen, für Erfolge im Sport, um cooler oder hübscher zu werden … Für all das braucht man nicht nur Zeit und Energie, man erzielt auch nicht so ohne Weiteres Erfolge.«

»Verstehe. Ich habe auch wie ein Verrückter für die Uni-Aufnahmeprüfungen gebüffelt und bin bei der Tokyo-Universität trotzdem durchgefallen«, sagte Kikuoka mit einem unerklärlich fröhlichen Grinsen.

Ohne darauf einzugehen, sprach ich schnell weiter: »Da kommen die MMORPGs ins Spiel. Wenn man auf Kosten des wirklichen Lebens Zeit ins Spiel investiert, kann man auf jeden Fall ziemlich stark werden und an seltene Items kommen. Dafür muss man sich zwar auch ins Zeug legen, aber es ist eben immer noch ein Spiel. Und es macht viel mehr Spaß als Lernen oder Krafttraining. Wenn man in seiner wertvollen Rüstung durch die Hauptstraße der Stadt läuft und seinen hohen Level zur Schau trägt, fühlt man die neidischen Blicke der schwächeren Charaktere auf sich … oder zumindest kann man sich das einbilden. In den Jagdgebieten kann man die Monster mit seiner irren Angriffskraft einfach umhauen und Spielern helfen, die in der Klemme stecken. Und wie sie dann voller Dankbarkeit und Bewunderung zu einem aufsehen …«

»Oder zumindest kann man sich das einbilden?«

»Natürlich ist das eine einseitige Sichtweise. In MMO-Games gibt es auch noch andere Faktoren. Es gab schon früher Onlinespiele, deren Hauptzweck die Kommunikation mit anderen Spielern war, aber sie waren nie so erfolgreich wie die MMORPGs.«

»Verstehe, weil es in diesen Spielen schwierig war, sein Bedürfnis nach Überlegenheit zu befriedigen?«

»Genau. Und dann kamen die VRMMOs raus. In denen kann man tatsächlich die Blicke der anderen Spieler spüren und muss es sich nicht nur durch einen Monitor vorstellen.«

»Mhm. Wenn du mit Asuna durch Yggdrasil City läufst, werdet ihr in der Tat von allen Seiten bewundert.«

»Sie nehmen ja auch kein Blatt vor den Mund, was? Jedenfalls, solange man genug Zeit in ein VRMMO-Spiel steckt, kann jeder ein gewisses Gefühl von Überlegenheit erlangen. Und zwar von der Art, die einem viel simpleren, primitiveren Instinkt der Menschen entspricht, als gute Noten zu bekommen, gut Fußball spielen zu können oder viel Geld zu haben.«

»Nämlich …?«

»Nämlich ›Stärke‹. Physische, körperliche Stärke. Die Kraft, seinen Gegner mit den eigenen Händen zu vernichten. Es ist wie eine Droge.«

»Stärke … mit anderen Worten, die größte Macht, was?«, murmelte Kikuoka irgendwie sehnsüchtig. »Jeder Junge sehnt sich irgendwann mal nach Stärke … Man liest einen Manga über Kampfkünste und versucht, genauso zu trainieren. Aber meist muss man bald einsehen, dass man nie so gut werden wird, und wendet sich realistischeren Zielen zu … Verstehe, aber in den VRMMOs kann man diese Träume weiter verfolgen, nicht wahr?«

»Ja. Einige Beat ’em ups sind so um Realismus bemüht, dass sie mit tatsächlichen Kampfkunst-Schulen kooperieren.«

»Oh? Und das bedeutet?«

»Kurz gesagt, wenn man seinen Charakter im Spiel hochlevelt, kann man ein Meister des Karate der Soundso-Schule oder des XYZ-Kung-Fus werden. Das Setting ist eine realistische Nachbildung von Shinjuku oder Shibuya, wo man allen Gangstern mit seinen Fäusten einen Denkzettel verpassen kann. Aber natürlich bringt einem das Spiel nicht die entsprechende Einstellung eines Kampfkünstlers bei. Leute, die komplett in solchen Spielen versinken, wollen die Techniken, die sie mit ihrem Avatar gelernt haben, auch in der Wirklichkeit ausprobieren … Und ich denke, man kann leider nicht völlig ausschließen, dass nicht doch mal jemand noch einen Schritt weiter geht und es tut.«

»So ist das also … Die ›Stärke‹ in der Welt der VRMMOs dringt in die Wirklichkeit ein. Sag mal, Kirito …« Kikuoka sah mich erneut ernst an. »Denkst du, das ist wirklich eine rein psychologische Frage?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, dass nicht nur die Hemmschwelle gegenüber Gewalt gesenkt wird oder Wissen und Techniken antrainiert werden … Könnte es nicht vielleicht auch einen tatsächlichen physischen Effekt auf den Körper des Spielers haben?«

Dieses Mal war ich es, der in Gedanken versank.

»Sie meinen, ob zum Beispiel dieser Kerl, der in Shinjuku mit dem dreieinhalb Kilo schweren Schwert rumgefuchtelt hat, durch den Effekt der Spielwelt Muskeln aufgebaut hat …?«

»Ja, genau.«

»Hmm … die Wirkung der Full-Dive-Geräte auf das Nervensystem wird immer noch erforscht. Weil man grundsätzlich dabei im Bett liegt, müsste die eigentliche Körperkraft sinken, aber vielleicht könnte es so eine vorübergehende Leistungssteigerung sein wie die enorme Kraft, die manche in Extremsituationen aufbringen … So etwas müssten Sie aber doch besser wissen als ich?«

»Ich habe mich mit einem Spezialisten für die Physiologie des Großhirns unterhalten, aber da kam nur Fachchinesisch. Jetzt sind wir aber ziemlich vom Thema abgekommen, eigentlich ging es heute hierum. Sieh dir das hier mal an.« Kikuoka bediente das Tablet und reichte es mir.

Ich nahm es entgegen und warf einen Blick auf das LCD-Display, auf dem das Porträt eines mir unbekannten Mannes sowie sein Profil mit seinen Adressdaten und Ähnlichem abgebildet wurden. Langes, unfrisiertes Haar, eine silbern gerahmte Brille und recht speckige Wangen und Nacken.

»Wer ist das …?«

Kikuoka nahm das Tablet zurück und ließ seine Finger darüberfliegen. »Äh, letzten Monat … am vierzehnten November war das. Der Vermieter eines Apartmentgebäudes in Nakano, Tokyo, bemerkte beim Putzen einen komischen Gestank. Er hat an der Gegensprechanlage der Wohnung geklingelt, aus der der Gestank zu kommen schien, aber es kam keine Antwort. Auch ans Telefon ging niemand. Allerdings war in der Wohnung das Licht an. Also hat er das elektronische Schloss aufgesperrt und ist in die Wohnung gegangen, wo er diesen Mann tot auffand … Tamotsu Shigemura, 26 Jahre alt. Offenbar waren seit seinem Tod fünfeinhalb Tage vergangen. Die Wohnung war chaotisch, aber es gab keine Anzeichen von Verwüstung. Die Leiche lag auf dem Bett, und auf ihrem Kopf …«

»Ein AmuSphere?«

Während vor meinem inneren Auge das Bild des Full-Dive-Geräts aus zwei übereinanderliegenden Metallringen auftauchte, von dem auch in meinem Zimmer ein Exemplar lag, nickte Kikuoka leicht.

»Exakt. Seine Familie wurde sofort kontaktiert und wegen des unnatürlichen Todes eine Obduktion durchgeführt. Die Todesursache war akutes Herzversagen.«

»Herzversagen? Das heißt doch, dass das Herz stehen geblieben ist, oder? Warum ist es stehen geblieben?«

»Das wissen wir nicht. Da seit seinem Tod schon zu viel Zeit verstrichen war und es keine Anzeichen eines Verbrechens gab, wurde keine allzu detaillierte Obduktion durchgeführt. Allerdings war er offenbar etwa zwei Tage lang eingeloggt gewesen, ohne etwas zu essen.«

Ich runzelte erneut die Stirn.

Offen gesagt waren solche Geschichten nicht ungewöhnlich. Schließlich riefen virtuelle Nahrungsmittel, die man im Spiel zu sich nahm, ein künstliches Sättigungsgefühl hervor, obwohl man in Wirklichkeit nichts gegessen hatte. Die richtigen Hardcore-Gamer sparten sich damit Geld fürs Essen und hatten mehr Zeit zum Spielen, nicht wenige von ihnen aßen nicht einmal jeden Tag etwas, sondern nur einmal in zwei Tagen.

Doch ein solches Vorgehen hatte natürlich früher oder später negative Auswirkungen auf den Körper. Häufig kam es zu Unterernährung, und wenn ein allein lebender Spieler einen Anfall hatte und zusammenbrach, blieb er einfach so liegen … Auch das geschah nicht selten.

Für einen Moment schloss ich die Augen und sprach ein stilles Gebet für Shigemura. Dann sagte ich: »Das ist wirklich eine traurige Geschichte, aber …«

»Ja, es ist traurig, aber so etwas kommt dieser Tage häufig vor. Solch ein Tod schafft es nicht mal in die Nachrichten, und da auch die Familien möglichst verheimlichen, dass ihr Angehöriger in einem Spiel gestorben ist, kann man keine Statistiken aufstellen. Gewissermaßen trägt das auch zu den Toden durch VRMMOs bei …«

»Aber Sie haben mich doch nicht hergerufen, um über die allgemeine Situation zu reden, oder? Was ist so besonders an diesem Fall?«

Auf meine Frage hin warf Kikuoka einen schnellen Blick auf sein Tablet und antwortete dann: »Auf Shigemuras Amu-Sphere war nur ein VR-Spiel installiert. Gun Gale Online … sagt dir das etwas?«

»Ja … natürlich. Das ist das einzige Spiel in Japan mit Pro-Gamern. Ich hab es aber noch nie gespielt.«

»Er war offenbar ein Topspieler in Gun Gale Online oder kurz GGO. Anscheinend war er der Gewinner eines Events im Oktober, das über die besten Spieler entscheidet. Sein Charaktername ist ›XeXeeD‹.«

»Dann war er in GGO eingeloggt, als er starb?«

»Nein, offenbar nicht. Es geschah während eines Auftritts mit seinem Charakter XeXeeD bei einer Show des Online-Senders ›MMO Stream‹.«

»Ach … bei MSTs Gewinner der Woche? Ich glaube, ich habe irgendwo gehört, dass sie die Sendung einmal abbrechen mussten, weil ein Gast sich ausgeloggt hatte …«

»Das wird es gewesen sein. Er hatte wohl während seines Auftritts einen Herzinfarkt. Durch das Log ist uns die Zeit bis auf die Sekunde genau bekannt. Das Folgende sind noch unbestätigte Informationen, doch exakt zum gleichen Zeitpunkt, als er den Anfall erlitt, soll in GGO etwas Merkwürdiges vorgefallen sein, wie ein User in einem Blogpost schrieb.«

»Etwas Merkwürdiges?«

»Du weißt, dass MMO Stream auch innerhalb von GGO übertragen wird?«

»Ja. Man kann es in Bars und so gucken.«

»Es wurde auch in einer Bar in der Hauptstadt der GGO-Welt namens ›SBC Glocken‹ ausgestrahlt. Und genau zum betreffenden Zeitpunkt soll sich ein Spieler seltsam verhalten haben.«

»Wie?«

»Es hieß, er hätte etwas von ›richten‹ und ›stirb‹ gebrüllt und mit seiner Waffe auf XeXeeD im Fernsehen gefeuert. Einer der Augenzeugen hat davon zufälligerweise eine Audioaufzeichnung gemacht und auf ein Videoportal hochgeladen. In der Datei ist auch ein Zeitstempel der Japanischen Standardzeit gespeichert … Mal sehen … Der Schuss auf den Fernseher war um 23:30 Uhr und zwei Sekunden, am 9. November. Shigemuras plötzliches Verschwinden aus der Sendung war um 23:30 Uhr und fünfzehn Sekunden.«

»Wahrscheinlich ein Zufall …«, sagte ich, während ich den zweiten Teller zu mir zog.

Ich grub meinen Löffel in das braune zylindrische Etwas und steckte ihn mir in den Mund. Sogleich war ich überrascht von der Kälte. Ich hatte gedacht, es sei Kuchen, aber es war mehr wie Eiscreme. Ein intensives Aroma von Schokolade mit nur einem Hauch von Süße breitete sich in meinem Mund aus und überdeckte den bitteren Geschmack, den Kikuokas Geschichte verursacht hatte.

Nachdem ich ein Drittel davon gegessen hatte, sprach ich weiter: »Der Neid und Hass, den die Topspieler in GGO auf sich ziehen, steht in keinem Vergleich zu anderen MMOs. Um direkt auf ihn zu schießen, bräuchte man Mut, aber es ist nicht wirklich überraschend, dass jemand auf sein Bild im Fernsehen schießt.«

»Gut, allerdings gab es noch einen weiteren Fall.«

»Was …?« Der Löffel in meiner Hand stoppte, und ich sah zu Kikuoka auf, der immer noch ein Pokerface hatte.

»Dieser Fall ereignete sich vor etwa zehn Tagen, am 28. November in Omiya in der Präfektur Saitama. In einer Wohnung eines zweistöckigen Apartmentgebäudes wurde eine Leiche gefunden. Ein Zeitungsvertreter wurde wütend, weil niemand antwortete, obwohl das Licht an war, und er dachte, der Bewohner würde nur so tun, als sei er nicht da. Also hat er den Türknauf gedreht und festgestellt, dass nicht abgeschlossen war. Als er einen Blick hineinwarf, sah er jemanden mit einem AmuSphere auf dem Kopf auf einem Futon liegen, und auch hier stank es nach …«

Ähem! Ein gekünsteltes Hüsteln unterbrach unser Gespräch, und als wir zum Nebentisch hinübersahen, blickten uns die beiden Damen von vorhin mit bösen Blicken an. Kikuoka bewies eine überraschende Unerschrockenheit und nickte ihnen lediglich kurz zu, um dann fortzufahren: »Nun, lassen wir den detaillierten Zustand der Leiche mal aus. Auch hier war Herzversagen die Todesursache. Sein Name war … den können wir hier wohl auch beiseitelassen. Es war ein Mann, 31 Jahre alt. Und auch er war ein einflussreicher Spieler in GGO. Sein Charaktername war … ›Usujio Tarako‹*? Ob das so stimmt?«

»In SAO gab es damals einen ›Hokkai Ikura‹, also ›Nordseelachsrogen‹, vielleicht sind die beiden ja verwandt. Und dieser Tarako war auch im Fernsehen?«

»Nein, diesmal geschah es im Spiel. Anhand der Log-Datei seines AmuSphere konnte ermittelt werden, dass seine Verbindung drei Tage vor der Entdeckung der Leiche abbrach, am 25. November um 22:00 Uhr und vier Sekunden. Das entspricht in etwa dem vermuteten Todeszeitpunkt. Er befand sich zu dieser Zeit bei einem Treffen seiner Schwadron – so werden dort anscheinend Gilden genannt – auf dem Hauptplatz von Glocken. Als er gerade eine hitzige Rede auf einem Podium hielt, drängte sich ein Spieler in das Treffen hinein und erschoss ihn. Offenbar erlitt er keinen Damage, weil es innerhalb der Stadt geschah, aber als er ärgerlich auf den Schützen zugehen wollte, war er anscheinend plötzlich offline. Auch diese Informationen stammen aus einem Internetforum, daher fehlt es an präziseren Angaben …«

»War der Schütze derselbe Spieler wie bei ›XeXeeD‹?«

»Das ist anzunehmen. Nachdem er Worte wie ›richten‹ und ›Macht‹ fallen ließ, nannte er denselben Charakternamen wie beim vorigen Fall.«

»Welchen?«

Kikuoka sah auf sein Tablet und runzelte die Stirn.

»Death Gun …«

»Death … Gun …«

Mit anderen Worten: Todespistole.

Ich legte den Löffel auf dem inzwischen leeren Teller ab und murmelte den Namen mehrfach leise vor mich hin. Selbst wenn ein Charaktername nur im Scherz gewählt wurde, trug er definitiv zum Eindruck des Charakters bei. Der Klang eines Namens wie Death Gun ließ mich an die Kälte von schwarzem Metall denken.

»Ist sicher, dass XeXeeD und Usujio Tarako an Herzversagen gestorben sind?«

»Warum fragst du?«

»Es gab … keine Schäden an ihren Gehirnen?«

Sobald ich die Frage ausgesprochen hatte, grinste Kikuoka, als hätte er meinen Gedankengang verstanden.

»Die Frage hat mich ebenfalls beschäftigt. Ich habe den Pathologen befragt, der für die Obduktionen zuständig war. Es wurden offenbar keine Anomalien wie Blutungen oder Blutgerinnsel gefunden.«

Ich schwieg und gab ihm Zeit, fortzufahren.

»Im Falle des NerveGears … oh, ist es okay für dich, wenn ich darüber spreche?«

»Sicher.«

»Das NerveGear sendet derart leistungsfähige elektromagnetische Wellen, dass die Transmitter durchbrennen und Teile des Gehirns zerstört werden können. Das AmuSphere ist so konzipiert, dass es solch starke Wellen gar nicht erst aussenden kann. Die Entwickler haben uns versichert, dass das Gerät lediglich Informationen auf einem extrem sanften Level an die fünf Sinne wie das Sehen oder Hören senden kann.«

»Sie haben also sogar schon die Hersteller dazu befragt? Sie haben sich ja gut vorbereitet, Herr Kikuoka. Und das alles wegen Infos, die aus Zufällen und Gerüchten bestehen?«

Unverwandt sah ich in seine schmalen Augen hinter den Brillengläsern, woraufhin sein Gesicht für einen Augenblick ausdruckslos wurde. Dann lächelte er sofort wieder.

»Seit meiner Versetzung habe ich wirklich viel Zeit.«

»Dann helfen Sie uns doch mal demnächst an der Front in Aincrad. Eugene hat Ihr Talent als Magier gelobt.«

Tatsächlich hielt ich ihn nicht für einen derart ignoranten Bürohengst, wie es sein Aussehen und Benehmen vermuten ließen. Er hatte sich nicht aus Interesse an Spielen einen Charakter in ALO erstellt, sondern weil er so besser an Informationen über die VR-Welt gelangen konnte. Auf der Visitenkarte, die er mir seinerzeit überreicht hatte, standen in der Tat das Ministerium für Inneres und sein Posten, aber selbst das erschien mir irgendwie fragwürdig. Ich ging davon aus, dass er in Wahrheit zu einer Abteilung gehörte, die in engerem Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit stand.

Doch wie dem auch sei, als die derzeitige »Abteilung für Virtuelles« noch die »Sondereinheit zur Rettung der Opfer des SAO-Vorfalls« gewesen war, war offenbar dank der Bemühungen dieses Mannes ein System aufgestellt worden, mit dem alle Spieler in Krankenhäuser verlegt wurden. Deswegen und auch wegen seiner Hilfe bei meiner Suche nach Asuna hatte ich mich dazu entschieden, im Umgang mit ihm sechzig Prozent Wohlwollen und vierzig Prozent Vorsicht walten zu lassen.