Syltsterne - Sibylle Narberhaus - E-Book + Hörbuch

Syltsterne E-Book und Hörbuch

Sibylle Narberhaus

5,0

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  • E-Book-Herausgeber: GMEINER
    Hörbuch-Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Das plötzliche Verschwinden des umjubelten Sternekochs Ralph Börner stellt die Sylter Polizei vor ein Rätsel. Bei der Suche trifft sie auf einen undurchsichtigen Journalisten, während gleichzeitig eine Gruppe junger Umweltaktivisten auf sich aufmerksam macht. Als der Journalist tot in seinem Hotel aufgefunden wird, stellt sich die Frage nach den Hintergründen der Tat. Entgegen aller Versprechungen steckt Landschaftsarchitektin Anna Scarren ihre Nase zu tief in anderer Leute Angelegenheiten und sitzt prompt selber in der Falle.

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Seitenzahl: 299

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Zeit:7 Std. 38 min

Sprecher:Ulla Wagener

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Sibylle Narberhaus

Syltsterne

Kriminalroman

Zum Buch

Ausgekocht Das plötzliche Verschwinden des umjubelten Sternekochs Ralph Börner stellt die Sylter Kriminalbeamten Nick Scarren und Uwe Wilmsen vor ein Rätsel. Im Zuge der Suche treffen sie auf einen undurchsichtigen Journalisten, der im selben Hotel wie der Sternekoch abgestiegen ist. Ein Zufall? Gleichzeitig macht eine Gruppe junger Umweltaktivisten mit fragwürdigen Aktionen auf sich aufmerksam und hält die Sylter Polizei in Atem. Als der Journalist kurz darauf tot in seinem Hotel aufgefunden wird, stellt sich die Frage nach den Hintergründen. Welche Rolle spielt die Managerin des Sternekochs in dem Fall? Entgegen aller Versprechungen, sich nicht in die laufenden Ermittlungen einzumischen, steckt Landschaftsarchitektin Anna Scarren ihre Nase wieder einmal zu tief in anderer Leute Angelegenheiten. Dabei macht sie eine überraschende Entdeckung – und sitzt prompt selber in der Falle.

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Hauptberuflich arbeitet sie bei einem internationalen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zum Meer und insbesondere zu der Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen für Geschichten rund um die Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © christian meurer/EyeEm / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7278-7

Kapitel 1

Ein zaghaftes Knabbern an seinem linken Ohrläppchen ließ ihn wohlig grunzen.

»Mach weiter«, brummte er mit geschlossenen Augen. Jetzt schien sie einen Gang höher zu schalten, denn er spürte ihre Fingernägel, die sich beinahe schmerzhaft in seine Brust bohrten. Dazu gab sie diese seltsamen Laute von sich, die er nicht einzuordnen vermochte. Sie verunsicherten ihn zusehends. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. War alles ein Traum? Er riss die Augen auf. Nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, blickte er in ein rot umrändertes kleines Auge, das ihn aus einem schief liegenden Kopf neugierig beobachtete. Durch seinen Aufschrei aufgeschreckt, flatterte das braune Huhn aufgescheucht und laut gackernd zu Boden, wo es sich zu weiteren Artgenossen flüchtete. Als er sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, wollte er sich aufsetzen und musste feststellen, dass er an Arm- und Beingelenken an ein eisernes Bettgestell mit einer dünnen Matratze darauf gefesselt war. Er wünschte, alles wäre bloß ein böser Traum und er würde jeden Moment aufwachen. Doch er befand sich in der nüchternen Realität. Wenn das ein Scherz sein sollte, konnte er nicht darüber lachen. Er verlor keine Zeit und versuchte, sich von den Fesseln zu befreien. Vergeblich. Je mehr er zog und daran herumriss, desto tiefer schnitten die Kabelbinder ihm schmerzvoll in die Haut. Panik ergriff von ihm Besitz. Eine Hitzewelle durchflutete seinen Körper und trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn. Was war geschehen? Er versuchte krampfhaft, den vergangenen Abend Schritt für Schritt in seinem Kopf zu rekonstruieren, jedoch ohne Erfolg. So sehr er sich anstrengte, in seinem Gedächtnis klaffte ein riesiges Loch. Er wusste nur noch, dass es Streit gab. Mit wem und warum, daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Die einzelnen Puzzleteile seiner Erinnerung waren wild durcheinandergemischt und ließen sich nicht zusammensetzen. Hatte er am Ende so viel getrunken, dass dies zu einem kompletten Filmriss geführt hat? Das war ihm seit einer Ewigkeit nicht mehr passiert. Infolge einer durchzechten Nacht dröhnte ihm zudem regelmäßig gehörig der Schädel, und er hatte sich übergeben müssen. Doch weder das Eine noch das Andere war der Fall gewesen. Nach einer Weile des Grübelns sah er sich nach möglichen Anhaltspunkten um, die Aufschluss auf seinen momentanen Aufenthaltsort geben könnten. Augenscheinlich befand er sich in einer Art Gartenschuppen oder altem Stallgebäude, denn in einer Ecke erkannte er neben einem Spaten und einer Harke weitere Utensilien, die bei der Gartenarbeit zum Einsatz kamen. In einem Regal an der Wand befanden sich unzählige ineinander gestapelte Blumentöpfe unterschiedlicher Größe sowie diverse Gefäße und Gläser. In unmittelbarer Nähe türmte sich ein Berg Gerümpel neben einem alten verrosteten Traktor auf. Wenn er den Kopf weit genug nach links oben drehte, konnte er eine kleine Tür erspähen. Sie führte in einen Anbau, vermutlich den Hühnerstall. Bei dem Versuch, eine bequemere Liegeposition einzunehmen, pikste etwas Spitzes in seinen Rücken. Eine Matratzenfeder hatte sich vermutlich erfolgreich den Weg an die Oberfläche gesucht. Der plötzliche Schmerz sowie die Erkenntnis über die Aussichtslosigkeit, sich aus eigener Kraft aus der misslichen Lage befreien zu können, überrollten ihn mit ungeheurer Wucht.

»Hilfe!«, rief er. »Hört mich jemand? Hilfe!«

Seine Rufe trug der Wind zusammen mit den Schreien der Möwen weit hinaus in das Watt, wo sie ungehört verhallten.

Nach einer Weile vernahm er Schritte, und Hoffnung keimte ihn ihm auf. Jetzt machte sich jemand an der Tür zu schaffen, und gleich darauf wurde das hölzerne Tor mit einem Quietschen geöffnet. Im Gegenlicht konnte er deutlich die Umrisse einer Person erkennen. Als sie dichter an ihn herantrat, durchströmte ihn Erleichterung.

»Du bist das! Deine Witze waren echt schon besser! Worauf wartest du? Mach’ mich endlich los!«

Kapitel 2

Berlin, eine Woche zuvor

»Das klingt ausgezeichnet. Kann ich mich 100-prozentig darauf verlassen?« Sie hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, um sich gleichzeitig Notizen zu machen. Ihr linker Fuß wippte nervös auf und ab, sodass ihr Absatz auf dem glatten Parkettboden ein rhythmisches Klacken verursachte. Anschließend wanderte ihr Blick zur offenen Bürotür, in der ein kräftiger Mann mit grau meliertem Haar ungeduldig wartete. Mit einem »Moment«, das sie mit den Lippen formte, winkte sie ihn näher und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Ohne Zögern folgte er der Aufforderung und ließ sich auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch nieder. Während er auf das Ende des Telefonates wartete, ließ er seine Augen über den Schreibtisch wandern, der derart aufgeräumt war, als würde daran nicht gearbeitet werden. Neben dem Laptop und einer Teetasse aus feinem Porzellan befand sich darauf lediglich ein Notizblock, auf den neben handschriftlichen Notizen unzählige Linien und Kreise ohne erkennbare Struktur gekritzelt worden waren. Das Telefongespräch war zu Ende, und sie legte auf.

»Ich habe etwas äußerst Vielversprechendes für Sie«, kam sie, ohne Umschweife und ohne auch nur eine Sekunde an eine der obligatorischen Begrüßungsfloskeln zu verschwenden, auf den Punkt.

»Ihnen ebenfalls einen wunderschönen guten Morgen«, erwiderte er betont freundlich.

»Jaja, geschenkt. Ich habe einen heißen Insidertipp bekommen und dabei sofort an Sie gedacht. Sie sind genau der richtige Mann für diesen Job.«

»Was Sie nicht sagen.« Er gab sich bewusst unbeeindruckt, obwohl er innerlich brannte zu erfahren, worum es bei dem Auftrag im Detail ging. »Darf ich zunächst erfahren, warum ausgerechnet ich der Auserwählte bin?«

»Geben Sie sich keine Mühe, dafür kenne ich Sie zu gut und zu lange, mein Lieber. Sie können es kaum erwarten zu erfahren, worum es geht.« Sie lächelte herablassend.

Er zuckte daraufhin lapidar die Achseln.

»Ich weiß, dass das exakt eine Story nach Ihrem Geschmack ist. Das wird einschlagen wie eine Bombe, das verspreche ich Ihnen. Das wird die Auflage in astronomische Höhen schnellen lassen.« Ihre dunklen Augen funkelten bei dem Gedanken.

»Glauben Sie? Das muss ja enorme Sprengkraft besitzen.«

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Und Sie werden Ihren Teil dazu beitragen. Oder wühlen Sie nicht mehr mit Vorliebe im Dreck anderer Leute? Ich verlasse mich auf Sie.« Sie zielte mit dem Zeigefinger direkt auf ihn.

Nach wie vor ließ er sich seine Neugierde nicht anmerken. Ein Bein lässig über das andere geschlagen, sah er zu ihr. »Worum geht es im Detail?«

»Ich verrate nur so viel: Gastronomie!«

»Gastronomie? Ohne mich. Ich denke, Sie suchen sich besser jemand anderen für den Job.« Er war im Begriff aufzustehen, als sie etwas auf einen kleinen Zettel notierte und ihm über den Schreibtisch zuschob.

»Ich bin überzeugt, das wird Ihre Meinung ändern.« Gespannt verfolgte sie sein Mienenspiel.

Er musste sich ein Stück nach vorne lehnen, um das Geschriebene besser entziffern zu können. Spätestens jetzt sollte er sich über die Anschaffung einer neuen Brille Gedanken machen.

»Hm«, überlegte er und, seine anfängliche Gegenwehr löste sich schlagartig in Luft auf.

»Die Sache hat nur einen Haken.« Sie spitzte die Lippen und trommelte mit ihren knallrot lackierten Fingernägeln auf die Tischplatte, ohne ihren Gesprächspartner aus den Augen zu lassen.

»Wusste ich es doch«, brummte er und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. »Und zwar?«

»Sylt«, sagte sie und beobachtete ihn aufmerksam.

Meeno Lenschmanns Abneigung gegen diese Insel war ein offenes Geheimnis in der Redaktion. Zwar kannte niemand die genauen Hintergründe, eigentlich spielten sie auch keinerlei Rolle, aber umso mehr war sie auf seine Reaktion gespannt. Sie würde jede Wette eingehen, er würde den Auftrag trotz dieses Pferdefußes annehmen. Allein aufgrund der Tatsache, dass er sich regelmäßig in finanziellen Schwierigkeiten befand. Das war hinreichend bekannt.

»Das heißt im Klartext, ich muss zwingend nach Sylt?«, vergewisserte er sich nach angemessener Bedenkzeit.

Sie nickte zufrieden. »Erraten!«

»Keine Alternative? Heutzutage ist durch Technik beinahe alles möglich. Das wurde in Pandemiezeiten eindrucksvoll bewiesen. Ich könnte …«

»Nein«, unterbrach sie ihn unmissverständlich und ließ somit keinerlei Verhandlungsspielraum offen.

»Ich hege eine gewisse Abneigung in Bezug auf die Insel und alles, was damit einhergeht«, bekräftigte er und gab sich keine Mühe, mit seinem Unmut hinter dem Berg zu halten.

»Das ist mir bekannt. Ich kann gerne einen anderen Kollegen fragen, wenn Ihnen das Opfer zu groß sein sollte«, reagierte sie kühl. »Michael Ronski beispielsweise. Er würde, ohne mit der Wimper zu zucken, nur allzu gern nach dieser Gelegenheit greifen. Ich wollte Ihnen lediglich den Vortritt lassen, aber Sie können natürlich gerne weiterhin Ihre Zeit damit verschwenden, das Haar in den Suppen zweitklassiger Restaurants zu suchen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« Sie sagte dies so beiläufig wie möglich. Raffiniert legte sie somit den Köder aus, von dem sie überzeugt war, er würde ihn schlucken. Allein bei der Nennung des Namens seines Intimfeindes würde er alle persönlichen Befindlichkeiten über Bord werfen. Er gönnte dem Kollegen nicht die Butter auf dem Brot. Diesen Umstand machte sie sich zunutze. Lenschmann war zweifelsohne die bessere Wahl für den Job, da er sowohl skrupel- als auch vollkommen kompromisslos agierte. Sie schätzte seinen wachen Instinkt, den scharfen Verstand und die Beharrlichkeit, die er bei seinen Recherchen an den Tag lehnte. Wenngleich diese hervorstechenden Fähigkeiten in der letzten Zeit zu verwässern schienen, da er sie mehr und mehr in Alkohol zu ertränken drohte. Sie hoffte, er würde die Chance ergreifen, das Ruder herumzureißen, um zu dem Journalisten zu werden, der er einst war.

Sie beobachtete ihn genau. Anhand seiner Miene war zu erkennen, wie Gefühl und Vernunft um die Vorherrschaft rangen.

»Okay, ich mache es«, willigte er zähneknirschend ein, wohl wissend, dass er in Anbetracht der gähnenden Leere auf seinem Konto ohnehin keine andere Wahl hatte, als den Auftrag anzunehmen. Das Geld konnte er mehr als gut gebrauchen, denn sein Vermieter hatte ihm erst unlängst deutlich zu verstehen gegeben, was passieren würde, sollte er mit der Miete abermals in Rückstand geraten. In Berlin eine einigermaßen bezahlbare Wohnung zu finden, glich einem Lotteriespiel.

»Ich bräuchte allerdings einen kleinen Vorschuss, Sylt ist schließlich ein teures Pflaster«, betonte er. Dabei wies er auf den Zettel mit der verlockenden Summe darauf, der nach wie vor auf dem Schreibtisch lag und ihn nahezu magnetisch anzog.

»Wollen Sie gar nicht wissen, worum es im Einzelnen geht?« Die Scheinheiligkeit in ihrer Frage blieb ihm nicht verborgen.

»Sie werden es mir gleich sagen.«

Sie öffnete die Schreibtischschublade, nahm einen braunen Umschlag heraus und schob ihn über die Schreibtischplatte. »Warten Sie! Sehen Sie sich später alles in Ruhe an«, bat sie, als er ihn öffnen wollte.

»Wie Sie meinen. Liege ich mit meiner Annahme richtig, dass Sie ein persönliches Interesse an der Sache haben?« Er sah sie prüfend an.

Ihr Gesichtsausdruck spiegelte Zufriedenheit wider. »Ich wusste von Anfang an, dass Sie der Richtige für die Story sind.« Die rot geschminkten Lippen verliehen ihren schneeweißen Zähnen zusätzliche Strahlkraft beim Lachen.

»Worauf Sie sich verlassen können.«

Kapitel 3

Sylt, ein Tag zuvor

»Ich bin noch nie auf Sylt gewesen«, verkündete Lara mit Blick aus dem Zugfenster, während draußen die Wiesen und Ackerflächen an ihnen vorbeizogen. »Warst du schon mal auf Sylt, Lukas?«

»Als Kind war ich einmal in den Sommerferien dort. Das ist ewig lange her«, erinnerte sich Lukas, ohne von seinem Handy aufzusehen. Lara glaubte, eine Spur Melancholie in seinen Worten zu erkennen.

»Später nicht mehr?«, vergewisserte sie sich.

»Nein.« Seine Antwort fiel derart schroff aus, dass Lara von weiteren Nachfragen absah. Um sich ihre Enttäuschung über diese rüde Abfuhr nicht anmerken zu lassen, richtete sie den Blick erneut nach draußen.

Gewaltige Windräder streckten sich gen Himmel, und ihre riesigen Rotorblätter drehten sich im Wind. Zu ihren Füßen grasten unzählige Schafe auf den saftig grünen Wiesen und schienen sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen zu lassen. Linkerhand passierte der Zug soeben eine umzäunte Fläche mit etlichen Solarfeldern, zwischen denen ebenfalls Schafe weideten oder sich unter den Fotovoltaik Paneelen im Schatten eine Pause gönnten.

»Langsam haben sie es kapiert. Normalerweise müsste es viel mehr von diesen Anlagen geben, aber immerhin ein Anfang«, bemerkte Lara und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

»Wenn du mich fragst, ist das bloß ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Grunde ist das nichts weiter als ein Placebo, um das schlechte Gewissen zu beruhigen und zusätzlich fette EU-Fördermittel abzukassieren. Die Klimakatastrophe ist nicht mehr aufzuhalten, wenn weiterhin der Ernst der Lage mit leeren Worthülsen verharmlost wird. Die Zeche werden wir und Generationen nach uns zahlen«, prophezeite Moritz mit verächtlicher Miene.

»Hört, hört! Das sagt einer, dessen Vater mit einem dicken Geländewagen durch die Gegend fährt und regelmäßig im Privatjet in der Weltgeschichte unterwegs ist«, erwiderte Ann-Kathrin verschnupft.

»Was kann ich dafür, dass mein Alter und seinesgleichen das mit dem Klima nicht schnallen? Ich fahre jedenfalls keine Protzkarre«, konterte Moritz angriffslustig.

»Der Wagen deines Vaters haut unterm Strich weniger Schadstoffe in die Luft als dein klappriger, uralter VW-Bus. Schon mal drüber nachgedacht?«, schaltete sich Lukas ein, den Blick weiterhin stur auf sein Smartphone gerichtet.

»Das ist wieder typisch, dass du deinen Senf dazugeben musst. Von Autos verstehst du ohnehin nichts! Du hast nicht mal eines!« Moritz schnaubte verächtlich.

»Eben. Ich brauche auch kein eigenes.«

»Moritz, Lukas, hört endlich auf, euch permanent zu streiten! Wenn das so weitergeht, können wir unsere Mission gleich begraben. Ich dachte, wir verfolgen ein gemeinsames Ziel und ziehen alle an einem Strang? Ihr benehmt euch wie Kleinkinder!« Ann-Kathrin zog verärgert die Augenbrauen zusammen.

»Zu Befehl, Chefin!« Moritz richtete sich kerzengerade auf und salutierte mit militärischem Gruß, worauf Lara in albernes Lachen verfiel.

»Sehr witzig«, murmelte Ann-Kathrin und verdrehte genervt die Augen.

In den kommenden Minuten sprach niemand ein Wort. Die Landschaft zog vorbei, die Sonne strahlte von einem blauen Himmel, wie er auf einer Postkarte nicht hätte schöner sein können. Vereinzelt schwebten kleine weiße Schönwetterwolken vorüber, die sich auf dem ruhigen Wasser rechts und links des Hindenburgdammes spiegelten.

»Seht mal! Das sieht aus, als würden Himmel und Meer eine Einheit bilden. Diese Weite und die Farben, einfach wunderschön! Alles ist so friedlich.«

»Von wegen friedlich. Da draußen herrscht Krieg!« Moritz deutete aus dem Fenster.

»Was meinst du mit Krieg?«, wollte Lara wissen und sah ihn verständnislos an.

»Du brauchst nur genau hinzusehen. Siehst du die Vögel dort?« Sie nickte. »Die werden gleich Unmengen von Krebsen, Muscheln und andere Kleinstlebewesen verspeisen, bevor sie selbst zu Gejagten werden.« Das Mädchen sah ihn aus großen Augen an. »Tja, fressen und gefressen werden. Im ersten Augenblick mag das grausam erscheinen, aber das ist das Leben. Hart und unerbittlich. Da ist kein Platz für romantische Schwärmereien«, philosophierte er weiter.

»Lass gut sein, Moritz«, schritt Ann-Kathrin ein, der Laras zunehmendes Unbehagen nicht verborgen blieb.

»Wieso? Ich versuche lediglich, unserer naiven Stadtpflanze klarzumachen, dass die scheinbare Idylle trügt.«

»Ich kenne mich vielleicht nicht besonders gut in der Natur aus, trotzdem bin ich nicht naiv«, setzte sich Lara zur Wehr. Dann wechselte sie schnell das Thema. »Wohin fährt das Schiff dort hinten? Ist das etwa ein Kreuzfahrtschiff? Ich habe gelesen, dass hin und wieder Kreuzfahrtschiffe vor Sylt anlegen.«

»Nun krieg’ dich mal wieder ein. Das ist die Syltfähre«, erklärte Lukas.

»Wohin fährt sie? Nimmt sie auch Autos mit?«, fragte Lara neugierig nach.

»Ja, tut sie. Das Schiff verkehrt regelmäßig von und nach Dänemark. Eine willkommene Alternative zum Sylt Shuttle. Man merkt echt, dass du eine Stadtpflanze bist«, stellte Lukas amüsiert fest.

»Kreuzfahrtschiffe sind …«, ereiferte sich Moritz, wurde jedoch durch Ann-Kathrins Einschreiten an tie­fergehenden Ausführungen gehindert.

»Bitte erspare uns alles Weitere! Dass Kreuzfahrten zu den absoluten Klimakillern gehören, darüber sind wir uns wohl alle einig.« Dann öffnete sie den Reißverschluss ihres Rucksacks und zog einen dicken Umschlag hervor. »Hier sind eure Unterlagen für unsere Unterkunft mit ein paar allgemeinen Informationen, die ich ausgedruckt habe. Busfahrpläne und Ähnliches könnt ihr online einsehen.« Sie reichte die Unterlagen an ihre Mitreisenden weiter.

»Hättest du das nicht mailen können?«, meuterte Moritz und nahm die Ausdrucke mit einem missbilligenden Blick entgegen.

»Schön, dass du beim nächsten Mal die Organisation übernimmst«, konterte sie ebenso spitz wie vorwurfsvoll.

»Wieso Unterkunft?« Lukas wirkte überrascht und überflog hastig die erste Seite. »Ich dachte, wir wohnen im Haus von Moritz’ Eltern? Oh nee, Leute, ich habe echt keinen Bock, in einer Jugendherberge zu pennen. Aus dem Alter bin ich raus.« Er ließ seiner Verärgerung freien Lauf und kickte mit der Fußspitze wütend gegen die Reisetasche vor sich auf dem Boden. »Das war anders abgemacht. Moritz?«

Alle Augenpaare richteten sich nunmehr auf den Angesprochenen, der sich verlegen den Nacken rieb. »Ja, also …«, druckste er herum und lief rot an.

»Hattest nicht den Arsch in der Hose, deinen alten Herrn zu fragen, stimmt’s? Sonst immer klugscheißen, aber wenn es drauf ankommt, den Schwanz einklemmen. Das ist typisch«, spottete Lukas und verzog den Mund.

»Das stimmt nicht, ich habe gefragt«, protestierte Moritz lautstark. »Momentan ist das Haus anderweitig belegt. Ein guter Geschäftsfreund meines Vaters macht gerade mit seiner Familie Urlaub auf Sylt. Dafür kann ich nichts. In spätestens zwei Tagen reist er ab, und dann können wir dorthin umziehen. Versprochen!« Er setzte eine versöhnliche Miene auf und hob die Hand wie zu einem Schwur.

»Du wirst dir keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn du ein paar Nächte auf den gewohnten Luxus verzichten musst, Lukas. Das wird uns übrigens allen guttun und den Blick für den Grund dieser Reise schärfen. Außerdem sind Jugendherbergen längst nicht mehr so schlecht wie ihr Ruf«, beschwor Ann-Kathrin ihre Mitstreiter.

»Trotzdem blöd«, maulte Lukas vor sich hin.

»Wenn du …«, setzte Ann-Kathrin an, doch Lukas winkte ab, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und sah ostentativ aus dem Fenster. Für ihn war das Thema erledigt.

Unmittelbar darauf knisterte ein Lautsprecher, und eine freundliche Stimme kündigte die kurz bevorstehende Einfahrt in den Westerländer Bahnhof an.