Syltleuchten - Syltstille - Syltfeuer - Sibylle Narberhaus - E-Book

Syltleuchten - Syltstille - Syltfeuer E-Book

Sibylle Narberhaus

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Sammelband: Die ersten drei Fälle für Anna Bergmann in einem Band. Syltleuchten: Gerade als der Frühling auf der Insel Sylt Einzug hält, bedrohen immer wieder Feuer die beschauliche Inselidylle. Auch das Leben von Anna Bergmann verläuft alles andere als friedlich. Ihr ehemaliger Freund steht plötzlich vor der Tür und bittet sie um Hilfe. Kurz darauf ist Anna wie vom Erdboden verschluckt. Als die Feuerwehr zu einem weiteren Brand gerufen wird, macht sie eine schreckliche Entdeckung. Um wen handelt es sich bei der verbrannten Frauenleiche? Ein spannender Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Syltstille: Annas Freude über den neuen Auftrag ist schnell verflogen, als die Landschaftsarchitektin auf dem Grundstück ihrer Kundin die Leiche eines Sylter Bauunternehmers entdeckt. Die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass der Mann auf besonders heimtückische Art und Weise ermordet wurde. Auch Anna bekommt am eigenen Leib zu spüren, wozu Menschen aus Neid und Missgunst fähig sind. Eine alte Schulfreundschaft wird zur Bedrohung für ihre gesamte Familie. Syltfeuer: Kurz vor Weihnachten erhält Anna Bergmann eine Einladung zu einer Testamentseröffnung, die sie nach Sylt führt. Auf der Insel hält eine Einbruchserie die Polizei in Atem, bei der bereits ein Mann ums Leben gekommen ist. Sind die Täter in den eigenen Reihen zu finden? Und wer ist der Tote auf dem Parkplatz? Auch Anna gerät in eine brenzlige Situation, denn die unverhoffte Erbschaft entfacht Begierden, die zur tödlichen Bedrohung werden. Und zu guter Letzt muss sie sich zwischen zwei Männern entscheiden. Ein Spiel mit dem Feuer!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1144

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sibylle Narberhaus

Syltleuchten

Syltstille

Syltfeuer

Sylt-Krimis

Die Einzelbände

Syltleuchten

Eigentlich wollte Anna Bergmann, die sich gerade auf der nordfriesischen Insel Sylt als Landschaftsarchitektin selbstständig gemacht hat, den nahenden Frühling genießen und sich ganz ihrem ersten Projekt widmen. Doch ihre Pläne werden durch den überraschenden Besuch ihres ehemaligen Freundes Marcus durchkreuzt, der sie um Hilfe bittet. Auch Annas beste Freundin Britta benötigt dringend ihren seelischen Beistand. Dann ist Anna plötzlich spurlos verschwunden. Ihr Verlobter, der Polizist Nick Scarren, und sein Kollege Uwe machen sich auf die Suche nach ihr. Kurze Zeit später wird eine verbrannte Frauenleiche in den Dünen entdeckt. Wer ist die Tote? Was hat Marcus mit Annas Verschwinden zu tun? Und wer ist ihm auf den Fersen? Stürmische und spannende Zeiten stehen allen Beteiligten bevor. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt!

*

Syltstille

Im hart umkämpften Baugewerbe herrschen seit jeher Neid und Missgunst. Die Landschaftsarchitektin Anna Scarren freut sich über einen neuen Auftrag. Doch während ihrer Arbeit macht sie eine grausige Entdeckung: Auf dem Grundstück ihrer Auftraggeberin wurde eine Leiche vergraben. Annas Ehemann Nick und seine Kollegen nehmen die Ermittlungen auf, die ergeben, dass es sich bei dem Toten um einen Sylter Bauunternehmer handelt. Dieser wurde offenbar auf besonders heimtückische Art und Weise ermordet. Doch wer kommt als Täter infrage? Kaum hat sich Anna von diesem Schock erholt, entpuppt sich das Aufleben einer alten Schulfreundschaft als Bedrohung für ihre gesamte Familie. Eine nervenaufreibende Täterjagd beginnt.

*

Syltfeuer

Kurz vor Weihnachten erhält Anna Bergmann eine Einladung zu einer Testamentseröffnung, die sie nach Sylt führt. Die Reise verbindet Anna mit einem Besuch bei ihrer langjährigen Schulfreundin Britta, die seit Jahren auf der Insel lebt. Nach einer hindernisreichen Anreise wird sie auf der Insel unmittelbar in einen Verkehrsunfall verwickelt, bei dem sie die flüchtige Bekanntschaft mit dem gleichermaßen attraktiven wie geheimnisvollen Polizisten Nick Scarren macht. Zeitgleich hält eine Einbruchserie auf der Insel die Polizei in Atem, bei der bereits ein Mann zu Tode gekommen ist. Sind die Täter in den eigenen Reihen zu finden? Kurz darauf wird eine weitere Leiche entdeckt. Wer ist der Tote auf dem Parkplatz? Auch Anna gerät in eine brenzlige Situation, als ihre Erbschaft zur tödlichen Bedrohung wird. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf und zu guter Letzt muss sich Anna zwischen zwei Männern entscheiden. Eines steht fest – Annas Leben wird sich grundlegend verändern!

Die Autorin

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Sie lebte einige Jahre in Frankfurt und Stuttgart und zog schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Als gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Versicherungsfachwirtin arbeitet sie bei einem großen Konzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zur Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem herrlichen Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen ihre Ideen für neue Geschichten rund um die Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Produktion: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Susanne Lutz / Mirjam Hecht unter Verwendung eines Fotos von: © Marco Reichert / Pixabay

ISBN 978-3-7349-9480-7

Syltleuchten

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Gmeiner-Verlag GmbH

Syltstille

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Gmeiner-Verlag GmbH

Syltfeuer

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Gmeiner-Verlag GmbH

Inhalt

Syltleuchten

Syltstille

Syltfeuer

Syltleuchten

Kapitel 1

Eine dumpfe Detonation riss die Gäste, Bewohner und Anwohner des Dorfhotels in Rantum in der Nacht aus dem Schlaf. Ein heller Feuerschein war am nächtlichen Himmel von Sylt zu erkennen. Gleich darauf durchbrach das Heulen einer Sirene die bis vor Kurzem friedliche Stille. Nur wenige Minuten später rasten mehrere Einsatzwagen der örtlichen Feuerwehr mit Blaulicht und Martinshorn an die Brandstelle, wo die Feuerwehrleute umgehend mit den Löscharbeiten begannen. In einigen Fenstern der weitläufigen Hotelanlage brannte Licht. Menschen waren zu erkennen, die das Spektakel von dort aus gebannt verfolgten. Die Einsatzkräfte der Feuerwehr hatten alle Hände voll zu tun, das lodernde Feuer unter Kontrolle zu bringen. Die Anwohner und Gäste wurden aufgrund der starken Rauchentwicklung über Lautsprecherdurchsagen dazu aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten und nach Möglichkeit nicht ins Freie zu gehen. Immer wieder entfachte der plötzlich einsetzende Westwind das Feuer von Neuem, das mit seiner zerstörerischen Kraft wütete und meterhohe Flammen emporschlagen ließ. Ein stechender Brandgeruch durchzog die Luft. Obwohl es dunkel war, konnte man trotz allem die schwarze Qualmwolke erkennen, die sich säulenartig in den Nachthimmel schraubte. Mittlerweile war neben der Feuerwehr die Polizei an der Brandstelle eingetroffen.

»Was brennt denn da? Das beißt ja richtig in der Nase«, sagte einer der beiden Polizisten, als sie aus ihrem Wagen ausstiegen, und hielt sich schützend eine Hand vor Mund und Nase.

»Keine Ahnung, aber das riecht extrem nach Kunststoff. Das Feuer kommt von der ›Sylt Quelle‹. Wahrscheinlich brennen die leeren Getränkekästen, die dort gelagert werden«, erwiderte der Kollege und sah in die Richtung, aus der der schwarze Rauch zu ihnen herüberkam.

Die Beamten hatten ihren Wagen quer über die gesamte Fahrbahn abgestellt, damit niemand unbefugt dichter an das Feuer heranfahren und sich in Gefahr bringen konnte. Außerdem wurde dadurch verhindert, dass Unbefugte den Weg für weitere Rettungsfahrzeuge blockierten. Ein zweiter Streifenwagen war in der Zwischenzeit eingetroffen. Die Kollegen riegelten eine weitere Zufahrt zur Brandstelle weiträumig ab. Ein älterer Herr, der trotz der späten Stunde seinen Hund ausführte, wurde von der Polizei aufgefordert, unverzüglich umzudrehen und nach Hause zu gehen.

»Bitte verlassen Sie diesen Bereich«, forderte ihn einer der Polizisten auf.

»Was ist denn los?«, wollte der Mann wissen und sah an dem Beamten vorbei zu der Stelle, wo die Feuerwehrleute versuchten, dem Feuer Herr zu werden.

»Es brennt, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Bitte gehen Sie zurück. Es ist nicht gerade gesund, die Dämpfe einzuatmen, außerdem behindern Sie die Rettungsmaßnahmen.«

»Aber ich mache doch gar nichts. Und ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen, junger Mann«, entgegnete der ältere Herr in entrüstetem Tonfall.

»Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem fordere ich Sie zum letzten Mal auf, sich unverzüglich aus dem Gefahrenbereich zu entfernen. Bitte, in Ihrem eigenen Interesse«, erwiderte der Polizist.

Die Verärgerung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Immer wieder gab es Leute, die erst lange diskutieren mussten, bevor sie das taten, worum man sie gebeten hatte. So auch in diesem Fall. Das machte die Arbeit nicht leichter – und freundlich musste man auch bleiben. Endlich drehte sich der Mann um und trat widerwillig mit seinem Hund den Rückzug an. Er murmelte irgendetwas vor sich hin, was der Beamte aber nicht verstand und auch nicht böse darüber war.

»Na, der wollte wohl nicht so einfach gehen, was?«, fragte der zweite Beamte seinen Kollegen mit schelmischem Grinsen.

»Nein, aber letztendlich hat er es doch eingesehen«, seufzte dieser.

»Das ist der zweite Brand in kurzer Zeit«, erwiderte der andere Polizeibeamte.

Sein Kollege nickte zustimmend.

»Ja, glücklicherweise ist auch dieses Mal niemand verletzt worden. Jedenfalls haben die Jungs von der Feuerwehr bislang nichts entdecken können. Wieder nur ein reiner Sachschaden. Hoffen wir, dass es dabei bleibt.«

»Ich frage mich nur, warum jemand leere Getränkekisten anzündet. Was bezweckt man damit? Das macht überhaupt keinen Sinn. Ist es die bloße Lust am Zerstören? Oder der Anblick des Feuers? Letzte Woche war es ein Müllcontainer auf dem Gelände einer Bäckerei im Gewerbegebiet von Tinnum, der gebrannt hat. Wo steckt der Sinn?«

Sein Kollege zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung! Eine Erklärung habe ich dafür nicht. Anderswo sind es Strohballen, die angezündet werden. Aber wie es aussieht, liegt es nicht in der Absicht der Brandstifter, jemanden zu verletzen. Wenn der Brand gelöscht ist, wissen wir vielleicht mehr. Ich halte es mittlerweile nicht mehr für reinen Zufall. Vermutlich hat jemand kräftig nachgeholfen. Was immer ihn oder sie dazu veranlasst haben mag. Ich hoffe, wir finden es bald heraus. Du, ich glaube, da drüben wird unser Typ verlangt«, sagte er und deutete zu den Feuerwehrleuten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Lass uns zu den Kollegen von der Feuerwehr gehen. Vielleicht haben sie einen ersten Hinweis.«

Mit diesen Worten gingen die beiden Polizeibeamten zu einem der Einsatzkräfte der Feuerwehr, der sie zu sich winkte.

Kapitel 2

»Volker, das Telefon klingelt!«, rief Maria Bergmann aus der Küche in den Flur. »Gehst du bitte ran? Ich kann gerade nicht weg. Volker? Hast du mich gehört?«

»Ja, ich gehe ja schon«, antwortete ihr Mann knurrig. »Du brauchst nicht so zu schreien, ich bin schließlich nicht schwerhörig.«

Er setzte die Brille ab, erhob sich von seinem Stuhl und ging zum Telefon, das neben dem Wohnzimmerfenster auf der Anrichte stand. Seine Frau wusch sich schnell die Hände, die vom Apfelschälen ganz klebrig waren. Am Nachmittag sollten Freunde zu Besuch kommen, und sie wollte ihren berühmten Apfelstrudel backen. Sie bereitete ihn nach einem alten Familienrezept zu, das sie von ihrer Großmutter hatte. Während sie die Äpfel viertelte, das Kerngehäuse sorgfältig entfernte, sie schälte und anschließend in dünne Spalten schnitt, wanderten ihre Gedanken zu ihrer Tochter Anna. Sie wohnte seit Kurzem auf der nordfriesischen Insel Sylt, dem nördlichsten Fleckchen von Deutschland. Seit ihrem Umzug waren zwar erst einige Monate vergangen, aber Maria Bergmann vermisste ihre Tochter bereits jetzt sehr. Anna hatte den größten Teil ihres bisherigen Lebens in Hannover verbracht. Nicht weit von ihren Eltern entfernt, hatte sie vor knapp zwei Jahren eine kleine Eigentumswohnung erworben. Eigentlich war sie gerade dabei gewesen, die Wohnung zu verschönern, da kam alles anders, und sie zog nach Sylt. Auch wenn Maria Anna nicht ständig sah, so wusste sie doch, dass sie ganz in ihrer Nähe war. Sie hätte sie jederzeit sehen können. Und heute hätte sie ihr schnell einen frischen Apfelstrudel vorbeigebracht. Anna aß ihn so gerne, am liebsten warm aus dem Ofen mit einem Klecks frischer Schlagsahne. Sie seufzte bei dem Gedanken an ihre Tochter. Natürlich war Anna mit fast 30 Jahren längst erwachsen und lebte ihr eigenes Leben, in das sie sich als Mutter nicht einmischen wollte. Aber dennoch fiel es Maria Bergmann schwerer, ihr einziges Kind loszulassen, als sie es sich manchmal eingestehen wollte. Die gewohnte Nähe fehlte ihr. Zwischen ihnen lagen nun mehr als 300 Kilometer.

»Bergmann«, hörte sie ihren Mann Volker sagen, als er das Gespräch annahm und somit das Klingeln verstummte.

Am Telefon sprach er immer lauter als gewöhnlich. Seine Mutter war mit der Zeit zunehmend schwerhöriger geworden, da hatte er es sich angewöhnt, beim Telefonieren lauter zu sprechen, damit er nicht immer alles zweimal sagen musste. Marias Schwiegermutter war zwar mittlerweile verstorben, aber Volker hatte das laute Sprechen beibehalten. Daher konnte Maria ihn selbst in der Küche noch gut verstehen. Sie verteilte die Apfelspalten in der Mitte des vorbereiteten, hauchdünn ausgerollten Teiges, streute Rosinen, eine Mischung aus Zimt und Zucker und zuletzt die gehobelten Mandeln darüber. Anschließend verschloss sie alles mit den überstehenden Teigrändern, bis die gesamte Füllung vom Teig bedeckt wurde. Als Nächstes bepinselte sie den Strudel mit flüssiger Butter, damit er später von außen goldbraun und schön knusprig wurde. Dann schob sie das Blech mit dem Apfelstrudel in den vorgeheizten Backofen und stellte die Uhr am Ofen auf die entsprechende Backzeit ein. Jetzt spülte sie sich erneut die Finger unter fließendem Wasser ab. Sie ging neugierig ins Wohnzimmer und wischte sich auf dem Weg dorthin die nassen Finger an ihrer Schürze trocken. Fragend sah sie ihren Mann an, während er telefonierte. Aber er war so auf das Telefonat konzentriert, dass er ihr keine Beachtung schenkte. Sie lehnte sich gegen den Sessel und wartete geduldig ab. Dabei zupfte sie mit den Fingern einige kleine Fussel von der Lehne. Gestern hatte sie einen Pullover aus Angorawolle getragen, und der hatte ganz offensichtlich seine Spuren auf dem Möbelstück hinterlassen. Das konnte man im Tageslicht deutlich erkennen, denn gestern Abend war es ihr nicht aufgefallen.

»Das war die Praxis von unserem Hausarzt«, erklärte ihr Mann Volker und stellte das Telefon auf die Basisstation, ehe Maria fragen konnte.

»Und? Was haben sie gesagt? Es ist doch nichts Schlimmes, oder Volker? Das Telefonat hat so lange gedauert.«

»Nein, ich musste zwischendurch kurz warten. Sie haben mir mitgeteilt, dass meine Blutwerte absolut in Ordnung sind. Und so ein anderer bestimmter Wert auch, die Sprechstundenhilfe hat es mir alles genau vorgelesen, aber ich habe vergessen, was es war. Jedenfalls kannst du ganz beruhigt sein, Maria, es ist alles im grünen Bereich, kein Grund zur Besorgnis. Ich wäre ausgesprochen fit für mein Alter, meinte sie. Was immer sie mir damit sagen wollte.« Er runzelte im Nachhinein die Stirn.

Seine Frau hörte ihm aufmerksam zu.

»Na, Gott sei Dank. Brauchst du keine Medikamente mehr nehmen?«, wollte sie wissen.

»Meine Tabletten muss ich trotzdem weiternehmen, das hat damit nichts zu tun. Das neue Rezept ist fertig, und ich kann es jederzeit abholen. Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Sonst ist es später im Feierabendverkehr überall so voll. Außerdem kriegen wir nachher Besuch, da kann ich nicht weg. Brauchst du etwas aus der Apotheke oder sonst irgendetwas von unterwegs?«

»Nein, aber du kannst auf dem Rückweg bei der Post halten und die da einwerfen.«

Sie deutete auf zwei Briefe, die mit einer Briefmarke versehen auf der Kommode im Flur lagen.

»Kann ich machen. Du brauchst sonst wirklich nichts?«

»Nicht, dass ich wüsste. Im Moment fällt mir jedenfalls nichts weiter ein«, erwiderte seine Frau und dachte angestrengt nach. Dabei runzelte sie die Stirn. »Für heute Nachmittag habe ich eigentlich alles, und morgen muss ich sowieso einkaufen.«

»Gut, dann bin ich bald zurück. Wenn dir etwas einfallen sollte, kannst du mich auf meinem Handy erreichen. Vielleicht fahre ich auf dem Weg zum Tanken. Kommt darauf an, wie günstig das Benzin ist. Abends ist es meistens billiger.«

Mit diesen Worten zog er seine Jacke an, griff nach den Briefen auf der Kommode und dem Autoschlüssel daneben und verließ das Haus. Gerade als die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, klingelte erneut das Telefon. Maria Bergmann war gerade im Begriff, in die Küche zu gehen. Sie machte kehrt und ging zielstrebig ins Wohnzimmer, wo sie nach dem Telefonhörer griff. Wer kann das sein, überlegte sie auf dem Weg dorthin. Vielleicht war es ihre Tochter Anna.

»Bergmann!«, flötete sie daher fröhlich ins Telefon.

Sie war erleichtert darüber, dass Volkers Blutuntersuchung ohne Befund war. Ein mulmiges Gefühl hatte sie im Vorfeld doch gehabt, weil man nie wusste, was bei diesen Untersuchungen herauskam. Dabei war sie kein ängstlicher oder pessimistischer Mensch, der stets mit dem Schlimmsten rechnete. Umso mehr freute sie sich über das gute Ergebnis. Da hatte sich die Umstellung auf cholesterinarme Ernährung gelohnt. Sie hatte eigens dafür ein spezielles Kochbuch angeschafft und streng nach den darin vorgeschriebenen Angaben gekocht. Nicht selten dem Protest von Volker zum Trotz, der das Ganze für völlig überzogen hielt. Er wäre bislang auch ohne diesen Schnickschnack über 60 Jahre alt geworden, hatte er stolz verkündet. Aber letztendlich konnte sie ihn davon überzeugen, dass es besser für ihn sei, denn er hatte ja die schlechten Blutwerte gehabt.

»Hallo, Maria, hier ist Marcus. Ich hoffe, ich störe dich nicht bei etwas Wichtigem«, meldete sich eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»Marcus!«, antwortete Maria Bergmann nach einer kurzen Pause. Vor Schreck wäre ihr beinahe das Mobilteil des Telefons aus der Hand gefallen. Sie konnte ihre Überraschung über diesen unerwarteten Anruf kaum verbergen. »Mit dir habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gerechnet.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Er lachte künstlich. »Es ist lange her, dass wir uns gesprochen haben.«

»Über zwei Jahre, in der Tat. Was verschafft mir die Ehre? Anna ist jedenfalls nicht da, falls du mit ihr sprechen wolltest.« Maria hatte sich gefasst und zügelte bewusst ihre Freundlichkeit auf ein geringes Maß.

»Das weiß ich. Ich habe gehört, dass sie nicht mehr in Hannover wohnt. Neulich habe ich eine ehemalige Kollegin von ihr in der Stadt getroffen. Wir haben uns kurz unterhalten, und da erwähnte sie, dass Anna ihr ihre Wohnung vermietet hat.«

»Richtig, Anna wohnt nicht mehr in Hannover. Außerdem glaube ich nicht, dass sie mit dir sprechen würde, selbst wenn sie noch hier wäre«, sagte Maria mit fester Stimme, während sie vor dem großen Fenster im Wohnzimmer auf und ab ging wie ein Tier in einem Käfig.

Sie blickte dabei in den Garten, der langsam aus seinem Winterschlaf erwachte. Es war Ende März. Der Winter mit seinem vielen Schnee hatte längst das Feld geräumt, und der Frühling hielt mit aller Macht Einzug. Die Tage wurden spürbar länger, und nachts war es nicht mehr so bitterkalt. Hier und dort waren die ersten zaghaften Triebe der Tulpen zu erkennen, die sich in sattem Grün aus dem Boden gen Himmel reckten. Die Krokusse waren dagegen fast verblüht. Ihre bunten Blütenblätter hingen bereits schlapp herunter. Ihr Anblick war erbärmlich und traurig zugleich. Nur spätere Sorten erstrahlten noch in ihrer ganzen Pracht und erfreuten das Auge des Betrachters mit ihren kräftig leuchtenden Farben. Die Büsche und Bäume hatten teilweise dicke Knospen, die nur darauf warteten, von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen wachgeküsst zu werden. Rundherum erwachte alles zu neuem Leben. Eine Amsel war gerade dabei, mit ihrem gelben Schnabel in dem Beet an der Terrasse herumzustochern. Der Vogel hatte Glück, dass Volker nicht zu Hause war. Er hätte das Tier sicherlich verscheucht, da es den ganzen Rindenmulch aus dem Beet auf die Steine der Terrasse schleuderte und er anschließend alles zurück ins Beet fegen musste. Darüber konnte er sich jedes Mal furchtbar aufregen.

»Ja, es tut mir schrecklich leid, wie damals alles gelaufen ist«, fuhr Marcus fort und riss Maria aus ihren Gedanken. »Anna ist so eine wunderbare Frau. Ich war wirklich ein Idiot. Das ist mir erst viel zu spät bewusst geworden. Wenn ich die Zeit doch nur zurückdrehen könnte! Ich würde heute so vieles anders machen, das kannst du mir glauben.«

»Marcus«, unterbrach Maria ihn energisch, »was willst du? Warum rufst du an? Doch bestimmt nicht, weil dir langweilig ist und du mit deiner ehemaligen Fast-Schwiegermutter über die Vergangenheit plaudern willst oder über verpasste Chancen, die du sowieso nicht mehr beeinflussen kannst.«

»Ach, ich habe neulich ein paar Sachen aufgeräumt, und da ist mir eine Schachtel mit Briefen, Fotos und diversen Kleinigkeiten in die Hände gefallen. Sie gehört Anna. Ich wollte sie nicht wegwerfen und dachte, sie würde die Sachen bestimmt gerne zurück haben. Solche Erinnerungsstücke waren ihr in der Vergangenheit immer sehr wichtig gewesen«, sagte Marcus mit leicht wehmütigem Ton in der Stimme.

»Du kannst die Sachen gerne bei Gelegenheit bei uns vorbeibringen. Unsere Adresse kennst du, die hat sich nicht geändert. Ich gebe Anna die Sachen, wenn wir sie das nächste Mal sehen.«

»Prinzipiell wäre das kein Problem, aber ich bräuchte darüber hinaus dringend eine Unterschrift von Anna.« Maria Bergmann kräuselte skeptisch die Stirn. »Es geht um eine Versicherung, die wir damals zusammen abgeschlossen haben«, fuhr Marcus fort. »Eigentlich keine große Sache, aber es gibt eine Frist, die in Kürze abläuft. Die habe ich verschlafen, um ehrlich zu sein, und deshalb drängt die Zeit.« Er lachte verlegen. »Deshalb würde ich Anna gerne alles so schnell wie möglich auf dem Postweg zukommen lassen. Könntest du mir ihre neue Adresse geben? Danach werde ich sie nicht länger belästigen, versprochen. Und euch auch nicht.«

Maria Bergmann zögerte einen Moment lang und überlegte, ehe sie antwortete. Wenn es wirklich nur um diese eine Unterschrift ging, würde Anna sicherlich nichts einzuwenden haben, wenn sie Marcus die neue Anschrift gab. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter Ärger bekam, nur weil sie ihretwegen diese Unterschrift nicht fristgerecht leisten konnte. Sie wusste zwar nicht, wie wichtig diese Versicherung war, aber Volker war bei solchen Dingen sehr korrekt. Und danach gehörten die alten Geschichten endgültig der Vergangenheit an, das hatte Marcus ihr eben versprochen.

»In Ordnung. Aber das ist wirklich das letzte Mal, dass ich dir einen Gefallen tue. Ich möchte nicht, dass Anna Ärger bekommt. Also, hast du etwas zu schreiben?«

Kapitel 3

Pepper lief bellend zur Haustür, als ein Auto in der Einfahrt vor dem Haus hielt. Ich stand gerade in der Küche und bereitete mir eine Tasse grünen Tee zu. Beim Blick aus dem Fenster sah ich, dass es Nick war, der mit seinem Wagen von der Arbeit gekommen war. Ich ging den gläsernen Gang, die Verbindung zwischen der Küche und der Diele, entlang und öffnete ihm die Haustür. Die Küche befand sich in einem Nebengebäude des Hauses, das vor einigen Jahren von dem Vorbesitzer komplett saniert und aufwendig umgebaut worden war. Das gesamte Gebäude war ursprünglich ein alter Bauernhof gewesen. Auf Nicks Gesicht erschien ein Lächeln, als er mich im Türrahmen erblickte. Pepper lief ihm schwanzwedelnd entgegen und empfing sein Herrchen voller Freude.

»Hallo, Sweety«, begrüßte Nick mich und gab mir einen Kuss.

»Hallo, Nick! Wie war dein Tag?«, fragte ich und schloss hinter ihm die Tür.

»Ganz normal, keine besonderen Vorkommnisse. Ich konnte endlich mal Papierkram erledigen. Da hatte sich einiges angesammelt. Dazu komme ich sonst kaum während der regulären Arbeitszeit. Aber noch ist es einigermaßen ruhig auf der Insel.«

»Stimmt. Das ändert sich spätestens nächste Woche, wenn die Osterferien in den meisten Bundesländern beginnen. Dann füllt es sich hier schlagartig. Britta hat mir neulich erzählt, dass ihr Hotel über Ostern komplett ausgebucht ist.«

»Kann ich mir gut vorstellen. Aber das bedeutet auch, dass endlich wieder Frühling ist, die Tage länger werden und die Insel Farbe bekommt. Diese kargen, farblosen Bäume und Sträucher kann man langsam nicht mehr sehen. Wie war dein Tag?«, wollte er wissen und hängte seine Jacke an die Garderobe.

Pepper war mittlerweile kurz im Wohnzimmer verschwunden und kam mit einem Hundespielzeug in der Schnauze zurück, das er aus seinem Körbchen unter der Treppe geholt hatte. Er legte es Nick direkt vor die Füße. Nick streichelte den Hund und kickte das Spielzeug mit der Fußspitze weg. Es rutschte einige Meter über die glatten Fliesen. Pepper fand es großartig und jagte sofort hinterher.

»Erfolgreich«, beantwortete ich Nicks Frage. »Komm mit in die Küche. Ich mache mir gerade einen Tee, dann erzähle ich dir alles ausführlich.«

Nick folgte mir in die Küche. Pepper lief uns neugierig hinterher, sein Spielzeug fest in der Schnauze.

»Magst du einen Kaffee?«, fragte ich, während ich den Teefilter aus meiner Tasse entfernte.

Nick hatte für meine Teeleidenschaft nicht viel übrig. Er trank lieber Kaffee. Obwohl er auf Sylt geboren wurde, hatte er fast sein ganzes bisheriges Leben in Kanada verbracht. Sein Vater war Kanadier, seine Mutter eine waschechte Sylterin. Irgendwann hatten seine Eltern beschlossen, Sylt den Rücken zu kehren und nach Kanada zu gehen. Nicks Vater zog es zurück in seine Heimat. Nicks Mutter besaß aber noch ihr Elternhaus auf der Insel, in dem Nicks Schwester Jill lebte. Allerdings arbeitete sie zurzeit für drei Monate auf dem Festland in der Nähe von Flensburg. Nach einem schweren Schicksalsschlag war Nick vor fast drei Jahren aus Kanada auf die Insel Sylt zurückgekehrt und wollte einen Neustart wagen. Er war Polizist und arbeitete auf dem Westerländer Revier.

»Gerne.« Er setzte sich auf einen der Stühle an dem großen Tisch.

Dann lockerte er mit einer Hand die Krawatte und öffnete die obersten Knöpfe seines Uniformhemdes. Ich nahm einen Becher aus dem Küchenschrank über der Spüle, stellte ihn unter den Kaffeeautomaten und drückte die entsprechende Taste. Die Maschine begann mit einem leisen Surren, die Kaffeebohnen zu mahlen. Dann floss der heiße Kaffee langsam in die Tasse und verströmte dabei einen angenehmen Duft. Ich liebte diesen Geruch. Selbst trank ich wenig Kaffee, da ich ihn nicht sehr gut vertrug. Nur ganz selten ließ ich mich dazu hinreißen, einen Espresso zu trinken, beispielsweise nach einem guten und reichhaltigen Essen.

»Jetzt erzähl schon, Anna. Ich bin sehr gespannt. Was war los heute?«, drängte mich Nick und sah mich erwartungsvoll an.

»Ich habe heute meinen ersten Auftrag erhalten! Die komplette Neuanlage eines Gartens. Der Vertrag ist unterschrieben, ich habe ihn vorhin zurückgemailt«, sagte ich stolz und konnte meine Freude darüber nicht zurückhalten.

»Das ist ja super! Ich gratuliere dir! Siehst du, dann hat es gar nicht lange gedauert, bis du deinen ersten Auftrag bekommen hast. Wo und bei wem wirst du den Garten gestalten?«

»Bei einem Ehepaar in Kampen. Die beiden haben dort ein bebautes Grundstück gekauft, das alte Haus abreißen lassen und bauen jetzt neu.«

»Hey, gleich an der teuersten Adresse vor Ort. Respekt! Aber das klingt vielversprechend! Der Trend ist also ungebrochen, dass Grundstücke vererbt und sofort verkauft werden. Die alten Häuser werden meistens abgerissen, um an gleicher Stelle neue zu errichten. Die Grundstücke sind es, die in erster Linie interessant und vor allem sehr wertvoll sind. Auf jeden Fall freue ich mich riesig für dich. Komm her!«

Ich ging mit dem Kaffeebecher in der Hand auf Nick zu, nachdem ich etwas Milch hineingegeben hatte, und stellte ihn vor ihm auf dem Tisch ab. Nick umfasste meine Taille mit beiden Händen und zog mich auf seinen Schoß.

»Ist es ein richtig großer Auftrag?«, wollte er wissen und trank einen Schluck Kaffee.

»Ja, das Grundstück hat knapp 1.500 Quadratmeter. Das ist ganz ordentlich. Vielleicht bekomme ich auch den Auftrag für die andere Hälfte. Darauf soll ein weiteres Haus gebaut werden. Soweit ich weiß, ist dieser Teil aber noch nicht verkauft. Früher war es ein Grundstück mit einer Gesamtfläche von 2.500 Quadratmetern.«

Ich hatte mich als Landschaftsarchitektin selbstständig gemacht und gerade erst vor ein paar Wochen mein eigenes Büro eröffnet. Dabei arbeitete ich eng mit einem ansässigen Gartenbaubetrieb zusammen. Mein Leben hatte sich seit dem vergangenen Winter kurz vor Weihnachten völlig verändert. Damals hatte ich meine beste Freundin Britta Hansen besucht, die seit vielen Jahren mit ihrem Mann Jan und den Zwillingen Tim und Ben in Rantum auf Sylt lebte. Britta und Jan führten auf Sylt ein sehr schönes und beliebtes Hotel, den Syltstern, den Jan von seinen Eltern übernommen hatte. Es lag am Rande von Westerland in Strandnähe. Britta kannte ich seit meinem ersten Schultag. Nach der gemeinsamen Schulzeit hatten sich unsere Wege getrennt, allerdings nur in räumlicher Hinsicht, denn wir blieben weiterhin in engem Kontakt. Letztes Jahr hatte sie mich Anfang Dezember dazu überredet, sie auf Sylt zu besuchen. Da ich zu dieser Zeit sowieso gerade Urlaub hatte, nahm ich ihr Angebot gerne an. Eine Auszeit hatte ich sehr gut gebrauchen können. Gleich nach meiner Ankunft auf der Insel war ich zufällig Nick begegnet und hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Zunächst sah es allerdings so aus, als ob er meine Zuneigung nicht erwidern würde, doch das änderte sich. Insgesamt war es eine aufregende Zeit gewesen, denn ich hatte durch einen Zufall ein Haus auf Sylt geerbt. Doch diese Erbschaft hielt nicht nur angenehme Überraschungen für uns bereit. Ich konnte es manchmal noch immer nicht begreifen, was uns in diesem Zusammenhang alles widerfahren war. Jetzt wohnten Nick und ich seit über drei Monaten in diesem Haus und fühlten uns sehr wohl. Mittlerweile hatten wir einen vierbeinigen Mitbewohner, Pepper, unseren schwarzen Labradormischling mit weißer Pfote, der fester Bestandteil unseres Lebens geworden war. Er war etwas mehr als ein halbes Jahr alt und hatte eine Menge Flausen im Kopf. Jedenfalls konnten wir uns über Langeweile nicht beklagen, denn er hielt uns ordentlich auf Trab.

»Wie bist du überhaupt an den Auftrag gekommen?«, fragte mich Nick und holte mich aus meinen Erinnerungen.

»Bei dem Auftraggeber handelt es sich um einen ehemaligen Patienten von Frank. Er hatte ihm von seinem Vorhaben erzählt, und Frank hat mich gleich weiterempfohlen«, erklärte ich.

»Aha, Frank also«, bemerkte Nick und verzog den Mund.

»Ach, Nick, sei nicht eifersüchtig«, neckte ich ihn, nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

Doktor Frank Gustafson war ein guter Freund von Brittas Mann Jan und arbeitete auf der Insel als leitender Oberarzt im Westerländer Krankenhaus. Ich hatte ihn ebenfalls im vergangenen Jahr bei Britta und Jan kennengelernt und war einmal mit ihm ausgegangen. Zu dieser Zeit war ich allerdings noch nicht mit Nick zusammen. Frank war Porschefahrer, ledig, gut aussehend, erfolgreich und äußerst charmant, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Wie ich fand, trafen einige dieser Attribute ebenso auf Nick zu, doch da war viel mehr, weshalb ich Nick liebte. Frank stellte in keiner Weise eine Konkurrenz dar. Trotzdem freute ich mich jedes Mal, wenn bei Nick ein Funken Eifersucht aufblitzte, wenn von Frank die Rede war. Die beiden Männer waren nicht die engsten Freunde, würden es vermutlich nie werden, begegneten sich aber mit gegenseitigem Respekt. Frank war sich bewusst, dass er bei mir gegen Nick sowieso keine Chance hatte.

»Ich bin nicht eifersüchtig, nur wachsam«, rechtfertigte Nick sich und sah mir tief in die Augen. »So, ich gehe mich duschen und umziehen.«

Er griff nach seiner Tasse und trank den Rest seines Kaffees in einem Zug aus. Dann stand er auf.

»Ich will nachher mit Pepper eine Runde drehen. Begleitest du uns?«, fragte ich ihn, bevor er eine Etage höher im Bad verschwand.

»Ja, klar. Ich habe heute nichts mehr vor.«

Während Nick nach oben ins Schlafzimmer ging, stellte ich unsere benutzten Tassen in den Geschirrspüler und verließ anschließend die Küche, gefolgt von Pepper. Gerade, als ich in der Diele war, klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Ich lief dorthin und nahm das Gespräch entgegen.

»Hallo, mein Kind!«, hörte ich meine Mutter sagen, nachdem ich mich gemeldet hatte.

»Hallo, Mama! Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut, danke. Ich hoffe, bei euch ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens«, beantwortete ich ihre Frage. »Was gibt es Neues?«

Eigentlich hatte meine Mutter erst vor ein paar Tagen angerufen, daher war ich verwundert, dass sie sich nach so kurzer Zeit erneut meldete. Öfter als einmal pro Woche telefonierten wir in der Regel nicht, es sei denn, es gab etwas Dringendes.

»Sieht es bei euch auch schon nach Frühling aus? Hier kommen überall die Tulpen durch. Jetzt fehlen noch ein paar warme Tage, und die ersten Sträucher bekommen Blätter. Das wird aber auch langsam Zeit nach diesem endlosen kalten Winter. Ich kann es kaum erwarten.«

»Ja«, erwiderte ich kurz.

Doch ehe ich mehr sagen konnte, fuhr meine Mutter fort: »Papa war neulich beim Arzt. Heute hat er das Ergebnis der Blutuntersuchung bekommen. Es ist alles in Ordnung. Sein Cholesterinwert ist viel besser geworden. Wir haben doch unsere Ernährung umgestellt, hatte ich dir ja erzählt. Du weißt, die Sache mit dem neuen Kochbuch. Papa wollte mir erst nicht glauben, dass das was bringt. Jetzt hat es sich bestätigt. Und heute Nachmittag haben uns die Schreibers zum Kaffee besucht. Henriette und Günter waren vier Wochen auf den Kanarischen Inseln und sind letztes Wochenende wiedergekommen. Sie haben eine Menge Fotos mitgebracht. Mir schwirrt noch der Kopf. Günter hatte alles auf so einem tragbaren Computer dabei. So einen hast du doch auch, zum Aufklappen.«

»Ja, Mama, einen Laptop.«

»Genau, Günter ist doch so ein Technikfreak. Henriette sagt, er macht nichts mehr ohne dieses Ding. Wir sind da nicht so modern. Jedenfalls hat es ihnen dort sehr gut gefallen. Sie meinten, wir sollten das unbedingt auch in Betracht ziehen. Besonders in dieser trüben Jahreszeit wäre das Balsam für die Seele. Aber du kennst ja deinen Vater, den kriege ich nie lange von Zuhause weg. Außerdem steigt er ungern in ein Flugzeug. Ich hatte übrigens Apfelstrudel gemacht. Den magst du doch auch gerne. Wenn du nicht so weit weg wohnen würdest, hätte ich für dich auch einen gemacht. Henriette hat er jedenfalls sehr gut geschmeckt. Sie wollte sogar das Rezept haben, obwohl sie sehr selten selber backt.«

Meine Mutter war in ihrer Berichterstattung kaum zu bremsen. Ich fragte mich, wie sie so schnell reden konnte, ohne dabei viel Luft holen zu müssen. Und dann diese abrupten Themensprünge. Was kam wohl als Nächstes?

»Ja, Mama, das ist alles sehr interessant, aber du rufst doch nicht an, um mir das alles zu erzählen, oder?«, hakte ich vorsichtig nach. »Das hätte auch Zeit gehabt.«

Ich ahnte, dass meine Mutter mir zwar irgendetwas mitteilen wollte, aber gleichzeitig nicht mit der Sprache herausrücken wollte. Eine böse Vorahnung beschlich mich, vermutlich wurde es gleich unangenehm.

»Stimmt, Anna, das ist nicht der eigentliche Grund meines Anrufes.« Sie räusperte sich. »Heute Mittag hatte ich einen Anruf. Du kommst sicher nicht von alleine drauf. Du wirst bestimmt nicht begeistert sein, wenn ich es dir sage.«

»Mama! Sag endlich bitte, warum du anrufst! So schlimm wird es schon nicht sein.«

Langsam war ich mit meiner Geduld am Ende.

»Marcus hat heute Vormittag bei uns angerufen. Dein Vater war gerade unterwegs zum Arzt und anschließend zur Apotheke«, ließ sie mich wissen und machte eine Pause, um meine Reaktion abzuwarten.

»Marcus?«, wiederholte ich, um ganz sicher zu gehen, dass ich mich nicht verhört hatte. »Und was wollte er?« Ich ahnte nichts Gutes.

Marcus und ich waren lange Zeit ein Paar gewesen, wollten heiraten und eine Familie gründen. Doch eines Tages hatte ich ihn mit einer anderen Frau in unserem Bett überrascht. Daraufhin hatte ich mich sofort von ihm getrennt und war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Es war nicht das erste und einzige Mal gewesen, dass er mich betrogen hatte, aber das Maß war voll. Ich war nicht mehr gewillt, ihm diese ›Versehen‹, wie er sie nannte, zu verzeihen. Daher wunderte es mich umso mehr, dass er sich ausgerechnet bei meinen Eltern meldete, da ich seit fast zwei Jahren keinen Kontakt zu ihm hatte. Unsere Wege hatten sich endgültig getrennt, und es gab nichts mehr zu sagen. In meinem Leben gab es nicht die kleinste Nische mehr für ihn. Ich hatte lange genug unter der Trennung gelitten und damit abgeschlossen.

»Er wollte dir einige Dinge zukommen lassen, die er beim Aufräumen gefunden hat. Und irgendeine Unterschrift braucht er von dir. Dabei geht es um eine Versicherung, hat er gesagt«, berichtete meine Mutter.

»Hm«, erwiderte ich skeptisch, »ich kann mich nicht erinnern, um welche Versicherung es sich handeln könnte. Wir hatten damals alles gekündigt, was wir zusammen abgeschlossen hatten. Naja, er kann euch die Sachen bei Gelegenheit vorbeibringen. Dann könnt ihr sie mir das nächste Mal mitbringen, wenn ihr nach Sylt kommt.«

»Es schien aber sehr dringend zu sein. Er hat von einer Frist gesprochen, die bald endet. Daher habe ich ihm deine Adresse gegeben, damit er dir das Dokument so schnell wie möglich schicken kann.« Meine Mutter senkte schuldbewusst ihre Stimme.

»Wie bitte? Ach, Mama! Wieso hast du das gemacht? Es geht ihn nichts an, wo ich lebe. Das sollte er gar nicht unbedingt wissen.«

»Es tut mir leid, Anna«, entschuldigte sich meine Mutter kleinlaut. »Ich wollte doch nur, dass du keinen Ärger wegen dieser Frist bekommst. War vielleicht doch keine so gute Idee, oder?«, fügte sie beschämt hinzu.

»Nein, Mama, war es wirklich nicht«, sagte ich leicht verärgert, »aber jetzt ist es sowieso zu spät. Mach dir keine Vorwürfe, er wird schon nicht gleich persönlich vor der Tür stehen. Du hast ihm aber hoffentlich nicht erzählt, dass ich ein riesiges Haus geerbt habe, oder? Mama?«

»Nein, natürlich nicht, was denkst du von mir. Ich habe ihm lediglich erzählt, dass du auf Sylt wohnst und es dir sehr gut geht. Und, dass du einen sehr netten Freund hast. Das ist schließlich kein Geheimnis, oder? Das konnte ich doch ruhig erzählen.«

»Nein, natürlich ist es kein Geheimnis, aber mehr muss er nicht wissen.« Ich seufzte. »Dann kann ich mich wohl darauf einstellen, dass ich demnächst Post von Marcus bekomme. Also, Mama, dann grüß mal Papa von uns und bis bald«, sagte ich und blickte in Richtung der Treppe, die Nick in diesem Moment herunterkam.

Einige der alten Holzstufen knarrten, wenn man sie betrat. Nick hatte seine Polizeiuniform gegen Freizeitkleidung getauscht und war frisch geduscht. Er zog fragend die Augenbrauen hoch, als er mich mit dem Hörer am Ohr sah. Aber ich winkte nur beruhigend ab und schüttelte leicht den Kopf.

»Ja, mein Kind. Grüße auch an Nick und Pepper natürlich. Marcus wird schon nichts Unangenehmes schicken. Mach dir nicht so viele Gedanken.«

Mit diesen Worten legte meine Mutter auf. Ich atmete schwerfällig aus.

»Was ist los?«, wollte Nick wissen und kam auf mich zu. »Ist etwas passiert?«

»Ach, das war meine Mutter. Sie hatte heute einen Anruf von Marcus. Du weißt, mein Exfreund. Sie hat ihm dummerweise unsere Adresse gegeben, weil er angeblich dringend eine Unterschrift in einer Versicherungsangelegenheit von mir benötigt. Keine Ahnung, worum es geht«, erwiderte ich und legte meine Arme um seinen Hals.

Er roch betörend gut nach seinem Duschgel, und sein fast schwarzes Haar war noch nass.

»Versicherung?«, betonte Nick misstrauisch.

»Warten wir es ab. Ich laufe ihm bestimmt nicht nach. So, kommst du mit?«, lenkte ich vom Thema ab und versuchte, mir mein Unbehagen in dieser Angelegenheit nicht anmerken zu lassen.

»Ja. Ich bin startklar. Meinetwegen kann es losgehen.«

Wir zogen uns Schuhe und Jacken an und legten Pepper sein Halsband an. Dann verließen wir alle drei das Haus und liefen einen der schmalen Feldwege entlang, die überall rund um Morsum herum angelegt waren. Der Himmel hatte sich zwischenzeitlich bezogen, und es wehte ein lebendiger Westwind. Wenn man bewusst einatmete, konnte man einen Hauch von Frühling spüren. Die letzten hartnäckigen Schneereste waren aus den Entwässerungsgräben, die rechts und links des Weges verliefen, verschwunden. In zwei Tagen war der 1. April, und Ostern rückte immer näher. Die Zeit war so schnell vergangen, seit ich mit Nick zusammen auf Sylt lebte. Aber ich bereute keine einzige Sekunde. Schon immer hegte ich den Wunsch, eines Tages auf dieser Insel leben zu können. Dass es tatsächlich dazu kommen würde, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Und jetzt kam es mir vor, als wenn ich schon ewig hier leben würde. Man hatte das Gefühl, dass das Biikebrennen am 21. Februar gerade erst hinter uns lag. Dort wurden alljährlich große Haufen aus Zweigen, ausgedienten Weihnachtsbäumen und Stroh aufgeschichtet und anschließend angezündet, um so den Winter zu vertreiben. Früher diente dieser Brauch vor allem dazu, die Seeleute zu verabschieden, die im Frühjahr hinaus aufs Meer fuhren. Heutzutage war es nicht nur ein alljährliches Ritual für die Insulaner, sondern lockte unzählige Touristen an. Im Anschluss an den Besuch der Feuer, die an verschiedenen Plätzen auf der Insel loderten, ging man in eines der vielen Restaurants zum herzhaften Grünkohlessen. Nick und ich hatten uns mit Freunden getroffen und waren ebenfalls in einem Restaurant zum Essen eingekehrt. Ich hatte zuvor noch nie an einem Biikebrennen teilgenommen und war begeistert, denn es war ein rundum schöner Abend gewesen.

»Denkst du oft an Marcus?«, fragte Nick plötzlich, während wir nebeneinander hergingen.

Pepper lief einige Meter vor uns und hielt die Nase dicht über dem Boden, um alles zu beschnüffeln, was ihm in den Weg kam. Manchmal bremste er mitten im Lauf ruckartig und lief einen halben Meter zurück, als ob er etwas übersehen hatte und auch diese Stelle kontrolliert werden musste. Ich konnte meine Überraschung über Nicks Frage nicht verbergen.

»Nein, überhaupt nicht. Wie kommst du darauf?«

»Nur so«, erwiderte Nick und wandte seinen Blick zum Horizont.

Ich blieb stehen, hielt ihn am Ärmel und blickte Nick direkt in seine schönen dunklen Augen, als er mich ansah. Das war es unter anderem damals gewesen, was mich sofort an ihm fasziniert hatte. Diese Augen.

»Marcus gehört der Vergangenheit an und zwar sehr lange. Ich denke nicht an ihn und empfinde nichts mehr für ihn. Beruhigt dich das?«

»Schon gut. Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten«, betonte Nick. »Ich liebe dich, Anna.«

Dann gab er mir einen Kuss.

»Ich liebe dich auch. Sehr sogar. Schließlich heiraten wir dieses Jahr. So, und nun lass uns umdrehen. Für heute hat Pepper ausreichend Auslauf gehabt. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe Hunger!«

Ich griff nach Nicks Hand, und wir traten den Rückweg an.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen, nachdem wir gemeinsam gefrühstückt hatten und Nick zur Arbeit gefahren war, machte ich mich mit Pepper auf den Weg. Ich wollte mir das Grundstück meiner ersten Auftraggeber in Kampen ansehen. Dort wurde zwar am Haus gebaut, aber es konnte nicht schaden, wenn ich mir ein grobes Bild machen würde, wie der Garten im Verhältnis zum Haus geplant war. Bislang waren mir nur wenige Details bekannt. Bei der Gestaltung war es nicht unerheblich zu wissen, wie die Nachbargrundstücke gelegen und gestaltet waren. Schließlich sollte alles zueinander passen und sich gefällig ins Landschaftsbild einfügen. Das Grundstück grenzte unmittelbar an eine freie Heidefläche, daher wollte ich die Übergänge nicht zu abrupt und hart, sondern fließend gestalten. Zäune im klassischen Stil, wie man es vom Festland her kannte, gab es auf Sylt selten. Meistens waren die Grundstücke von einem Steinwall umgeben, der sogenannten Sylter Mauer, oder sie waren überhaupt nicht eingezäunt. Die Sylter Mauer war meistens mit Heckenrosen oder kleinen Kiefernbüschen bepflanzt.

Ich fuhr mit meinem Wagen die Hauptstraße in Morsum entlang nach Archsum und weiter in Richtung Keitum. Als ich den Bahnübergang kurz vor Keitum erreicht hatte, schaltete die Ampel auf Rot und die Bahnschranken schlossen sich. Ich hielt direkt an dritter Stelle hinter einem anderen Auto und stellte den Motor ab. Nach höchstens einer Minute Wartezeit fuhr ein Autozug aus Richtung Niebüll mit lautem Scheppern an uns vorbei. Er war mit wenigen Pkw und einigen Kleintransportern besetzt. Für die vielen Urlauber, die täglich auf die Insel kamen, war es zu früh am Morgen. Der große Ansturm begann um die Mittagszeit, da erst dann die allermeisten Fahrzeuge in Niebüll an der Verladestation ankamen. Schließlich kamen die Gäste aus ganz Deutschland und hatten dementsprechend oft eine lange Anreise. Ab und zu sah man Wagen mit Kennzeichen aus der Schweiz, Frankreich und sogar Italien auf der Insel herumfahren. Ich sah im Rückspiegel, dass Pepper neugierig aus dem Fenster der Heckscheibe blickte, um zu prüfen, warum wir hielten. Während der Fahrt war von ihm meistens nichts zu sehen oder zu hören, und er tauchte erst auf, wenn sich die Geschwindigkeit verlangsamte oder das Auto zum Stehen kam. Behäbig öffneten sich die Schranken, die rote Warnleuchte erlosch, und die ersten Fahrzeuge rollten über den Bahnübergang. Ich beschloss, die Route nach Kampen über Munkmarsch und Braderup zu nehmen und bog entsprechend an der nächsten Abzweigung nach rechts ab. Damit wollte ich dem morgendlichen Berufsverkehr in und um Westerland herum entgehen. Außerdem gefiel mir die Strecke an der Wattseite der Insel entlang besser. Man konnte das Meer und dazwischen Weide- und Heidelandschaft sehen. Auf einigen Wiesen standen große Wasserlachen, die langsam versickerten. Bald würden hier Rinder und Schafe weiden. Der vergangene Winter hatte viel Schnee gebracht, was eher ungewöhnlich für die Nordseeküste war. Ich hatte es trotzdem sehr genossen, denn ich liebte schneereiche und kalte Winter. An der Nordsee rief eine verschneite Landschaft einen ganz besonderen Zauber hervor. Die verschneiten reetgedeckten Häuser wirkten besonders hübsch und behaglich und strahlten eine friedliche Ruhe aus. Man hatte das Gefühl, dass der Trubel und die Hektik völlig an ihnen abprallen würden. Auch der verschneite Strand war ein einmaliger Anblick und ließ mein Herz jedes Mal höher schlagen. An der Wattseite hatten sich in diesem Winter durch die lang anhaltende Kälte dicke Eisschollen gebildet und die Landschaft erstarren lassen. Am späten Nachmittag wurde alles von der untergehenden Sonne in ein bizarres rötliches Licht getaucht. Ich konnte mich an diesem Anblick gar nicht satt sehen. Doch jetzt Ende März war der Winter vorbei. Die Insel erwachte zu neuem Leben und wurde in zartes Grün gehüllt. Auf dem Deich und den Wiesen wurden die ersten Lämmer geboren und staksten auf ihren wackeligen Beinen ihren Müttern hinterher.

Mittlerweile hatte ich den Ortseingang von Kampen erreicht. Mein Navigationsgerät verriet mir, dass ich mein Ziel in weniger als zwei Minuten erreicht hatte. Ich bog gemäß Anweisung zweimal ab und stand vor einem großen Grundstück, umgeben von einem gitterartigen Bauzaun aus Metall. Einige Kleintransporter unterschiedlicher Baufirmen parkten davor, Handwerker liefen geschäftig hin und her. Die Dachdecker waren dabei, das halbfertige Haus mit einem Reetdach zu versehen. Auch im Inneren des Hauses wurde gehämmert und gesägt. Ich stellte meinen Wagen etwas abseits ab, stieg aus und öffnete die Heckklappe meines Geländewagens, um Pepper rauszulassen. Dann marschierte ich mit ihm zu der Baustelle.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, junge Frau?«, fragte mich einer der Männer in grauer Arbeitshose und schwarzem Fleecepullover, als ich das Grundstück über eine Bretterbohle betrat.

»Nein danke. Ich wollte mich nur umsehen«, sagte ich und bemerkte seinen misstrauischen Blick. Daher ergänzte ich schnell: »Ich bin die Landschaftsarchitektin, die den Garten anlegen soll, und wollte mir ein Bild von allem machen. Anna Bergmann ist mein Name.«

Ich reichte ihm meine Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck war kräftig, und sein sonnengegerbtes Gesicht bekam einen freundlichen Ausdruck. Kleine Fältchen um Augen und Mund wurden beim Lächeln sichtbar.

»Okay, kein Problem! Ole Phillips, entschuldigen Sie bitte mein anfängliches Misstrauen, aber hier laufen manchmal Leute herum, die hier nichts zu suchen haben, da kann man nicht vorsichtig genug sein. Na, dann viel Spaß, Frau Bergmann! Sehen Sie sich in Ruhe um. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht über irgendetwas stolpern«, sagte er und nickte mir zu.

Dann schulterte er mit Leichtigkeit einen großen Sack Mörtel von der Ladefläche eines der Kleintransporter und verschwand im Haus. Ich ging mit Pepper über das gesamte Grundstück. Bislang war von einer Gartenfläche nicht viel zu erkennen. Überall waren Sand- und Erdhügel aufgeschüttet und dazwischen Paletten mit Steinen und anderen Baumaterialien gestapelt. Pepper steckte neugierig seine Nase in einen schwarzen Eimer. Ich würde erst aktiv werden können, wenn alles komplett beseitigt war, dachte ich. In Gedanken stellte ich mir Gruppen von Hortensienbüschen auf der einen und den typischen Sylter Heckenrosen auf der anderen Seite vor. Ich liebte den betörenden Duft der Heckenrosen, den sie zur Blütezeit ab Mai überall auf der Insel verströmten. Im Herbst und Winter boten ihre dicken roten Hagebutten eine willkommene Nahrung für Vögel. Und zwischen alledem könnte man einzelne Gehölze, die nicht zu groß werden, aber dennoch einen gewissen Sichtschutz boten, pflanzen, überlegte ich. Das Grundstück sollte nach Aussage der Eigentümer möglichst pflegeleicht gestaltet werden. Das waren ohnehin die meisten Gärten auf der Insel. Das hatte in erster Linie den Grund, dass die meisten Häuser als Feriendomizil oder Zweitwohnsitz genutzt wurden, besonders hier in Kampen. Die Besitzer waren selten mehr als ein paar Wochen im Jahr vor Ort und konnten oder wollten sich nicht selbst um die Pflege ihrer Grundstücke kümmern. Aus diesem Grund gab es genügend Unternehmen auf der Insel, die eigens dafür ihre Dienste anboten und sich darauf spezialisiert hatten.

Nachdem ich das gesamte Grundstück ausgiebig inspiziert und Ole Phillips signalisiert hatte, dass ich gehen würde, schlenderte ich noch zu Fuß durch die Straßen von Kampen. Hier und da waren Gärtner dabei, die Gärten aus dem Winterschlaf zu befreien. Es wurde geschnitten, geharkt und gepflanzt. Ich sah zum Himmel, wo sich ein Sonnenstrahl den Weg durch die Wolkendecke freibahnte. Die Wolkenlücken wurden immer größer und die Sonne würde nicht mehr lange brauchen, um den Kampf gegen die Wolken zu gewinnen. Der Tag versprach, sonnig zu werden. Herrlich! Plötzlich hörte ich mein Handy in der Jackentasche klingeln. Ich blieb kurz stehen, um nachzusehen, wer mich anrief. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass es Britta war.

»Hallo, Britta! Wie geht’s? Was kann ich für dich tun? Ich hatte schon befürchtet, meine Mutter ruft wieder an«, fragte ich gut gelaunt und ging währenddessen langsam weiter. Pepper schnüffelte intensiv an einem Laternenpfahl, der wahrscheinlich von einem seiner Kollegen markiert worden war. Er hob kurz das Bein, um es seinem Vorgänger gleichzutun.

»Hallo, Anna!«, hörte ich die Stimme meiner Freundin. Mir fiel sofort auf, dass sie nicht so unbeschwert wie gewöhnlich klang.

»Was ist los?«, wollte ich wissen.

»Wo bist du gerade? Können wir uns treffen? Gleich?«

»Ich laufe durch Kampen und habe eine Baustelle angesehen, aber ich habe Zeit. Ist etwas passiert?«

Ich war ernsthaft besorgt.

»Erzähle ich dir gleich, nicht am Telefon. Kannst du nach Westerland kommen? Sagen wir in 20 Minuten im ›Café Wien‹? Geht das?«

»Ja, kein Problem. Kann sein, dass ich etwas länger bei der Parkplatzsuche brauche. Aber ich fahre gleich los. Wartest du drinnen?«.

»Ach, Anna. Ja, ich gehe schon rein und warte auf dich. Bis gleich.«

Nachdenklich steckte ich das Handy in meine Tasche und machte mich mit Pepper auf den Weg zu meinem Auto. Ich setzte den Hund nach hinten und fuhr schleunigst nach Westerland. Dieses Mal nahm ich den schnellsten Weg und wählte in Wenningstedt am Kreisel die zweite Ausfahrt in Richtung Süden.

In Westerland angekommen, parkte ich in einer der Nebenstraßen. Dann zog ich ordnungsgemäß einen Parkschein an einem der Parkscheinautomaten und ging mit großen Schritten durch die Fußgängerzone dem verabredeten Treffpunkt entgegen, dem ›Café Wien‹ in der Strandstraße. Ich machte mir Sorgen um meine beste Freundin. Sie hatte am Telefon merkwürdig geklungen. Hoffentlich war niemandem etwas zugestoßen. So bedrückt hatte ich Britta selten erlebt. Ich betrat das Café mit unwohlem Gefühl und blickte mich nach ihr um. Heute hatte ich gar kein Auge für die herrlichen Torten, Kuchen und anderen Köstlichkeiten, die den Besucher beim Betreten des Cafés durch die gläserne Theke anlächelten. Ganz hinten an der Wand saß Britta an dem Tisch unter dem großen Bild mit der roten Mohnblüte. Ich erkannte sie sofort an ihrem hellblonden Haar. Sie winkte und lächelte, als sie mich näher kommen sah. Ich bahnte mir den Weg zwischen den anderen Stühlen und Tischen hindurch. Pepper hatte Britta ebenfalls entdeckt und begrüßte sie schwanzwedelnd. Dabei hätte er vor lauter Freude beinahe eine Serviette vom Nachbartisch gefegt. Das Ehepaar an dem Tisch amüsierte sich darüber. So viel Verständnis wurde einem nicht von jedem entgegengebracht.

»Danke, dass du gleich kommen konntest«, begrüßte mich Britta.

Anschließend streichelte sie Pepper flüchtig über den Kopf.

»Ja, klar. Was ist denn los?«, wollte ich endlich wissen, zog meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne.

Dann nahm ich Britta gegenüber Platz und sah sie erwartungsvoll an. Bevor sie allerdings zu sprechen begann, stand eine Bedienung an unserem Tisch, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. Britta bestellte einen großen Milchkaffee und ich einen Earl Grey. Als absoluter Teeliebhaber war ich auf Sylt genau richtig. Überall gab es Teegeschäfte. Ein wahres Paradies für jeden Teefreund mit allem, was das Herz eines Teetrinkers höher schlagen ließ.

»Ich glaube, Jan hat eine andere«, sagte Britta geradeheraus und bekam nasse Augen.

Ich war zutiefst schockiert über ihre Worte, da ich mit allem gerechnet hatte, aber nicht damit. Ich wusste im ersten Augenblick überhaupt nicht, was ich sagen sollte.

»Aber Britta, wie kommst du darauf? Bist du dir sicher?«

»Nein, sicher nicht, aber er ist in letzter Zeit so komisch und tut so geheimnisvoll. Ich habe ihn darauf angesprochen, ob es irgendetwas gibt, was ihn bedrückt oder er mir sagen will.«

»Und? Was hat er geantwortet?«

»Er hat mich nur ungläubig angesehen und es rigoros abgestritten. Ich würde mir das alles einbilden, er wäre ganz normal. Wie immer eben. Ich solle mir keine Gedanken machen.«

»Und warum denkst du dann, dass der Grund für sein Verhalten eine andere Frau sein könnte? Das kann doch alles Mögliche sein. Vielleicht hat er sehr viel zu tun im Moment oder hat sich über irgendetwas sehr geärgert.«

Britta schüttelte verneinend mit gesenktem Blick den Kopf.

»Nein, das hätte er mir sicher erzählt. Das ist es nicht. Heute Morgen habe ich gehört, wie er ›das ist ja wunderbar‹ und ›ich freue mich drauf‹ gesagt hat. Er hat gedacht, ich sei im Badezimmer und könne ihn nicht hören, aber ich war auf dem Weg in die Küche.« Ich hörte ihr aufmerksam und zugleich fassungslos zu. »Du hättest ihn mal hören sollen, wie er gesäuselt hat. So spricht er nicht mit gewöhnlichen Geschäftspartnern oder Angestellten. Da steckt etwas anderes dahinter, das steht völlig außer Frage. Außerdem benutzt er ein neues Aftershave.«

Eine dicke Träne lief Britta über die Wange, doch sie wischte sie sofort energisch weg. Schwäche zu zeigen, war nicht ihre Art.

»Hast du irgendetwas von dem verstanden, was gesprochen wurde?«, wollte ich wissen.

»Nein, ich habe nur gehört, dass er sich sehr freuen würde. Das reicht ja wohl!«

»Aber Britta, das kann alles Mögliche gewesen sein! Vielleicht ging es um eine Angelegenheit, die das Hotel betrifft. Eine Bestellung zum Beispiel. Dahinter muss nicht gleich eine andere Frau stecken. Und was das neue Aftershave betrifft, da kann er was Neues ausprobieren. Du hast doch auch hin und wieder ein anderes Parfüm, oder?«

»Meinst du? Aber ich habe trotz allem so ein ungutes Gefühl. Dann hätte er doch klipp und klar sagen können, mit wem er gesprochen hat. Stattdessen tut er so, als wäre es nicht wichtig. Warum frage ich dich? Und das alles kurz vor unserem zehnten Hochzeitstag!«

Britta saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf ihrem Stuhl und legte die Hände in den Schoß. Die Kellnerin brachte unsere Getränke und wäre dabei beinahe auf Pepper getreten, der neben meinem Stuhl, halb unter dem Tisch schlief.

»Der Tee muss drei Minuten ziehen«, betonte sie, als sie die kleine Teekanne mit der Tasse vor mir abstellte.

Ich nickte dankend. Dann entfernte sie sich von unserem Tisch.

»Also, Britta«, fuhr ich fort, während ich nach einem Stück Kandis aus dem Schälchen auf unserem Tisch angelte, »ich weiß nicht. Sehr überzeugend klingt das alles nicht, wenn du mich fragst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jan dich betrügen sollte. Das passt so gar nicht zu ihm.«

»Das hast du von Marcus zu Beginn auch nicht gedacht, wenn ich dich erinnern darf, oder?«

»Marcus! Den kannst du unmöglich mit Jan vergleichen. Da prallen zwei völlig verschiedene Welten aufeinander. Marcus war sich immer selbst am nächsten. Die Worte Verantwortung und Treue gehören nicht in seinen Wortschatz. Ich wollte das nur von Anfang an nicht wahrhaben. Aber wo wir beim Thema sind. Stell dir vor: Marcus hat gestern bei meinen Eltern angerufen.«

Britta sah mich entgeistert an. Sie hätte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt.

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Doch, mein voller Ernst sogar.«

»Und was wollte er? Der ruft doch nicht an, um zu hören, wie es allen geht. Schon gar nicht nach so langer Zeit. Da steckt mit Sicherheit mehr dahinter. Da könnte ich wetten.«

»Natürlich nicht. Angeblich will er mir irgendwelche Erinnerungsstücke schicken, die er beim Aufräumen gefunden hat. Außerdem benötigt er dringend eine Unterschrift von mir eine Versicherungspolice betreffend.«

Britta setzte eine skeptische Miene auf und legte dabei die Stirn in tiefe Falten.

»Ja, mir ist eingefallen, dass wir seinerzeit eine Kapitallebensversicherung abgeschlossen hatten. Sie lief jedoch nur auf Marcus, ich war nur als Begünstigte eingetragen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Es handelt sich dabei allerdings um eine geringe Summe, wenn ich mich richtig erinnere. Wahrscheinlich geht es darum. Ach, was weiß ich, wird schon nicht so wichtig sein«, ergänzte ich.

»Marcus und Geld. Da müssten bei dir alle Alarmglocken läuten, Anna!«, sagte Britta und verzog den Mund.

»Wie könnte ich das vergessen! Wir hatten ständig Sorgen, weil Marcus unser Geld für alles Mögliche ausgegeben hat, ohne es vorher mit mir abzusprechen. Viel schlimmer war, dass wir es gar nicht hatten. Aber ich habe mit ihm nicht mehr das Geringste zu tun. Es ist mir völlig egal, was Marcus jetzt macht. Das habe ich Nick gesagt.«

»Nick?« Britta zog überrascht eine Augenbraue hoch.

»Er war gestern komisch und hat wissen wollen, ob ich oft an Marcus denke. Scheinbar bringt der nahende Frühling unsere Männer etwas aus dem Konzept.«

Ich schüttelte lachend den Kopf und goss mir Tee in die Tasse. Der Kandis knisterte laut und zerfiel in viele kleine Stücke, bevor er sich gänzlich auflöste. Ein angenehmer Duft von Bergamotte stieg mir aus der dampfenden Tasse in die Nase.

»Nick liebt dich über alles, Anna, und will dich nicht verlieren. Das ist doch klar, dass er da hellhörig wird, wenn plötzlich der Ex zur Sprache kommt«, stellte Britta fest und sah auf ihre Armbanduhr.

»Ich weiß, aber Jan liebt dich doch auch. Sprich ganz in Ruhe mit ihm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da irgendetwas im Argen liegt. Es ist besser, du klärst das so schnell wie möglich, ehe sich die Fronten verhärten. Den Tipp hat mir übrigens vor Kurzem eine sehr gute Freundin gegeben.«

Ich zwinkerte ihr zu, und ein zaghaftes Lächeln erschien auf Brittas Gesicht. Sie holte tief Luft.

»Ich hoffe, du hast recht. Jetzt muss ich leider los. Die Jungs haben Hunger, wenn sie aus der Schule kommen, und der Kühlschrank ist fast leer. Ich muss schnell etwas einkaufen. Ich weiß noch nicht, was ich kochen soll. Zurzeit stehe ich ein bisschen neben mir.«

»Spaghetti oder Pizza gehen immer! Halte mich auf dem Laufenden, okay? Und melde dich jederzeit, wenn du mich brauchst oder reden willst«, fügte ich hinzu.

»Mach ich«, erwiderte Britta und zog sich die Jacke an.

»Das mache ich, lass mal«, sagte ich, als Britta in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie suchte.

»Danke, Anna. Also, bis später. Grüße an Nick!«

»Tschüss, Britta! Werde ich ausrichten.«

Ich sah ihr nach, als sie auf den Ausgang zusteuerte und um die Ecke verschwand. Pepper hatte nur leicht den Kopf gehoben und blickte zu mir hoch. Als er merkte, dass ich keine Anstalten machte aufzustehen, legte er sich wieder auf die Seite und schlief weiter. Brittas Verdacht machte mich traurig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr Mann eine Affäre haben sollte. Das passte überhaupt nicht zu ihm, und das traute ich ihm nicht zu. Er liebte Britta und seine Kinder. Er würde das alles nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Oder doch? Aber irgendetwas musste nicht stimmen, wenn Britta so niedergeschlagen war. Sie war sonst der reinste Sonnenschein und sah stets das Positive im Leben. Die Rolle der Skeptikerin wurde mir zuteil. Ich war misstrauisch und rechnete oft mit dem Schlimmsten. Aber nicht Britta. Ich fühlte mich hilflos und wünschte mir in diesem Augenblick, dass sie sich gründlich täuschen möge.

Kapitel 5

»Chef, könnten Sie bitte kommen? Hier ist Besuch für Sie«, sagte die junge Sprechstundenhilfe und steckte den Kopf durch den Türspalt des Behandlungszimmers.

»Jennifer, Sie sehen doch, dass ich zu tun habe. Hat das nicht bis später Zeit?«, antwortete Marcus verärgert, ohne sie anzusehen.

»Ich glaube, es wäre ratsam, wenn Sie gleich kommen könnten.« Sie lachte verlegen. »Die beiden Herren sind etwas ungehalten«, fügte Jennifer hinzu und zog eine Grimasse.

»Herr Gott, ja, meinetwegen, ich komme«, stöhnte Marcus. An seinen Patienten auf dem Behandlungsstuhl vor sich gerichtet fuhr er fort: »Einen Moment, Herr Münzer, es geht gleich weiter. In der Zwischenzeit können Sie in Ruhe Abschied von Ihrem Zahn nehmen. Die Betäubung braucht ohnehin noch ein paar Minuten.«

Der Mann, der nervös das Papiertaschentuch zwischen seinen Fingern knetete, sah Marcus mit weit aufgerissenen Augen ängstlich an. Kleine Schweißperlen waren an seinem Haaransatz zu erkennen, die sich in Richtung seiner Stirn auf den Weg machten. Mit panischem Blick sah er zu der Zahnarzthelferin, die ihm wohlwollend zunickte. Dann reichte sie dem Mann ein neues Papiertuch und schenkte gleichzeitig ihrem Chef einen mahnenden Blick. Aber Doktor Marcus Strecker zog sich davon unbeeindruckt die Gummihandschuhe aus, nahm den Mundschutz ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und verließ das Behandlungszimmer. Wer weiß, was für ein Notfall das war, überlegte er auf seinem Weg zum Empfang. Er kam am Wartezimmer vorbei. Ein Blick hinein bestätigte ihm, dass er noch einige Patienten bis zur Mittagspause zu behandeln hatte. Aus dem Augenwinkel konnte er eine junge blonde Frau erkennen, an der sein Blick kurz hängen blieb. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit allerdings gerade einem kleinen Kind, das auf dem Boden saß und die Kiste mit den Bauklötzen ausräumte. Uninteressant, dachte Marcus und ging weiter. Er mochte keine Kinder, denn seiner Meinung nach kosteten sie Geld, Zeit und vor allem Nerven. Außerdem hatte man sie sein Leben lang am Hals. Als er mit Anna zusammen war, hatte sie ihm ewig mit ihrem Kinderwunsch in den Ohren gelegen. Er hatte sie immer wieder mit neuen Ausreden vertrösten können. Marcus richtete jetzt seine Augen weiter zum Empfangstresen, und seine ohnehin üble Laune an diesem Vormittag verschlechterte sich schlagartig um ein Vielfaches. Dort standen zwei hünenhafte Gestalten in schwarzer Kleidung mit kurz rasierten Schädeln und sahen düster drein. Sie sahen aus, als ob sie vor lauter Kraft kaum zu gehen vermochten. Jedenfalls waren sie alles andere als Notfallpatienten. Daran bestand kein Zweifel. Auch wenn die beiden Hünen verkniffen umherblickten, Menschen mit Zahnschmerzen sahen anders aus. Und erschienen zumeist nicht im Doppelpack. Jedenfalls Kerle in dieser Größe. Bei Schulkindern mit ihren Eltern war das etwas anderes, aber darum handelte es sich hier definitiv nicht.