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Beschreibung

Die Entwicklung eines Fallkonzepts, also eines Verständnisses davon, welche Faktoren bei einer Klientin oder bei einem Klienten zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung bzw. eines Problems beitragen, steht am Beginn jeder therapeutischen bzw. beratenden Tätigkeit. Die Fallkonzeption bildet den Ausgangspunkt für die Planung der weiteren Interventionen. Ein Fallkonzept berücksichtigt Informationen aus unterschiedlichen Perspektiven und bedarf der fortwährenden Anpassung und Überarbeitung. Das Buch stellt das Vorgehen bei der systemischen Fallkonzeptualisierung anhand zahlreicher Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Anwendungsfeldern dar. In der systemischen Therapie kann die Methodik der idiographischen Systemmodellierung für die Erstellung eines Fallkonzepts genutzt werden. Gemeinsam mit der Klientin oder dem Klienten wird eine Systemstruktur erstellt, indem relevante Komponenten des biopsychosozialen Systems identifiziert sowie deren Zusammenhänge bzw. dynamischen Muster, die sich aus der Systemstruktur ergeben, grafisch dargestellt werden. Das System kann dann in weiteren Schritten an einer Flipchart oder auch an einer elektronischen Tafel bearbeitet werden, um die Entstehungsfaktoren sowie die aufrechterhaltende und Veränderungsdynamik eines individuellen oder interpersonellen Problemsystems sichtbar zu machen und daraus Ansatzpunkte für Lösungen und Veränderung zu erarbeiten. Die Komponenten des Systemmodells sowie deren Veränderungen bzw. Muster und Musterveränderungen von Einzelpersonen und Mehrpersonensystemen (Paare, Familien, Teams) können mithilfe des Synergetischen Navigationssystems (SNS), einem Internet- und App-basierten Verfahren für das Real-Time Monitoring von Therapieprozessen, erfasst und visualisiert werden. Bei vielen Klientinnen und Klienten löst bereits die Systemmodellierung selbst einen Veränderungsprozess aus, indem sich die Sicht auf ihr Problem verändert. Das Vorgehen kann in der ambulanten und stationären Psychotherapie sowie in der Paartherapie eingesetzt werden. Es eignet sich auch für den Einsatz in nichtklinischen Anwendungsfeldern, wie z.B. der Jugendhilfe, im Bereich Coaching und Beratung sowie zur Teamentwicklung.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Günter Schiepek

Bettina Siebert-Blaesing

Marcus B. Hausner

(Hrsg.)

Systemische Fallkonzeption

Idiographische Systemmodellierung und personalisierte Prozessgestaltung

Systemische Praxis

Band 7

Systemische Fallkonzeption

Prof. Dr. Günter Schiepek, Dr. Bettina Siebert-Blaesing, Marcus B. Hausner

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Günter Schiepek, Prof. Dr. Wolfgang J. Eberling Dr. Heiko Eckert, Dr. Matthias Ochs, Prof. Dr. Christiane Schiersmann, Dipl.-Psych. Rainer Schwing, Prof. Dr. Dr. Peter A. Tass

Prof. Dr. Günter Schiepek, geb. 1958. Seit 2008 Professor an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg und dort Leiter des Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung sowie Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gastprofessor am Department of Psychology der Sapienza University in Rom. Geschäftsführer des Center for Complex Systems. Lehrtherapeut für Systemische Therapie (DGSF).

Dr., Dipl.-Sozialpäd. Bettina Siebert-Blaesing, geb. 1968. 1995 – 2024 Tätigkeit als Kirchliche Jugendpflegerin, Bereichsleitung sowie Fachreferentin für Jugend und Arbeit in der Erzdiözese München und Freising. 2022 Professur für Soziale Arbeit an der IU (Internationale Hochschule). Seit 2024 Fachbereichsleitung Kindertageseinrichtungen des Caritasverbandes e. V. der Erzdiözese München und Freising. Nebenberufliche Tätigkeit als Supervisorin/Coach (DGSv, SG), Journalistin (DFJV, JB) und Lehrbeauftragte.

M. A. Marcus B. Hausner, geb. 1968. Seit 1999 selbstständiger Trainer, Berater und Coach und seit 2014 als Kooperationspartner der Unternehmenslotsen tätig. Seit 2021 Doktorand und seit 2023 als Dozent am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg tätig.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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37085 Göttingen

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2025

© 2025 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3282-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3282-4)

ISBN 978-3-8017-3282-0

https://doi.org/10.1026/03282-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1  Idiographische Systemmodellierung und Synergetisches Prozessmanagement – Entwicklungen und Perspektiven

2  Ambulante Langzeittherapie mit Unterstützung durch das Synergetische Prozessmanagement

3  Veränderung im Spiegel von Systemmodellen – ein Fallbeispiel aus der ambulanten Psychotherapie nach C. G. Jung

4  Idiographische Systemmodellierung und Prozessmonitoring an einer Tagesklinik für Psychotraumatologie

5  Systemmodellierung und Prozessgestaltung mit Gruppen in der Therapie chronischer Schmerzen

6  Idiographische Systemmodellierung in der Paartherapie

7  Fallkonzeption und Feedback im Coaching einer Führungskraft

8  Coaching junger Erwachsener in beruflichen und privaten Übergängen – das Projekt „Kraftquellen“

9  Idiographische Systemmodellierung in der Teamentwicklung

10  Idiographische Systemmodellierung in der Jugendhilfe

11  Vom Routine Outcome Monitoring zum Routine Process Feedback: Empirische und klinische Befunde aus zehn Jahren idiographischer Systemmodellierung

12  PsySim/SysModWeb – Ein graphisches Werkzeug für die idiographische Systemmodellierung auf dem Bildschirm

13  Wir haben einen Traum: Synergetisches Prozessmanagement, idiographische Systemmodellierung und personalisierte Psychotherapie

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

|7|Vorwort

„Was ist denn das SORC-Modell der Systemischen Therapie?“, ist eine Frage, die einmal nach einem Seminar in einem verhaltenstherapeutischen Institut gestellt wurde. Worum es geht, wird schnell deutlich: der Wunsch nach Orientierung, nach einem „roten Faden“, nach klaren Leitplanken für eine Fallkonzeption in diesem Psychotherapieverfahren.

Die Frage nach Fallkonzeption und Behandlungssteuerung ist in der Systemischen Therapie vielleicht aktueller denn je. Durch die Aufnahme in die Psychotherapie-Richtlinie und die Anwendung im Kontext der durch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzierten ambulanten Psychotherapie ist die Frage hochrelevant. So geht es in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung um die Vermittlung entsprechender Modelle, die dann ebenso in Berichten an die Gutachter1 im Rahmen der Beantragung von psychotherapeutischen Leistungen verschriftlicht und überzeugend vorgetragen werden müssen.

Doch was ist nun das spezifisch Systemische an einem Fallverständnis und wie lässt es sich konzeptionell erfassen? Die vielleicht größte Neuerung, die durch die Systemische Therapie in das kassenfinanzierte Therapiesystem kommt, ist zum einen das Mehrpersonensetting und zum anderen sind es systemische Grundannahmen, vor allem der Nichtlinearität und der zirkulären Wechselwirkungen.

Systemtheorien und Konstruktivismen bilden die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Grundannahmen. Sie sind einerseits attraktiv, weil sie über ein alltägliches oder gar medikalisiertes Denken, über simple lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen weit hinausgehen und bringen gleichzeitig die Herausforderung mit sich, dies konzeptionell präzise zu erfassen und zudem für eine systemisch-therapeutische Praxis umsetzbar zu machen.

Genau hier setzt Günter Schiepek seit vielen Jahren mit seinen weitreichenden Überlegungen und Publikationen zur Dynamik komplexer Systeme, zur Synergetik und der Umsetzung mit dem Synergetischen Navigationssystem an. Uns hat das immer wieder in Vorträgen und Schriften begeistert und inspiriert und letztlich auch dazu gebracht, eine Weiterbildung bei Günter Schiepek zu diesem Thema zu besuchen.

Dort spielte dann auch die vertiefte Befassung mit der idiographischen Systemmodellierung eine nicht unwesentliche Rolle, denn es ging darum, an eigenen |8|Themen und Beispielen mittels eines Interviews die subjektiv wahrgenommenen Einflussgrößen, bisherigen Lösungsversuche, aber auch Ressourcen als Variablen zu erfassen und deren „Ladung“ in eine jeweilige Richtung zu beschreiben.

Ein spannender und zutiefst systemischer Prozess, geht es doch um die subjektiven Konstruktionen der Beteiligten und deren Nutzung für die Generierung von begründeten Interventionsmöglichkeiten. Dabei spielt einerseits Komplexitätsreduktion eine Rolle, um solche Modelle nicht zu überfrachten, andererseits eine Art zirkuläre Komplexitätserweiterung, um Rück- und Wechselwirkungen zwischen den Variablen betrachten zu können.

Mit diesem Buch gelingt es Günter Schiepek, Bettina Siebert-Blaesing und Marcus B. Hausner sowie den beteiligten Autoren zu einem Zeitpunkt, der kaum passender sein könnte, einen weiteren wichtigen Impuls in die Debatte und Entwicklung der systemischen Fallkonzeption zu geben. Vor dem Eintritt ins Kassensystem wurde ja zuletzt ein Mangel an theoretischer Orientierung systemischen Vorgehens beklagt. Nun müssen sich Therapeuten durch die stärkere Formalisierung der Therapie vertiefter mit theoretischen Herleitungen beschäftigen.

Praxisnah wird deutlich, wie eine idiographische Systemmodellierung erfolgen kann und wie sie dann weitergehend als Grundlage für ein Prozessmonitoring dienen kann. Mit individuellen, aus der Systemmodellierung generierten Fragebögen und der täglichen Abfrage per App werden Prozessverläufe, vor allem aber entscheidende Ordnungsübergänge beobachtbar und können in den therapeutischen Prozess zurückgemeldet werden. Therapeut und Klient werden so gleichermaßen zu Beobachtern und Interpretierenden eines Prozesses auf tatsächlicher Augenhöhe.

Welches Potenzial und Spektrum die Systemmodellierung und daraus ableitbare Vorgehensweisen mit sich bringen, zeigt die sehr große Bandbreite der in den Kapiteln dieses Buches thematisierten Anwendungsfelder.

Neben klassischer ambulanter und stationärer Psychotherapie sind dies spezifische Settings wie Paartherapie oder spezifische Themenfelder wie Traumatherapie. Erhellend sind die konkreten Praxisdarstellungen im Mehrpersonensetting. Anschaulich wird in den Kapiteln dargestellt, wie mit der Komplexität der erhobenen Daten gewinnbringend umgegangen werden kann.

Thematisiert werden aber auch Felder außerhalb der Psychotherapie, etwa im Bereich von Coaching oder Team- und Organisationsentwicklung oder auch in der Jugendhilfe. Das ist insofern spannend, aber auch typisch systemisch, als sich die |9|grundlegenden Annahmen über zirkuläre Prozesse und Veränderungen eben nicht auf psychosoziale Themen und Settings oder gar das Gesundheitswesen beschränken. Insofern ist auch in diesem Band ein wechselseitiger Profit möglich, indem bewusst über den eigenen kontextuellen Tellerrand geschaut und die Anwendung der Methode in einem anderen Kontext kennengelernt wird.

Abschließend wird durch den sysTelios Think Tank sehr praxisorientiert die schon kurz angesprochene Übertragung in ein tatsächliches Prozessfeedback thematisiert. Auch das neue, praktische E-Tool zur Systemmodellierung wird in diesem Band vorgestellt. Den Lesern wird somit ein umfassender Einblick in ein auf den ersten Blick vielleicht komplex erscheinendes und doch gut handhabbares, ur-systemisches Konzept des Fallverständnisses nahegebracht. Seiner Zeit voraus war Günter Schiepek mit seinem Ansatz (der idiographischen Systemmodellierung) schon lange (seit Mitte der 1980er Jahre), lassen sich doch Veränderungsprozesse jedweder Therapierichtung abbilden. Diesen Ansatz entwickelte Günter Schiepek schon zu einer Zeit, als die Therapieschulen noch stärker in Abgrenzung zueinander konzeptualisiert wurden. Das Synergetische Navigationssystem (SNS) wäre unseres Erachtens eine ideale, seit Jahren erprobte Form, Therapieprozesse anstelle des auslaufenden Gutachterverfahrens zu begleiten.

Zurecht fordert Günter Schiepek, dass dieses Modell auch in den systemischen, vor allem therapeutischen Aus- und Weiterbildungen eine Rolle spielen sollte, und es wäre wünschenswert, wenn es auch in der therapeutischen Praxis noch deutlich mehr Verbreitung fände. Vielleicht konnten sich die Konzepte von Günter Schiepek und Kollegen in den letzten Jahren so gut entwickeln, weil sie etwas abseits des systemischen Mainstreams liefen und nicht jede, nur auf Methoden ausgerichtete Welle mitgeschwommen werden musste. Es ist nun aber an der Zeit, sie ins Herz der systemischen Fallkonzeption und Praxis zu rücken.

Dieses Buch kann dazu ein gewichtiger Impuls sein und wird seinen Beitrag dazu leisten. Und es geht noch weiter: Die Dynamik unter den Teilnehmenden der Weiterbildung hat gezeigt: Das Vorgestellte regt an, damit kreativ-spielerisch weiterzuarbeiten. Warum nicht einmal die Punkte der Zeitreihen auf den Boden legen, um sie nachzulaufen, oder sie mit den Tönen einer Tonleiter in Schwingung zu bringen oder Farbbilder aus den Daten entstehen zu lassen? Vielleicht führt die weitere Verbreitung zu noch mehr Übersetzung der im Hintergrund laufenden Algorithmen zu bunten Anwendungsformen mit Klienten.

In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern eine mit Sicherheit anregende Lektüre und dem Buch die Aufmerksamkeit, die es definitiv verdient.

Essen und Mannheim, Juli 2024

Björn Enno Hermans

und Sebastian Baumann

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf genderbezogene Markierungen bei der Benennung von Professionen, Berufsgruppen oder einzelnen Personen verzichtet. Es wird stattdessen das generische Maskulinum als grammatikalische Form verwendet, wenn eine genderbezogene Markierung nicht ausdrücklich angezeigt ist.

|10|1  Idiographische Systemmodellierung und Synergetisches Prozessmanagement – Entwicklungen und Perspektiven

Günter Schiepek

In diesem einführenden Kapitel wird über die Entwicklungsgeschichte der idiographischen Systemmodellierung als Methode der systemischen Fallkonzeption berichtet. Es gab unterschiedliche Einflüsse, Vorbilder und auch Kontrastfolien, die für diese Entwicklung von Bedeutung waren, und es gab auch unterschiedliche Begegnungen, die bei der Rezeption in Psychotherapie und Beratung eine Rolle gespielt haben. Das Vorgehen der Systemmodellierung wird im Folgenden – auch anhand eines Fallbeispiels – beschrieben. Neuere Entwicklungen erlauben es, die Komponenten (Variablen) eines Systemmodells mithilfe eines personalisierten Prozessfragebogens zu erfassen, mit dem Selbsteinschätzungen im Verlauf durchgeführt werden. Hierfür stehen der Fragebogen-Editor und die gesamte Methodik des Synergetischen Navigationssystems (SNS) zur Verfügung.1 Diskutiert werden schließlich Möglichkeiten und Grenzen, idiographische Systemmodelle zu formalisieren, Netzwerkmodelle aus vorliegenden Zeitreihen zu „extrahieren“ und eine personalisierte Fallkonzeption (Idiographik) durch eine geeignete Spezifikation einer allgemeinen Theorie (Nomothetik) zu entwickeln. Einige Bemerkungen zum Verhältnis zwischen dem idiographischen und dem nomothetischen Forschungsansatz schließen das Kapitel ab.

1.1  Was bedeutet „idiographische Systemmodellierung“?

Die Konzeption und die Methodik der idiographischen Systemmodellierung wurden Mitte der 1980er Jahre entwickelt. Es handelt sich dabei um den Versuch der |11|Beschreibung von Einzelfällen (Idiographik) mit dem Anspruch, die dabei beteiligten Komponenten in ihrer Wechselwirkung zu verstehen. Das Vorgehen orientiert sich eng am Begriff „System“, der eine Menge von Objekten oder Komponenten mit Relationen, d. h. mit Wechselwirkungen zwischen diesen Komponenten, bezeichnet (Hall & Fagen, 1968; Böse & Schiepek, 2000, S. 186 ff.). In psychologischen Anwendungsfeldern wie Psychotherapie, Klinische Psychologie oder Beratung sind vor allem psychologische Komponenten gemeint, also Konstrukte wie „Motivation“, „Selbstwert“, „Freude“, „Angst“ oder beliebige andere Emotionen, „Einstellungen“, „Identifikation mit …“ und viele mehr. Über intraindividuelle psychologische Konstrukte hinaus kommen auch sozialpsychologische oder mikrosoziologische Konstrukte infrage, z. B. „Wir-Gefühl“, „Gruppenidentität“ oder „interpersonelle Konflikte“, und schließlich auch Konstrukte, die physiologische oder biologische Prozesse bezeichnen. Die Vielfalt des Möglichen und der Bezug zu verschiedenen Systemebenen eröffnen der Systemmodellierung den Raum eines biopsychosozialen Gesamtkonzepts (Engel, 1977; von Uexküll & Wesiack, 1996) und eines entsprechenden Menschenbilds.

Abbildung 1.1:  Beispiel für ein idiographisches Systemmodell (zentral: Essstörungen, Schmerz und Selbstwertregulation)

Die Relationen zwischen den Komponenten sind als Kausalrelationen gedacht, was Systeme von Netzwerken unterscheidet. Netzwerke weisen Korrelationen oder Partialkorrelationen zwischen den Komponenten auf, während Systeme über ge|12|richtete Wirkungen zwischen den Komponenten definiert sind, sowie eventuell über rekursive Wirkungen der Komponenten auf sich selbst (autokatalytische Schleifen). Abbildung 1.1 zeigt ein Beispiel eines idiographischen Systemmodells. Die Themen der Klientin waren Essstörungen, Schmerz und Selbstwertregulation (zentrale Variablen).

Die Komponenten werden in Systemmodellen als Variablen interpretiert, also als Größen, die sich in der Zeit mehr oder weniger schnell ändern können. Die in den Systemmodellen dargestellten Wirkzusammenhänge beschreiben die Wirkung einer Variable auf eine oder mehrere andere. Aufgrund der rekursiven oder kreiskausalen Rückwirkungen über eine oder mehrere andere Variablen können unterschiedliche Arten von Dynamiken oder prozessualen Mustern entstehen und erklärbar werden. Damit ist auch das Adjektiv „systemisch“ einfach definiert, nämlich als Adjektiv zum Substantiv „System“, also die Struktur und Funktion von Systemen betreffend. Die idiographische Systemmodellierung konnte man bereits zu einer Zeit mit Fug und Recht als systemische Methode bezeichnen, als sich die Systemische Therapie erst anschickte, Konturen zu gewinnen.

Die dritte Begriffskomponente macht deutlich, dass es sich bei diesen Systemen um Modelle handelt. Modelle sind nicht die Wirklichkeit und bilden diese auch nicht in jedem Detail ab, sondern sind gekennzeichnet durch Selektion, Abstraktion und Perspektivität (Stachowiak, 1973; Schiepek, 1991). Sie sind selektiv in dem Sinne, dass sie auf vieles verzichten, Mut zur Lücke aufweisen und zahlreiche Einzelheiten auch weglassen. Sie sind nicht umfassend oder „ganzheitlich“, wie Wissenschaft eben nie ganzheitlich ist. Ein historisches Beispiel ist die Zellfärbetechnik von Golgi (1848 – 1926), bei der mit einer Silberjodid-Einfärbung von Gehirngewebe zum ersten Mal die Netzwerkstruktur von Neuronen erkennbar wurde. Dies war möglich, weil damit nur etwa jedes hundertste Neuron eingefärbt wurde; wären es alle gewesen, hätte man vor lauter (Dendriten-)Bäumen den (Neuronen-)Wald nicht mehr gesehen (Spitzer, 1996). „Abstraktion“ meint Vorgänge wie Zusammenfassung, begriffliche Einordnung oder Klassifikation, womit man von Einzelereignissen und vom Kleinteiligen zu Begriffen und zu Kategorien kommt, die dann wieder die weitere Beobachtung und Beschreibung leiten. Perspektivenabhängig ist schließlich jede Beobachtung und Beschreibung, weil sie von Standort und Standpunkt der beteiligten Personen abhängig ist. Berge sehen in der Regel von unterschiedlichen Seiten unterschiedlich aus, sodass man leicht den Eindruck gewinnt, es handele sich gar nicht um denselben Berg. Perspektiven entstehen durch unterschiedliche Vorannahmen, Einstellungen, Erwartungen, durch unterschiedliches Vorwissen, aber auch durch die Emotionalität des Moments, und bei ko-kreativen Prozessen mehrerer Personen durch Vorerfahrungen mit dem jeweils anderen, aber auch durch Übertragung, Projektion und andere Einflüsse vergangener Interaktionserfahrungen und Lernprozesse. Dies würde bedeuten, dass unterschiedliche Therapeuten oder Berater mit ein und demselben Klienten zu unterschiedlichen Modellen kommen könnten. Wie dies |13|funktioniert, lässt sich psychologisch beschreiben, wenn man interaktive Modellierungsprozesse auf einer Videoaufzeichnung nachvollzieht. Das ist Thema der Psychologie; eine konstruktivistische Ontologie ist dazu nicht notwendig. Was aber notwendig ist, um derartige Modellierungs- und Konstruktionsprozesse nicht der Beliebigkeit auszusetzen, sind Regeln und Kriterien des Vorgehens, auf die ich noch zu sprechen komme.

1.2  Motivation für die Entwicklung der idiographischen Systemmodellierung

In der Psychotherapie und wohl auch in Beratung und Coaching sind Fallkonzeptionen wichtig. Sie schaffen ein Verständnis dafür, was bei einem Klienten oder einem Mehrpersonensystem passiert und welche Prozesse dabei ablaufen, und sie liefern einen Orientierungs- und Begründungsrahmen für das therapeutische Vorgehen. Damit unterscheiden sie sich deutlich von Diagnosen, die eine Komplexitätsreduktion versuchen, indem sie Einzelfälle in Kategorien einordnen und entsprechend etikettieren. Damit hat man sehr wenig verstanden, oder noch pointierter: Mit Diagnosen glaubt man, ein Phänomen oder ein Problem verstanden zu haben, indem man es einem Begriff oder einer Kategorie zuordnet. Diagnosen werden meist nur dann handlungsleitend, wenn man damit störungsspezifische Behandlungsprogramme in vordefinierter Form (sogenannte Manuale) verbindet. Manualabhängige Vorgehensweisen sind per definitionem nicht prozesssensitiv, weil eben im Manual steht, was wann (z. B. in welcher Sitzung) zu tun ist. Prozessfeedback könnte keinen Einfluss und damit auch keinen Impact haben. Manualtreue („adherence to protocol“) hat zudem auch keinen Vorteil hinsichtlich der Wirksamkeit verglichen mit naturalistischen Vorgehensweisen, die sich an den Bedürfnissen und Zielen des Klienten und an den Aktualitäten des Prozesses orientieren (Owen & Hilsenroth, 2014; Wampold, 2015; Webb et al., 2010). Zudem ist inzwischen deutlich geworden, dass Diagnosen, wie z. B. eine Major Depression, eine sehr große Vielfalt an Symptomen und Phänomenen abdecken (Allsopp et al., 2019; Fried & Nesse, 2015), die sich bei einzelnen Klienten nicht einmal überlappen müssen und während klinischer Verläufe stark variieren (Caspi et al., 2020). In der Versorgungspraxis sind multiple Diagnosen und Komorbiditäten sehr häufig, wenn nicht gar der Regelfall (Kessler et al., 2005), was bedeutet, dass man für jede einzelne Diagnose ein Standardverfahren einsetzen müsste.

Über Diagnosen hinaus gibt es viele Merkmale, die den einzelnen Menschen jenseits von Psychopathologie ausmachen, wie Ressourcen und Kompetenzen, Werte, Interessen, Anliegen und Ziele, Persönlichkeitsmerkmale und Lebensrealitäten. All dies spielt in Psychotherapie und Beratung eine Rolle, aber auch eine sehr detaillierte Diagnostik mit Symptomchecklisten bzw. Interviews wie SCID |14|oder DIPS erfasst all dies nicht. Wenn Diagnosen z. B. für Kassenanträge eine Notwendigkeit darstellen, beginnt die Arbeit an systemischen Fallkonzeptionen erst danach.

Anfang der 1980er Jahre fand ich vor meinem damaligen verhaltenstherapeutischen Sozialisationshintergrund das sogenannte SORC-Modell als Möglichkeit einer Fallkonzeption vor. Es wurde von Kanfer und Saslow (1965) vorgeschlagen (vgl. auch Schulte, 1974) und bestand in dem Versuch, Verhalten in konkreten Situationen zu analysieren, in einer Abfolge aus (konditioniertem oder unkonditioniertem) Stimulus (S), Reaktion (R) und Konsequenzen (C) auf die Reaktion (z. B. positiver oder negativer Verstärkung). Somit hatte es zwei theoretische Bezüge, nämlich klassisches Konditionieren (auf S folgt R) und operantes Konditionieren (auf R folgt C) als Verstärkungslernen. Das O, die Moderatorvariable für Organismusbedingungen, trug der Tatsache Rechnung, dass situative Auslöser von Verhalten von Vorerfahrungen und von der Lerngeschichte, aber auch von genetischen und evolutionären Dispositionen (Epigenetik war damals noch kein Thema) und von physiologischen und biologischen Mechanismen abhingen. Später wurde das O zum Sammelbecken für alle möglichen psychologischen Einfluss- und Moderatorgrößen wie Einstellungen, Kognitionen und psychische Dispositionen (Bartling et al., 1998).

Die Limitierung, die ich in diesem Modell sah, bestand einerseits in den sehr begrenzten Bezügen auf klassisches und operantes Konditionieren. Das konnte für das Verständnis von klinischen Problemzuständen, also biopsychosozialen „Problemsystemen“ nicht ausreichen, zumal es auf Verhalten in konkreten Situationen fokussierte. Musste es auch nicht, denn die Psychologie und benachbarte Wissenschaften (z. B. Psychosomatik, Soziologie) boten einen reichen und wachsenden Fundus an Konzepten und Hypothesen, die man für das Verständnis von unterschiedlichen kognitiven, emotionalen, verhaltensbezogenen und sozial-interaktiven Phänomenen nutzen konnte. Man musste nur einen Weg finden, auf den Fundus zuzugreifen und in eine Fallkonzeption zu integrieren. Das sollte funktionieren, indem man die Teilkonzepte und -hypothesen, die in der Psychologie meist in Form von Wenn-Dann-Relationen formuliert waren, miteinander verkettete. Die Psychologie weist wenige große theoretische Entwürfe auf (vielleicht ist die Psychoanalyse ein solcher Entwurf oder heute die Wissenschaft komplexer selbstorganisierender Systeme), aber viele Theorien kurzer Reichweite zu verschiedenen Themen, wie Attribution, Stressverarbeitung, Emotionen und Emotionsregulation, Lernen, Einstellungen und Einstellungsveränderung usw. Die Wenn-Dann-Relationen der Einzelhypothesen (z. B. „Mit zunehmenden Erfolgserlebnissen steigt die Motivation für eine bestimmte Tätigkeit“) konnten aufeinander bezogen werden, so wie einzelne Atome oder Mikromoleküle zu einem Makromolekül zusammengesetzt werden können (zu dieser Theorienstruktur siehe Hempel, 1966). In diesem Sinne ist ein Systemmodell eine Makrohypothese, bestehend aus mehr oder weniger vielen Mikrohypothesen, die wir auf|15|grund ihrer Wenn-Dann-Relationen als „lineale Teilbögen“ bezeichneten (Schiepek, 1986)2.

Die andere Limitierung des SORC-Modells bestand in seiner linearen (d. h. in nur eine Richtung laufenden) Struktur. Rückkopplungen und Kreiskausalitäten kommen darin nicht vor. Es läuft von S über R zu C, dann ist Ende und man muss für ein anderes Verhalten in einer anderen Situation wieder von vorne anfangen. Die Möglichkeit, dass R zum Stimulus für weitergeführtes Verhalten derselben Person wird, oder C zu diesem Stimulus wird, oder C von einer anderen Person b realisiert wird, was wiederum zum Auslöser (S) für das Verhalten der Person a wird, kommt in diesem Modell nicht vor. Man könnte es aber durchspielen, wobei man S, R und C mit Indizes für die jeweiligen interagierenden Personen (z. B. a und b) und für die Zeit (t) versehen müsste, also: Sa,t, Ra,t, Ca,t und Sb,t, Rb,t, Cb,t. Würde man dann noch zulassen, dass die Rückkopplungen nicht linear sein könnten, wäre man in der Welt der komplexen Systeme angekommen (Strunk & Schiepek, 2006, S. 31 – 35).

In Systemen sind dagegen Rückkopplungen und Kreiskausalitäten ein Definitionsmerkmal. Systemmodelle sind also genau in diesem Sinne systemisch. Die kreiskausalen Relationen zwischen Systemelementen lösen den Unterschied zwischen Ursache(n) und Wirkung(en) auf, denn die in einem System verbundenen Elemente sind beides, Ursache und Wirkung. Der Effekt von rekursiven Strukturen ist Dynamik, Prozesshaftigkeit, womit „systemisch“ immer auch „dynamisch“ bedeutet. Systemmodelle haben damit den Zweck und das Ziel, Prozesse zu erklären oder zumindest verständlich zu machen. Um Prozesse in einem sehr konkreten Sinne zu simulieren, müsste man sie mathematisch formalisieren, d. h., die Funktionen, mit denen die Elemente verbunden sind, in mathematischen Termen ausdrücken und die Veränderung über die Zeit durch gekoppelte Gleichungen realisieren. Das konnte in einem theoretischen (nomothetischen) Modell der Psychotherapie umgesetzt werden (Schiepek et al., 2017); für idiographische, also auf den Einzelfall bezogene Modelle, ist das allerdings mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden (siehe unten). Idiographische Systemmodelle sind zunächst qualitative Modelle, die Wirkzusammenhänge verdeutlichen und so ihren klinischen Nutzen entfalten. Die Prozesshaftigkeit kommt in der Praxis dadurch ins Spiel, dass man die Dynamik der Elemente (Variablen) über die Zeit mit Verfahren des Prozessmonitorings erfasst.

|16|1.3  Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Vorgehensweisen

Die in der Systemischen Therapie und Beratung genutzten Möglichkeiten, Relationen und Zusammenhänge zu verdeutlichen, beziehen sich meist auf Mehrpersonensysteme, sind also an interpersonellen Beziehungen orientiert. Zirkuläres Fragen beispielsweise thematisiert die Perspektiven und Verhaltensweisen anderer Personen (z. B. anderer Familienmitglieder) aus der Sicht einer Person (z. B. eines Familienmitglieds; Stierlin, 2002; Simon & Rech-Simon, 2021). Beispielsweise könnte eine Frage an die Tochter lauten: „Wer ist am meisten besorgt in der Familie, wenn du das Essen verweigerst?“ Oder: „Wie könnte deine Mutter deinen Vater am ehesten davon überzeugen, dass seine Sorgen bezüglich … überflüssig sind?“

Hier geht es also meist um Perspektivenwechsel zwischen Personen, ohne dass die Relationen graphisch festgehalten werden. Die einzelnen Aussagen stehen meist nicht in einem expliziten Zusammenhang. Die Systemmodellierung dagegen visualisiert die Relationen zwischen Komponenten graphisch und bezieht sich nicht zwingend auf das Verhältnis zwischen Personen (das kann der Fall sein, muss aber nicht). Im Unterschied zu interpersonellen Zugangsweisen ist die Systemmodellierung prinzipiell für verschiedene Systemebenen offen (biopsychosozialer Ansatz); es handelt sich um „Konstruktionsregeln“, wobei die Inhalte von vornherein nicht festgelegt sind, sondern in jedem Einzelfall (Individuum, Paar, Familie, Team) und je nach Thema und Fragestellung eingebracht werden.

Im Unterschied zu den Familienstrukturdarstellungen nach Minuchin (z. B. Martin & Cierpka, 1987) geht es bei Systemmodellen nicht nur um bestimmte Beziehungsrelationen zwischen Personen (z. B. manifeste oder verdeckte Konflikte, Koalitionen, starke oder schwache emotionale Bindungen), sondern um gerichtete (kausale) Relationen zwischen Variablen. Die Relationen können sehr unterschiedlicher Art sein, je nachdem, um welche Variablen es sich handelt, zwischen denen der jeweilige Wirkmechanismus besteht. Die Wirkung von A auf B kann von ganz anderer Art sein als die von B auf A (darum werden die einzelnen Verbindungen mit jeweils getrennten Pfeilen eingezeichnet). Personen sind in der Regel keine geeigneten Elemente von Systemmodellen, weil sie keine Variablenqualität haben. Dagegen kann eine bestimmte Eigenschaft einer Person (z. B. der Grad der Anspannung oder Entspannung einer Person, beispielsweise eines Familienmitglieds, oder die erlebte Nähe zu dieser Person) sehr wohl eine geeignete Variable in einem Systemmodell sein. Familienstrukturmodelle haben in der Regel auch keinen expliziten Bezug zur Dynamik des Systems.

Gleiches gilt für Genogramme (z. B. McGoldrick et al., 2016). Sie können keine Dynamik erklären, weil ihnen die rekursive, kreiskausale Struktur fehlt. Die Elemente sind meist Personen, zwischen denen ein bestimmtes familiäres Verwandtschaftsverhältnis besteht, z. B. ein Eltern-Kind-Verhältnis, oder die Personen sind verhei|17|ratet oder geschieden, adoptiert oder anderes. In der therapeutischen Praxis mögen Genogramme mehr als nur Ahnentafeln sein, denn man kann den Personen bestimmte Eigenschaften (z. B. Ressourcen oder Krankheiten) und den Beziehungen über die Familienverhältnisse hinaus bestimmte Qualitäten (z. B. emotionale Verbundenheit oder Konflikte) zuweisen. Damit lassen sich transgenerationale Wiederholungen und Transmissionen deutlich machen. Die Vorstellung von dynamischen Wirkrelationen zwischen Variablen ist davon jedoch deutlich verschieden.

In der therapeutischen Arbeit werden gelegentlich auch „Mindmaps“ verwendet (z. B. Müller, 2013). Hierbei handelt es sich ebenfalls nicht um Systeme, sondern um die Visualisierung einer Gliederung mit unterschiedlichen Hierarchiestufen. Es gibt zentrale Themen, die sich in Unterthemen, Unter-Unterthemen usw. aufdröseln. Die Themen müssen nicht den Charakter von Variablen haben, auch gibt es keine rekursiven Rückkopplungen oder irgendwelche Annahmen über Wirkzusammenhänge.

Abbildung 1.2:  Idiographisches Systemmodell einer Klientin mit einer Zwangsstörung

Angesichts der optischen Komplexität von idiographischen Systemmodellen wollte mein früherer Kollege aus Wien, Ludwig Reiter, auf die Relationen zwischen den Systemelementen verzichten. Speziell schlägt er eine „depressive Konstellation“ vor (z. B. Reiter, 1988, 1997), die charakteristisch für depressives Erleben und Verhalten wäre. Verzichtet man allerdings auf die Relationen, stehen die Systemelemente unverbunden nebeneinander; wir haben also weder Struktur noch Dynamik. Darüber hinaus ist eine „depressive Konstellation“ auf ein bestimmtes Störungsbild bezogen, wie der Name schon sagt, während systemische Fallkonzeptionen inhaltlich offen sind, also einbeziehen, was in einem bestimmten Fall relevant erscheint. Das |18|sind oft Elemente und Relationen, die nicht auf ein bestimmtes Störungsbild bezogen sind und völlig andere Themen im Leben eines Klienten aufgreifen.

Dennoch thematisiert Ludwig Reiter eine Herausforderung, die mit der Komplexität von Systemmodellen zu tun hat. Sie enthalten mehrere Variablen (in der klinischen Praxis kommen wir oft auf 15 bis 20) mit entsprechend vielen Relationen dazwischen, wobei bei weitem nicht alle möglichen Relationen zwischen den Variablen realisiert sind. Am Ende des Konstruktionsprozesses mag das schon komplex aussehen (vgl. das Systemmodell einer Klientin mit einer Zwangsstörung in Abbildung 1.2), und es ist auch nicht zu vermeiden, dass sich manche Wirkrelationen (in der Abbildung durch Pfeile dargestellt) überschneiden.

Trotzdem ist es erstaunlich, dass Klienten sukzessive an der graphischen Visualisierung arbeiten und sich auf den jeweiligen Fokus – also die Variablen und die Relationen, die gerade eingezeichnet werden – konzentrieren wie im Flow oder in einer Trance. Die Entwicklung eines umfassenden Problemverständnisses überwiegt den Eindruck von (zu viel) Komplexität bei weitem, ja, im Gegenteil: Die Komplexität erscheint eine bedeutsame Qualität und Voraussetzung zu sein, um irgendetwas zu verstehen. Komplexität und Rekursivität als Eigenschaften von Systemen sind notwendig, um von linealen Ursachenzuschreibungen oder Schuldzuweisungen wegzukommen („Schuld ist meine üble Kindheit“ oder „Schuld sind meine verrückten Neurotransmitter“ oder „Schuld ist mein Chef/meine Mutter“ usw.) und Alternativen zu entwickeln. Eine Patientin mit einer Zwangsstörung, die das in Abbildung 1.2 gezeigte Systemmodell entwickelt hat, schrieb am Ende der Modellierung in ihr Tagebuch:

Die Systemmodellierung heute freut mich total bzw. hilft mir und ich hab erstmals das Gefühl, dass ich damit überhaupt den Weg gefunden hab, meinem Ziel näher zu kommen und die Zwänge in den Griff zu kriegen und so mein Leben zu verändern und wieder lebenswerter zu machen.

Das ist zwar zunächst „anekdotische Evidenz“, also eine Erfolgsmeldung in einem Einzelfall, hat aber doch eine Logik: Statt eine Diagnose anzubieten, vermittelt die Systemmodellierung ein „normalpsychologisches“ Erklärungsmodell, das Zusammenhänge verstehbar und damit Pathologie erklärbar macht oder von dieser wegführt (Ent-Pathologisierung). Eine Vielheit von Variablen und Relationen macht Ansatzpunkte für Veränderung deutlich, womit ein Gefühl von Empowerment und Selbstwirksamkeit entsteht.

Erwähnt sei schließlich noch die Idee, man könnte oder sollte in der Therapie ein „Feuerwerk von Hypothesen“ zünden. Abgesehen davon, dass auch hierbei weniger mehr sein kann, stellt sich die Frage nach dem systemischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Hypothesen, die z. B. die Funktionalität eines Problems im Leben eines Menschen verdeutlichen sollen. Einzelne Hypothesen mögen vielleicht einen Knalleffekt auslösen, verschwinden dann aber wie Schall und Rauch, wenn |19|man sie nicht graphisch festhält und eventuell aufeinander bezieht. Therapeutisch ist es wichtig, dass Klienten die relevanten Themen (Variablen und Relationen, mithin die Hypothesen) ihres Problemfeldes selbst ansprechen und dass man dabei vorsichtig und empathisch zu Werke geht („leading from one step behind“) und niemanden überfordert. Vorgaben von außen – auch wenn man anscheinend noch so geniale Ideen oder Vorschläge hat – sollte man nur äußerst sparsam einbringen.

Es gibt verschiedene weitere Möglichkeiten der Modellbildung in der systemischen Praxis, die hier nicht alle aufgelistet werden können. In Schiepek (1991, S. 37 – 106) findet sich eine umfangreiche Darstellung, wobei zu deren Beurteilung eine Liste von 20 Kriterien entwickelt wurde, die vollumfänglich auf die idiographische Systemmodellierung zutreffen. Neben Methoden, die in der systemischen Praxis bekannt sind, werden auch einige andere Methoden beschrieben, die klinisch-therapeutisch bedeutsam sind, aber nicht im engeren Sinne als „systemisch“ gelten, z. B. die Plan- und Schemaanalyse nach Grawe und Caspar (Caspar, 1996). Diese wurde inzwischen zu einer prozessorientierten Methode (Sequenzielle Plananalyse) weiterentwickelt (Kowalik et al., 1997; Schiepek et al., 1997; Strunk & Schiepek, 2006; Haken & Schiepek, 2010).

1.4  Inspirationen aus Ökologie und Weltmodellen

Am Beginn der Entwicklungen zur idiographischen Systemmodellierung gab es keine Vorlagen für systemtheoretisch fundierte Modelle in der Psychologie. Allenfalls hätte man bei Ludwig von Bertalanffy und seiner Allgemeinen Systemtheorie (z. B. 1968) fündig werden können, zumal er diese schon sehr früh mit Bezug auf Anwendungen in der Psychiatrie diskutiert hatte. Ich hatte mich damals allerdings eher für ökologische Themen interessiert, unter anderem weil Frederik Vesters „Neuland des Denkens“ (1984) für mich eines der ersten gut verständlichen Bücher zur Systemtheorie war. Er propagierte und veranschaulichte darin ein vernetztes Denken, das unterschiedliche Themen in Verbindung bringt, um komplexe Probleme zu verstehen. Das war disziplinübergreifend angelegt und machte deutlich, dass z. B. ökologische Probleme nur dann verstanden werden können, wenn man Ökologie, Ökonomie, Klima, Technologieentwicklung, Ernährung, Bevölkerungswachstum und menschliches Verhalten (z. B. Konsumverhalten, Mobilität) zusammen denkt. Das waren die Themen des „Club of Rome“, eines Expertengremiums, das sich mit der Zukunft unseres Planeten und dem Überleben der Menschheit befasste (Meadows et al., 1973). Es nutzte im Wesentlichen die Darstellungsmethoden des Dynamic Systems Approach von Jay W. Forrester (1971a, 1971b), um Wirkungszusammenhänge zwischen sehr vielen und sehr unterschiedlichen Variablen graphisch darzustellen. Die nichtlinearen Wirkungen waren an den Pfeilen, die die Wirkrichtungen zeigten, in Form von Koordinaten dargestellt; wenn also A auf B wirken sollte, dann war die Ausprägung von A auf der x-Achse, |20|B als Zielgröße auf der y-Achse und in der damit gegebenen Fläche eine klassische biologische Wachstumsfunktion (sigmoide Kurve), eine kurvilineare Wachstumsfunktion (z. B. ein umgekehrtes U) oder eine exponentielle Wachstumsfunktion gezeigt. Später kamen dann auch Computersimulationen solcher Modelle hinzu.

Bereits früh wurden in der theoretischen Ökologie und in der Populationsdynamik nichtlineare Modelle verwendet (z. B. May, 1975), um die komplexe Dynamik von Populationen in ihren Ökosystemen zu erklären. Der Ursprung hierfür war ein Modell von Insektenpopulationen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das sogenannte Verhulst-Modell, das die Entwicklung einer einzigen Insektenpopulation mit zwei Rückkopplungsschleifen (positives und negatives Feedback) verband, wobei die negative Rückkopplung eine nichtlineare Funktion enthält. Das Modell ist unrealistisch einfach – es handelt sich um den Grenzfall eines Systems mit nur einer Variablen –, aber weist eine faszinierende Vielfalt an Dynamiken auf, unter anderem – in Abhängigkeit vom einzigen Kontrollparameter des Modells – deterministisches Chaos: nicht vorhersehbar und hoch komplex. Das Modell wurde in vielen mathematischen Arbeiten auf Herz und Nieren untersucht, dient heute aber vor allem didaktischen Zwecken im Bereich der Chaostheorie (Strunk & Schiepek, 2014). Unter anderem konnte man daran eine Unterscheidung in der heterogenen Welt der Komplexitätsbegriffe festmachen: Einerseits kann sich Komplexität auf die Anzahl und Vielfalt der Komponenten und auch der Relationen eines Systems beziehen, und andererseits auf die Dynamik, also auf die Regelmäßigkeit oder Chaotizität der von einem System erzeugten Prozesse. Bereits sehr einfache Systeme können eine schier unglaubliche Vielfalt komplexer Dynamiken erzeugen.

In den ersten Jahren der Entwicklung der Methode der idiographischen Systemmodellierung war mir allerdings ein wichtiger theoretischer Ansatz noch nicht bekannt – die Synergetik (z. B. Haken 1990, 2004). Das mag einer der Gründe dafür sein, warum die idiographische Modellierung ohne die Unterscheidung von Ordnungs- und Kontrollparametern auskommt, welche in der theoretischen (nomothetischen) Modellierung der Psychotherapie (Schiepek et al., 2017; Schöller et al., 2018) durchaus eine prominente Rolle spielt. Aus Gründen der pragmatischen Vereinfachung werden die Pfeile in den idiographischen Modellen auch nur durch „+“ oder „–“ charakterisiert, nichtlineare Funktionen werden nur bei Bedarf angezeigt. Ein „+“ bedeutet eine gleichsinnige Wirkung: Wenn A zunimmt, nimmt auch B zu, oder umgekehrt, wenn A abnimmt, nimmt auch B ab. Ein „–“ bedeutet eine entgegengerichtete Wirkung: Wenn A abnimmt, nimmt B zu, oder wenn A zunimmt, nimmt B ab.

1.5  Lösungs- und Klärungsperspektive

Die Systemmodellierung als Verfahren der Fallkonzeption hat sicher keine schlagartige Verbreitung gefunden, doch gab es immer wieder Kollegen, die die Poten|21|ziale der Methode erkannten und zum Durchhalten ermutigten. Einer war der Psychiater, Psychologe und Systemtheoretiker Felix Tretter, dem ich über viele Jahre wertvollen fachlichen Austausch verdanke (z. B. Tretter, 2005, 2008), ein anderer der Psychologe und Wissenschaftstheoretiker Hans Westmeyer, dem das Konzept der „relativ rationalen Rechtfertigung“ klinischer Entscheidungen zu verdanken ist (Westmeyer, 1984). Er hatte mich bereits vor 20 Jahren eingeladen, einen Beitrag zur Systemmodellierung im European Journal of Psychological Assessment zu schreiben (Schiepek, 2003).

Trotz der Rolle des frühen SORC-Modells als Kontrastfolie zur Systemmodellierung (auch solche Kontrastfolien sind für Entwicklungen wichtig) hat eine bedeutende Weiterentwicklung der Kognitiven Verhaltenstherapie, nämlich der Selbstmanagement-Ansatz von Kanfer, Reinecker und Schmelzer, die idiographische Systemmodellierung aufgegriffen und unter der Bezeichnung „Makromodell“ in den Ansatz eingeführt (Kanfer et al., 1990). Das Mikromodell war demgegenüber das SORC-Modell zur Analyse von Verhalten in Situationen.

Für eine Irritation in der Entwicklung der systemischen Fallkonzeption sorgte – zumindest für mich – der lösungsorientierte Ansatz von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg (z. B. de Shazer, 1985, 1989). Zwar bot dieser Ansatz viele wertvolle Anregungen in Bezug auf Ressourcenorientierung und therapeutische Gesprächsführung sowie eine schnelle, pragmatische Erlernbarkeit, die in Praxisseminaren schnell Erfolgserlebnisse bei den Studierenden möglich machte, jedoch kam in diesem Ansatz keine Fallkonzeption vor. Alle Versuche, Probleme und deren psychische und soziale Bedingungen zu explorieren, wurden als „problem talk“ eingestuft und einem „solution talk“, den es zu realisieren galt, gegenübergestellt. Es ging um Lösungen, nicht um Verstehen oder um Klärung. Einteilungen wie die in „Besucher“, „Klagender“ oder „Kunde“ können sicher nicht als Fallkonzeption taugen und sind mit ähnlichen Problemen behaftet wie die kategorialen Einteilungen nach psychiatrischen Diagnosen. Dabei ist eine Fallkonzeption, die sich auf dem Weg ihrer Entstehung auch für die Probleme und deren Bedingungen interessiert, keineswegs nicht lösungsorientiert, im Gegenteil. Ein umfassenderes Verständnis von Problemen öffnet manchmal den Blick und ist vielleicht selbst schon ein wesentlicher Teil der Lösung (vgl. das Zitat der Patientin mit einer Zwangsstörung auf Seite 18). In einem Bild ausgedrückt: Eine Fliege möchte ins Freie, hat aber ein Fenster vor sich. Der eine Flügel des Fensters ist geschlossen, der andere offen. Die Fliege sieht das allerdings nicht, sie fliegt permanent gegen das Glas des geschlossenen Flügels. Würde sie etwas zurückfliegen und die ganze Situation in den Blick nehmen, würde sie erkennen, dass der Weg ins Freie komplett offensteht. Dieses Bild veranschaulicht: Ein etwas umfassenderes Fallverständnis könnte „offene Fenster und Türen“ aufzeigen. Kurzsichtige Lösungstrance kann genauso engstirnig sein wie Problemtrance. Systemmodelle werden eben zu dem Zweck konstruiert, über die verschiedenen Variablen und ihre Relationen Ansatzpunkte für Veränderung aufzuzeigen (Multiperspektivität). Sie erschließen eine Vielfalt an Möglichkeiten und erweitern so den Möglichkeitsraum für Veränderung.

|22|Systemmodelle dienen dazu, Problemmuster und ihre Aktualgenese, also das aufrechterhaltende Bedingungsgefüge, zu verstehen. Gleichzeitig zeigen sie aber auch Ansatzpunkte für Veränderung und Lösungen auf. Sie sind in dieser Hinsicht eine Art Uhrwerk, das man in beide Richtungen drehen kann: einmal in Richtung Probleme, einmal in Richtung Lösungen. Sie ermöglichen beides und sind damit so etwas wie ambige, doppelt interpretierbare Muster, ähnlich wie die Kippbilder, die man aus der Gestaltpsychologie kennt (Kruse & Stadler, 1995; vgl. Abbildung 1.3).

Abbildung 1.3:  Ambiguität (Kippbild): alte und junge Frau (Zeichner: William Ely Hill, 1915)

Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen Problem und Lösung in der systemischen Welt nicht wirklich im Mittelpunkt steht. Vielmehr geht es darum, sich eine Vorstellung davon zu machen, in welchem System sich die Selbstorganisationsprozesse abspielen, die zu dem Problemmuster oder den Problemmustern geführt haben, und wie die Prozesse weiterlaufen könnten, wie man Selbstorganisation fördern und unterstützen kann und wie man Musterübergänge ermöglichen kann; es geht also um Psychotherapie und Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen und menschliche Entwicklung als Kaskade von Ordnungsübergängen (Haken & Schiepek, 2010). Das ist mehr mit dem Bild eines Flusses oder eines sprudelnden Gebirgsbaches verbunden als mit dem eines Knotens, den es zu lösen gilt. Einmal mehr: Die Systemmodellierung führt uns weg von statischen Metaphern hinein in die systemische Welt der Dynamik.

Die idiographische Systemmodellierung wird dem Anspruch gerecht, dass Psychotherapie eine Klärungsperspektive bieten sollte. In der Psychologischen Therapie nach Grawe (1995, 1998) ist die Klärung von Motiven, Konflikten, Zielen und |23|deren Kongruenz oder Inkongruenz ein wesentlicher Schritt zur Veränderung, zusammen mit Problemaktualisierung und Problemlösung. Klärung und Verstehen sind zudem für viele Klienten ein Anspruch und ein Anliegen an sich, nicht nur eine Voraussetzung für weitere Schritte in Richtung Problemlösung. Das hat unter anderem damit zu tun, dass bei vielen psychischen Problemen den Klienten völlig unklar und intransparent ist, was ihnen geschieht, oder zumindest eine Intuition besteht, dass einseitige Kausalattributionen (dies oder das sei schuld) unzureichend sind. Systemmodellierung ist dabei eine Methode der Wahl, sie ist „Psychoanalyse“ und „Psychosynthese“ zugleich. Mit der Klärungsperspektive ist auch verbunden, Klienten darin ernst zu nehmen und dort abzuholen, wo sie stehen, und oft stehen für sie zumindest am Beginn des Prozesses Leid und Probleme im Vordergrund. Ähnlich wie die Klärungsorientierte Psychotherapie (Sachse, 2002) betont auch die systemische Fallkonzeption, dass Klärung und Modellierung bereits zentrale Komponenten von Psychotherapie und Veränderung sind. Dies sehen wir in vielen Fällen, die mit dem Therapie-Prozessbogen (TPB) engmaschig gemonitort wurden. In der neuen Faktorenanalyse des Fragebogens fallen die Items, die sich mit Verstehen und Perspektivenerweiterung befassen, und diejenigen, die sich mit Veränderung und Zuversicht befassen, in ein und demselben Faktor zusammen (Schiepek et al., 2019; Schiepek, Schöller et al., 2022).

Auch die anderen Perspektiven in Grawes Psychologischer Therapie werden von der systemischen Fallkonzeption bedient. Die Ressourcenorientierung spielt insofern eine Rolle, als Systemmodelle oft Ressourcen als Komponenten enthalten, was kein Zufall ist, sondern mithilfe des Ressourceninterviews (Schiepek & Cremers, 2003; Schiepek & Matschi, 2013) als vorgeschalteter Schritt der Modellierung systematisch exploriert wird. Ressourcen sind dann bereits verfügbare Komponenten von Systemmodellen und „primen“ das weitere Vorgehen der Modellierung. Problemaktualisierung findet in vielen Fällen statt, da sich Klienten im Prozess der Modellierung intensiv mit sich und ihrer Lebenssituation, mit dominanten Emotionen, ihren oft mehr oder weniger stabilen Kognitions-Emotions-Verhaltensmustern, ihren (Re-)Inszenierungen und ihren Mechanismen der Problem- und Lebensbewältigung auseinandersetzen. Obwohl das Verfahren auf den ersten Blick vielleicht kognitiv dominiert wirkt, ist es in der Praxis durchaus emotional und berührend.

Die Problemlösungsperspektive wird aktiviert, weil Systemmodelle eine Voraussetzung für die Lösung komplexer Probleme darstellen. Man muss sich über die Zusammenhänge und Wirkmechanismen in einem System klar sein, um nicht Aktionen auszulösen, die einem dann wie ein Bumerang auf den Kopf fallen, die ein Mehr desselben und damit eine Verschlimmbesserung hervorrufen, die hektisch durchgeführt werden, obwohl man mit Verzögerungseffekten rechnen müsste, oder die verzweigte Neben- und Folgewirkungen haben, die es mitzudenken gilt. Systemmodelle sind damit auch eine Möglichkeit, unerwünschte Nebenwirkungen oder potenziell schädliche Effekte in Therapien zu antizipieren und entsprechende Risiken zu erfassen (Ochs & Pfautsch, 2022).

|24|Schließlich gibt es in komplexen Systemen immer auch Emergenzeffekte, die jenseits von Einzeleffekten neue Qualitäten ins Spiel bringen, mit denen man auf der Ebene von Einzelelementen nie gerechnet hätte und die kontraintuitiv oder paradox erscheinen mögen. Im Sinne des Problemlösens in komplexen, dynamischen Systemen (z. B. Dörner, 1976; Dörner et al., 1984) sind Modelle notwendig, die zu entsprechenden Wechselwirkungen, Rückkopplungen, Zeitverzögerungen und Emergenzen in einem System zumindest Anhaltspunkte liefern.

1.6  Fallkonzeption und Selbstorganisation

Vor dem Hintergrund der Theorie selbstorganisierender Systeme (Synergetik; Haken, 2004; Haken & Schiepek, 2010) kann Psychotherapie als Förderung von biopsychosozialen Selbstorganisationsprozessen verstanden werden. Hierfür wurden acht sogenannte generische Prinzipien ausformuliert (Schiepek et al., 2001; Haken & Schiepek, 2010), welche die Voraussetzungen und Merkmale von Selbstorganisationsprozessen im Allgemeinen beschreiben und darüber hinaus auch die Bedingungen für Veränderungsprozesse in Therapie und Beratung (siehe hierzu auch Rufer, 2012; Schiersmann & Thiel, 2012; Schiersmann et al., 2015). Wo lässt sich die idiographische Systemmodellierung hier einordnen? Die wichtigste Zuordnung betrifft das zweite generische Prinzip, welches die Frage thematisiert, welche Systeme es denn konkret sind, in denen die Selbstorganisationsprozesse stattfinden sollen, die es zu unterstützen gilt. In Psychotherapie und Beratung können dies unterschiedliche psychische, biologische und soziale Systeme eines Klienten sein, wobei die Systemmodellierung konkretisiert, um welche Komponenten und Relationen es geht, wie diese zu verstehen sind und welche Ansatzpunkte es für Veränderung gibt. Das zweite generische Prinzip fragt auch nach den dynamischen Mustern, die dieses System erzeugt, und danach, welche Musterwechsel darin stattfinden. Dies ist mit Methoden des engmaschigen Prozessmonitorings zu erfassen, wie es das Synergetische Navigationssystem (SNS) bereitstellt. Die Aspekte, die dabei erfasst werden, leiten sich unmittelbar aus den Variablen eines Systemmodells ab.

Darüber hinaus gibt es zwei weitere Prinzipien, denen die Systemmodellierung folgt. Das erste generische Prinzip thematisiert die Stabilitätsbedingungen, die für Selbstorganisationsprozesse notwendig sind. Wenn dabei Musterübergänge stattfinden, die in der Theorie Phasen- oder Ordnungsübergänge genannt werden, dann impliziert dies meist eine Destabilisierung des Systems. Damit diese Destabilisierung nicht „ausufert“ und damit neue Muster entstehen können, sind stabile Rahmen- und Randbedingungen notwendig. Veränderung ist somit Destabilisierung im Kontext von Stabilität. Neben der therapeutischen Beziehung oder einer Klinik als sicherem Ort ist es immer auch wichtig zu wissen, warum man wo ansetzt und was sich im Prozess wie verändert. Dies schafft ein Gefühl von Selbst|25|wirksamkeit und Handhabbarkeit und liefert die Orientierung für die therapeutische Kooperation. Fallkonzeption und Prozessmonitoring bzw. Prozessfeedback sind also Stabilitätsbedingungen.

Das dritte generische Prinzip betrifft die Sinnhaftigkeit, die Klienten einem Veränderungsprozess zuschreiben. Ist eine Therapie zu diesem Thema, mit diesem Therapeuten und in diesem Setting sinnvoll? Werden dabei meine eigenen Lebensentwürfe berücksichtigt? Genau diese Sinndimension mit Bezug auf Veränderung wird durch eine intensive Fallkonzeption herausgearbeitet und gefördert. Klienten wissen oft erst dann, warum sie welche Schritte gehen sollen und wie sich der Weg gestaltet (Prozessmonitoring).

All dies trägt in der Regel zur intrinsischen Veränderungsmotivation bei. Dies ist eine entscheidende Lernvoraussetzung und liefert den Antrieb, um Systeme aus stabilen Zuständen herauszutreiben. Im Sinne der Synergetik wäre vor allem intrinsische Veränderungsmotivation ein Analogon zu dem, was dort als Kontrollparameter bezeichnet wird und oft den Energiedurchsatz (Dissipation) durch ein System oder die Veränderung von Bewegungen (z. B. Bewegungsgeschwindigkeit) meint. Verständnis für Zusammenhänge motiviert und Prozessfeedback autokatalysiert Veränderungsprozesse.

Ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung einer systemischen Fallkonzeption ist die Möglichkeit, die Elemente (Variablen) eines Systemmodells in Items (Fragen) eines personalisierten Prozessfragebogens zu übersetzen. Seit etwa 10 Jahren bietet das Synergetische Navigationssystem (SNS) diese Möglichkeit in Form eines intuitiv bedienbaren Fragebogen-Editors. Die Klienten können den Prozessfragebogen engmaschig, z. B. täglich, ausfüllen, womit die Dynamik eines Systems unmittelbar sichtbar wird. Struktur und potenzielle Dynamik werden im Systemmodell erkennbar, die tatsächlich realisierte Dynamik in den Diagrammen des SNS (siehe z. B. das Fallbeispiel in Kapitel 1.9 sowie weitere Beiträge in diesem Band). Damit sind Selbstorganisationsprozesse in biopsychosozialen Systemen strukturell und dynamisch, also systemisch darstellbar. Beides sind Kernelemente des Synergetischen Prozessmanagements (Schiepek et al., 2013).

Nicht nur die Veränderung und Entwicklung von Klienten kann als Selbstorganisationsprozess verstanden werden, sondern bereits der Prozess der Modellierung selbst. War die Methode ursprünglich dafür gedacht, die in einer Therapie verfügbaren Informationen in eine Struktur zu bringen, ging man bald dazu über, die Klienten aktiv einzubeziehen (zum Vorgehen vgl. das folgende Kapitel). Die Variablen des Modells werden in einem Interview generiert, und die graphische Darstellung macht der Klient an einer Flipchart oder einer elektronischen Tafel selbst, mit Unterstützung des Therapeuten. Es findet also ein interaktiver, ko-kreativer Konstruktionsprozess statt. Mit einem Begriff von Dörner (1976) könnte man dies als dialektisches Problemlösen bezeichnen, bei dem das Ziel und der Endzustand zu Beginn nicht bekannt sind. Die „Kriterien für die Beurteilung, ob das Ziel er|26|reicht ist, entstehen mit der Konstruktion des Zielzustandes zusammen“ (Dörner, 1976, S. 95; Schiepek, 1986, S. 118 ff.). Das Vorgehen ähnelt einem künstlerischen Gestaltungsprozess wie beim Skulpturieren, Malen oder Komponieren.

1.7  Das Vorgehen

Bei dem Vorgehen der Systemmodellierung entsteht ein multiperspektivischer Raum der Betrachtung eines Problem-Lösungs-Systems, der auch die Handlungsmöglichkeiten erweitert. Der Bezug auf Hypothesen und Konstrukte aus der Psychologie und ihren Nachbarwissenschaften ist nicht nur ein reicher Schatz für ein biopsychosoziales Fallverständnis, sondern macht auch deutlich, dass systemische Therapie und Beratung sich nicht auf eine interpersonelle Perspektive reduzieren lassen. Eine Therapie ohne intrapsychische Prozesse, also eine reine Sozial- oder Kommunikationstherapie, wie sie Ende der 1980er Jahre bzw. Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen wurde (Systemische Therapie statt Psychotherapie), würde den komplexen, mehrdimensionalen biopsychosozialen Raum auf nur eine Ebene reduzieren. Dies beantwortet auch die häufig in Ausbildungskursen gestellte Frage, ob der systemische Ansatz die Psychologie ausblenden würde. Das Vorgehen der Systemmodellierung tut dies explizit nicht.

Vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit an der Modellierung ist zu empfehlen, ein Ressourceninterview durchzuführen, das nach den persönlichen Ressourcen eines Klienten fragt (Schiepek & Cremers, 2003; Schiepek & Matschi, 2013). Dies können Eigenschaften oder Kompetenzen des Klienten sein, soziale Ressourcen wie Bezugspersonen oder Bezugsgruppen, Tätigkeiten (z. B. Hobbys) und Aktivitäten (z. B. Reisen), materielle oder ideelle Ressourcen, vergangene Erfahrungen oder Perspektiven für die Zukunft usw. Zu jeder genannten Ressource soll eine kleine Geschichte erzählt werden, in der die Erfahrung der jeweiligen Ressource besonders deutlich wird („Ressourcentrance“). Vor der Sammlung der Ressourcen wird nach den wichtigsten Herausforderungen im Leben des Klienten gefragt, und nach der Zusammenstellung der Ressourcen soll jede Ressource auf einer Skala von 0 bis 10 nach der Ausprägung, dem gegenwärtigen Potenzial, der Zielausprägung (z. B. am Ende der Therapie) und nach der Relevanz eingeschätzt werden.

Der Prozess der Systemmodellierung startet mit einem Interview, das der Therapeut oder Berater mit dem Klienten führt. Es geht hierbei um seine Probleme oder „Symptome“, um die eingesetzten Coping-Strategien, um Ressourcen, um eventuelle subjektive Erklärungsmodelle, um bisherige Versuche, die Probleme zu lösen, um Entwicklungsprojekte des Klienten, um relevante Bezugspersonen und deren möglichen Beitrag zu Problemen und Lösungen, um Ausnahmen von den Problemen, um Ziele, um persönliche Werte, um physiologische und körperliche Prozesse – schließlich um alles, was aus Sicht des Klienten einen Einfluss auf die |27|Problematik haben könnte. Das Interview geht nicht in beliebige Tiefen und versucht auch nicht, Probleme oder Konflikte zu lösen, es ist eher eine Erkundung der Landschaft.

Der Interviewer (Therapeut, Berater) hat einen bestimmten Fokus: Er versucht, die Variablen zu identifizieren, die später als die Komponenten des Modells genutzt werden. Variablen sind Größen, die sich auf unterschiedlichen Zeitskalen verändern können, die also stärker oder weniger stark ausgeprägt sein können, wie z. B. Angst, erlebter Stress, die Motivation zu einer bestimmten Tätigkeit, Freude, überhaupt alle möglichen Emotionen, die erlebte Nähe zu einer Person, die Intensität von Konflikten usw. Nützlich für die Modellierung sind Variablen, die – zumindest während des Wachbewusstseins – kontinuierlich vorliegen, auch wenn die Ausprägung mal bei null liegen kann, also Variablen, die nicht nur in ganz speziellen Situationen auftreten. Der Interviewer versucht, die Bezeichnung der Variablen eng an die Sprache oder Bilder des Klienten anzulehnen, damit sich dieser darin wiederfinden kann und verstanden fühlt, es ist aber durchaus auch möglich, Vorschläge zu machen oder eigene Begriffe bzw. Konstrukte einzubringen. Viele Begriffe haben einen Bezug zur Konstruktwelt der Psychologie (z. B. „Emotionen“, „Stress“, „Selbstwert“, „Selbstwirksamkeit“, „Beliefs“, „Einstellungen“, „Identifikation mit …“, „Gruppenkohäsion“), auch wenn sie in persönlichen (idiosynkratischen) Begriffen oder Umschreibungen des Klienten ausgedrückt werden, und manchmal handelt es sich auch um Eigenschöpfungen des Klienten (z. B. „mein revolutionärer Geist“, vgl. Abbildung 1.1 auf Seite 11). Es sei angemerkt, dass sich Personen (z. B. „mein Freund Hans“ oder „meine Partnerin Lisa“) nicht als Systemelemente eignen, aber sehr wohl bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Personen, oder die erlebte Beziehung zu diesen (die erlebte Nähe oder Konfliktintensität), was man durchaus als Variablen betrachten kann. Ungeeignet sind auch Einzelereignisse, dagegen sind die Häufigkeit und Intensität von Ereignisabfolgen (z. B. von Migräneanfällen oder Panikzuständen) als Variablen geeignet.