Systemische Modelle für die Soziale Arbeit - Wolf Ritscher - E-Book

Systemische Modelle für die Soziale Arbeit E-Book

Wolf Ritscher

0,0

Beschreibung

Dieses Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die Lücke zwischen Sozialer Arbeit einerseits und Systemtheorie andererseits zu verkleinern, indem es die Methoden und Handlungsorientierungen aus beiden Bereichen verknüpft. Es macht so die Grenzen zwischen Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Therapie und Beratung durchlässig und überwindbar. Die soziale Arbeit gewinnt durch diese Integration eine Vielzahl von Methoden; die Systemtherapie schärft den Blick für soziale Zusammenhänge über das konkrete Bezugssystem hinaus. Wolf Ritscher entwirft hilfreiche Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten für Theorie und Praxis. In diesem Sinne ist dies ein Lehrbuch für alle, die sich mit der systemischen Arbeit im psychosozialen Feld befassen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 694

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolf Ritscher

Systemische Modelle für die Soziale Arbeit

Ein integratives Lehrbuch für Theorie und Praxis

Unter Mitarbeit von Jürgen Armbruster, Klaus Döhner-Rotter, Karlheinz Menzler-Fröhlich, Werner Müller und Gabriele Rein

Siebte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Umschlaggestaltung: WSP Design, Heidelberg

Umschlagfoto: Mathias Weber/www.umschlag3.de

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Siebte Auflage, 2022

ISBN 978-3-89670-881-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8225-2 (ePub)

© 2002, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlagund Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.

Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Zur Einfädelung systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit

1 Zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit I: Ein Fallbeispiel aus der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes

1.1 Die Beschreibung der familiären Situation

1.2 Der Verlauf des Unterstützungsprozesses

2 Exkurse zur systemischen Metatheorie

2.1 Der Systembegriff: Das Muster, das verbindet, seine Vordenkerinnen und Vordenker

2.2 Systemdenken, Ökologie und Sozialarbeit

2.3 Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Systembeobachtung, -beschreibung und -erkenntnis

2.3.1 Die Einheit von Beobachterin und Beobachtetem und ihre Folge für die Soziale Arbeit

2.4 Systemische Perspektiven der Beschreibung sozialer Wirklichkeiten oder: Das System im Kopf der Beobachterin

2.4.1 Übergeordnete Definitionen

2.4.2 Perspektiven für die systemische Beschreibung sozialer Wirklichkeiten im Überblick

2.4.3 Die drei zentralen Perspektiven der Systembeschreibung und Systemanalyse

2.4.4 Die drei Kontextperspektiven

3 Soziale Kontexte der systemischen Arbeit mit Familien

3.1 Das ökosoziale Modell der Systemebenen von Uri Bronfenbrenner im Überblick

3.2 Die einzelnen Systemebenen

3.2.1 Das Subjekt als psychosomatisches soziales System

3.2.2 Das Mikrosystem

3.2.3 Das Mesosystem

3.2.4 Das Exosystem

3.2.5 Das Makrosystem

3.3 Die Erweiterung des Makrosystems: Ein Modell der Gesellschaft in Verbindung mit der „Gender“-Thematik

3.3.1 Das Modell im Überblick

3.3.2 Die Gender-Thematik im Kontext der Gesellschaftstheorie

3.3.3 Die Ökonomie

3.3.4 Die Politik

3.3.5 Kultur, Alltag und soziale Kommunikation

3.3.6 Wissenschaft und Technologie

4 Familie, familiärer Lebenszyklus und Familiendynamik

4.1 Die Familie als besonderes soziales System aus der Sicht der Familiensoziologie und Familiendynamik

4.1.1 Die Funktionen der Familie: Sozialisation und Enkulturation, Haushaltsorganisation und soziale Platzierung der Kinder

4.1.2 Familienbezogene demographische Daten

4.1.3 Sozialisation und Enkulturation aus der Sicht der Familiendynamik

4.2 Der Lebenszyklus von Paaren und Familien

4.2.1 Grundannahmen des Lebenszyklusmodells

4.2.2 Die einzelnen Phasen

4.3 Familiendynamik

4.3.1 Die Mehrgenerationenperspektive

4.3.2 Delegation und Aufträge

4.3.3 Die Gerechtigkeitsbilanz für das System und die darauf basierenden Loyalitätsbindungen als existenzielle Ressourcen des Systems

4.3.4 Zentrale Ideen, Mythen und Geschichten als Traditionsübermittler

4.3.5 Tabus und Geheimnisse, Scham- und Schuldgefühle in der Familie

5 Schritte zu einer systemisch begründeten Sozialen Arbeit

5.1 Die Beschreibung des Gegenstands der Sozialen Arbeit

5.2 Die aus der Gegenstandsbeschreibung abgeleiteten Theoriebereiche der Sozialen Arbeit

5.2.1 Lebenslagen und Handlungsspielräume

5.2.2 Alltag und Lebenswelt

5.2.3 Soziale Netzwerke

5.2.4 Integration statt Ausgrenzung

5.2.5 Soziale Probleme, Problemlagen und auf sie bezogene Interventionsstrategien

5.2.6 Ressourcen, Coping-Strategien, Partizipation und Empowerment

5.3 Das Belastungs-Bewältigungs-Paradigma

5.4 Arbeitsfeldbezug, Auftragsorientierung und die Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit

5.4.1 Der Arbeitsfeldbezug

5.4.2 Auftragsorientierung und ihre Realisierung durch Auftragsklärung und Hilfeplan

5.4.3 Die primären Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit

5.5 Der allgemeine Rahmen für die methodisch gesicherte systemische Soziale Arbeit: Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit, Arbeit in sozialen Organisationen und die Qualitätssicherung

5.5.1 Die Basiskompetenzen der Sozialarbeiterin

5.5.2 Die Einzelfallhilfe/Einzelfallarbeit (Casework)

5.5.3 Soziale Gruppenarbeit

5.5.4 Gemeinwesenarbeit (von Werner Müller)

5.5.5 Arbeit in sozialen Organisationen (von Werner Müller)

5.5.6 Die Qualitätssicherung in der Sozialen Arbeit

5.6 Therapie, Beratung, Pädagogik und Sozialarbeit im Rahmen der systemischen Sozialen Arbeit

5.7 Systemische Soziale Arbeit konkret: Die Vernetzung verschiedener Teilsysteme des Unterstützungssystems

5.8 Die vier Imperative der systemischen Sozialen Arbeit

6 Systemische Handlungsrichtlinien und Methoden für die Soziale Arbeit

6.1 Methodisches Handeln in der systemischen Arbeit

6.2 Systemische Handlungsrichtlinien

6.2.1 Hypothetisieren

6.2.2 Zirkularität

6.2.3 Allparteilichkeit, Neutralität, Respekt und Interesse

6.2.4 Kontextualisierung

6.2.5 Ressourcenorientierung

6.2.6 Auftrags- und Lösungsorientierung

6.2.7 Gender-Sensitivität

6.2.8 Die Frage nach der „Opfer-Täterin-Beziehung“ bei Akten der Gewalt

6.3 Handlungsformen der systemischen Sozialen Arbeit

6.4 Ein Orientierungsschema für das Handeln in Familien und anderen sozialen Systemen

6.5 Ein Überblick über die Methoden der systemischen Arbeit

6.6 Beschreibung der Bereiche und einzelnen Methoden

6.6.1 Verbale Methoden

6.6.2 Darstellende Methoden

6.6.3 Methoden zur Strukturierung des Settings

6.6.4 Methoden der Qualitätssicherung

7 Zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit II: Beispiele aus Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe

7.1 Systemische Soziale Arbeit in der außerstationären Sozialpsychiatrie (von Jürgen Armbruster und Gabriele Rein)

7.1.1 Grundannahmen, Grundhaltungen und Handlungsrichtlinien des systemischen Denkens und die praktischen Konsequenzen

7.1.2 Systemische Grundhaltungen – Illustriert an einer „Fall“geschichte

7.1.3 Systemische (Paar-)Beratung im Sozialpsychiatrischen Dienst

7.2 Systemische Praxisreflexion und Qualitätsentwicklung in der Sozialpsychiatrie: Nutzerorientierung und Zielplanung durch gemeinsame Prozessgestaltung im Rahmen von „Kursgesprächen“ (von Karlheinz Menzler-Fröhlich)

7.2.1 Strömungen

7.2.2 „Kursgespräche“

7.3 Systemische Soziale Arbeit in der gemeinwesenorientierten Jugendhilfe: Ein Fallbericht (von Klaus Döhner-Rotter)

7.3.1 Ein Fallbericht aus der Praxis des Projektes: Familie K.

Literatur

Sachregister

Namensregister

Über den Autor

Vorwort

Seit mehr als 50 Jahren leben wir Deutschen (West) in einer Demokratie, der bisher längsten in unserer Geschichte. Sie brachte den meisten Menschen einen bislang unbekannten Wohlstand, brachte Rechtssicherheit und eine freie Presse. Aber sie brachte auch neue Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, brachte einen sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel und brachte Informationsüberflutung und Orientierungslosigkeit, was sich nicht zuletzt in immer häufiger zerbrechenden Familien und sich immer ratloser zeigenden Eltern und Erziehern zum Ausdruck bringt.

Und damit ergeben sich gerade für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter neue Auftragslagen, neue Problemsichten und neue Herausforderungen und zeigen sich damit auch nicht wenige (scheinbare oder wirkliche) Widersprüche. So sollen sie etwa ihren Klienten beratend und unterstützend zur Seite stehen, aber auch mit dafür sorgen, dass die Rechte und die Würde einzelner Menschen und Gruppen nicht verletzt werden. Die Schwierigkeiten, die aus einem solchen doppelten Mandat erwachsen können, zeigen sich beispielhaft an einem Geschehen wie dem des sexuellen Missbrauchs.

Denn hier haben sich die in der Sozialarbeit Tätigen etwa zu fragen: Ist der Auftraggeber das missbrauchte Kind, obwohl es diesen Auftrag selbst nicht formulieren kann? Bringen hier einzelne oder alle Familienmitglieder (sei dies offen, sei dies verdeckt) den Auftrag, etwas in ihren Beziehungen zu verändern? Sind gesellschaftliche Institutionen der oder die Auftraggeber? Solche Uneindeutigkeit der Auftragslage spiegelt sich bereits in den unterschiedlichen hier verwendeten Begriffen wie Patient, Klient, Kunde oder auch Auftraggeber wider. Wobei solch unterschiedlicher Wortgebrauch auch eine jeweils unterschiedliche professionelle Beziehung nahe legt. Das spiegelt sich weiter in den unterschiedlichen Begriffen wider, die Tätigkeit und den Aufgabenbereich der Sozialarbeiterinnen und der Sozialarbeiter beschreiben, Begriffe wie Therapie, Beratung, Unterstützung, Hilfe zur Selbsthilfe, Hilfe bei der Mobilisierung von Ressourcen und andere mehr.

Angesichts dieser oft so widersprüchlichen, ja verwirrenden Sach- und Auftragslage vermag gerade der systemisch-therapeutische Ansatz wichtige Orientierungshilfen zu leisten. Diesen Ansatz hat Wolf Ritscher in dem vorliegenden Buch mit großer Sachkenntnis unter Berücksichtigung der Herausforderungen dargestellt, die sich heutigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stellen. Er hat sich diese Arbeit nicht leicht gemacht. Denn auch auf dem Feld der systemischen Therapie lässt sich heute von einer Informationsexplosion sprechen, die den Autor immer wieder vor die Frage stellte: Was ist für die Sozialarbeit wesentlich und wegweisend, und wie lässt sich das möglichst klar vermitteln?

Ich selbst habe bei der Lektüre des Buches einen neuen Respekt nicht nur vor dem Autor gewonnen, der im deutschen Sprachbereich in vorderster Linie vieles zur Entwicklung und Akzeptanz des systemisch-therapeutischen Ansatzes beigetragen hat. Mein gewachsener Respekt gilt auch einem Berufsstand, der wie kaum ein anderer mit den Problemen einer offenen und sich immer schneller wandelnden Gesellschaft konfrontiert ist. Verständlich daher, dass ich dem Buch viele Leser und Leserinnen wünsche.

Heidelberg, im Januar 2002

Helm Stierlin

Einleitung: Zur Einfädelung systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit

Das Welt- und Menschenbild des systemischen Ansatzes weist in vieler Hinsicht eine Überschneidung mit den Grundideen der Sozialen Arbeit auf, und in ihrer Praxis gewinnen die Methoden der systemischen Arbeit eine immer größere Wichtigkeit.

Mit dem vorliegenden Buch soll diese Entwicklung gefördert werden, indem ich in mehreren Schritten die „Einfädelung“ der System- und Familientherapie in die Soziale Arbeit und deren Ausweitung zur systemischen Sozialen Arbeit nachzeichne. Damit möchte ich die bisher oft pragmatisch vollzogene Integration systemischer Denk- und Handlungskonzepte in die Soziale Arbeit der Reflexion und Kritik zugänglich machen.

Die Soziale Arbeit gewinnt durch diese Integration einen einheitlichen theoretischen Rahmen und mithilfe der vielen systemischen Methoden neue Spielräume für ihre Praxis.

Sie lässt sich in fünf Schritten vollziehen.

In einem

ersten Schritt

(im

zweiten Kapitel

) werden Soziale Arbeit und Systembzw. Familientherapie unter dem gemeinsamen Dach der systemischen Metatheorie angesiedelt. Damit finden deren Begriffe und Konzepte Eingang in die theoretischen Überlegungen und Praxiskonzepte der Sozialen Arbeit.

Systemtherapie und Soziale Arbeit können sich erkenntnistheoretisch auf eine systemische Sicht der lebendigen Welt verständigen. Die Welt und jede Form sozialer Realität zeigt sich als Beziehungsnetz, Ereignisse als Beziehungsereignisse und Informationen als Beziehungsinformationen. Ich entwerfe deshalb ein allgemeines Modell für die Beschreibung sozialer Systeme. Dessen sechs Perspektiven ermöglichen eine zirkuläre und ganzheitliche Sicht auf soziale Wirklichkeiten und deren Beschreibung.

Mit einem

zweiten Schritt

(im

dritten Kapitel

) wechseln wir die Ebene des Zugangs zu sozialen Wirklichkeiten. Von der Beschreibung allgemeiner Prinzipien eines die Wahrnehmung und Beschreibung leitenden systemischen Denkmodells kommen wir zu Modellen, welche die sozialen Kontexte darstellen, in denen Menschen ihr Beziehungsleben gestalten. Dabei orientiere ich mich an dem ökosystemischen Modell von Uri Bronfenbrenner (1978), das um eine spezifische Sicht auf die „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) erweitert wird.

Im

dritten Schritt

(im

vierten Kapitel

) wende ich mich der Familie als einem besonderen sozialen System zu. Sie ist das wichtigste Sozialisationssystem und die immer noch bedeutsamste private Lebensform in unserer Gesellschaft. Deshalb bleibt trotz der Entwicklung einer auf viele soziale Systeme anwendbaren

Systemtherapie

die

systemische Familientherapie

und Familiensozialarbeit ein eigenständiger Bereich. Innerhalb der Sozialen Arbeit ist der Bezug auf die Familie in der Jugendhilfe zentral, aber auch in anderen Arbeitsfeldern ist sie ein bedeutungsvoller Kontext und muss bei den Interventionen berücksichtigt werden. Dafür ist es notwendig, den Blick auf die Dynamik, die Beziehungsmuster und die Entwicklungsphasen von Familiensystemen zu lenken. Diese Muster bilden das theoretische „Netz“, mit dessen Hilfe die Wirklichkeiten einer Familie hypothetisch „eingefangen“ und aus der Perspektive der Beobachterin rekonstruiert werden können. Die dadurch entstehenden Informationen können für die Auftragsklärung, Zielfindung und Interventionen genutzt werden und sind Teil des Veränderungsprozesses. Gerade an diesem Punkt ist auf den Anfang der Achtzigerjahre vollzogenen Sprung von der Familien- zur Systemtherapie zu verweisen. Entscheidend ist nun nicht mehr das Setting („Therapie findet nur statt, wenn die ganze Familie im Raum versammelt ist“), sondern entscheidend sind die systemischen Modelle im Kopf der Therapeutin bzw. Sozialarbeiterin. Sie ermöglichen den systemischen Blick auf das Problem- und Unterstützungssystem und die „maßgeschneiderte“ Verwendung systemischer Methoden an den entsprechenden Punkten des Unterstützungsprozesses. Das kann in den unterschiedlichsten Settings und Subsystemen geschehen. Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig in der Arbeit mit diskontinuierlichen, chaotischen und unstrukturierten Problemsystemen, die wichtige Adressaten der Sozialen Arbeit sind.

In einem

vierten Schritt

(im

fünften Kapitel

) verbinde ich theoretische Konzepte der Sozialen Arbeit, die mit der systemischen Metatheorie vereinbar sind oder – wie bei den Konzepten der Gemeinwesenarbeit – direkt als systemisch bezeichnet werden.

Als Rahmen der dadurch entstehenden systemischen Sozialen Arbeit wähle ich fünf primäre Handlungsbereiche der Sozialen Arbeit: Einzelfallarbeit, Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit, Arbeit in sozialen Organisationen und Qualitätssicherung.

Den Ausgangspunkt meiner zusammenführenden Darstellung bildet eine dem Ausbildungscurriculum für Sozialarbeiterinnen an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen zugrunde gelegte Gegenstandsbeschreibung der Sozialen Arbeit. Dadurch wird die von vielen Kolleginnen befürchtete „Kolonialisierung der Sozialen Arbeit“ durch eine von außen an sie herangetragene „Modetheorie“ verhindert. Die originären Grundlagen der Sozialen Arbeit, d. h. ihre gesellschaftliche Funktion, ihre Adressatinnen, Arbeitsfelder, Ziele, Handlungsbereiche und Handlungsformen bleiben erhalten. Dass sie nun in eine systemische Sicht der Wirklichkeit integriert werden, ist kein Akt der Willkür, denn ich behaupte, dass die Sozialarbeit in ihrem Kern immer schon eine systemische Orientierung hatte, um ihrem zentralen Auftrag – der Lösung bzw. Milderung von materiellen und kommunikativen Problemen im Feld des Sozialen – gerecht zu werden. Mein ehemaliger Hochschulkollege Werner Müller hat für dieses Kapitel die Teile über Gemeinwesenarbeit und Arbeit in sozialen Organisationen verfasst und das gesamte Kapitel kritisch gegengelesen. Dafür danke ich ihm sehr herzlich.

Mit einem

fünften Schritt

(im

sechsten Kapitel

) kommt diese Entdeckungsreise zu ihrem vorläufigen Ende. Hier werden die in der systemischen Sozialen Arbeit verwendbaren Methoden und Handlungsrichtlinien vorgestellt. Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht von Therapie oder Sozialarbeit, sondern nur allgemein von Systemischer Arbeit; in ihr sind Sozialpädagogik, Therapie, Beratung und materielle Unterstützung als Teilbereiche enthalten. Zusammen mit den im selben Kapitel dargestellten originären Methoden der sozialen Arbeit ermöglichen sie eine theoretisch reflektierte und methodisch gesicherte Praxis der systemischen Sozialen Arbeit. Ihre Ziele heißen

Empowerment

, Hilfe zur Selbsthilfe und die Erschließung der dafür notwendigen Ressourcen.

Die Falldarstellung im ersten Kapitel sowie die Praxisbeschreibungen des siebten Kapitels zeigen, wie systemische Metatheorie und Methoden mit der klassischen Sozialen Arbeit zu einer einheitlichen praxisrelevanten Konzeption zusammenwachsen.

Für die Beiträge des siebten Kapitels danke ich Jürgen Armbruster und Gabriele Rein vom Sozialpsychiatrischen Dienst Stuttgart-Freiberg, Karlheinz Menzler-Fröhlich vom Wohnverbund Stuttgart-Nord und Klaus Döhner-Rotter vom Projekt Jugendhilfe im Lebensfeld (ProJuLe) in Bad Rappenau sehr herzlich. Die Falldarstellung des ersten Kapitels entstammt einem Video, das im Rahmen eines von mir geleiteten Projektes an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen entstanden ist. Dieses Werkstattvideo zeigt die praktische Umsetzung der in diesem Buch entfalteten Modelle für die Soziale Arbeit (zur Bezugsquelle siehe Kap. 1, Anm. 1).

Von der systemischen „Einrahmung“ der Sozialen Arbeit profitieren beide Seiten. Die Einführung der systemischen Metatheorie schärft den Blick der Sozialarbeiterinnen für Netzwerke, kommunikative Rückkoppelungseffekte (Zirkularität), den Beziehungssinn von Symptomen und Ressourcen, die das System selbst für die Lösung seiner Probleme aktivieren kann. Die Erschließung des Methodenspektrums der Systemtherapie vermittelt den Sozialarbeiterinnen Kompetenzen, sich an das Problemsystem anzukoppeln und gemeinsam Lösungen zu finden, die neue Entwicklungschancen und Handlungsspielräume eröffnen.

Die Integration systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit hat auch einen rückbezüglichen Effekt. Die System- und Familientherapie wird im ursprünglichen Sinn des Wortes politisch und schärft den Blick für die Lebenswelt ihrer Auftraggeberinnen. Überschaubare Mikrosysteme wie die Familie werden nun als Teil des Gemeinwesens (griechisch polis) wahrgenommen. Der Zugang zu seinen infrastrukturellen Angeboten (Schule, Kindergarten, soziale Dienste, aber auch Verkehrsmittel, Müllabfuhr, Krankenhäuser usw.), informellen (z. B. Nachbarschaft, Freunde) und formalen Netzwerken (z. B. Vereine, Kirchengemeinden, Parteien) ist ein wesentlicher Faktor für den „gelingenden Alltag“. Ist der Zugang zu ihnen blockiert oder erschwert, geraten die betreffenden Mikrosysteme in die soziale Isolation: Sie werden zu „geschlossenen Systemen“, deren Krisen nicht mehr im Austausch mit der Umwelt bewältigt werden können. So erweitert sich der Rahmen von Problemdefinitionen: Neben kommunikativen Problemen werden nun auch „Ausstattungsprobleme“ und damit soziale Disparitäten ein Teil des therapeutischen Diskurses.

Ansätze zur Beschreibung und Erklärung lebender Systeme fördern den theoretischen Narzissmus. Sie suggerieren die Möglichkeit, den systemischen Ansatz als Universaltheorie zu verstehen und alle Phänomene des Lebens unter ihren begrifflichen Hut zu bringen. Ich halte das für ein Missverständnis, denn eine solche Perspektive ist zentralistisch und ausgrenzend gegenüber anderen Theorieansätzen. Systemisches Denken hingegen favorisiert Pluralismus, Selbstorganisation kleiner Einheiten, innere Differenzierung durch Inklusion (Einbeziehung) statt Exklusion (Ausgrenzung). Deshalb halte ich es für wenig förderlich, mit der systemischen Keule nach anderen Theorie-Praxis-Ansätzen, z. B. der Psychoanalyse, zu werfen – die Keule könnte sich als Bumerang erweisen. Zu wünschen ist vielmehr, dass der systemische Ansatz seine eigenen weißen Flecke auf der Landkarte benennt und bereit ist, diese durch andere Theorieansätze erforschen und beschreiben zu lassen. Ich denke hier an den ganzen Bereich der intrapsychischen Prozesse, des individuellen und des persönlichen Unbewussten. Warum muss eine systemische Traumtheorie erfunden werden, wenn es hierfür schon ausdifferenzierte und plausible Ansätze bei Freud und Jung gibt?

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass ich in dieser Arbeit Systeme beschreibe, in denen Menschen des christlich-abendländischen Kulturkreises ihren Alltag leben. Über die sozialen Systeme anderer Kulturkreise stehen mir aufgrund meiner Informationsdefizite keine Aussagen zu.

Es gibt einen weiteren weißen Fleck auf der systemischen Landkarte, den ich in den Begriff der menschlichen Existenzialien fassen möchte. Hier denke ich u. a. an:

das Leben als ein „Leben zum Tod“ (Heidegger 1967);

die menschliche Sehnsucht nach dem Paradies, der Erlösung und der Transzendenz, die sich in allen Kulturen dieser Welt als spirituelle Kraft findet;

die soziale Trias von „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ (Habermas 1971);

das auf eine humanistische Selbstverwirklichung des Menschen gerichtete „Prinzip Hoffnung“ (Bloch 1973);

und den existenziellen Glauben an die einsam machende, Enttäuschungen notwendig hervorrufende und dennoch lebensnotwendige Freiheit der Wahl in der persönlichen Existenz. Gäbe es diese nicht, dann gäbe es auch keine persönliche Verantwortung für das eigene Handeln, es gäbe weder Schuld noch Scheitern. Dann aber hätte sich der Mensch als Gott gesetzt, als vollkommenes Wesen, dessen Worte die Welt erschaffen können. Zwölf Jahre Führerkult in Deutschland haben gezeigt, dass ein solcher Weg in Auschwitz endet.

Systemische Theorie sollte also in ihrem Weltbild Platz lassen für tiefenpsychologische, philosophische, spirituelle, gesellschaftskritische Diskurse und sie als eigensinnige Partner bei der Beschreibung der Welt und dem Handeln in ihr willkommen heißen.

Ich habe die Ergebnisse dieser nicht systemischen Theorien als Kontextperspektiven im zweiten Kapitel, bei meinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen im dritten Kapitel und den Überlegungen zum familiären Lebenszyklus im vierten Kapitel mit einbezogen.

Zum Schluss noch zwei Anmerkungen:

Ich verwende im folgenden Text die Begriffe Systemtherapie und systemische Therapie gleichbedeutend.

Wenn es um Personen geht, verwende ich überwiegend die weibliche Schreibweise. Ich möchte damit die vielen Bemühungen in unserem Feld und der Gesellschaft für eine Gleichstellung der Geschlechter unterstützen. Bislang findet sich in fast allen Fachtexten die männliche Schreibweise für beide Geschlechter, und es fehlt inzwischen fast nirgends mehr die Anmerkung, dass die Frauen dabei als eigenständige Personen mitzudenken seien. Aus Gründen der Gerechtigkeit, die in der Sozialen Arbeit und Familientherapie doch eine große Rolle spielt, drehe ich den Spieß einmal um; denn die Frauen befinden sich sowohl bei den Profis als auch bei den Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit und Systemtherapie in der Mehrzahl. Wenn man im Text darüber stolpert, weil es so ungewohnt ist, wird man merken, wie tief die männliche Dominanz noch in unseren Köpfen verankert ist und durch die Sprache verfestigt wird. Da tut ein „Gegen-den-Strich-Bürsten“ gut. Die männliche Form wähle ich nur dort, wo es um konkrete Personen männlichen Geschlechts geht, zum Beispiel mich selbst.

Ich danke allen, die mich bei der Erstellung dieses Buches unterstützt haben: dem Team des Carl-Auer-Systeme Verlags und hier vor allem den Lektoren Ralf Holtzmann und Uli Wetz –, Satu und Helm Stierlin für ihr motivierendes Interesse auch in kritischen Phasen des Schreibens, und last, but not least, meiner Familie. Der Titel des Buches entstand als Gemeinschaftswerk bei einer Fahrt in die Sommerferien – mitten in die schöne Schweiz.

2

Exkurse zur systemischen Metatheorie

2.1 Der Systembegriff: Das Muster, das verbindet, seine Vordenkerinnen und Vordenker

Das Ziel meiner Arbeit ist es, die systemische Familientherapie theoretisch und praktisch in die Soziale Arbeit „einzufädeln“ und beide unter dem Dach des Systemkonzeptes zu verbinden. Das System als ein hypothetisches Konstrukt1 und das darauf basierende Modell sozialer Systeme ist das beide verbindende Muster (siehe Bateson 1982, S. 15). Es eignet sich hierfür schon deshalb besonders gut, weil die Systemtheorie sich von Anfang an quer zur klassischen Einteilung der Wissenschaften in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelte und statt deren Unterschiedlichkeit den gemeinsamen erkenntnistheoretischen Rahmen betonte.

Es waren Vertreterinnen aus allen drei klassischen Wissenschaftsbereichen, die teilweise parallel, teilweise in einem gemeinsamen Diskurs an diesem die Einzelwissenschaften übergreifenden Modell gearbeitet haben (vgl. Capra 1996):

Der Biologe

Ludwig von Bertalanffy

– er schuf das Konzept des „Fließgleichgewichtes“.

Der Mathematiker

Norbert Wiener;

er prägte den Begriff „Kybernetik“, der in den legendären Sitzungen der Macy-Gruppe zu einem hoch differenzierten Modell systemischer Kommunikation weiterentwickelt wurde.

Gregory Bateson

, der als Biologe und Anthropologe zusammen mit seiner damaligen Frau, der Anthropologin und Psychologin Margret Mead, Feldforschungen bei Südseestämmen durchführte und das Konzept der „symmetrischen, komplementären und reziproken Beziehungsmuster“ begründete. Als einer der Pioniere der Familientherapie erarbeitete er maßgeblich das Konzept des „Double-bind“ und formulierte grundlegende Überlegungen zur Überwindung der cartesianischen Geist-Körper-Spaltung.

Margret Mead

, die u. a. durch ihre die Beziehung der Geschlechter thematisierenden ethnologischen Feldforschungen im Südseegebiet und ihre sozialpsychologischen Studien berühmt geworden ist.

Walter Cannon

, ein Hirnphysiologe, der den Begriff der „Homöostase“ schuf. Damit ist der Prozess der Selbstregulierung gemeint, „der es Organismen erlaubt, einen Zustand des dynamischen Gleichgewichtes zu erhalten, wobei ihre Variablen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen schwanken“ (Capra 1996, S. 58).

Ilya Prigogine

, ein Chemiker, der mit dem Konzept der „dissipativen Strukturen“ die Entwicklung von Systemen beschrieb, die aus stabilen Zuständen heraustreten, in einem instabilen Zustand ihre bisherige Ordnung auflösen und eine neue schaffen, durch die sie wieder in einen neuen stabilen Zustand zurückkehren. Mit diesem Konzept wurde eine neue Sicht der Beziehung von Ordnung und Chaos möglich.

Die

Gestaltpsychologie

der Zwanzigerjahre (

Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka);

sie erarbeitete, ausgehend von dem Satz des Philosophen

Christian von Ehrenfels

, „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, das Konzept einer ganzheitlichen Wahrnehmung.

Der Neurologe und Psychosomatiker

Victor von Weizsäcker

ersetzte die kausale und individuumzentrierte Orientierung der Medizin durch die „Verklammerung von Organismus und Umwelt“ (von Weizsäcker 1973, S. 191) und prägte dafür die Metapher des „Gestaltkreises“.

Die Begründer der atomaren und subatomaren Physik,

Max Planck, Albert Einstein, Nils Bohr, Otto Hahn, Lise Meitner, Werner Heisenberg u. a

., deren Forschungen wir die Grundzüge eines neuen Bildes der Welt und des Kosmos verdanken.

Diese Vordenkerinnen des Systembegriffs wiesen zugleich große Affinitäten zur Philosophie auf und knüpften an deren Diskurse an. So entwickelte sich unter verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten und Perspektiven ein Konzept des Systems, das in der Philosophiegeschichte schon in vielfältiger Weise vorausgedacht worden war (siehe Duss-von Werdt 1996, S. 6 ff.). Der Systembegriff findet sich schon bei Platon und Aristoteles. Kant unterscheidet in seiner Kritik der Urteilskraft das Maschinensystem von einem lebendigen System. Hegels Impulse für eine systemische und dialektische Kommunikationstheorie hat Helm Stierlin in einem Buch aufgearbeitet, dessen Titel eine berühmte Formulierung aus der Phänomenologie des Geistes wiedergibt: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen (Stierlin 1972). Buber paraphrasierte in seiner Dialogphilosophie die Essenz des jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos (Johannes 1, 1: „Im Anfang war das Wort“) und formulierte: „Im Anfang ist die Beziehung“ (Buber 1983, S. 25). In der Beziehung konstituiert sich das „Ich“ zum „Du“ und umgekehrt, sodass beide erst im „Wir“ zu ihrer eigenen Existenz finden. Der Bereich, in dem sich das „Wir“ gestaltet, nennt Buber „das Zwischen“ – und nimmt damit das Konzept der „Organisation von Beziehungen“ vorweg: „Das Wesentliche … vollzieht sich nicht in dem einem und dem andern Teilnehmer, noch in einer beide und alle Dinge umfassenden neutralen Welt, sondern im genauesten Sinne zwischen beiden, gleichsam in einer nur ihnen beiden zugänglichen Dimension“ (Buber 1982, S. 166; Hervorh.: W. R.).

Schon diese kurzen Verweise machen deutlich, in welch komplexen Traditionsprozess wir eingesponnen sind, wenn wir heute den Begriff des Systems verwenden.

Vielleicht kann uns eine solche Rückbesinnung davor bewahren, die heute gängigen systemischen Handlungskonzepte als pure Techniken zu missbrauchen. Ihr Wert für die menschenfreundliche Entwicklung von sozialen Systemen, die als „problematisch“ bezeichnet werden, resultiert gerade aus ihrer Einbettung in die philosophische Frage nach dem Menschen als Teil eines größeren Ganzen; das ist zugleich die Frage nach dem Sinn seiner Existenz.

2.2 Systemdenken, Ökologie und Sozialarbeit

Wir gestalten unsere Interaktionen in sozialen Räumen. Landschaften, der Himmel über und die Erde unter uns, Gebäude, Straßen und ihre Verknüpfung mit Organisationen bzw. Institutionen im Gemeinwesen stecken als dreidimensional wahrgenommene Räume unsere Handlungsfelder ab. Wir gestalten sie und sie gestalten uns in einem zeitlichen Verlauf, den wir zunächst als die Linie Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft erleben. Wir lassen Beziehungsräume entstehen und vergehen, wir entwickeln in ihnen neue Situationen, durch die sich Vergangenes aufhebt und Zukunft vorweggenommen wird. Räumliches Sein lebt im zeitlichen Werden; ohne diese Verknüpfung gäbe es keine lebenden Systeme.

Die Gesamtgesellschaft oder gar die Welt insgesamt ist – wie auch die Natur und das Universum – Kontext der engeren sozialen Räume.

Diese überschaubaren Räume lassen sich mithilfe des griechischen Begriffs oikos erschließen. Oikos war der Haushalt als Wirtschaftseinheit. In ihm verbanden sich die gemeinsam produzierenden und ihren Lebensunterhalt („Reproduktion“) sichernden Menschen mit dem bearbeiteten Boden, den Tieren, Pflanzen, Gebäuden und Werkzeugen. Er gewährleistete auch den Austausch mit anderen Wirtschaftseinheiten, z. B. durch Handelsbeziehungen.

Die moderne Ökologie betont unter Bezug auf dieses traditionelle System vor allem den Gesichtspunkt einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen der „ersten Natur“ und dem Menschen als sozialisierter, „zweiter Natur“. Das setzt einen Ausgleich der Interessen und die Respektierung der Natur als Lebensgrundlage aller daran Beteiligten voraus.

Wenn wir den Aspekt der Balance zwischen System und Umwelt im Interesse der Lebensfähigkeit beider zu einer grundlegenden systemischen Perspektive machen, erweisen sich nicht nur Biotope, sondern auch Menschen (biopsychosoziale Systeme) und gesellschaftliche Umwelten als Ökosysteme. In ihnen verbinden sich biopsychosoziale, kommunikative und natürliche Systeme in gegenseitiger Abhängigkeit und sichern dadurch ihr Überleben und ihre Entwicklung.

Für die soziale Ökologie ist darüber hinaus das Konzept der „sozialen Netzwerke“ von besonderer Bedeutung. Durch sie sind Menschen mit Menschen und sozialen Organisationen/Institutionen wissentlich und unwissentlich, direkt und indirekt verbunden. In den Netzwerken zirkulieren Informationen, die verbinden und voneinander abhängig machen. Netzwerke können gegenseitige oder einseitige Hilfen oder Behinderungen für einen „gelungenen Alltag“ (Thiersch 1992) etablieren. Formelle Netzwerke sind offizielle Organisationen/Institutionen, informelle Netzwerke entstehen durch private Entscheidungen und sind schneller auflösbar (zum Netzwerkkonzept siehe Keupp 1988b).

Im Sinne der Ökologie müssen System, Umwelt und die ausbalancierte Beziehung zwischen beiden als eine zusammengehörende Gestalt betrachtet werden: Ein System existiert nur mithilfe seiner Umwelt, die es zu erhalten gilt und mit der es sich zusammen entwickelt. Die Begriffe System und Ökologie können gleichbedeutend verwendet werden: Ökologisches Denken ist systemisches Denken.2

Pure natürliche Ökosysteme (erste Natur) gibt es nicht mehr. Der Mensch hat die Natur zu seiner Entwicklungsressource gemacht und sie dabei nachhaltig sozial verändert. Dabei ist die systemische Balance verloren gegangen, und es ist die Aufgabe der Gegenwart und Zukunft, sie auf einem neuen Niveau wiederherzustellen. Eine moderne soziale Ökologie muss darüber hinaus – im Gegensatz zur antiken Sklavenhaltungsgesellschaft – die wechselseitige Anerkennung aller Menschen betonen. Das wird in den Grund- bzw. Menschenrechten festgeschrieben, welche die Wertebasis aller westlichen Demokratien bilden.

Neben den wechselseitigen Abhängigkeits- und Austauschbeziehungen sind es vor allem die Konzepte der Balance und der gemeinsamen Entwicklung, die ökologisches und systemisches Denken miteinander verbinden.

Lebensfähige Systeme benötigen die

immer wieder herzustellende Balance in ihrem Binnenraum sowie zwischen sich und den Systemen der äußeren Umwelt

. Die chronische Überbetonung eines Elementes, eines Teilsystems oder eines Systems gegenüber den anderen stellt die Lebensfähigkeit des Ganzen infrage. Die Umweltbewegung hat seit den Siebzigerjahren darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Vorherrschaft der Naturverwertung über die Pflege der natürlichen Ressourcen alle sozialen Systeme dieser Erde bedroht. Deren Lebensfähigkeit gründet sich auf der Verschränkung von Natur und vergesellschaftetem Menschen. Zeitweilige Dominanzen, die manchmal auch entwicklungsfördernd sein können, müssen zugunsten der Entwicklung anderer Bereiche des Gesamtsystems wieder in den Hintergrund treten; meistens geschieht das im Kontext von Krisen. Die im gesellschaftlichen Diskurs der Industrieländer praktizierte Vorherrschaft des

Ausbeutungsparadigmas

gegenüber dem

Nachhaltigkeitsparadigma

(siehe Kopfmüller et al. 2001) führt z. B. zur Erwärmung der Erdatmosphäre und in deren Gefolge zu Stürmen, Überschwemmungen und anderen vom Menschen gemachten „Naturkatastrophen“

3

. Diese sind mit sozialen Krisen verknüpft: Kinder werden zu Waisen, Familien verlieren Heimat und Wohnung, Eltern ihren Arbeitsplatz. Ein anderes Beispiel ist die zu einer Krise führende Unterdrückung einer nationalen Minderheit durch die sich absolut setzende Mehrheit. Tritt in diesem Fall das Dominanzparadigma nicht zugunsten des Kooperationsparadigmas in den Hintergrund, droht eine Eskalation der Gewalt, die sich dann auch gegen die nationale Mehrheit der Gesellschaft richtet. Auch die Ausgrenzung verarmter Minderheiten durch die materiell gesicherte Mehrheit einer Gesellschaft erweist sich im Sinne der notwendigen ökosystemischen Balance als problematisch. Deren blockierte Entwicklungsmöglichkeiten finden ihren Ausdruck in steigenden Kriminalitätsraten, einem sich selbst und andere schädigenden Drogenkonsum oder innerfamiliären Gewalttätigkeiten. Diese wirken rekursiv auf die materiell gesicherte Mehrheit zurück, indem auch diese von Kriminalität, Drogen und einer allgemeinen Unsicherheit betroffen ist.

In der klassischen Systemtheorie findet sich diese Idee der immer wieder neu herzustellenden Balance in dem Konstrukt des „Fließgleichgewichtes“ (von Bertalanffy)4 und der „Ordnung durch Fluktuation“ (Prigogine)5.

Das Konzept der

Koevolution

verweist auf das gemeinsame Wachstum in Systemen. Die Kontextbezogenheit von Systemen bringt es mit sich, dass Systeme nur in Abhängigkeit von ihren eigenen inneren und äußeren Umwelten, also in einer gemeinsamen Entwicklung von System und Umwelten („Koevolution“, Willi 1985) überleben können. Blockiert ein System die Lebensfähigkeit seiner Umweltsysteme, blockiert es auch seine eigenen Ressourcen und Überlebenschancen. Die politisch-kulturelle Ökologiebewegung hat darauf mit allem Nachdruck hingewiesen. Diese wechselseitige existenzielle Abhängigkeit erfordert auf der Ebene menschlicher sozialer Systeme eine Ethik der Nachhaltigkeit, Verantwortlichkeit und Akzeptanz des Eigenwertes aller anderen Menschen und der Natur. Eine Regierung, die gesellschaftliche Minoritäten drangsaliert, gräbt sich letztlich selbst ihr Grab, auch wenn das lange dauern mag; ein Staat, der die Lebensrechte anderer Völker missachtet, baut seine Existenz auf tönernen Füßen. Ein Vater, der seine Kinder misshandelt bzw. missbraucht, betreibt nicht nur „Seelenmord“ (Wirtz 1992) an seinen Kindern, sondern auch an sich selbst. Er untergräbt nicht nur die Beziehungsfähigkeit der Kinder, sondern auch seine eigene. Ökologie betont also die

gemeinsame

Überlebensfähigkeit durch die Etablierung einer „positiven Gegenseitigkeit“ (Stierlin 1972), eines gemeinsamen Wachstums und eines auf Gerechtigkeit basierenden Austausches.

Ausgleich zwischen unterschiedlichen Teilsystemen und ihre Koevolution sind also die wesentlichen Merkmale des systemischen und des ökologischen Paradigmas.

2.3 Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Systembeobachtung, -beschreibung und -erkenntnis

Systemisches Wahrnehmen, Beobachten, Erkennen, Denken, Fühlen richtet sich immer auf Kommunikation, d. h. die Verknüpfung von Menschen, Tieren, Pflanzen, Gedanken, Gefühlenund Dingen durch bedeutungsvolle Beziehungen und ihre Organisation in einer Gesamtgestalt, die wir System bzw. Ökosystem nennen.

Entscheidend für das systemische Denken ist der Paradigmenwechsel von einer objektiven zu einer epistemischen Wissenschaft: „… zu einem Denksystem, in dem die Epistemologie – die Art der Fragestellung – ein integraler Bestandteil wissenschaftlicher Theorien wird“ (Capra 1996, S. 56). Systemisches Denken, Forschen und Handeln postuliert die Einheit von Denkerin und Gedachtem, Beobachterin und Beobachtetem, Ego und Alter in der Kommunikation. Alle umgangssprachlichen und wissenschaftlichen Aussagen stehen unter diesem Axiom der Einheit von Beobachterin und Beobachtetem und der zwischen ihnen geknüpften Beziehung. Deshalb geben sie kein objektiv gesichertes Wissen über die Wirklichkeit wieder, sondern Beschreibungen und Erklärungen der Wirklichkeit im Lichte der von der Beobachterin verwendeten Theorien sowie der im Beobachtungssystem relevanten und deshalb von der Beobachterin gewählten Themen (vgl. auch Heisenberg 1959, S. 40).

Pointiert ausgedrückt: Wenn wir von einem System sprechen, sprechen wir über ein Modell in unserem Kopfe, mit dessen Hilfe wir die Wirklichkeit wahrnehmen, beschreiben, erklären, theoretisieren und handelnd gestalten. Mithilfe des Systemmodells stellen wir soziale Wirklichkeiten noch einmal her; wir rekonstruieren sie, indem wir ihnen einen neuen Rahmen und darin bestimmte Bedeutungen geben. Im Gegensatz zu Erkenntnistheorien, welche das Primat und die Unabhängigkeit der äußeren Realität betonen, stellt die „Kybernetik zweiter Ordnung“ („the second cybernetics“, Maruyama nach Capra 1996, S. 80) die Verbindung, Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von beschreibender Person und beschriebener Wirklichkeit heraus. Sie betont die „Konstruktion der Wirklichkeit(en)“ durch die Beobachterin. Da es auch harte, z. B. materielle Wirklichkeiten und ihre Gesetzmäßigkeiten gibt, die nicht allein durch Denkprozesse entstanden und aktuell auch nicht in ihrer Existenz, sondern höchstens in ihrer Bedeutung für die Beobachterinnen veränderbar sind, schlage ich den Begriff subjektive Rekonstruktion der Wirklichkeit vor. Dadurch wird das Dilemma vermieden, einerseits Wirklichkeit als reine Kopfgeburt zu verstehen und andererseits in einen platten Materialismus zu verfallen, der das menschliche Gehirn als Container für die gegenstandsgetreuen Abbilder der Umwelt auffasst.

Die erkenntnistheoretische Konsequenz dieser Hypothese heißt: Es gibt keine Möglichkeit, Wirklichkeit in einem Eins-zu-eins-Verhältnis abzubilden bzw. objektiv darzustellen. Es gibt also auch keine absolut richtigen oder falschen Aussagen, denn solches setzte voraus, was die zweite Kybernetik bestreitet: eine von der Beobachterin unabhängig beobachtbare, beschreibbare, analysierbare und nach objektiven Gesetzen im Experiment reproduzierbare soziale Wirklichkeit. Maturana spricht in diesem Zusammenhang von „Objektivität in Klammern“ (zit. nach Hargens 1987).

Im Gegensatz zum „Radikalen Konstruktivismus“, der in der Folge einer radikalisierten „Kybernetik zweiter Ordnung“ die Welt nur noch als Erfindung der Beobachterin definiert (siehe von Foerster in Watzlawick 1990, S. 36), bevorzuge ich den Begriff der Rekonstruktion der Wirklichkeit durch eine Beobachterin.

Diese Rekonstruktion kann durchaus zu einer neuen, bisher noch nie da gewesenen Gestalt führen; aber auch sie enthält Reproduktionen von Umweltkomponenten, die im schöpferischen Akt zu einer neuen Gestalt verknüpft werden (siehe Ritscher 1998).

Die wissenschaftstheoretische Konsequenz dieser Hypothese heißt, dass die subjektiven Voraussetzungen für die drei Bereiche der Rekonstruktion von Wirklichkeit – Beschreibung, Erklärung und Bewertung – durch die Beobachterin transparent gemacht werden. Die Beschreibung der Wirklichkeit sagt mehr über die Beschreiberinnen und ihre Sichtweisen aus als über die Wirklichkeit selbst. Deshalb müssen die der Beobachtung vorauslaufenden und durch sie aktivierten Theorien, Modelle, Begrifflichkeiten der Beobachterin und ihre Erkenntnisinteressen (Habermas 1973) sowie der methodisch gesicherte Weg der Erkenntnis benannt werden und kritisierbar sein.

Für die Soziale Arbeit und Therapie als Handlungswissenschaften sind darüber hinaus das methodisch gesicherte Handeln, vorab benennbare Ziele und ihr Vergleich mit den Ergebnissen (Evaluation) wesentliche Kriterien.

Die ethische Konsequenz dieser Sichtweise fordert eine Akzeptanz anderer Sichtweisen und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln, seine Voraussetzungen und kommunikativen Folgen.

Die methodische Konsequenz verlangt Interventionen, die auf Dialog und Kooperation angelegt sind und die Gleichwertigkeit ihrer Adressatinnen und der intervenierenden Professionellen betonen. Beispielhaft hierfür ist die Methode des Reflecting Team (vgl. 6.6.3.2).

Die politische Konsequenz heißt: Einerseits müssen wir uns um eine hohe professionelle Kompetenz bemühen. Wir sind Fachleute für in der bisherigen Geschichte des Problemsystems noch nicht oder nicht genügend thematisierte Problemlösungsstrategien. Andererseits bleiben unsere Auftraggeberinnen die Spezialistinnen für ihren Alltag, und ich persönlich kenne nur wenige, deren Bemühungen zur Alltagsbewältigung mir keinen Respekt abverlangt.

2.3.1 Die Einheit von Beobachterin und Beobachtetem und ihre Folge für die Soziale Arbeit

„Der entscheidende Zug der Atomphysik ist, daß der menschliche Beobachter nicht nur für die Beobachtung der Eigenschaften eines Objekts notwendig ist, sondern sogar, um diese Eigenschaften zu definieren. In der Atomphysik können wir nicht von den Eigenschaften eines Objektes als solchem sprechen. Sie sind nur im Zusammenhang mit der Wechselwirkung des Objektes mit dem Beobachter von Bedeutung … Der Beobachter entscheidet, wie er die Messungen aufstellt, und diese Anordnung entscheidet bis zu einem gewissen Grad die Eigenschaften des beobachteten Objekts. Wird die Versuchsanordnung verändert, ändern sich die Eigenschaften des beobachteten Objektes ebenfalls“ Capra 1984, S. 141).

Diese für die mikroskopische Welt getroffene Feststellung kulminiert in der von Heisenberg formulierten „Unschärferelation“6; die „zweite Kybernetik“ hat sie für die Sozial- bzw. Kommunikationswissenschaften und damit für die Größenordnung der menschlichen Welt erschlossen. Auch für die Wahrnehmung, Beschreibung, Analyse und Bewertung sozialer Wirklichkeiten hat die Aussage der Einheit von Beobachterin und beobachteten Systemen erhebliche theoretische und praktische Konsequenzen. Die Forscherin steht nicht einer objektiven Wirklichkeit gegenüber, die sie vermessen, beschreiben und kausal erklären kann. Stattdessen schließen sich sie und der von ihr festgelegte erforschte Ausschnitt der Wirklichkeit zu einem Beobachtungssystem zusammen, das den transparent zu machenden Kontext der wissenschaftlichen Aussagen darstellt. Diese für die wissenschaftliche Forschungspraxis getroffene Feststellung gilt entsprechend für die kommunikative Alltagspraxis. In der „Handlungs- bzw. Aktionsforschung“ (Moser 1975; Zinnecker et al. 1975) wird diese Sichtweise schon lange vertreten.

Der „zweiten Kybernetik“ folgend, hat die systemische Familientherapie immer schon betont, dass durch den Zusammenschluss von zwei eigenständigen Systemen – dem Therapeutinnen- und dem Klientinnensystem – ein neues, zeitlich begrenztes Unterstützungssystem entsteht. Es folgt seinen eigenen Gesetzen. Selvini Palazzoli sprach in diesem Zusammenhang vom übergeordneten „Metasystem“ (Selvini Palazzoli et al. 1989); Minuchin u. a. beschrieben die Bildung dieses „therapeutischen Systems“ (Minuchin u. a. 1989), Goolishian und Anderson sprachen von einem „problemdeterminierten System“: „Es organisiert sich um das Sprechen über bestimmte Fragen, die das System enthält und über die bestimmte Personen besorgt oder beunruhigt sind“ (Goolishian u. Anderson 1988, S. 200). Lösungsorientierte Therapeuten wie de Shazer u. a richten ihre Interventionen auf das Problemlösesystem (de Shazer 1989). Dieser Kontext integriert Therapeutinnen und Klientinnen unter der Zielsetzung „Problemlösung“ für kurze Zeit zu einem System. Für die Praxis bedeutet dies, dass auch noch so detaillierte Informationen, die über eine Familie, ihre Lebenswelt und ihren Alltag vorliegen bzw. im Familieninterview gewonnen werden, kein objektives diagnostisches Bild dieses Systems erbringen. Sie sind an das von der Sozialarbeiterin und ihren Auftraggeberinnen gebildete Unterstützungssystem gebunden, d. h. an die Beziehung und das zwischen beiden Seiten entstehende Muster. Von Bedeutung für ihre Beziehung und die darin entstehenden Informationen sind u.a. die „Tagesform“ der Beteiligten, der institutionelle Kontext, in dem die Arbeit stattfindet, eventuelle Teambeziehungen und der „Überweisungskontext“ (siehe 6.2.4). Für die Sozialarbeit, Beratung und Therapie umfassende systemische Arbeit empfiehlt sich statt der Verwendung des Begriffs „Therapiesystem“ die Verwendung des Begriffs „Unterstützungssystem“, statt „Klientin“ „Auftraggeberin“7. Dadurch werden die klinische Einengung auf Therapie vermieden, Probleme auch jenseits ihrer Lösung ernst genommen und das durch die „Hilfe zur Selbsthilfe“ angestrebte „Empowerment“ betont. In der Folge dieser Überlegungen erhalten auch Diagnosen einen zum medizinischen Kontext unterschiedlichen Stellenwert. Sie sind keine objektiven Beschreibungen eines Zustandes, aus denen möglichst eindeutige lineare Behandlungsmaßnahmen abzuleiten sind. Stattdessen sind sie Momentaufnahmen eines doppelperspektivischen Beziehungs- und Beschreibungsprozesses. Sie sind abhängig von den Voraussetzungen der Beobachterinnen – phänomenologisch gesprochen von deren Standort und Perspektive – sowie dem aktuellen Kontakt mit dem zu diagnostizierenden System.

Die Beschreibung ist in den Kontext einer Beziehung eingebettet, in dem sich Auftraggeberinnen und Professionelle wechselseitig beeinflussen. Elkaim nennt diese wechselseitige Beeinflussung „Resonanz“ (Elkaim 1992). Er erweitert damit das auf die intrapsychischen Prozesse von Analytikerin und Analysandin fokussierende psychoanalytische Konzept der Übertragung – Gegenübertragung. Das erfordert seitens der Professionellen, ihr Augenmerk auf eigene beziehungsfördernde Einstellungen und Verhaltensweisen zu lenken.8 Darüber hinaus entsteht bei der Beschreibung des Problemsystems und seiner Umweltbeziehungen durch die Auftraggeberinnen eine eigene Sichtweise der Sozialarbeiterin bezüglich dieser Beschreibungen; sie schlägt sich in ihren Hypothesen und Fragen nieder. Wenn also die Bezirkssozialarbeiterin die Mutter eines in der Schule auffälligen Kindes zu einem ersten Gespräch in ihr Arbeitszimmer eingeladen hat, sind die dort zur Sprache kommenden Informationen an das aktuelle Beziehungssystem gebunden. Wenn sie die Familie zu Hause aufsuchte, könnte die Mutter im Beisein der anderen Familienmitglieder ganz anders sprechen, und eine andere Sozialarbeiterin würde vielleicht nochmals ganz andere Informationen erhalten. Die Adressatinnen von Therapie und Sozialer Arbeit sagen also nicht „die Wahrheit“, sondern reduzieren die Komplexität der Wirklichkeit unter Kriterien wie soziale Erwünschtheit, soziale Konformität, Sympathie vs. Antipathie, Vertrauen vs. Misstrauen, Hilfe- vs. Kontrollerwartung. Ihnen bei einer unterschiedlichen Darstellung ihrer Lebenswirklichkeiten absichtsvolle Manipulationsversuche („Lügen“) zu unterstellen und eventuell als Professionelle beleidigt zu sein – „weil man doch nur das Beste will“ – missachtet die systemische Einsicht in die Kontextabhängigkeit jeder Wirklichkeitsbeschreibung.

Dieses Beispiel zeigt: Auch das beobachtete System bzw. der beobachtete Mensch unterliegt dem Prinzip der Rekonstruktion von Wirklichkeit. Er nimmt die Beobachterin wahr, schreibt ihren Handlungen Bedeutungen zu und antwortet darauf, was wiederum zu einer Antwort der Beobachterin führt.

Durch dieses Wechselspiel entsteht bedeutungsvolle Kommunikation, und das dabei sich bildende Beobachtungssystem zeichnet sich durch folgende Elemente aus:

Rollenverteilungen, z. B. Beobachterin vs. beobachtete Person bzw. Personen;

Regeln, z. B. unterwerfen sich die beobachteten Personen in einem klassischempirischen Experiment den von der Versuchsleiterin festgelegten Regeln;

Statusfestlegungen, z. B. verfügt in diesem Kontext die Versuchsleiterin über mehr Informationen als die beobachtete Person;

Beziehungsmuster, z. B. wird in diesem Kontext ein komplementäres Beziehungsmuster hierarchischer Prägung etabliert.

Beobachterin (= beobachtendes System) und beobachtete Person bzw. Personen (= beobachtetes System) unterliegen aufgrund des Prinzips der Rekonstruktion von Wirklichkeit einer wechselseitigen Unsicherheit und Undurchschaubarkeit. Denn das Verhalten der jeweils anderen ist in einem freiheitlichen, d. h. nicht totalitär organisierten Kontext nicht erzwingbar.9 Auch filigran ausgetüftelte pädagogische Methoden können das Verhalten der Schülerinnen nicht eindeutig determinieren, d. h., Lehrerinnen können es zwar vorweg festlegen, aber ob die Schülerinnen sich danach richten, bleibt prinzipiell unsicher: Instruktive Interaktion ist nicht möglich.

Dennoch versuchen wir, diese Festlegung der anderen auf das von uns erwünschte Verhalten zu erreichen, um für uns ein (trügerisches) Gefühl der Sicherheit und Kontinuität herzustellen. Wir etablieren eine „Als-ob-Kommunikation“ und versuchen in deren Rahmen, das Verhalten der anderen mental vorwegzunehmen und uns in unserem Verhalten prophylaktisch darauf einzustellen. Der Begründer des „Symbolischen Interaktionismus“, George Herbert Mead (1973), hat diese Struktur der Antizipation im Rahmen seiner sozialpsychologischen Rollentheorie herausgearbeitet.

Trotz dieser Versuche bleibt unser kommunikatives Handeln letztlich unbestimmbar, denn wir können nicht in den Köpfen der anderen lesen. Wir berühren uns mit unseren kommunikativen Anfragen; ob wir uns treffen und den Wünschen der anderen entsprechend antworten, bleibt unsicher. Luhmann nennt diesen Sachverhalt „Kontingenz“10. Diese Unbestimmbarkeit geht von allen Partnerinnen in der kommunikativen Situation aus und ist daher wechselseitig. In Luhmann Begrifflichkeit handelt es sich deshalb um eine „doppelte Kontingenz“ (Luhmann, zit. in Ludewig 1992, S. 97). Die Sozialarbeiterin kann deshalb nicht davon ausgehen, dass ihre Auftraggeberin bzw. Adressatin das tut, was sie von ihr erwartet; sie muss sich immer wieder neu um deren Bereitschaft zur Kooperation bemühen. Das entspricht der modernen Beschreibung von Sozialer Arbeit, Beratung und Therapie als einer Dienstleistung.

2.4 Systemische Perspektiven der Beschreibung sozialer Wirklichkeiten oder: Das System im Kopf der Beobachterin

Für die Integration der folgenden sehr abstrakten Überlegungen in erfahrungsnahe Bilder schlage ich vor, die Familie immer als Beispiel mitzudenken. Dieses soziale System kennen wir alle gut – privat und viele Leserinnen sicher auch professionell.

2.4.1 Übergeordnete Definitionen

Im Folgenden stelle ich ein aus sechs Perspektiven bestehendes Modell für die Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeiten vor. Durch seine Anwendung werden soziale Wirklichkeiten als soziale Systeme wahrgenommen, beobachtet, beschrieben und analysiert – also rekonstruiert. Ich entwerfe und formuliere dieses Modell unter einem sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkt. Das heißt, es geht um ein Modell für soziale Beziehungen, das auf die Gesellschaft als Ganzes und einzelne soziale Kontexte, wie Familie, Nachbarschaft, Schule oder professionelle soziale Unterstützungssysteme, angewendet werden kann.

Ein System lässt sich erkenntnistheoretisch (epistemologisch), im Hinblick auf seine Erscheinung (phänomenologisch) und durch die Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz (transzendental) definieren.

Erkenntnistheoretisch:

Das Modell systemischer Perspektiven lässt sich als ein ordnender Rahmen verstehen, der von einer Beobachterin für die Systematisierung ihrer Wahrnehmung, Beschreibung, Analyse und Rekonstruktion benutzt werden kann. Mit seiner Hilfe lassen sich soziale Wirklichkeiten als Beziehungsereignisse bzw. Situationen verstehen. Ihre Bedeutung, ihr Sinn und ihre Funktion erschließen sich durch die Bezugnahme auf ihre Kontexte.

11

Beispiel: Die an den Sohn gerichtete Strafpredigt eines Vaters lässt sich im Rahmen des Konzeptes „die Familie als System“ als eine familiäre Beziehungssituation deuten, in die alle Familienmitglieder direkt oder indirekt verwickelt sind. Die Mutter hat vielleicht den Vater auf die Verfehlung der Kinder aufmerksam gemacht, die Tochter verdrückt sich, weil sie weiß, dass sie nach dem Bruder an der Reihe ist, und deshalb bekommt er es gleich für beide ab.

Phänomenologisch:

Mithilfe der erkenntnisleitenden systemischen Perspektiven verknüpft die Beobachterin die Teile (Elemente) einer sozialen Situation zu einer in den Vordergrund der Betrachtung tretenden, vom Hintergrund abgegrenzten einheitlichen

Gestalt

. Deren sich selbst organisierende Strukturen werden durch die Interaktion dieser Teile selbst geschaffen und erhalten zugleich das Gesamtsystem.

Beispiel: Mutter, Vater, Tochter und Sohn werden als Elemente des Familiensystems gesehen, deren allseitige Kommunikation Verhaltensregeln schafft, die das System selbst erhalten. Regeln wie „Am Samstag beteiligen sich alle Familienmitglieder am Hausputz“ bringen diese in einer Beziehungssituation zusammen, in der sie sich als Mitglieder ihrer und keiner anderen Familie erleben und definieren können.

Transzendental:

Die Interaktionen zwischen den Teilen eines Systems erschaffen seine Organisation, d. h. das sie verbindende Muster. Erst durch das Muster entsteht die Gestalt, durch welche das System in seiner Besonderheit identifizierbar ist. Das Muster wiederum gibt den Interaktionen ihren Sinn und macht sie zu für das System bedeutsamen kommunikativen Handlungen. Sie werden dadurch zum Teil der bewussten und dargestellten Geschichte des Systems (Tradition) und ermöglichen dessen Zukunft. Muster und aktuelle Interaktionen sind also in einer Rückkoppelungsschleife verbunden: Das Muster entsteht als neue Qualität aus den Interaktionen und ermöglicht zugleich, dass Interaktionen Sinn ergeben, also zu Informationen werden. In sozialen Systemen setzt sich das Muster aus Rollen, Regeln, Statuszuschreibungen und immer wiederkehrenden Verhaltenssequenzen zusammen. Bateson hat für die menschliche Kommunikation drei Beziehungsmuster identifiziert und nannte sie Symmetrie, Komplementarität und Reziprozität (siehe Ritscher 1998, S. 204 ff.). Darüber hinaus gibt es Muster der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, der Kontinuität und der Unterbrechung.

Beispiel: Mutter, Vater und Kind essen gemeinsam am Tisch. Dabei gelten bestimmte Regeln, die durch viele Essenssituationen gebildet und gefestigt worden sind. Sie gelten auch für weitere Situationen – in denen es immer die Möglichkeit ihrer Veränderung gibt. Ohne Regeln, z. B. dass sich nicht alle gleichzeitig auf den Suppentopf stürzen, dass man zum Essen der Suppe einen Löffel und keine Gabel benutzt, dass man den Mund jetzt zum Essen und nicht zum Reden benutzt, fände die gemeinsame Mahlzeit nicht statt. Dann entstünde keine Situation, welche die Handlungen der Familienmitglieder verbindet und damit die Identität ihrer Familie sichert. Das spezifischer Muster für die Essenssituation könnte auch in der Dimension „Gleichzeitigkeit – Ungleichzeitigkeit“ beschrieben werden. Zum Beispiel versammeln sich alle Familienmitglieder gleichzeitig am Tisch und beginnen gleichzeitig zu essen. Oder sie treffen nacheinander ein und beginnen zu verschiedenen Zeitpunkten mit ihrer Mahlzeit. Die unterschiedlichen Muster enthalten unterschiedliche Informationen über die Werte der Familie: In dem ersten Fall steht die Idee der Familie als eines den einzelnen Mitgliedern übergeordneten Ganzen im Vordergrund; im zweiten Fall wird die Individualität der Familienmitglieder betont.

2.4.2 Perspektiven für die systemische Beschreibung sozialer Wirklichkeiten im Überblick

Die vorgeschlagenen Perspektiven für die Beschreibung sozialer Wirklichkeiten, die dadurch als soziale Systeme dargestellt werden, sind in Abbildung 2 dargestellt. Der Blick fällt zunächst auf ihre Mitte. Hier befindet sich eine Illustration der Idee, das System als Gestalt zu beschreiben. Ich habe dafür die Familie gewählt – Eltern, Kind, das Fernsehgerät, deren Beziehungen zueinander durch die Pfeillinien symbolisiert sind. Alle Mitglieder einer Familie sind durch kommunikative Rückkoppelungsprozesse miteinander verbunden; auch nichtmenschliche Lebewesen (z. B. Hunde) oder materielle Objekte (z. B. ein Fernsehgerät) können als bedeutsame Beziehungspartner verstanden werden. Sie alle bilden das System Familie, das sich einer Außenbeobachterin u. a. durch seine wahrnehmbare Grenze und seine Veränderungen als raum-zeitliche Gestalt präsentiert. Mit dieser zusammen bildet die Familie entsprechend dem Axiom der Einheit von Beobachterin und Beobachtetem das Beobachtungssystem.

Um diese Illustration des Systems als Gestalt sind die drei zentralen Perspektiven angeordnet: Systembeobachtung und -erkenntnis, Beziehungen und das System als raum-zeitliche Gestalt.

Abb. 2: Perspektiven für die Beschreibung eines Modells sozialer Systeme

Die drei Kontextperspektiven bilden den Außenkreis. Sie benennen kulturell vermittelte Bedingungen der sozialen Existenz des Menschen und ermöglichen den Beobachterinnen eigene Bewertungen des Beobachteten. Mit ihrer Benennung möchte ich dem Vorurteil entgegentreten, dass der systemische Ansatz formal und mechanistisch sei und sich existenziellen Sinnfragen wie auch einer kritischen Betrachtung unserer Gesellschaft verschließe (siehe Körner u. Zygowski 1988)12