Szenen der Wiener Moderne - Theresa Eisele - E-Book

Szenen der Wiener Moderne E-Book

Theresa Eisele

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Beschreibung

Das Essay erzählt die Geschichte dreier Artefakte aus Wien, angefangen vom in der Ersten Republik Österreich gedrehten Stummfilm Die Stadt ohne Juden (1924) über die Theatersensation der Jahrhundertwende Die Klabriaspartie (1890) zurück in das Jahr der Weltausstellung 1873, in dem eine Typenfotografie eines jüdischen Hausierers entstand. Mit ihrer jeweiligen Spezifik nur im lokalen Kontext verstehbar, sind die Artefakte dennoch in europäische Erfahrungszusammenhänge und Denktraditionen eingewoben. Ihre Untersuchung gibt Einblicke in die Vorstellungswelten des Jüdischen in der Wiener Moderne und legt Prozesse der Authentisierung und Dekonstruktion offen. Damit gelingt eine film-, theater- und medienhistorische Perspektive auf Fragen der jüdischen Moderne und Dimensionen des nach wie vor konjunkturellen Begriffs der Authentizität.

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Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur

Herausgegeben von Yfaat Weiss

Band 14

Theresa Eisele

Szenen der Wiener Moderne

Drei Artefakte und ihre Vorstellungswelten des Jüdischen

Vandenhoeck & Ruprecht

Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Lektorat: André Zimmermann, LeipzigSatz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.deEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2197-1013ISBN 978-3-647-99469-7

Inhalt

Vorwort

Inszenierte Vorstellungswelten

Die Stadt ohne Juden (1924)

Die Klabriaspartie (1890)

Wiener Typ Nr. 16 (1873)

1873 – 1890 – 1924

Quellen und Literatur

Auswahlbibliografie

Zur Autorin

Vorwort

Ein Wiener Journalist veröffentlicht 1922 einen Roman, der zum Verkaufsschlager wird: Die Stadt ohne Juden, »ein Gedankenexperiment, das nachträglich als Prophezeiung der Schoah rezipiert wurde, de facto aber hauptsächlich Gesellschaftsklima und Politik der 1920er Jahre fiktionalisierte« (Theresa Eisele). Erzählt wird der Exodus der jüdischen Bevölkerung Wiens nach ihrer Ausweisung durch den christlichsozialen Bundeskanzler – die Folge ist ein wirtschaftlicher und kultureller Niedergang der von antisemitischen Stimmungen geprägten Stadt. Kurz nach Erscheinen des Titels bearbeitet eine Drehbuchautorin den Stoff, der 1924 verfilmt wird und ein Kassenerfolg ist. Im Lauf der Zeit gehen allerdings sämtliche Kopien verloren; der Film verschwindet. In den 1990er Jahren tauchen Fragmente einer niederländischen Version wieder auf, doch erst nach dem Zufallsfund eines nahezu vollständigen Exemplars 2015 kann der Stummfilm restauriert werden.

Und die Menschen dahinter? Romanautor Hugo Bettauer wird 1925 von einem Antisemiten erschossen. Regisseur Hans Karl Breslauer tritt 1940 in die NSDAP ein. Drehbuchautorin Ida Jenbach wird 1941 nach Minsk deportiert und ermordet. Attentäter Rothstock hingegen genießt schon im Gerichtssaal den Applaus Gleichgesinnter, wird kurzzeitig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und kann noch fünfzig Jahre später in einem bizarren Interview unwidersprochen seine Tat verherrlichen.

Der virtuos konzipierte und pointiert formulierte Essay von Theresa Eisele nimmt jedoch weniger die Protagonis ten selbst in den Blick als vielmehr die von ihnen erzeugten Artefakte, weniger eine Handlung als vielmehr ein Argument. Über drei Medien – Film, Theater, Fotografie – hinweg folgt der Text in einer antiteleologischen Rückerzählung den Imaginationen des Jüdischen im Wien des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund einer Akkulturation im Spannungsfeld von Juden und ihrer christlichen Umgebung einerseits sowie äußerer und innerer Begegnungen zwischen Ost und West andererseits wird eine faszinierende Kulturgeschichte der Selbst- und Fremdbestimmung bei der vergeblichen Suche nach Authen tizität erzählt. »Echt jüdisch«, so zitiert die Autorin, »ist wie ein großer Koffer, da hinein die ganze Menschheit ihre schmutzige Wäsche gepackt hat« (Felix Salten). An diesen gefürchteten Koffer traut sich Eisele mit historischen und zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Ansätzen heran, um einem ungebrochen allgegenwärtigen Phänomen nachzuspüren.

Yfaat Weiss

Herbst 2020

Inszenierte Vorstellungswelten

Im Oktober 2015 entdeckte ein Sammler auf einem Flohmarkt in Paris eine alte Filmrolle. Er erwarb sie, betrachtete das verfärbte Kunststoffmaterial näher, entdeckte den österreichischen Schauspieler Hans Moser auf dem schon stark zersetzten Zelluloid und kontaktierte das Filmarchiv Austria in Wien. Dort wurde das Material kurze Zeit später als nahezu vollständige Version des Stummfilms Die Stadt ohne Juden erkannt. Dieser war 1924 unter politisch brisanten Bedingungen produziert worden, galt im Nachkriegsösterreich lange als verschollen und tauchte in den 1990er Jahren in einer stark fragmentierten niederländischen Fassung wieder auf. Der Flohmarktfund initiierte eine mehrjährige Restaurierung – im materiellen und kulturhistorischen Sinn: Der Film konnte mithilfe großzügiger Mittel aus einer Crowdfunding-Kampagne notkopiert, analog restauriert und digitalisiert werden, erhaltene Zwischentitel wurden aus dem Französischen ins Deutsche rückübersetzt, fehlende Szenen im Abgleich mit früheren Fragmenten ermittelt. Knapp zwei Jahre nach der Flohmarktentdeckung kuratierte das Filmarchiv eine Ausstellung zum Stummfilm, der inzwischen von einem breiten Publikum als wichtiges filmhistorisches Erbe Österreichs, als »erstes filmkünstlerisches Statement gegen den Antisemitismus« oder gar als Vorausahnung der Schoah erinnert wurde. Allen voran universalisierte die Ausstellung Die Stadt ohne … Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer den Erfahrungshorizont der Ersten Republik Österreich, um daraus Schlüsse für die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart zu ziehen. Die Ausstellung, so warb das Filmarchiv, interveniere zwischen damals und heute. Während in der Restaurierungsabteilung des Filmarchivs also zunächst das physische Material, die Nitrozellulose, gesichert wurde, beschäftigte sich die öffentliche Diskussion mit der Wieder- und Neuherstellung eines für die Gegenwart sinnhaften Zugangs zum Inhalt des verloren gegangenen und in Paris neu entdeckten historischen Dings.

Film, Posse, Fotografie

Dinge seien äußerst diskrete Wesen, schreibt der Wissenschaftshistoriker Peter Geimer in seiner Theorie der Gegenstände über das »lakonische Herumstehen«, die Stummheit und erhabene Indifferenz der uns umgebenden Gegenstände. Eine lädierte Zelluloidfilmrolle, deren Emulsionsschicht sich leicht ablöst, eine handkolorierte Fotografie aus dem Jahr 1873: Sie sind Teil unserer Umwelt, wir übersehen oder entdecken, betrachten, archivieren oder vergessen sie. Wir können sie mit Sinn versehen, emotional referenzieren oder gänzlich missachten. Viele Dinge überdauern uns, ohne dass wir davon Notiz nehmen; sie können ein uns unzugängliches Dasein fristen, neunzig Jahre nach ihrer Produktion auf einem Flohmarkt erneut ins Auge fallen und sich ab diesem Augenblick als Scharnier zwischen Gegenwart und Vergangenheit erweisen. In jenen Momenten, in denen wir ihnen eine besondere Qualität zuweisen, eröffnet sich uns ein Zugang zu den Verwandtschaften von Materie und Gesellschaft, zu den Verstrickungen zwischen Ding- und Erinnerungswelten.

Obschon die drei Artefakte aus Film, Theater und Fotografie in ihrer Materialität wie Zeitlichkeit voneinander abweichen und sie in unterschiedlichen historischen Situationen entstanden sind, verhandeln sie allesamt Bildwelten des Jüdischen in der zentraleuropäischen Moderne. Dabei sind sie der dualistischen Geschlechterstruktur verhaftet, sie fokussieren auf Juden, nicht auf Jüdinnen – wobei gerade dieser Dualismus die wechselseitige Bezogenheit von Geschlecht bedingt und so Imaginationen über Juden auch mit Konstruktionen von Weiblichkeit in Beziehung stehen. In allen Artefakten haben sich widerstreitende Vorstellungen dessen verdichtet, was von verschiedenen Seiten als jüdisch markiert wurde – alle drei verfügen über eine epistemische und ästhetische Spezifik.

Der Essay hat zum Ziel, diese Bildwelten des Jüdischen in Film, Theater und Fotografie zu historisieren und sie gleichfalls miteinander lesbar zu machen. Leitend ist die Frage, welcherart die Artefakte mit Konzepten von Authentizität verwoben waren und welchen Effekt dies auf die Wahrnehmung und Wirkmacht der Vorstellungen hatte. Im Zentrum steht das wechselseitige Verhältnis zwischen mentalen Ideen vom Jüdischen, ihrer konkreten In-Szene-Setzung und der diskursiven Beglaubigung dieser künstlerischen Produkte. Hierfür wird exemplarisch verfolgt, wie Vorstellungswelten des Jüdischen in Wien ab den 1870er Jahren sichtbar gemacht und anhand welcher Prozesse diese Vorstellungen als »authentisch« beglaubigt, wann und von wem sie für »echt« oder »wahr« befunden und wann sie als Konstruktion offen ausgestellt wurden. Gerade der Status der drei Artefakte zwischen künstlerischem Produkt und der Verwirklichung kollektiver Bilder konnte widerstreitende Rezeptionshaltungen auslösen: Sowohl die Mittel der Fotografie als auch die Figurengestaltung in einer Filmszene können als artifiziell wahrgenommen und dennoch als besonders glaubwürdig positioniert werden. Der Essay interessiert sich für diese Kippmomente und die wechselseitige Bedingtheit von Form und Inhalt. Er versteht »Vorstellung« im doppelten Wortsinn, als tatsächliche Darbietung und mentales Bild zugleich, und befragt so künstlerische Bilder und Mentalitäten in ihrer gegenseitigen Verschränkung. Die inszenierten Vorstellungen des Jüdischen werden daher nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, sondern daraufhin geprüft, wer sie wann warum für wahr befindet; sie sind damit nicht wahr, sondern in besonderem Maße wirklich, wenn Wirklichkeit all das umreißt, »was wirkt« (Wolfgang Pauli).

Authentizität als Denkfigur

Fragen von Echtheit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit gewannen in der Moderne zunehmend an Bedeutung, in Wien grundierten sie gesellschaftspolitische, anthropologische und künstlerische Diskussionen, die von einer breiten Öffentlichkeit geführt wurden. Felix Salten (1869–1945), der aus einer akkulturierten jüdischen Familie stammte, später mit Tiergeschichten wie Bambi bekannt wurde, um 1900 aber als anerkannter Feuilletonist und Chronist der Wiener Moderne wirkte, befragte stetig die Möglichkeiten authentischen Seins. Der Architekt Adolf Loos wertete in seinen Schriften über Architektur und Stilkritik den Effekt und die Hochstapelei moralisch ab und führte Echtheit als Maßstab für Baumaterialien wie auch für sozialen Umgang an. In den frühen Jahren der Ersten Republik suchten Künstlerinnen und Künstler, darunter zahlreiche jüdische Frauen, im Ausdruckstanz nach einem wahrhaftigen Bewegungsrepertoire – und auch im bürgerlichen Literaturtheater adelte das Urteil eines Theaterkritikers, der eine Aufführung für »lebenswahr« befand, den so beschriebenen Theaterabend.

Die Debatten um die Möglichkeiten der Subjektauthentizität stießen dabei ins Zentrum eines neuzeitlichen Problems, das sich mit der Erfindung des modernen bürgerlichen Selbst ankündigte: Je mehr dieses im Zuge aufklärerischer Ideen sowie der medizinischen Entdeckung des menschlichen Körpers als Polarität von innerem Wesen und äußerlicher Hülle gedacht wurde, umso dringlicher wurde die Frage, wie die Lücke, die sich dazwischen auftat, zu schließen sei. Die Lösung schien in der Einübung einer Lebensweise zu liegen, die Wesen und Ausdruck zu möglichst großer Übereinstimmung zu bringen versprach. Derart wird mit dem modernen Selbst als Individuum sowohl die Idee eines je eigenen Inneren bestärkt als auch die Anforderung verbunden, diesem originären Selbst zu einem möglichst glaubwürdigen Ausdruck zu verhelfen – um sich damit in Gesellschaft als geschlossenes, im wörtlichen Sinn unteilbares Individuum zu positionieren. Das moderne bürgerliche Subjekt stand fortan vor der verzwickten Aufgabe, mittels sozialer Praktik nach außen hin eine Natürlichkeit zu kultivieren und dabei die lebenstheatralen Mittel, die dazu nötig waren, zu negieren. Der »authentische Mensch«, den Jean-Jacques Rousseau beschrieb, ist mit sich, seinem Wesen und der Natur im Einklang, gibt dieses Ideal jedoch auf, sobald er den Naturzustand verlässt und in eine Gesellschaft eintritt. Im Diskurs über die Ungleichheit unter Menschen (1755) bespricht Rousseau den Zusammenhang von Vergesellschaftung und Entfremdung und skizziert damit, dass authentisches Sein kehrseitig entfremdetes Sein stets mit einschließt. Entfremdung wurde in der metropolitanen Moderne, von Menschen in wachsenden Großstädten und in gesellschaftlichen Strukturen, die sie selbst nicht mehr vollumfänglich begreifen konnten, verschärft als Problem erfahren; sie beschäftigte auf spezifische Weise auch Jüdinnen und Juden, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts vielfach akkulturiert, verbürgerlicht und von religiösen jüdischen Traditionen entfernt hatten. Sie alle suchten sich auf verschiedene Weise zu versichern – durch religiöse Rückbesinnung, in politischen und künstlerischen Projekten, mithilfe der Lebensreformbewegung, aber auch mittels physiognomischer Lehren –, um eine als authentisch erfahrene Existenz zu erlangen und damit Orientierung bei sich selbst für eine in Unordnung geratene Welt zu finden.

Dabei handelte es sich um Näherungsbewegungen an eine kulturelle Konstruktion, die stetig zur Aushandlung stand und gerade deswegen umkämpft war. Denn im kulturhistorischen Sinn kann authentisches Sein zwar empfunden, hervorgebracht und zugeschrieben werden, es unterliegt jedoch einem kontinuierlichen Prozess der diskursiven Verständigung. Diesem Verständigungsprozess wohnt ein Machtverhältnis inne zwischen denen, die urteilen, und jenen, die beurteilt werden. Er bescheidet über die Auf- und Abwertung von Menschen und Objekten; so entfaltet er eine spezifische Wirkmacht für gesellschaftlich diskriminierte Gruppen und damit auch für die jüdische Bevölkerung der Moderne in Wien.

»Echt jüdisch«?

Im Jahr 1909 veröffentlichte Felix Salten unter dem Titel Das österreichische Antlitz eine Sammlung knapper Porträts bedeutender Persönlichkeiten seiner Zeit. Er entlarvte darin die Demagogie des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, beschrieb die Lebensgeschichte der ermordeten Kaiserin Elisabeth als nunmehr unwirkliches Traumgebilde und berichtete von einem merkwürdigen Phänomen, das um die Wende zum 20. Jahrhundert ganz Wien erfasst habe: die Girardimanie. Salten beobachtete, wie sich die Wienerinnen und Wiener – inspiriert vom Schauspieler Alexander Girardi – eine Fiktion des habsburgisch-wienerischen Körpers aneigneten, die sie sich bei Girardis Auftritten abgeschaut hätten und nun nachahmen würden. Die Leute hätten von ihm im Theater gelernt, wie man wienerisch ist, und es dann kopiert: Jeder Fiakerkutscher, jeder Briefbote, jeder Spießbürger sei letztlich eine Girardi-Rolle, ein lebendig gewordener Einfall des Schauspielers.

Alexander Girardi hatte über die Wiener Vorstadttheater zur Operette gefunden und war damit in den 1880er Jahren berühmt geworden. Just 1908 verließ er, auf die Wiener Theaterszene schimpfend und für viele überraschend, zugunsten eines Engagements am Berliner Thalia-Theater die Stadt. Er sollte in der darauffolgenden Saison bereits zurückkehren, derweil veranlasste sein Umzug nach Berlin nicht nur Felix Salten zu einer Hommage. Auch Karl Kraus (1874–1936) verfasste einen Aufsatz über Girardi, in dem er in seltener Einigkeit mit Salten beklagte, mit Girardi sei »Wien selbst nach Berlin gegangen«. Girardi, so akzentuierte Salten wiederum, habe eine Idee vom Wienertum ersonnen, die auf den Straßen der Stadt verwirklicht worden sei: »Eine Zeitlang lief halb Wien herum und spielte Girardi und wußte nicht, daß es damit sich selbst aufgab, daß es auf seine eigene Echtheit verzichtete, und an deren Stelle die besondere Echtheit eines einzelnen annahm.«

Fasziniert und irritiert zugleich beschrieb Salten, wie sich Theaterrollen und Sozialrollen des Wiener Fin de Siècle wechselseitig beeinflussen und so ein erfundenes Kunst-Wienertum hervorbrächten. Ein Wienertum, das Salten allenfalls für ein »halbechtes«, wenn auch »in seiner Unwahrheit entzückendes« hielt. Er beobachtete, wie Girardis Erfindung auf der Straße lebendige Konturen annahm, beklagte aber zugleich dessen Künstlichkeit und positionierte es gegen zwei große Begriffe: Echtheit und Wahrheit. Seine Befürchtung, Menschen, die Girardi-Rollen imitierten, verzichteten auf ihr Echtsein, setzt die sehr zeitgenössische anthropologische Annahme voraus, jeder Mensch besitze eine eigene Echtheit, die von außen erkennbar sei. Mit seinem Porträt schrieb Salten nicht nur an der kulturellen Imagination einer wienerischen Seinsweise, er beteiligte sich zudem – anhand eines Schauspielerkörpers und der an ihn gebundenen Praxis – an der Suche nach einer inneren Essenz des Menschen. Salten behauptet eine Echtheit, die innerlich und wesenhaft sei und sich bestenfalls mit seiner äußeren Hülle, dem Körperausdruck, decke.

Die Versuche, ein wahres Wienertum wie eine echte Seinsweise zu bestimmen, mögen für Felix Salten, Sohn einer verarmten jüdischen Familie aus der Wiener Vorstadt, auch deshalb attraktiv gewesen sein, weil sie soziale Teilhabe versprachen. Wer sich im gesellschaftlichen Umgang »echt« oder »echt wienerisch« geben konnte, der schien in einer um 1900 heterogener werdenden modernen Gesellschaft leichter auf Akzeptanz zu stoßen. Für Jüdinnen und Juden, die sich im unsicheren politischen Klima der Wiener Moderne gesellschaftliche Teilhabe erhofften, entfalteten die Versprechen, die mit der Erlangung eines authentischen Selbst verbunden waren, damit einen großen Reiz. Während aber die (Er)findung einer unmittelbaren Seins- und Lebensweise Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in der diese Seinsweise als solche erkannt wurde, ermöglichen konnte, blieb die qua Authentizitätsurteil erlangte Zugehörigkeit unzuverlässig. Sie wurde oft gar gegen die jüdische Bevölkerung gewendet: Jüdinnen und Juden waren etwa mit dem antisemitischen Vorwurf der Verstellung und Verhehlung konfrontiert, sie würden sich – so der Anwurf – in bürgerlich-christlichen Gesellschaften nur »camouflieren« und immer wieder aus ihrer »Rolle« – oder genauer: aus ihrem Charakter – fallen, da dieser ihnen eben nie ganz eigen sei. Derart zeigen die Artefakte, dass die Hervorbringung und Zuschreibung von »Authentizität« an eine Autorisierungshandlung gekoppelt ist und damit nicht nur inklusives Potenzial entfalten konnte, sondern umgekehrt auch Mechanismen der Ausgrenzung beförderte und negative Bilder, die sich eine Gesellschaft von der jüdischen Bevölkerung gemacht hatte, zu beglaubigen imstande war.

Felix Salten wehrte sich entschieden gegen die Verknüpfung von Authentizitätsbehauptungen und antisemitischen Vorwürfen. Über den Jahreswechsel 1899/1900 legte er in Theodor Herzls Zeitung Die Welt persönlich Bekenntnis ab. Unter dem Titel »Echt jüdisch« zeigte er auf, dass es sich bei der Aussage, jemand oder etwas sei »echt jüdisch«, um eine Macht ausübende Zuschreibung handle, und gestand, dass er selbst sehr darunter gelitten habe; sie sei ihm »ein Gebrechen, ein Abzeichen, ein Schicksal«, dem man nicht zu entrinnen vermöge: »Dieses gefürchtete ›Echt jüdisch‹ ist wie ein großer Koffer, da hinein die ganze Menschheit ihre schmutzige Wäsche gepackt hat.«

Salten schlug schließlich vor, die Behauptung »echt jüdisch« vom »alten Krempel« zu befreien und sie mit neuem Inhalt zu füllen. Dieser Versuch eines akkulturierten Wiener Juden, das Machtverhältnis umzukehren und Deutungshoheit über den Eindruck dessen, was echt jüdisch sei, zu erlangen, zeigt einerseits, wie umkämpft Fragen der Authen tizität in der Wiener Moderne waren. Andererseits erhellt er innerjüdische Diskussionen, die sich ebenfalls um die Möglichkeiten authentischen jüdischen Seins bemühten. Viele akkulturierte Wiener Jüdinnen und Juden erkannten etwa in der osteuropäisch-jüdischen Bevölkerung eine »authentische« Existenz, die sie sehnsüchtig imaginierten oder mit exotisierendem Blick als besonders echt wahrnahmen. Anhängerinnen und Anhänger des Zionismus und der jüdischen Renaissance sahen in Juden aus dem östlichen Europa gleichfalls unverfälschte Vertreter des Jüdischen, während sie ihrerseits Konzepte des Authentischen nach zionistischen und nationaljüdischen Idealen etablierten. Die Renaissancebewegung, die der Philosoph Martin Buber ab der Jahrhundertwende beförderte und die ihre Hochphase nach dem Ersten Weltkrieg erlebte, griff Ideen des Jugendstils und der Lebensreformbewegung auf und zielte etwa auf eine authentisch jüdische Gemeinschaft mittels geistiger Besinnung.

Damit liegt offen zutage, dass die Konstruktion von Authentizität – als jüdische Sehnsuchtsfigur, als antisemitisches Urteil oder als moderne Anforderung an das Subjekt – für die jüdische Bevölkerung in Wien spezifische Dimensionen entfaltete. Ideen des Authentischen durchzogen den innerjüdischen Diskurs; sie tauchten dort auf, wo traditionelle und akkulturierte Lebensweisen der aschkenasischen Judenheiten zur Aushandlung standen. Sie boten Möglichkeiten der Selbstpositionierung, bargen aber auch konkrete Gefahren. Authentisierung als Beglaubigung einer Entität wurde zur diskursiven Praxis der Moderne, die um 1900 die internen Mechanismen einer Gesellschaft mitbestimmte, an der Jüdinnen und Juden nur bedingt teilhatten. Diese waren seit 1867 zwar rechtlich gleichgestellt, wurden sozial aber nie als Gleiche akzeptiert. Authentizität als Denkfigur eröffnete ihnen die trügerische Chance, sich zugehörig zu zeigen oder eigene Entwürfe sozialen und politischen Seins zu etablieren. Gleichfalls konnte dieses Versprechen jederzeit umschlagen und die Anforderung an ein modernes authentisches Selbst exkludierend gegen die jüdische Bevölkerung gewendet werden, die diese Herausforderung vorgeblich nicht bewältigte.

Wien, »fruchtbare Brutstätte«

In der Zeitspanne zwischen 1873 und 1924 gewannen unterschiedliche Formen des Authentischen an Bedeutung. Sie tauchten überall dort auf, wo gesellschaftliche und politische Fragen verhandelt, demografische Umwälzungen, soziale Krisen und weltanschauliche Brüche diagnostiziert wurden. Die Wiener Geschichte der Moderne, die dieser Essay im engeren Sinn durchmisst und in deren Kontext die drei Artefakte stehen, war reich an Brüchen, Krisen und Umwälzungen. Wien hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein vormodernes Gepräge verloren und sich zur kaiserlichen Metropole gewandelt; die monumentalen Gebäude der neu errichteten Ringstraße, darunter das Burgtheater, die Universität und das Rathaus, spiegelten die Ideale des liberalen Bürgertums in historistischem Gewand. Ein Eisenbahnnetz, das maßgeblich vom Wiener Zweig der Frankfurter Familie Rothschild finanziert worden war, schloss Wien an die Provinzen der Monarchie an; zwischen Mitte und Ende des Jahrhunderts hatte sich die Bevölkerungszahl beinahe verdoppelt. Die Leopoldstadt, in der frühen Neuzeit außerhalb der Stadtmauern gelegen und Ansiedlungsort weniger tolerierter Jüdinnen und Juden, war mittlerweile eingemeindet und zum größten Bezirk der Stadt angewachsen. Sie beherbergte nun die meisten Menschen mit jüdischer Religionszugehörigkeit in Wien und war von Menschen unterschiedlichster Herkunft bewohnt.

Während die jüdische Bevölkerung im Lauf des 19. Jahrhunderts nach und nach soziale Teilhabe erfochten, eine Gemeinde sowie Salons gegründet und sich insgesamt, im Besonderen aber publizistisch und wirtschaftlich für die bürgerliche Idee engagiert hatte, schienen schon zum Ende des Jahrhunderts die Versprechen der Akkulturation nicht mehr einlösbar. Jüdinnen und Juden hatten mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 bürgerliche Rechte erhalten, erlebten nun aber einen modernen Antisemitismus enormen Ausmaßes. Die großen Gesellschaftsentwürfe des 19. Jahrhunderts standen ebenso zur Debatte wie der soziale Friede im habsburgischen Vielvölkerstaat. Der Einbruch der Finanzmärkte beim sogenannten Gründerkrach 1873 entfachte Verschwörungstheorien, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Modernisierungsprozesse, die für Einzelpersonen nicht mehr fassbar schienen, wurden nun den neuen Mitgliedern der Gesellschaft angelastet, kleinbürgerliche Schichten nahmen ihre prekäre finanzielle Situation als jüdisch verschuldet wahr. Mit den Deutschnationalen unter Georg von Schönerer und den Christlichsozialen, die von Karl Lueger angeführt wurden, wurde der biologistisch-rassistische und katholische Antisemitismus zur tragenden Säule einer äußerst erfolgreichen agitatorischen Politik, deren Tonfall in den Anfangsjahren der Ersten Republik Österreich sich noch verschärfen sollte. Während die jüdische Bevölkerung überall dort vermutet und beschuldigt wurde, wo die Moderne negativ Einzug hielt, gerieten umgekehrt zugewanderte Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa zum Sinnbild einer rückständigen jüdischen Existenz, das gleichfalls zur Phantasmagorie des modernen Antisemitismus gehörte.

Die Vorurteile gegen die jüdische Bevölkerung aus dem östlichen Europa kondensierten schließlich im Begriff des »Ostjuden«, den zunächst Nathan Birnbaum verwendete. Birnbaum unterschied diese von den sogenannten »Juden des Westens«, die nicht mehr religiös verhaftet, sondern akkulturiert seien – und beschrieb so schablonenhaft zweierlei Erfahrungs- und Lebenswelten der aschkenasischen Judenheiten. Dabei hatte im Westen der Habsburgermonarchie, insbesondere in Wien, die breite Öffentlichkeit bereits ab dem 18. Jahrhundert stereotype Bilder einer traditionellen jüdischen Existenz im östlichen Europa ausgebildet, hinter denen die Vielfältigkeit jüdischen Lebens zwischen Chassidismus, Orthodoxie und Haskala zunehmend verschwand. Josephinische Beamte, die die Monarchie in den Provinzen vertraten, kultivierten diese Anschauung ebenso wie akkulturierte Jüdinnen und Juden, die sich von einer ortho doxen Lebensweise abgrenzen wollten. So unterschiedlich sich die Zugehörigkeiten und Traditionen aber innerhalb der Monarchie ausgeprägt hatten, so divers fielen die jüdischen Strategien im Umgang mit den Verwerfungen des Fin de Siècle aus. Wien wurde zum frühen Zentrum des universitären jüdischen Nationalismus, zur Heimat des politischen Zionismus und der jüdischen Renaissance.

Am Beginn des neuen, des 20. Jahrhunderts war Wien zu einer fruchtbaren und zugleich dystopischen »Brutstätte« politischer Bewegungen (Carl E. Schorske) geworden. Das bedrohliche Potenzial dieser Brutstätte trat nach dem Zerfall der Monarchie und am Beginn der Ersten Republik – in jener Zeit also, in der das folgende Artefakt entstand – neuerlich zutage.

Die Stadt ohne Juden (1924)