Tage zwischen gestern und heute - Andreas Flotow - E-Book

Tage zwischen gestern und heute E-Book

Andreas Flotow

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Beschreibung

Über die schmerzhafte Sehnsucht eines
Kindes nach Liebe


Elf Jahre war er alt, als auf seine Eltern geschossen wurde. Sein Vater kam um, seine Mutter fiel ins Koma. Vage sind die Erinnerungenan jenen Tag und auch an die Jahre davor. Mit der Mutter, einer berühmten Sängerin, tourte er als Kind durch die USA. Der Vater lebte unerreichbar entrückt in der Welt seiner Bücher. Sein einziges Geschenk an den Sohn war eine leinengebundene Ausgabe der Göttlichen Komödie – der Junge gab sie ihm zurück. Nun, Jahrzehnte später, nähert sich der Ich-Erzähler mutig seiner Kindheit und die Erinnerungen werden zur Gegenwart.

Andreas von Flotow erzählt von der gewaltsamen Auflösung einer Familie und von der unendlichen Einsamkeit eines Jungen, der nur langsam seinen Weg aus dem Dunkel heraus findet. Ein Roman von radikaler Subjektivität, aufwühlend, filigran und klug, ein Roman, der dem Leben abgelauscht ist, über die Sehnsucht nach Liebe, das Ringen um Selbstfindung, den Umgang mit Verlust – und die Kraft des Erinnerns.

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Seitenzahl: 158

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Andreas von Flotow

TAGE ZWISCHEN GESTERN UND HEUTE

ROMAN

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Erinnerungen sehen mich.

Tomas Tranströmer

VORWORT

Im Jahr 2005 sind meine Eltern Opfer eines Anschlags geworden, den mein Onkel, ein Halbbruder meiner Mutter, verübt hat. Er feuerte dreizehn Schüsse ab, mein Vater war sofort tot, meine Mutter starb fünf Jahre später. Die folgende Erzählung ist eine kurze, hier und da bebilderte Chronologie meiner Kindheit bis zum Tod meiner Mutter. Sie ist durchwoben mit den Daten meines Lebenslaufes und stellt vermutlich den entscheidenden Teil des geistigen Fundamentes dar, auf dem ich als fünfzehnjähriger Junge stand. Ich erzähle der Reihe nach und behalte die Natur jeder Ordnung im Hinterkopf: Sie ist ein Phänomen der Oberfläche, darunter ist es wüst und leer.

München, im Juli 2031

1ANDEMTAG, als meine Mutter starb, wachte ich früh auf. Es war ein Samstag, Mitte Oktober, der Himmel war bewölkt, aber die Meteorologen sagten einen klaren, sonnigen Tag voraus. Wenn ich heute mit Freunden über diesen Tag spräche, nach einundzwanzig Jahren, würde ich von einem fünfzehnjährigen Jungen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden erzählen, der morgens noch nicht wissen kann, dass er abends die ihn umgebende Welt mit anderen Augen wahrnehmen wird. Das ist eine sachliche Beschreibung meiner damaligen Erfahrung, in einem Satz und aus heutiger Sicht. Die Nachricht vom Tod meiner Mutter hatte eine befreiende Wirkung auf mich. Weshalb ich mich befreit gefühlt habe, lässt sich allerdings nicht in einem Satz sagen, wenn die Antwort auf eine solche Frage jene Erfahrungen und Gedanken berühren soll, die das kurze, widersprüchliche Innenleben eines fünfzehnjährigen Jungen charakterisieren.

Meine erste Entdeckung, wenn ich an die frühe Kindheit denke: Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es besonders laut oder lärmend um mich herum gewesen wäre. Als hätte ich schon vor Beginn meiner bewussten Existenz irgendeine Art Gehörschutz getragen; wahrscheinlich bin ich mit Ohropax auf die Welt gekommen. Schon damals war eine dumpfe Vibration in der Luft, wie Musik, die von weit her durch die Wände dringt, ich fühlte mich von gewaltigen, auch seltsamen Vorgängen abgeschirmt, war in Tagträume gehüllt. Ist das etwa Geborgenheit?

An meinem vierten Geburtstag bekam ich von Helen ein Geschenk, das großen Eindruck auf mich machte. Sie überreichte mir einen hellblauen Plastikzylinder. Das geschah ganz beiläufig, während sie mich morgens anzog. Ich begriff nicht sofort, dass es sich um ein Geburtstagsgeschenk handelte. Vorsichtig untersuchte ich die Sache. Hinter dem milchig hellblauen Kunststoff erkannte ich einen Haufen bunt gemaserter, fingerdicker Gegenstände. Im nächsten Moment wusste ich, worum es sich handelte: Ich bekam eine große Packung Ohrstöpsel geschenkt.

Helen kannte mich seit meiner Geburt, sie war mein »Kindermädchen«, aber dieses Wort habe ich während meiner Kindheit nie gehört. Meine Mutter nannte Helen eine »Freundin der Familie«, was zur Folge hatte, dass alle anderen Angestellten diese Nähe spürten und Distanz zu ihr wahrten. Wer Helen rumkommandieren wollte, flog raus. Meine Mutter hielt ihre sogenannte Familie recht klein, aber doch groß genug, damit ein Außenstehender nicht die Hoffnung verlieren musste, selbst einmal dazugehören zu dürfen. Es gab tatsächlich regelmäßig wechselnde Familienmitglieder, auch hatte ich verschiedene Kindermädchen, und alle wurden als Freundinnen der Familie unantastbar, aber die Rolle, die Helen einnehmen durfte, bekam keine andere. Ich weiß eigentlich nicht, was genau sie einzigartig machte. Dass sie von Anfang an in der Nähe und bis in meine Jugend hinein gewissermaßen eine Konstante war? Ihre Zuneigung mir gegenüber? Ließe es sich in einem Satz sagen, ich würd’s tun. Übrigens lebt sie noch. Und sie hat ein Gedächtnis, in dem die Einzelheiten meiner Kindheit in chronologischer Folge, anscheinend vollständig, abgespeichert sind. Sie redet spontan davon, teilweise in erzählerischem Duktus.

Der entscheidende innere Antrieb, der meine Arbeit an diesem Buch in Gang gesetzt hat, ist möglicherweise auf Helens Angewohnheit oder bewussten Versuch zurückzuführen, einen immer wieder neuen, wie man so schön sagt, offenen Blick auf die Welt zu werfen. Sie hört zu und schweigt, hört sich selbst zu, wenn sie spricht. Der Beweis dafür: Helen wiederholt sich nicht, sie variiert. Sie fängt an zu erzählen, malt eine Erinnerung aus, vergegenwärtigt Alltagserlebnisse, bemerkt Ungenauigkeiten und Irrtümer, verändert ihre Erzählung an fraglichen Stellen und kann sich dadurch beim nächsten Mal auf eine frische, lebendige Erinnerung berufen, immer wieder. Ein offener Blick verwandelt die Welt, auf die er fällt. Helens Erzählungen wissen das.

Was genau ging mir durch den Kopf, an dem Tag, an dem meine Mutter starb? Ich frage mich, ob ich meiner Erinnerung überhaupt trauen kann, möchte deshalb versuchen, ein alltägliches Verfahren anzuwenden, man könnte auch sagen, einen Trick, das dazu führen soll, dass am Ende meiner Untersuchung ein flüchtiger Blick in die Tiefe möglich ist, der alles erfasst, was sich in mir bis zum Tod meiner Mutter angesammelt hatte. Das Verfahren ist denkbar einfach: Da ich mich nicht allein auf meine Erinnerungen an diesen einen Tag verlassen kann, möchte ich wenigstens den Hintergrund aufhellen, vor dem sich alles abgespielt hat, möchte versuchen, so viele Bilder, Szenen, Gedanken und Gefühle wie möglich aus der Zeit vor dem Tod meiner Mutter zu sammeln. Daraus lassen sich dann Rückschlüsse auf den alles verändernden Tag selbst ziehen, hoffe ich.

2ICHBININPARISGEBOREN, im Hôpital Val-de-Grâce, das ist ein altes Militärhospital im fünften Arrondissement. Mein Vater bestand aber darauf, mich so früh wie möglich nach New York zu bringen. Er langweilte sich in der Pariser Gesellschaft, New York dagegen sei in jeder Hinsicht unberechenbar. Am nächsten Morgen könne dort alles anders sein, das sei das wahre Leben! Und er hatte ja recht, es war tatsächlich so. Menschen, Friseurgeschäfte, Zeitungskioske, Hochhäuser, Schneestürme kamen und gingen dort über Nacht. Also wurde ich von meinen Eltern kurz nach der Geburt ausgeflogen. Wir wohnten im Peninsula Hotel in Manhattan, fünf Blocks südlich des Central Park.

Ich erinnere mich daran, wie Helen mir später immer wieder von unserer Ankunft in New York erzählte. Ich fand es aufregend, davon zu hören. Dabei war das Ereignis selbst gar nicht so wichtig; aufregend war vor allem Helen. Sie konnte so schön erzählen. Ihre Stimme war dann tiefer und ruhiger als sonst, gleichzeitig klang sie irgendwie aufgewühlt. Ich konnte gar nicht oft genug um Wiederholung bitten, und wenn ich sie an die Geschichte unserer Ankunft erinnerte, schien sie jedes Mal heftig zu erschrecken. Das mochte ich gern.

Helen arbeitete im Peninsula Hotel. Als wir in New York ankamen, hatte sie gerade eine Stellung im housekeeping angenommen. Nachdem meine Mutter die für uns zuständigen Zimmermädchen kennengelernt hatte, wies sie den Hoteldirektor darauf hin, dass es dem Personal, bis auf eine Ausnahme, verboten sei, mein Zimmer zu betreten. Die Ausnahme war Helen. Nach ein paar Tagen kam sie in jeder freien Minute in das Hotelzimmer meiner Eltern, um mich zu begutachten. Sie spricht bis heute mit starkem Akzent, der damals sicher noch stärker war. Wenn ich einer Unterhaltung über Musik zuhöre oder jemand ein Lieblingslied erwähnt, habe ich sofort die Melodie ihrer Sprache im Ohr. In gewissem Sinne habe ich Helens Idiom mit der Muttermilch aufgesogen. Während sie mir die Flasche gab, schäkerte sie mit mir in einer Mischung aus New Yorker Akzent, Französisch und Russisch.

Mein Vater flog schon bald nach unserer Ankunft in New York zurück nach Frankreich; er lebte an der Mittelmeerküste. Meine Mutter blieb mit mir allein im Peninsula Hotel, arbeitete von dort aus; anfangs waren unsere Zimmer voller Menschen. Sie ging erst wieder auf eine größere Tournee, als ich anderthalb Jahre alt war. Bis dahin verbrachte Helen einen Großteil ihrer Freizeit mit mir, obwohl meine Mutter sie nicht darum gebeten hatte. Nach anderthalb Jahren, als meine Mutter, buchstäblich mit mir im Gepäck, aus dem Hotel auszog, weil die Proben für ihr neues Konzertprogramm in Berlin stattfanden, so erzählte mir Helen später, weinte sie so sehr, dass meine Mutter versprach, mich ihr nicht gänzlich zu entziehen. Das hieß, mich in Zukunft, so oft es ging, ins Peninsula Hotel zu bringen. In der Theatralik dieser Schilderung scheint Helens romantisches Gemüt voll entwickelt. Wie es sich auch tatsächlich zugetragen haben mag, meine Mutter hielt ihr Versprechen. Zwei Jahre später kehrten wir zurück in eine Wohnung am Naturkundemuseum, mit Blick über den Central Park. Helen zog bei uns ein, passte auf mich auf, wenn meine Mutter arbeiten musste.

Aus der Distanz betrachtet, sieht diese Rückkehr aus wie eine Wiederholung. Mein Vater kam abermals mit, flog bald erneut nach Frankreich und besuchte uns nur selten. Während der Arbeit an diesem Buch ist mir ein Foto in die Hände gefallen, das ihn in unserer New Yorker Wohnung zeigt. Ein Gefühl sagt mir, dass er damals unerwartet aufgetaucht war. Begründen lässt sich dieses Gefühl allerdings nicht. Auf dem Foto ist mein Vater in der Küche zu sehen, vor einem Kühlschrank, mit beiden Füßen auf einer hölzernen Schildkröte, und er salutiert lachend in Richtung Kamera. Die Schildkröte ist etwa so groß wie ein Fußball. Mein Vater trägt eine dunkelblaue, antike Offiziersjacke mit goldenen Knöpfen in roter Einfassung. Als ich ihn zum ersten Mal so balancieren sah, verkleidet und lachend, war ich vielleicht zwei Jahre alt; die Schildkröte war meine liebste Spielgefährtin, der Gruß meines Vater galt mir. Wenn ich an diese kurze Szene in der Küche denke, frage ich mich, wer das Foto wohl geschossen hat. Vielleicht meine Mutter?

3WERINDERKINDHEIT keinen Kontakt zu alten Menschen hat, wird das Alter ein Leben lang verklären. Ich kannte nur eine alte Frau, meine Großmutter mütterlicherseits, die bei jeder Gelegenheit zu mir gesagt haben soll, sie lebe in einem Wald und könne mir nur empfehlen, es ihr gleichzutun. Tatsächlich wohnte sie an einem kleinen See in der Nähe von Scranton in Pennsylvania in einem Haus, das schon seit meiner Geburt, rechtlich betrachtet, mir gehörte. Ich bin selbst nie dort gewesen, kann mich an meine damals noch junge Großmutter nur ungefähr erinnern – ich war vier, fünf Jahre alt, als meine Mutter den Kontakt zu ihr abbrach –, aber ich habe mir von Helen sagen lassen, dass viel von diesem Haus gesprochen worden war, wenn meine Großmutter zu Besuch kam. Möglicherweise habe ich von ihr gelernt, was ein Wald ist, lange bevor ich selbst einen betreten habe. In meinen Kinderaugen muss meine Großmutter eine bedeutende Person gewesen sein, eben weil sie im Wald lebte. Doch das ist eine Vermutung, die das wirkliche Verhältnis zwischen meiner Großmutter und ihrem, soweit ich weiß, einzigen Enkelkind harmlos erscheinen lässt.

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