Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau - Clarice Lispector - E-Book

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau E-Book

Clarice Lispector

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Beschreibung

»Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

Idalina sucht einen Weg zwischen Vernunft und Leidenschaft, Luísa ringt um innere Stärke und Tuda um ein Leben ohne Therapeuten. In Kurzprosa von beispielloser Originalität lotet Clarice Lispector die Paradoxien des Daseins und die Grenzen des Sagbaren aus: Wahnsinn wird zu Weisheit, Angst zu Mut, wenn sie das Innerste ihrer nur auf den ersten Blick alltäglichen Figuren – meist Frauen – nach außen kehrt. Poetisch und tiefgründig, gleichen ihre Erzählungen flirrenden Träume von einer geheimnisvollen Welt… International als einer der Höhepunkte brasilianischer Literatur bekannt, ist Lispectors Kurzprosa im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken. Der vorliegende Band mit vierzig teils erstmals ins Deutsche übertragenen Geschichten verspricht eine aufregende Begegnung mit der suggestiven Kraft ihrer Sprachkunst.

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Seitenzahl: 564

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Idalina sucht einen Weg zwischen Vernunft und Leidenschaft, Luísa ringt um innere Stärke und Tuda um ein Leben ohne Therapeuten. In Kurzprosa von beispielloser Originalität lotet Clarice Lispector die Paradoxien des Daseins und die Grenzen des Sagbaren aus: Wahnsinn wird zu Weisheit, Angst zu Mut, wenn sie das Innerste ihrer nur auf den ersten Blick alltäglichen Figuren – meist Frauen – nach außen kehrt. Poetisch und tiefgründig, gleichen ihre Erzählungen flirrenden Träumen von einer geheimnisvollen Welt … International als einer der Höhepunkte brasilianischer Literatur bekannt, ist Lispectors Kurzprosa im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken. Der vorliegende Band mit 40 teils erstmals ins Deutsche übertragenen Geschichten verspricht eine aufregende Begegnung mit der suggestiven Kraft ihrer Sprachkunst. Band II mit allen weiteren Erzählungen Lispectors erscheint im Herbst 2020.

Clarice Lispector wurde 1920 als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geboren und wuchs im ärmlichen Nordosten Brasiliens auf. Sie studierte Jura, arbeitete als Lehrerin und Journalistin und führte als Diplomatengattin ein ebenso glamouröses wie rebellisches Leben. Bereits ihr erster, vielbeachteter Roman »Nahe dem wilden Herzen« brach 1944 klar mit allen Regeln konventionellen Schreibens. Von Krankheit und Tablettenkonsum zerstört, starb Lispector 1977 mit nur 56 Jahren in Rio de Janeiro.

»Clarice Lispector ist die führende lateinamerikanische Prosaautorin des Jahrhunderts.« New York Times Book Review

»Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

»Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen

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Clarice Lispector

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Sämtliche Erzählungen I

Herausgegeben von Benjamin Moser

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby

INHALT

Erste Geschichten

Der Triumph

Obsession

Der Fiebertraum

Ich und Jimmy

Geschichte, die abbricht

Die Flucht

Bruchstück

Briefe an Hermengardo

Gertrudes bittet um Rat

Noch zwei Betrunkene

Familiäre Verbindungen

Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Liebe

Eine Henne

Die Nachfolge der Rose

Alles Gute zum Geburtstag

Die kleinste Frau der Welt

Das Abendessen

Kostbarkeit

Familiäre Verbindungen

Anfänge eines Vermögens

Rätsel in São Cristóvão

Das Verbrechen des Mathematiklehrers

Der Büffel

Die Fremdenlegion

Sofias Dramen

Das Brechen der Brote

Die Botschaft

Affen

Die Henne und das Ei

Versuchung

Reise nach Petrópolis

Die Lösung

Entwicklung einer Kurzsichtigkeit

Die fünfte Geschichte

Eine aufrichtige Freundschaft

Die Gehorsamen

Die Fremdenlegion

Ganz hinten in der Schublade

Die Sünderin auf dem Scheiterhaufen und die harmonischen Engel

Profil auserwählter Wesen

Eröffnungsrede

Mineirinho

Anhang

Nutzlose Erklärung

Bibliografische Notiz

Erste Geschichten

Der Triumph

Die Uhr schlägt neunmal. Ein kräftiges, klangvolles Läuten, gefolgt von einem sanften Nachhall, einem Echo. Dann Stille. Im Garten breitet sich der Fleck hellen Sonnenlichts allmählich über den Rasen aus. Er steigt die rote Hausmauer empor, lässt die Kletterpflanze erglänzen in tausend Lichtern aus Tau. Dann findet er eine Öffnung, das Fenster. Dringt hindurch. Und bemächtigt sich des Zimmers, der Wachsamkeit des leichten Vorhangs zum Trotz.

Luísa liegt weiterhin reglos da, auf den zerwühlten Laken ausgestreckt, die Haare über das Kissen gegossen. Ein Arm hier, der andere dort, von Mattheit gekreuzigt. Die Hitze der Sonne und ihre Helligkeit füllen den Raum. Luísa blinzelt. Sie runzelt die Stirn. Verzieht den Mund. Schlägt endlich die Augen auf und bleibt mit dem Blick an der Decke hängen. Allmählich dringt der Tag in ihren Körper ein. Sie hört ein Geräusch von trockenen Blättern, auf die getreten wird. Schritte in der Ferne, zart und eilig. ›Ein Kind, das die Straße entlangläuft‹, denkt sie. Erneut Stille. Einen Moment lang erfreut sie sich daran. Die Ruhe ist umfassend, es ist geradezu totenstill. Natürlich, das Haus liegt abseits, ganz für sich. Aber … was ist mit den vertrauten Vormittagsgeräuschen? Dem Klappern von Schritten, dem Gelächter und Geschirrklimpern, die die Ankunft des Tages in ihrem Haus verkünden? Langsam kommt ihr der Gedanke, dass sie den Grund für die Stille kennt. Doch sie schiebt ihn hartnäckig beiseite.

Plötzlich werden ihre Augen groß. Luísa findet sich auf dem Bett sitzend wieder, am ganzen Körper erschauernd. Sie blickt mit den Augen, dem Kopf, mit allen Nerven zum anderen Bett im Zimmer. Es ist leer.

Sie dreht das Kissen hochkant, lehnt sich zurück, den Kopf geneigt, die Augen geschlossen.

Also ist es wahr. Sie lässt den vorigen Abend Revue passieren, dazu die Nacht, die qualvolle, lange Nacht, die dem Abend ­folgte, bis in den Morgen hinein. Gestern Abend ist er fortgegangen. Er hat die Koffer mitgenommen, die Koffer, die erst vor zwei Wochen so festlich eingetroffen waren, mit Aufklebern aus Paris, Mailand. Auch den Diener, der mit ihnen eingezogen war, hat er mitgenommen. Damit war die Stille im Haus erklärt. Sie war seit seiner Abreise allein. Es hatte Streit gegeben. Sie wortlos, ihm gegenüber. Er, der feine, überlegene Intellektuelle, der herumschrie, ihr Vorwürfe machte, mit dem Finger auf sie ­zeigte. Dazu dieses Gefühl, das sie schon von früheren Auseinandersetzungen kannte: Wenn er fortgeht, sterbe ich, ich sterbe. Sie konnte seine Worte noch hören.

»Du, du hältst mich nur fest, du machst mich kaputt! Behalt deine Liebe, gib sie, wem du willst, irgendwem, der nichts anderes zu tun hat! Verstanden? Ja! Seit ich dich kenne, kriege ich nichts mehr zuwege! Ich fühle mich angekettet. An deine Fürsorge, deine Zärtlichkeiten, deine übertriebene Aufmerksamkeit, an dich! Ich verabscheue dich! Stell dir das vor, ich verabscheue dich! Ich …«

Solche Ausbrüche waren häufig. Die Drohung, dass er gehen würde, stand immer im Raum. Luísa durchlief bei diesen Worten eine Veränderung. Sie, die so würdevoll war, so ironisch und selbstsicher, flehte ihn an zu bleiben, derart blass und verrückt im Gesicht, dass er bei anderen Gelegenheiten eingelenkt hatte. Und das Glück überspülte sie so intensiv und klar, dass es aufwog, was ihr selbst nie als Demütigung erschien, trotz seiner ironischen Argumente, doch auch die hörte sie nicht. Diesmal hatte er sich, wie auch sonst, fast grundlos geärgert. Luísa, behauptete er, habe ihn in dem Moment unterbrochen, als ihm eine neue Idee kam, ein Geistesblitz. Sie habe die Inspiration in dem Augenblick gestört, da sie am Entstehen war, mit einer dümmlichen Bemerkung über das Wetter und dann auch noch einem abscheulichen: »Nicht wahr, Liebling?« Er brauche die richtigen Umstände, um etwas zu Papier zu bringen, um seinen Roman weiterzuschreiben, der schon im Keim dadurch erstickt worden sei, dass er sich einfach nicht konzentrieren könne. Damit war er verschwunden, an einen Ort, wo er ein »lebendiges Umfeld« finden würde.

Und in der Wohnung war es still geworden. Sie stand im Zimmer, als hätte man ihrem Körper die Seele entnommen. Sie wartete darauf, dass er wiederkäme, sich im Türrahmen abzeichnete mit seinem männlichen Profil. Sie würde ihn sagen hören, und die geliebten breiten Schultern würden dabei von Lachen geschüttelt werden, dass all dies nichts als ein Scherz gewesen sei, ein Experiment, um eine Buchseite zu füllen.

Aber die Stille hatte sich endlos hingezogen, einzig durchbrochen durch das monotone Wispern der Zikade. Die mondlose Nacht besetzte allmählich das Zimmer. Die frische Junibrise ließ sie frösteln.

›Er ist fort‹, dachte sie. ›Er ist fort.‹ Nie war ihr dieser Ausdruck so bedeutungsvoll erschienen, auch wenn sie ihn häufig in Liebesromanen gelesen hatte. Mit »Er ist fort« war es nicht so einfach. Dahinter kam eine gewaltige Leere im Kopf und in der Brust. Wenn jemand dort anklopfte, stellte sie sich vor, würde es metallisch klingen. ›Wie sollte sie denn jetzt leben?‹, fragte sie sich plötzlich mit einer übertriebenen Ruhe, als ginge es um irgendetwas Unwichtiges. Sie wiederholte ein ums andere Mal: Und jetzt? Ihre Augen schweiften durch das dunkle Zimmer. Sie drehte den Lichtschalter, sah sich nach der Kleidung um, dem Buch auf dem Nachttisch, Spuren von ihm. Nichts war geblieben. Sie erschrak. ›Er ist fort.‹

Stunde um Stunde hatte sie sich im Bett gewälzt, aber der Schlaf war nicht gekommen. Am Morgen, mürbe vom Wachsein und vom Schmerz, die Augen glühend und Schwere im Kopf, war sie nur halb bei Bewusstsein. Nicht einmal da hörte der Kopf auf zu arbeiten, die verrücktesten Bilder kamen ihr in den Sinn, kaum angedeutet, waren sie schon wieder weg.

Es schlägt elf Uhr, lange und geruhsam. Ein Vogel stößt einen spitzen Schrei aus. ›Seit gestern steht alles still‹, denkt Luísa. Sie sitzt weiter sinnlos im Bett, weiß nicht, was sie tun soll. Sie starrt auf ein Seestück an der Wand, die Farben sind frisch. Noch nie hat sie Wasser gesehen, das derart flüssig und beweglich wirkt. Das Bild ist ihr bisher gar nicht aufgefallen. Auf einmal, wie ein Stachel, der spitz und tief ins Fleisch dringt: ›Er ist fort.‹ Nein, das ist gelogen! Sie springt aus dem Bett. Bestimmt hat er sich geärgert und deshalb im Nebenzimmer geschlafen. Sie läuft hinüber, stößt die Tür auf. Leere.

Sie tritt an den Tisch, an dem er gearbeitet hat, kramt fiebrig in den liegengebliebenen Zeitungen. Vielleicht hat er ja irgendeine Nachricht hinterlassen, zum Beispiel: »Aber eigentlich liebe ich dich doch. Ich komme morgen zurück.« Nein, das heißt »heute«! Sie findet auf dem Tisch nur eine Seite aus seinem Notizblock. Sie dreht das Blatt um. »Jetzt sitze ich seit mindestens zwei Stunden da und kann mich noch immer nicht konzentrieren. Aber gleichzeitig achte ich auch auf keines der Dinge um mich herum. Meine Aufmerksamkeit hat Flügel, aber sie lässt sich nirgends nieder. Ich schaffe es nicht zu schreiben. Ich schaffe es nicht zu schreiben. Mit diesen Worten rühre ich an eine Wunde. Meine Mittelmäßigkeit ist so …« Luísa unterbricht die Lektüre. Das, was sie immer gespürt hat, wenn auch nur vage: Mittelmäßigkeit. Gedankenverloren steht sie da. Und er hat das also gewusst? Was für ein Eindruck von Schwäche, von Kleinmut, auf diesem schlichten Stück Papier … »Jorge …«, murmelt sie schwach. Ihr wäre lieber, sie hätte dieses Geständnis nicht gelesen. Sie lehnt sich an die Wand. Weint stille Tränen. Sie weint, bis sie sich ganz schlaff fühlt.

Sie tritt ans Waschbecken und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Das Gefühl von Frische, Erleichterung. Sie wird allmählich wach. Munter. Sie nimmt die Haare zusammen und steckt sie hoch. Seift sich das Gesicht ein, bis die Haut spannt und glänzt. Sie betrachtet sich im Spiegel und sieht aus wie ein Schulmädchen. Sie greift nach dem Lippenstift, aber dann fällt ihr rechtzeitig ein, dass sie ihn nicht mehr braucht.

Im Esszimmer ist es dunkel, feucht und stickig. Sie reißt sämtliche Fenster auf. Und die Helligkeit dringt in den Raum wie ein Schwall. Die unverbrauchte Luft fließt rasch herein, fasst alles an, reißt an dem hellen Vorhang. Es ist, als würde sogar die Uhr kräftiger schlagen. Luísa hält überrascht inne. Da ist so viel Zauber in diesem fröhlichen Zimmer. In diesen plötzlich erhellten und neu belebten Dingen. Sie beugt sich aus dem Fenster. Im Schatten der Bäume, die bis dort hinten die lehmrote Straße säumen … Tatsächlich hatte sie nichts davon bemerkt. Sie hatte dort immer nur mit ihm gelebt. Er war alles. Es gab nur ihn. Nun war er fort. Aber die Dinge hatten nicht allen Zauber verloren. Sie hatten ein Eigenleben. Luísa fuhr sich über die Stirn, sie wollte die Gedanken verscheuchen. Mit ihm hatte sie die Qual der Ideen kennengelernt, hatte sich in deren kleinste Einzelheiten versenkt.

Sie kochte Kaffee und trank ihn. Und da sie nichts zu tun hatte und Angst davor, zu denken, nahm sie ein paar Kleidungsstücke, die zum Waschen bereitlagen, und ging ans Ende des Hofs, wo ein großes Becken stand. Sie krempelte die Ärmel und Hosenbeine ihres Schlafanzugs auf und begann, die Wäsche einzuseifen. Nach vorne gebeugt, so heftig zupackend, dass sie sich vor Anstrengung auf die Unterlippe biss, während ihr das Blut im Körper pochte, überraschte sie sich selbst. Sie hielt inne, hörte auf, die Stirn zu runzeln, und blickte nach vorne. Sie, so vergeistigt durch die Gesellschaft dieses Mannes … Ihr war, als hörte sie sein ironisches Lachen, wenn er Schopenhauer zitierte, Platon, die gedacht und gedacht hatten … Eine sanfte Brise stellte die Härchen in ihrem Nacken auf, trocknete ihr den Schaum von den Fingern.

Luísa schloss ab, was sie angefangen hatte. Von dem rauen, schlichten Geruch der Seife duftete sie am ganzen Leib. Ihr war heiß geworden bei der Arbeit. Sie sah auf den großen Hahn, aus dem klares Wasser tropfte. Was für eine Hitze … Auf einmal kam ihr eine Idee. Sie streifte die Kleidung ab, drehte den Hahn ganz auf, und das eisige Wasser floss ihr über den Körper, entriss ihr vor Kälte einen Schrei. Die ungeplante Dusche ließ sie lachen vor Lust. Von ihrer Wanne aus hatte sie einen wundervollen weiten Blick, unter einer Sonne, die bereits glühte. Einen Moment lang verharrte sie ernst, bewegungslos. Der unvollendete Roman, das Geständnis, das sie gefunden hatte. Sie stand gedankenverloren da, eine Falte auf der Stirn und in den Mundwinkeln. Das Geständnis. Doch das Wasser floss ihr eisig über den Körper und forderte geräuschvoll ihre Aufmerksamkeit. Durch die Adern kreiste schon eine angenehme Wärme. Plötzlich überkam sie ein Lächeln, ein Gedanke. Er würde zurückkommen. Er würde zurückkommen. Sie betrachtete den makellosen Morgen ringsum, atmete tief durch und spürte fast stolz ihren Herzschlag, gleichmäßig und voller Leben. Ein lauer Sonnenstrahl hüllte sie ein. Sie lachte. Er würde zurückkommen, denn sie war die Stärkere.

Obsession

Jetzt, da ich meine Geschichte durchlebt habe, kann ich gelassener daran zurückdenken. Ich werde mich nicht bemühen, Vergebung zu finden. Ich werde mich bemühen, nicht anzuklagen. Es ist einfach passiert.

An den Anfang habe ich keine klare Erinnerung. Ich veränderte mich unabhängig von meinem Bewusstsein, und als ich die Augen aufschlug, kreiste das Gift unweigerlich in meinem Blut, schon Jahre alt in seiner Macht.

Ich muss ein wenig von mir erzählen, davon, wie ich vor meiner Begegnung mit Daniel war. Nur so wird man den Boden erkennen, in den seine Samen gestreut wurden. Auch wenn ich nicht geglaubt hätte, dass sich vollends begreifen ließe, warum aus den Samen so traurige Früchte wuchsen.

Ich war immer ein ausgeglichener Mensch gewesen und hatte keinerlei Anzeichen jener Wesenszüge erkennen lassen, die Daniel in mir zutage fördern sollte. Meine Eltern waren einfache Leute, sie hatten sich die Art von Weisheit angeeignet, die man aus Erfahrung gewinnt und durch gesunden Menschenverstand erschließt. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr wohnten wir in einem hübschen Vorstadthaus, wo ich lernte, spielte und mich unter den wohlwollenden Blicken meiner Eltern sorglos bewegte.

Bis eines Tages in mir eine junge Dame entdeckt wurde, man mir längere Kleider gab, neue Kleidungsstücke aufnötigte und meine Entwicklung als so gut wie abgeschlossen betrachtete. Ich nahm die Entdeckung und ihre Folgen ohne große Aufregung an, auf dieselbe zerstreute Art, mit der ich lernte, spazieren ging, las und lebte.

Wir zogen in ein Haus näher an der Stadt, in ein Viertel, dessen Namen ich wie auch einige weitere Einzelheiten für mich behalten werde. Dort, sagte Mutter, würde ich Gelegenheit bekommen, andere Jungen und Mädchen kennenzulernen. Tatsächlich schloss ich mit meiner gefälligen und fröhlichen Art rasch ein paar Freundschaften. Ich hatte ein angenehmes Äußeres, und mein kräftiger Körper und meine helle Haut machten mich den Leuten sympathisch.

Was meine Träume in diesem Alter betrifft, das so voll von ­ihnen ist – es waren die eines beliebigen jungen Mädchens: zu heiraten, Kinder zu bekommen und dann eben glücklich zu sein, ein Wunsch, den ich nicht weiter ausgestaltete, ich verband ihn vage mit dem Happy End in den tausend Romanen, die ich gelesen ­hatte, ohne mich von ihrer Romantik anstecken zu lassen. Ich ging einfach davon aus, dass alles gut verlaufen würde, selbst wenn ich es schließlich nicht allzu berauschend finden sollte.

Mit neunzehn Jahren lernte ich Jaime kennen. Wir heirateten und mieteten eine hübsche, nett möblierte Wohnung. Sechs Jahre lang lebten wir zusammen, ohne Kinder. Und ich war glücklich. Wenn jemand danach fragte, bejahte ich und fügte nicht ohne eine gewisse Verdutztheit hinzu: »Warum auch nicht?«

Jaime war immer gut zu mir. Und angesichts seines wenig glühenden Temperaments betrachtete ich ihn gewissermaßen als Fortsetzung meiner Eltern, meines früheren Heims, in dem ich mich an die Privilegien eines Einzelkinds gewöhnt hatte.

Ich lebte leicht dahin. Nichts war mir eine größere gedankliche Anstrengung wert. Und wie um mich noch mehr aus allem herauszuhalten, schenkte ich den Büchern, die ich las, keinen rechten Glauben. Die waren, dachte ich, nur zur Zerstreuung.

Manchmal verdüsterte mir eine grundlose Melancholie das Gesicht, erfasste mich eine matte und unbegreifliche Sehnsucht nach nie erlebten Zeiten. Keineswegs romantisch veranlagt, schob ich dieses Gefühl als nutzlos beiseite, den wirklich wichtigen Dingen fern. Welchen Dingen? Das stellte ich mir nicht konkret vor, ich fasste es zu der unbestimmten Formel zusammen: »was so zum Leben dazugehört«. Jaime. Ich. Zuhause. Mutter.

Andererseits bewegten sich die Menschen um mich herum gelassen, mit glatter, sorgenfreier Stirn, in einem Umfeld, in dem die Gewohnheit schon vor langer Zeit zuverlässige Wege gebahnt hatte; Gegebenheiten ließen sich rational erklären, aus sichtbaren Gründen, und was aus dem Rahmen fiel, verband man nicht etwa aufgrund einer mystischen Haltung, sondern aus reiner Bequemlichkeit mit Gott. Die einzigen Ereignisse, die meine Umgebung seelisch zu erschüttern vermochten, waren Geburten, Hochzeiten, Todesfälle und die Zustände, die damit einhergingen.

Oder täusche ich mich und wusste ich in meiner glücklichen Blindheit nur nicht tiefer zu blicken? Ich weiß es nicht, aber mir scheint inzwischen undenkbar, dass im dunklen Bereich eines Menschen, selbst eines friedfertigen, nicht doch die Drohung eines anderen Menschen nisten könnte, mehr Schrecken und auch Schmerz.

Wenn mich einmal meine vage Unzufriedenheit in Unruhe versetzte, fand ich dafür keine Erklärung, und da ich gewohnt war, allem einen eindeutigen Namen zu geben, gestand ich sie nicht ein oder schrieb sie einer Unpässlichkeit zu. Davon abgesehen konnte schon eine sonntägliche Zusammenkunft bei meinen Eltern mit Cousinen und Nachbarn, konnte ein fröhliches, lebhaftes Spiel mich im Nu zurückerobern und auf die breite Straße zurückführen, wo ich mich ein weiteres Mal den vielen anschloss, die mit geschlossenen Augen durchs Leben gehen.

Jetzt sehe ich, dass statt Seelenruhe eher eine gewisse Apathie meine Handlungen und Wünsche grau tönte. Ich erinnere mich, wie Jaime einmal mit leichter Rührung in der Stimme sagte: »Wenn wir ein Kind hätten …«

Ich erwiderte geistesabwesend: »Wozu?«

Ein dichter Schleier trennte mich von der Welt und, ohne dass ich es gewusst hätte, entfernte mich ein Abgrund von mir selbst.

Und so machte ich weiter, bis ich an Fleckfieber erkrankte und fast gestorben wäre. Meine Eltern und mein Mann boten alle Kräfte auf und mühten sich Tag und Nacht, bis sie mich gerettet hatten.

In der Genesungszeit war ich abgemagert und blass, ohne Freude an irgendetwas auf der Welt. Ich nahm kaum etwas zu mir, reagierte unwillig auf ein bloßes Wort. Den Tag verbrachte ich in die Kissen zurückgelehnt, ohne zu denken, ohne mich zu bewegen, gefangen in einer unnatürlichen, süßen Teilnahmslosigkeit. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass dieser Zustand einen Einfluss Daniels begünstigt hätte. Eher stelle ich mir vor, dass ich mich betont schwach gab, weil ich die Menschen um mich herum halten wollte, so wie während meiner Krankheit. Wenn Jaime von der Arbeit kam, verstärkte sich mein fragiles Erscheinungsbild wie von ungefähr.

Ich hatte nicht geplant, ihn zu erschrecken, aber es war mir gelungen. Und an einem Tag, an dem ich eigentlich schon vergessen hatte, dass ich als »Genesende« galt, wurde mir mitgeteilt, dass ich zwei Monate in Belo Horizonte verbringen sollte, das gesunde Klima und die Luftveränderung würden mir neue Kräfte verleihen. Da halfen keine Einwände. Jaime begleitete mich im Nachtzug dorthin. Nachdem er mich in einer ordentlichen Pension untergebracht hatte, reiste er wieder ab und ließ mich alleine zurück, ohne Beschäftigung, mit einem Mal in eine Freiheit geworfen, um die ich nicht gebeten hatte und mit der ich nicht umzugehen wusste.

Vielleicht war das der Anfang. Aus meiner Umlaufbahn gefallen, fern den Dingen, die gleichsam mit mir geboren waren, fühlte ich mich ohne Halt, denn letztlich hatten nicht einmal überkommene Vorstellungen in mir Wurzeln geschlagen, so oberflächlich, wie ich lebte. Bisher hatten mich nicht Überzeugungen gestützt, sondern die Menschen, die sie verkörperten. Zum ersten Mal bekam ich nun Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen. Zum ersten Mal war ich auf mich selbst zurückgeworfen. An der Art der Briefe, die ich in dieser Zeit schrieb – ich habe sie nach Jahren wiedergelesen –, erkenne ich, dass sich in mir ein Unwohlsein ausgebreitet hatte. In jedem dieser Briefe sprach ich von der Rückkehr, die ich mit einer gewissen Anspannung herbeisehnte. Das jedoch nur bis zu Daniel.

Selbst jetzt kann ich mich nicht an Daniels Gesicht erinnern. Ich spreche von meinen ersten Eindrücken, die so anders sind als das Gesamtbild, an das ich mich hinterher gewöhnte. Erst dann, leider etwas spät, gelang es mir durch unser Zusammenleben, seine Züge zu erfassen und in mich aufzunehmen. Aber es waren an­dere … Vom ersten Daniel habe ich nichts behalten als die Spur, die er in mir hinterließ.

Ich weiß, dass er lächelte, das ist alles. Hin und wieder tritt mir ein vereinzeltes Merkmal vor Augen, eines der frühen. Seine gebogenen, langen Finger, die weit auseinanderstehenden, dichten Brauen. Mehr nicht. Beherrschte er mich doch dermaßen, dass er mich geradezu daran hinderte, ihn zu sehen. Ich glaube sogar, dass meine spätere Qual sich noch verschärfte durch diese Unmöglichkeit, sein Bild wieder zusammenzusetzen. Mir blieben so nur seine Worte, die Erinnerung an seine Seele, alles, was an Daniel nicht menschlich war. Und in den schlaflosen Nächten, in denen ich mich außerstande sah, ihn geistig wiederherzustellen, erschöpft von den vergeblichen Versuchen, betrachtete ich ihn wie einen riesigen Schatten von beweglichen Umrissen, niederdrückend und zugleich fern wie eine Drohung. Wie ein Maler, der, um auf seiner Leinwand den Wind einzufangen, die Baumwipfel neigt, Frisuren und Röcke flattern lässt, so vermochte ich mich an ihn nur zu erinnern, indem ich wieder zu derjenigen wurde, die ich in jener Zeit gewesen war. Ich quälte mich mit Anschuldigungen, verachtete mich und hielt wund, zerrissen, ihn lebhaft in mir fest.

Aber ich muss beim Anfang beginnen, ein wenig Ordnung schaffen in meiner Erzählung …

Daniel wohnte in derselben Pension, in der ich abgestiegen war. Er hatte noch nie das Wort an mich gerichtet, war mir auch nicht sonderlich aufgefallen. Bis ich ihn eines Tages sprechen hörte, als er sich unvermittelt in ein fremdes Gespräch mischte, jedoch noch immer distanziert, als tauchte er aus einem schweren Schlaf. Er äußerte sich zum Thema Arbeit. Die nichts anderes darstellen solle als eine Möglichkeit, den unmittelbaren Hunger zu stillen. Dann fügte er hinzu, die Umstehenden wie zum Zeitvertreib vor den Kopf stoßend: Er werde zum nächstbesten Zeitpunkt seine Arbeit aufgeben, wie er es schon mehrfach getan habe, um zu leben wie »ein richtiger Herumtreiber«. Einen Moment lang breiteten sich Stille und Zurückhaltung aus, dann erwiderte ein bebrillter Student in kühlem Ton, zu arbeiten sei vor allen Dingen eine Pflicht. »Eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft.« Ein unbestimmter Ausdruck zog über Daniels Gesicht, als wäre ihm gleichgültig, ob er den anderen überzeugte, und er fertigte ihn mit einem Satz ab: »Wie verschiedentlich bemerkt wurde, gibt es für Pflichten keine Grundlage.«

Damit ging er hinaus und ließ den Studenten empört zurück. Ich allerdings war überrascht und amüsiert: Ich hatte noch nie gehört, dass sich jemand gegen die Arbeit auflehnte, »diese so ernsthafte Verpflichtung«. Bei Jaime oder meinem Vater äußerte sich Auflehnung allenfalls in Form einer beiläufigen Beschwerde. Ganz allgemein war mir noch nie der Gedanke gekommen, dass man etwas von sich weisen könnte, eine Wahl treffen, sich auflehnen … Vor allem hatte ich durch Daniels Worte hindurch eine Missachtung für das wahrgenommen, was festzustehen schien, was »so zum Leben gehört« … Und ich war nie darauf verfallen, es sei denn als bloße Träumerei, mir die Welt anders zu wünschen, als sie war. Jaime kam mir in den Sinn, der immer für die »Erfüllung seiner Aufgaben« gelobt wurde, wie er gerne erzählte, und aus einem unerfindlichen Grund fühlte ich mich sicherer.

Als ich Daniel später wiedersah, nahm ich eine förmliche und kühle Haltung ein – was gar nicht nötig gewesen wäre, da er mich kaum bemerkte – und gesellte mich so zu den übrigen Pensionsgästen, in Sicherheit. Doch während ich die anderen beim Abendessen beobachtete, schämte ich mich vage, dieser gestaltlosen Gruppe von Männern und Frauen anzugehören, die sich stillschweigend zusammengetan hatten und sich einträchtig echauffierten, sobald jemand kam, um ihre Behaglichkeit zu stören. Ich begriff, dass Daniel sie verachtete, und das ärgerte mich, weil es auch mich betraf.

Ich war es nicht gewöhnt, lange Zeit bei einem Gedanken zu verweilen, und ein leichtes Unwohlsein, wie eine ­Ungeduld, ergriff von mir Besitz. Fortan mied ich Daniel, ohne ­darüber nachzudenken. Sein Anblick versetzte mich unwillkürlich in Alarmbereitschaft, die Augen weit aufgerissen, wachsam. Mög­licher­weise fürchtete ich mich vor einer seiner schneidenden Aussagen, weil ich Bedenken hatte, sie mir zu eigen zu machen … Ich forcierte meine Abneigung, verteidigte mich gegen ich weiß nicht was, verteidigte Vater, Mutter, Jaime und all die Meinen. Doch vergeblich. Daniel war die Gefahr. Und ich ging darauf zu.

Ein anderes Mal streifte ich durch die leere Pension, gegen zwei Uhr an einem regnerischen Nachmittag, da hörte ich im Auf­enthaltsraum Stimmen und wandte mich dorthin. Er unterhielt sich mit einem hageren, schwarz gekleideten Mann. Die beiden rauchten und redeten ohne Eile, so vertieft in ihre Gedanken, dass sie mich nicht einmal eintreten sahen. Ich wollte mich bereits zurückziehen, aber eine plötzliche Neugier packte mich, sodass ich in einem Sessel Platz nahm, in einiger Entfernung von den Männern. Immerhin, überlegte ich zu meiner Entschuldigung, gehörte der Raum ja allen Gästen. Aber ich vermied jegliches Geräusch.

Anfangs verstand ich zu meinem Erstaunen nichts von dem, was sie redeten … Dann erkannte ich allmählich einige bekannte Wörter, neben anderen, die ich noch nie laut gesprochen gehört hatte: Begriffen aus Büchern. »Die Universalität …«, »der abstrakte Sinn …«. Dazu muss man wissen, dass ich nie einer Diskussion beigewohnt hatte, in der es nicht um »Sachen« und »Begebenheiten« gegangen wäre. Meine Vorstellungskraft und Intelligenz waren gering, und ich dachte nur so, wie es zu meiner engen Wirklichkeit passte.

Die Worte der beiden glitten an mir ab, ohne in mich einzudringen. Allerdings, so erriet ich sonderbar beunruhigt, verbarg sich darin eine eigene Harmonie, die ich nicht zu fassen bekam … Ich versuchte, bei der Sache zu bleiben, um nichts von der magischen Unterhaltung zu verpassen.

»Wenn sich etwas verwirklicht, stirbt das Begehren«, sagte Daniel.

›Wenn sich etwas verwirklicht, stirbt das Begehren, wenn sich etwas verwirklicht, stirbt das Begehren‹, wiederholte ich im Stillen ein wenig geblendet. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, und wenn ich meine Aufmerksamkeit dann wieder den beiden zuwandte, war schon ein weiterer rätselhafter und glänzender Satz geboren, der mich verstörte.

Jetzt sprach Daniel von sich selbst.

»Vor allem liegt mir daran zu spüren, Wünsche anzuhäufen, mich mit mir selbst zu füllen. Wenn etwas sich verwirklicht, dann öffnet mich das, es macht mich leer und satt.«

»Sattheit gibt es nicht«, sagte der andere, während er an seiner Zigarette paffte. »Es entsteht immer wieder Unzufriedenheit und daraus die nächste Begierde, ein normaler Mensch würde versuchen, sie zu verwirklichen. Du rechtfertigst deine Nutzlosigkeit mit einer beliebigen Theorie. ›Was zählt, ist das Fühlen und nicht das Tun …‹ Entschuldige mal. Du hast versagt und hältst dich nur noch in der Vorstellung aufrecht …«

Ich lauschte den beiden verblüfft. Mich überraschte nicht nur die Unterhaltung selbst, sondern auch das Niveau, auf dem sie sich bewegte, fern der Alltagswahrheit und doch rätselhaft melodisch, ein Austausch, der, wie ich ahnte, an andere, mir unbekannte Wahrheiten rührte. Und mich überraschte auch zu sehen, wie sie einander mit wenig freundlichen Worten attackierten, die jeden anderen Menschen beleidigt hätten, von ihnen aber nicht weiter beachtet wurden, als hätten sie … als hätten sie keinen Begriff von »Ehre« oder so.

Und vor allem bekam ich, die ich bisher tief geschlafen hatte, zum ersten Mal eine Ahnung von den Ideen.

Die Unruhe, die die ersten Gespräche mit Daniel in mir aus­löste, nährte sich gleichsam aus der Gewissheit einer Gefahr. Einmal erklärte ich ihm sogar, dass mit dem Gedanken an diese Gefahr bestimmte Ausdrücke verbunden waren, ich hatte sie mit der wenigen Aufmerksamkeit, die ich den Dingen im Allgemeinen zugestand, in Büchern gefunden, und jetzt leuchteten sie in meinem Gedächtnis auf: »Frucht des Bösen« … Als Daniel mir sagte, dass ich da von der Bibel spräche, erfasste mich Gottesfurcht, vermischt allerdings mit einer starken, schamhaften Neugier wie auf ein Laster.

Aus all diesen Gründen ist meine Geschichte schwierig zu erklären, in ihre Einzelteile zu zerlegen. Wie weit ging mein Gefühl für Daniel (ich verwende diesen allgemeinen Begriff, weil ich nicht genau weiß, worin es bestand), und wo begann mein Erwachen zur Welt? Alles schlang sich ineinander, verwirrte sich in mir, und ich könnte nicht genau sagen, ob meine Ruhelosigkeit das Begehren nach Daniel war oder der Drang, die neu entdeckte Welt zu erforschen. Erwachte ich doch zur selben Zeit als Frau und als Mensch.

Vielleicht fungierte Daniel lediglich als Instrument, vielleicht war mein Schicksal just dieses, dem ich gefolgt bin, das Schicksal derer, die ungebunden auf der Erde sind und die ihre Taten nicht an Gut oder Böse messen, vielleicht hätte ich mich eines Tages auch ohne ihn entdeckt, vielleicht hätte ich auch ohne ihn Jaime und sein Land geflohen. Was weiß ich?

Fast zwei Stunden lang hörte ich den beiden zu. Meine starr blickenden Augen schmerzten, und meine Beine waren durch den Bewegungsmangel eingeschlafen. Da sah Daniel mich an. Später sagte er mir, das laute Lachen, das aus ihm hervorbrach und das mich so sehr verletzte, dass ich weinen musste, sei durch die Hochstimmung verursacht gewesen, in der er sich schon tage­lang befunden habe, vor allem aber durch mein jämmerliches Aussehen. Meinen Mund, der dümmlich offen stand, meine »blöden Augen, die Naivität verrieten, die Naivität eines Tiers« … So redete Daniel tatsächlich mit mir. Krallte nach mir mit Sätzen, die ihm leicht und farblos aus dem Mund kamen, in mir jedoch schnell und scharf für immer stecken blieben.

Und so lernte ich Daniel kennen. Ich erinnere mich nicht an die Einzelheiten, die uns einander näherbrachten. Ich weiß nur, dass ich diejenige war, die auf ihn zuging. Und ich weiß, dass Daniel immer mehr von mir Besitz ergriff. Er betrachtete mich mit Gleichgültigkeit und hätte sich mir, so glaubte ich, niemals zugewendet, wenn er mich nicht merkwürdig und unterhaltsam gefunden hätte. Meine unterwürfige Haltung ihm gegenüber war Ausdruck der Dankbarkeit für seine Gunst … Wie ich ihn ­bewunderte. Je mehr ich an seiner Geringschätzung litt, desto mehr betrachtete ich ihn als überlegen und hob ihn von den »anderen« ab.

Heute verstehe ich ihn. Und verzeihe ihm alles, verzeihe denen alles, die sich nicht zu binden wissen, denen, die sich Fragen stellen. Die nach Gründen dafür suchen, zu leben, als rechtfertigte sich das Leben nicht selbst.

Später lernte ich den wahren Daniel kennen, den Kranken, der nur in sich selbst existierte, wenn auch dauerhaft leuchtend. Sobald er sich, tastend und erloschen, der Welt zuwandte, fühlte er sich hilflos und stellte bitter, ja entgeistert fest, dass er gerade einmal denken konnte. Einer von denen, die sich die Erde sekundenschnell aneignen, mit geschlossenen Augen. Seine besondere Fähigkeit, die Dinge zu erschöpfen, bevor er sie besaß, sein klarer Blick aufs »Später« … Schon bevor er zu handeln begann, kostete er die Sattheit und die Traurigkeit, die auf Siege folgen …

Und wie um sich zu entschädigen für diese Unmöglichkeit, ­etwas zu verwirklichen, hatte er, dessen Seele so sehr nach Ausdehnung strebte, einen anderen Weg für seine Tatenlosigkeit er­sonnen, eine Möglichkeit, sich zu entfalten und zu rechtfertigen. Sich verwirklichen, wiederholte er, das sei das höchste und edelste Ziel des Menschen. Sich verwirklichen heiße, sich von Besitz­tümern und von der Verwirklichung konkreter Vorhaben zu lösen, um sich selbst zu besitzen, seine Persönlichkeit zu entfalten, in seine Konturen hineinzuwachsen. Die eigene Musik zu spielen und sie selbst zu hören …

Als hätte er ein solches Programm nötig gehabt … Alles in ihm strebte von Natur aus dem Optimum zu, nicht in der objektiven Umsetzung, sondern in einem Zustand der Potenzialität, der Steigerung von Kräften, von denen niemand einen Nutzen hatte und die von allen übersehen wurden bis auf ihn. Das zu erreichen, war für ihn das Höchste. Es kam dem gleich, was einer Verwirklichung unmittelbar vorausgegangen wäre, und er brannte dafür, da er sich, je mehr er litt, umso lebendiger fühlte, umso erfüllter, fast befriedigt. Das war der Schmerz des Schöpferischen, allerdings ohne Schöpfung.

Denn wenn alles zerfloss, blieb eine Spur nur in seinem Gedächtnis.

Niemals gönnte er sich eine längere Erholungspause, trotz der Fruchtlosigkeit seines Kampfes und so anstrengend dieser auch sein mochte. Schon nach kurzer Zeit kreiste er von Neuem um sich selbst, spürte seinen aufkeimenden Wünschen nach, die er verdichtete, ins Krisenhafte erhöhte. Wenn ihm das gelang, bebte er vor Hass, Schönheit oder Liebe und fühlte sich nahezu entschädigt.

Alles diente ihm als Ausgangspunkt. Ein Vogel, der aufflog, erinnerte ihn an unbekannte Länder, und dann atmete er seinen ­alten Traum von Flucht. Einen Gedanken an den anderen reihend, unbewusst dasselbe Ziel anstrebend, kam er zur Erkenntnis seiner Feigheit, die sich nicht nur in diesem ständigen Wunsch zu fliehen zeigte, darin, keine Verbindung mit den Dingen einzugehen, um nicht darum kämpfen zu müssen, sondern auch in der Unfähigkeit, diesen Wunsch umzusetzen, wenn er ihn nun einmal fasste, ein gnadenloses Zerfetzen der demütigenden Alltagsvernunft, die seinen Flug hemmte. Dieser Zwiestreit mit sich selbst, entdeckte er, strahlte vom Kern seines Wesens her und würde sich deshalb sein Leben lang fortsetzen … Das machte es leicht, eine Zukunft zu skizzieren, die langwierig war, atemlos, schwerfällig bis ans unerbittliche Ende – den Tod. Nur so würde er das erreichen, wohin ihn seine Neigung führte: das Leiden.

Es klingt verrückt. Aber auch Daniel folgte einer Logik. Zu leiden stellte für ihn, den Betrachter, die einzige Form intensiven Lebens dar … Und letztlich glühte Daniel allein dafür: zu leben. Nur seine Wege waren fremdartig.

So sehr überließ er sich dem von ihm erschaffenen Gefühl und so stark wurde dieses, dass er bisweilen vergaß, wie es ursprünglich erzeugt und genährt worden war. Er vergaß, dass er selbst es ausgeformt hatte, berauschte sich daran und lebte davon wie von etwas Wirklichem.

Manchmal wurde die Krise ausweglos und so schmerzhaft dicht, dass er, darin versunken, sie ganz ausschöpfte, und dann endlich sehnte er sich nach Befreiung. Um sich zu retten, schuf er also einen Gegenwunsch, der seinen krisenhaften Zustand zerstören sollte. Denn er fürchtete in diesen Momenten den Wahnsinn, er fühlte sich krank, fern von allen anderen, fern auch von dem idealen Menschen, der ein gelassenes und tierhaftes Wesen sein sollte, ein Wesen von leichter, behaglicher Intelligenz. Diesem Menschen, zu dem er sich niemals aufschwingen würde, den er unweigerlich verachtete, mit dem Hochmut derer, die leiden. Diesem Menschen, den er allerdings beneidete. Wurde seine Pein übermächtig, sah er hilfesuchend auf diesen Typus, der ihm im Gegensatz zu seinem eigenen Elend schön und vollkommen erschien, voll von einer Schlichtheit, die für ihn, Daniel, heroisch gewesen wäre.

Müde der Qual, suchte er ihn, eiferte ihm nach, in einem plötzlichen Durst nach Frieden. Das war stets die entgegengesetzte Kraft, die er sich vor Augen hielt, wenn er ans schmerzliche Extrem seiner Krise gelangte. Er gestattete sich ein gewisses Gleichgewicht wie eine Atempause, doch bald drang die Langeweile darin ein. Bis er aus dem krankhaften Wunsch heraus, neuerlich zu leiden, die Langeweile verdichtete bis zur Beklemmnis.

In diesem Kreislauf lebte er. Vielleicht hatte er meine Annähe­rung in einem dieser Augenblicke zugelassen, in denen er eine »Gegenkraft« benötigte. Ich wirkte, vielleicht sagte ich das schon, mit meinen bedächtigen Gesten und der aufrechten Körperhaltung angenehm gesund. Jetzt weiß ich, dass er deshalb so sehr versuchte, mich kleinzumachen und zu demütigen, weil er mich beneidete. Er verspürte den Wunsch, mich aufzuwecken, weil auch ich leiden sollte, so wie ein Leprakranker es insgeheim darauf anlegt, seine Lepra an Gesunde weiterzugeben.

Aber naiv, wie ich war, verstellte gerade seine Qual mir den Blick. Selbst sein Egoismus, selbst seine Bosheit machten ihn einer entthronten Gottheit ähnlich – einem Genie. Und außerdem war ich längst in ihn verliebt.

Heute tut Daniel mir leid. Ich fühlte mich damals schutzlos, unsicher, was ich mit mir anfangen könnte – die Vergangenheit aus Ruhe und Tod wollte ich nicht fortführen, und die bequeme Gewohnheit hinderte mich daran, die Zukunft anders zu bewältigen –, merke ich jetzt, wie frei Daniel war und wie unglücklich. Aufgrund seiner Vergangenheit – die dunkel war, voller gescheiterter Träume – hatte er es nicht geschafft, sich auf der Welt zufrieden einzurichten, halbwegs glücklich, als Durchschnittsmensch. Was die Zukunft anging, so fürchtete er sie umso mehr, weil er seine Grenzen wohl kannte. Und weil er sich dennoch nicht damit abgefunden hatte, den gewaltigen, unbestimmten Anspruch aufzugeben, zielte dieser in seiner letztlich unmenschlichen Form über das Irdische hinaus. Da er bei der Verwirklichung dessen gescheitert war, was ihm unmittelbar vor Augen stand, hatte er beschlossen, sich dem zuzuwenden, was, wie er ahnte, niemand verwirklichen könnte.

So seltsam es scheinen mag, er litt am Unbekannten, an dem, was er »durch eine Verschwörung der Natur« nie auch nur einen Augenblick lang sinnlich berühren würde, »um wenigstens etwas über das Material zu erfahren, die Farbe, das Geschlecht«. »Über seine Einordnung in der Welt der Wahrnehmungen und Gefühle«, so sagte er einmal, nachdem ich zu ihm zurückgekehrt war. Daniels schlimmster Einfluss auf mich bestand darin, auch in mir diesen Wunsch zu wecken, der in uns allen latent vorhanden ist. Einige Menschen weckt und vergiftet er nur, so wie es bei mir und Daniel der Fall war. Andere führt er in Laboratorien, auf Reisen, zu widersinnigen Erfahrungen und Abenteuern. In den Wahnsinn.

Inzwischen weiß ich manches über jene, die danach streben zu fühlen, um sich am Leben zu wissen. Auch ich habe diese Reise unternommen, die gefährlich ist, so armselig, gemessen an unserem schrecklichen Bemühen. Und fast immer eine Enttäuschung. Ich habe gelernt, meine Seele beben zu lassen, und weiß, dass man dabei im Tiefsten seines Seins doch wachsam und kühl bleiben kann, Betrachter des Schauspiels, das man sich selbst verschafft hat. Und wie oft fast mit Langeweile …

Jetzt würde ich ihn verstehen. Doch damals sah ich nur den Daniel ohne Schwächen, der mich souverän und distanziert in seinen Bann zog. Über die Liebe weiß ich nicht viel zu sagen. Mir ist nur in Erinnerung, dass er sie fürchtete und suchte.

Er nötigte mich, ihm von meinem Leben zu erzählen, und ich leistete dieser Aufforderung Folge, ängstlich die richtigen ­Worte suchend, um nicht allzu dumm zu erscheinen. Er schreckte nämlich nicht davor zurück, sich über meinen Mangel an Intelligenz auszulassen, ohne jede Rücksicht.

Ich berichtete ihm also gehorsam kleine Begebenheiten von früher.

Er hörte zu, die Zigarette an den Lippen, den Blick zerstreut. Und sagte am Ende in seiner ureigenen Art, einer Mischung aus dem unterdrückten Drang zu lachen, Müdigkeit und wohlwollender Geringschätzung: »Sehr gut, klingt recht glücklich …«

Ich errötete, aus irgendeinem Grund wütend, verletzt. Aber ich entgegnete nichts.

Eines Tages erwähnte ich Jaime, und er sagte: »Interessant, so ganz normal.«

Ach, das sind gängige Worte, aber der Ton, in dem sie ausge­sprochen wurden. Sie wühlten mich auf, beschämten mich im Verborgensten meiner selbst.

»Cristina, weißt du überhaupt, dass du lebst?«

»Cristina, ist es gut, kein Bewusstsein zu haben?«

»Cristina, du willst gar nichts, stimmt’s?«

Danach weinte ich, suchte aber doch wieder seine Nähe, weil ich begonnen hatte, so zu denken wie er, und insgeheim darauf hoffte, er würde sich dazu herablassen, mich in seine Welt einzuführen. Und wie er es verstand, mich zu demütigen. Er streckte seine Klauen sogar nach Jaime aus, nach allen meinen Freunden, die er zu einer einzigen verächtlichen Masse zusammenknetete. Ich habe keine Ahnung, was meiner Auflehnung von Anfang an im Weg stand. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, dass es seinem Egoismus Freude bereitete, andere zu beherrschen, und dass ihm das bei mir leicht fiel.

Einmal sah ich, wie er unvermittelt in Stimmung kam, als ­fände er eine Eingebung zugleich glücklich und komisch: »Cristina, soll ich dich erwecken?«

Und bevor ich lachen konnte, ertappte ich mich schon dabei, wie ich zustimmend nickte.

So begannen die seltsamen, Offenbarung bringenden Streifzüge, Tage, die mich für immer prägen sollten.

Er hätte mich kaum eines Blickes gewürdigt, so gab er mir zu verstehen, wenn er nicht beschlossen hätte, mich zu verwandeln. So verrückt sich das anhören mag, er wiederholte es mehrmals: Er wolle mich verwandeln, meinem Körper »ein wenig Gift ein­flößen, gutes, schreckliches Gift« …

So begann meine Erziehung.

Er redete, ich hörte zu. Ich erfuhr von Leben, die schwarz und schön waren, ich erfuhr vom Leid und der Ekstase derer, die »vom Wahnsinn begünstigt werden«.

»Denk darüber nach, du mit deinem glücklichen Mittelweg.«

Und ich dachte nach. Ich war entsetzt über die neue Welt, die Daniels eindringliche Stimme mich erahnen ließ, mich, die ich immer ein friedliches Schaf gewesen war. Ich war entsetzt, und doch zog sie mich bereits mit der Sogkraft eines Sturzes an sich …

»Mach dich bereit, mit mir zu fühlen. Hör dir dieses Stück an, den Kopf zurückgelegt, die Augen halb geschlossen, die Lippen geöffnet …«

Ich tat, als lachte ich, ich tat, als gehorchte ich nur zum Spaß, wie wenn ich mich vor den Freunden von früher entschuldigen wollte. Vor meinen eigenen Augen, weil ich ein solches Joch annahm. Nichts jedoch war mir ernster als das.

Während er meine Haltung berichtigte wie bei einem Ritual, sagte er unbeirrt, mit tiefer Stimme: »Mehr Mattigkeit im Blick … Die Nase entspannter, bereit, tief Luft zu holen …«

Ich gehorchte. Vor allem versuchte ich, ihm in nichts zu missfallen, ich überließ mich seinen Händen und bat um Verzeihung, weil ich ihm nicht mehr geben konnte. Und da er nichts von mir verlangte, nichts von dem, was ich ihm mittlerweile ohne zu zögern dargeboten hätte, fiel ich noch tiefer in die Gewissheit meiner Unterlegenheit und unserer Distanz.

»Mehr Hingabe. Lass meine Stimme zu deinem Gedanken werden.«

Ich lauschte. »Für diejenigen, die in Ketten liegen« – »nicht nur in den Gefängnissen«, flocht Daniel ein –, »sind Tränen Teil der Alltagserfahrung; ein Tag ohne Tränen ist ein Tag, an dem das Herz verhärtet ist, nicht etwa einer, an dem das Herz glücklich wäre … da das Geheimnis des Lebens Leiden ist. Diese Wahrheit liegt in allen Dingen.«

Und allmählich verstand ich tatsächlich … Diese langsame Stimme glühte schließlich in meiner Seele und wühlte sie zutiefst auf. Über lange Jahre war ich durch Grotten gewandelt, nun entdeckte ich plötzlich den strahlenden Ausgang zum Meer … Ja, rief ich ihm einmal zu und bekam fast keine Luft, ichfühlte! Er lächelte nur, noch nicht zufrieden.

Und doch war es die Wahrheit. Ich, die ich so einfach und primitiv war und nie etwas intensiv begehrt hatte. Ich, die ich so unbewusst und fröhlich war, »denn ich hatte ja einen fröhlichen Körper« … Ich erwachte plötzlich: Was für ein dunkles Leben ich bisher geführt hatte. Jetzt … Jetzt wurde ich neu geboren. Lebhaft im Schmerz, in jenem Schmerz, der still und blind tief in mir schlummerte.

Ich wurde nervös, rastlos, aber intelligent. Die Augen stets unruhig. Ich schlief kaum.

Da kam Jaime zu Besuch, um zwei Tage mit mir zu verbringen. Als ich sein Telegramm erhielt, wurde ich bleich. Ich lief herum wie benommen, zermartete mir den Kopf, wie zu verhindern wäre, dass Daniel ihn sah. Ich schämte mich für Jaime.

Unter dem Vorwand, ein Hotel ausprobieren zu wollen, reser­vierte ich ein Zimmer im Ort. Jaime schöpfte keinen Verdacht im Hinblick auf den wahren Grund, wie zu erwarten war. Und das brachte mich Daniel noch näher. Von ferne sehnte ich mich danach, dass mein Mann für mich handelte, dass er mich diesen verrückten Händen entriss. Ich befürchtete ich weiß nicht, was.

Es wurden zwei furchtbare Tage. Ich hasste mich dafür, dass ich mich Jaimes schämte, und tat doch mein Möglichstes, um mich mit ihm an Orten zu verstecken, an denen Daniel uns nicht sehen würde …

Als er endlich abreiste, gönnte ich mir halb erleichtert, halb ausgeliefert eine Stunde Ruhe, bevor ich zu Daniel zurückkehrte. Ich versuchte, die Gefahr aufzuschieben, doch zu keinem Zeitpunkt dachte ich an Flucht.

Ich war zuversichtlich, dass mich Daniel vor Ende meines Aufenthalts begehren würde.

Da kam die Nachricht, dass meine Mutter erkrankt sei: Ich würde früher als geplant nach Rio zurückreisen müssen.

Ich sprach darüber mit Daniel.

»Noch ein Abend, dann sehen wir uns vielleicht nie wieder«, wagte ich mich zögerlich vor.

Er lachte leise.

»Du kommst bestimmt zurück.«

Ich bekam das eindeutige Gefühl, dass er versuchte, mir die Rückkehr nahezulegen, wie eine Anweisung. Einmal hatte er zu mir gesagt: »Schwache Seelen wie du lassen sich leicht zu irgendeiner Verrücktheit hinreißen, dazu genügt schon ein Blick von einer starken Seele wie der meinen.« Damals freute ich mich, blind wie ich war, über diese Vorstellung. Ohne daran zu denken, dass er selbst mir seine Gleichgültigkeit bekundet hatte, ­klammerte ich mich an diese Möglichkeit: ›Wenn er mir nahelegt, eines Tages zu ihm zu kommen … tut er das ja vielleicht, weil er mich haben will?‹

Ich fragte und versuchte dabei zu lächeln: »Zurück zu dir? Warum?«

»Deine Erziehung … ist noch nicht abgeschlossen.«

Ich sackte in mich zusammen, in einer schweren Niedergeschlagenheit, die mich für einige Augenblicke matt und leer machte. Ja, man musste es anerkennen, meine Anwesenheit hatte ihn nie auch nur in Verlegenheit gebracht. Aber erneut wirkte seine Kühle in gewisser Weise erregend, sie machte ihn in meinen Augen größer. In einer plötzlichen exaltierten Anwandlung, wie sie bei mir ­inzwischen häufig vorkam, überfiel mich der Wunsch, vor ihm niederzuknien, mich zu erniedrigen, ihn anzubeten. ›Nie mehr, nie mehr‹, dachte ich erschrocken. Auf einmal hatte ich Angst, den Schmerz seines Verlusts nicht zu ertragen.

»Daniel«, sagte ich leise.

Er hob den Blick und kniff vor meinem beklommenen Gesicht die Augen zusammen, er analysierte mich, lotete mich aus. Eine lange Minute der Stille trat ein. Ich wartete und bebte. Ich wusste, dass dieser Moment der erste wirklich lebendige zwischen uns war, der erste, der eine direkte Verbindung schuf. Dieser Augenblick trennte mich plötzlich von meiner ganzen Vergangenheit, und in einer eigentümlichen Voraussicht erriet ich, dass er sich wie ein roter Punkt vom gesamten Ablauf meines Lebens abheben würde.

Ich wartete, alle Sinne geschärft, und hätte dabei am liebsten das ganze Universum angehalten, aus Furcht, dass sich ein Blatt regen, dass jemand uns unterbrechen, dass mein Atem, irgendeine Geste den Zauber des Augenblicks durchstoßen, ihn zerstören könnte und wir erneut in die Ferne und Leere der Worte fielen. Das Blut pochte mir dumpf in den Handgelenken, in der Brust, hinter der Stirn. Die Hände eisig und feucht, fast fühllos. Meine Beklemmung versetzte mich in eine außerordentliche Anspannung, als wäre ich bereit, mich in einen Abgrund zu stürzen, als wäre ich bereit, verrückt zu werden. Als Daniel eine kleine Bewegung machte, brach es geradezu aus mir heraus, als hätte er mich heftig geschüttelt: »Und wenn ich zurückkomme?«

Er nahm den Ausruf unwillig auf, wie immer, wenn meine »tierische Intensität« Anstoß bei ihm erregte. Er heftete den Blick auf mich, und nach und nach veränderten sich seine Züge. Ich wurde rot. Die ständige Sorge, seinen Gedanken zu folgen, hatte mir nicht die Macht verliehen, die wichtigsten davon zu durchdringen, aber bei den unbedeutenderen hatte sie meine Intuition geschult. Ich wusste, dass ich, damit Daniel Mitleid mit mir bekam, lächerlich zu wirken hatte. Weder der Hunger noch das Elend eines Menschen bewegten ihn so sehr wie ein ästhetischer Mangel. Die schweißnassen Haare fielen mir lose ins erhitzte Gesicht, und der Schmerz, an den sich meine Physiognomie nach den langen Jahren der Ruhe noch nicht gewöhnt hatte, verzerrte gewiss meine Züge, verlieh ihnen etwas Groteskes. Im schwerwiegendsten Moment meines Lebens war ich lächerlich, das sagte mir der betrübte Blick Daniels.

Er versank in Schweigen. Und fügte wie nach einer langen Erklärung hinzu, die Stimme bedächtig und gelassen: »Davon ab­gesehen kennst du mich besser als nötig wäre, um mit mir zu leben. Ich habe schon zu viel gesagt.« Pause. Er steckte sich ohne Hast die Zigarette an. Dann sah er mir tief in die Augen und schloss mit einem halben Lächeln: »An dem Tag, an dem ich dir nichts mehr zu sagen hätte, würde ich dich hassen.«

Ich war schon zu oft getreten worden, um mich nicht verletzt zu fühlen. Aber das war das erste Mal, dass er mich offen zurückwies, mich, meinen Körper, alles, was ich besaß und ihm mit geschlossenen Augen darbot.

Entsetzt über meine eigenen Worte, die mich mitrissen wie von selbst, beharrte ich auf meinem demütigen Versuch, ihm zu gefallen: »Wirst du wenigstens antworten, wenn ich dir schreibe?«

Er zuckte, ein unmerklicher Ausdruck der Ungeduld. Doch seine Antwort kam mit beherrschter Stimme, vergleichsweise milde: »Nein. Was dich aber nicht daran hindern soll.«

Bevor ich mich zurückzog, küsste er mich. Er küsste mich auf die Lippen, ohne dass meine Unruhe sich dadurch besänftigt hätte. Weil er es für mich tat. Und mein Wunsch war, dass es ihm Lust bereitete, dass er dadurch menschlicher, gedemütigt würde.

Mutter wurde rasch gesund. Und ich war zu Jaime zurückgekehrt, endgültig.

Ich nahm mein vorheriges Leben wieder auf. Allerdings bewegte ich mich wie eine Blinde, in einer Art Schläfrigkeit, die lediglich dann von mir abfiel, wenn ich an Daniel schrieb. Nie kam ein Wort von ihm zurück. Ich erwartete nichts mehr. Und schrieb immer weiter.

Manchmal verschlechterte sich mein Zustand, und jeder Augenblick schmerzte wie ein kleiner Pfeil, der sich mir in den Leib bohrte. Ich erwog zu fliehen, auf Daniel zu zu rennen. Ich verfiel in fieberhafte Bewegungen, die ich mit häuslichen ­Verrichtungen vergebens zu bändigen suchte, um nicht die Aufmerksamkeit ­Jaimes und des Hausmädchens zu wecken.

Dann folgte ein Zustand der Mattigkeit, in dem ich weniger litt. Doch selbst in dieser Phase kam ich nicht vollständig zur Ruhe. Ich erforschte mich aufmerksam: Ob »es« wohl wieder »auftreten« würde? Mit vagen Worten bezeichnete ich die Qual, als könnte ich sie dadurch von mir fernhalten.

In Momenten größerer Einsicht fiel mir ein, wie er mal zu mir gesagt hatte: »Man muss zu fühlen wissen, aber auch wissen, wie man aufhört: Wenn die Erfahrung sublim ist, kann sie auch gefährlich werden. Lerne bezaubern und entzaubern. Schau, ich zeig dir etwas Kostbares: die Gegenmagie zum ›Sesam, öffne dich‹. Damit ein Gefühl den Duft verliert und aufhört, uns zu berauschen, gibt es kein besseres Mittel, als es der Sonne auszusetzen.«

Ich hatte versucht, an das Vorgefallene klar und objektiv zu denken, um meine Gefühle rein schematisch zu fassen, frei von Duft, frei von Hintersinn. Auf unbestimmte Weise erschien mir das wie ein Verrat. An Daniel, an mir selbst. Aber ich hatte es versucht. Wenn ich meine Geschichte auf zwei oder drei einfache Worte reduzierte, wenn ich sie der Sonne aussetzte, dann schien sie mir wirklich lachhaft, aber die Kälte meiner Gedanken wirkte auf mich nicht ansteckend, eher stellte ich mir vor, es gehe um die Geschichte einer unbekannten Frau mit einem unbekannten Mann. Ach, die beiden waren nicht von der Last betroffen, die mich niederdrückte, dieser schmerzlichen Sehnsucht, die meinen Blick trübte und meinen Geist benebelte … Eigentlich, so war mir klar geworden, hatte ich Angst davor, mich zu befreien. »Es« war zu sehr in mir gewachsen, ich war ganz davon erfüllt. Wäre ich genesen, so hätte mich das schutzlos gemacht. Denn wer war ich jetzt, so empfand ich, wenn nicht ein Abbild? Beseitigte ich Daniel, so bliebe von mir ein weißer Spiegel.

Ich war zitterig geworden, seltsam empfindlich. Die heiteren Nachmittage im Familienkreis, die früher so sehr zu meiner Zerstreuung beigetragen hatten, konnte ich nicht mehr ertragen.

»Es ist heiß, Cristina, was?«, sagte Jaime.

»Seit zwei Wochen sitze ich an dieser Stickarbeit, und ich komme einfach nicht weiter«, sagte Mutter.

Jaime redete dazwischen, rekelte sich: »Na, bei so einem Wetter sticken.«

»Das Verteufelte ist nicht das Sticken, sondern dass man sich so anstrengen muss, um dieses Muster hinzukriegen«, gab mein Vater zurück.

Pause.

»Am Ende verlobt sich Mercedes doch noch mit diesem ­Jungen«, gab Mutter bekannt.

»Dabei ist sie recht unansehnlich«, antwortete Vater zerstreut, während er die Zeitung umblätterte.

Pause.

»Der Direktor hat entschieden, dass unsere Lieferungen ab sofort …«

Ich überspielte meine Qual und suchte mir einen Vorwand, um mich kurz zurückzuziehen. Im Zimmer biss ich in mein Taschentuch, erstickte die Verzweiflungsschreie, die in meiner Kehle drohten. Ich warf mich aufs Bett, presste das Gesicht ins Kissen und wartete darauf, dass irgendetwas passierte und mich rettete. Allmählich hasste ich sie alle miteinander. Und sehnte mich danach, sie zu verlassen, vor diesem Gefühl zu fliehen, das sich Minute um Minute entfaltete, vermischt mit einem unerträglichen Mitleid für sie und für mich selbst. Als wären wir allesamt Opfer derselben unabwendbaren Bedrohung.

Ich versuchte, Daniels Bildnis wiederherzustellen, jeden seiner Züge. Mir war, als könnte ich, wenn ich mich nur genau genug erinnerte, eine Art Macht über ihn erlangen. Ich hielt den Atem an, straffte meine Haltung, presste die Lippen aufeinander. Einen Augenblick noch … einen Augenblick, und ich würde ihn haben, jede seiner Gesten … Die Gestalt bildete sich bereits nebelhaft heraus … Doch dann sah ich, untröstlich, wie er sich nach und nach auflöste. Ich hatte den Eindruck, Daniel fliehe mich, ein Lächeln auf den Lippen. Aber seine Anwesenheit verließ mich nicht. Einmal hatte ich ihn in Jaimes Gesellschaft gespürt und war rot geworden. Ich hatte mir vorgestellt, wie er uns ansah, mit seinem ruhigen, ironischen Lächeln: »Was haben wir denn da, ein glückliches Paar …«

Vor Scham war es mir kalt den Rücken heruntergelaufen, und mehrere Tage lang hatte ich kaum ertragen, Jaime auch nur zu sehen. Ich dachte mit noch größerer Intensität an Daniel. Seine Sätze wirbelten in mir herum. Der eine oder andere löste sich heraus und verfolgte mich stundenlang. »Die einzig würdige Haltung für einen Menschen ist die Traurigkeit, die einzig würdige Haltung für einen Menschen ist die Traurigkeit, die einzig …«

Fern von ihm begann ich, ihn besser zu verstehen. Mir fiel ein, dass Daniel schlicht unfähig war zu lachen. Manchmal, wenn ich etwas Lustiges sagte und ihn unvorbereitet traf, sah ich sein Gesicht gleichsam auseinanderreißen, eine Grimasse, die seinen nur aus Schmerz und Meditation geborenen Falten widersprach. Sein Ausdruck bekam dann etwas Kindliches und zugleich Zynisches, fast Unanständiges, als wäre er im Begriff, etwas Verbotenes zu tun, jemanden zu betrügen, sich davonzustehlen.

In diesen seltenen Momenten ertrug ich es nicht, ihn anzu­sehen. Ich senkte gequält den Kopf, erfüllt von einem Mitleid, das mir wehtat. Er war wirklich unfähig, glücklich zu sein. Vielleicht hatte ich ihm das niemals gezeigt, wer weiß das schon? Immer so allein, von früher Jugend an, so fern jeder freundschaftlichen Geste. Heute, ohne Hass, ohne Liebe, mit bloßer Gleichgültigkeit, zu welcher Güte wäre ich da imstande.

Aber damals … Fürchtete ich ihn? Ich spürte nur: Wenn er ­irgendwann auftauchte, würde ein Wink von ihm genügen, und ich würde ihm für immer folgen. Ich träumte von diesem Augenblick, stellte mir vor, mich an seiner Seite von ihm zu befreien. Liebe? Mein Wunsch war, mit ihm zu gehen, um auf der Seite des Stärkeren zu sein, damit er mich verschonte, so wie wenn man sich in die Arme des Feindes schmiegt, außer Reichweite seiner Pfeile. Das, entdeckte ich nach und nach, war etwas anderes als Liebe: Ich wollte ihn, wie sich ein Dürstender nach Wasser sehnt, ohne Gefühle, ja, ohne glücklich sein zu wollen.

Manchmal erlaubte ich mir einen anderen Traum, wohl wissend, dass er noch unmöglicher war: Er würde mich lieben, und ich würde Rache nehmen, im Gefühl meiner … nein, nicht Überlegenheit, aber Gleichrangigkeit ihm gegenüber … Denn wenn er mich begehrte, würde seine mächtige Kälte zerstört, seine ­ironische, unerschütterliche Geringschätzung, die mich so sehr faszinierte. Bis dahin würde ich nicht glücklich sein können. Er verfolgte mich.

Ach, ich weiß, dass ich mich wiederhole, Fehler mache, in dieser kurzen Darstellung Tatsachen und Gedanken durcheinanderwerfe. Und doch, mit welcher Anstrengung versammle ich die einzelnen Bestandteile und bringe sie zu Papier. Ich bin, wie gesagt, nicht intelligent, noch nicht einmal gebildet. Und zu leiden allein reicht nicht aus.

Wenn ich nicht spreche, die Augen geschlossen halte, greift etwas unterhalb meines Denkens, etwas Tieferes und Stärkeres, nach dem damaligen Geschehen, und für einen flüchtigen Augenblick sehe ich klar. Aber mein Gehirn ist schwach, und es gelingt mir nicht, diese Minute der Lebendigkeit in etwas Durchdachtes zu verwandeln.

Aber es ist alles wahr. Und ich muss auch noch andere Gefühle eingestehen, die ebenso wahr sind. Oft, wenn ich an ihn dachte, sah ich mich, in einem langsamen Übergang, ihm dienen wie eine Sklavin. Ja, ich gab es zu, zitternd und erschrocken: Ich mit meiner soliden, konventionellen Vergangenheit, ein Kind der Zivi­lisation, verspürte eine schmerzliche Lust dabei, mir vorzustellen, wie ich zu seinen Füßen lag, als Sklavin … Nein, das war keine Liebe. Entsetzen überkam mich: Das war Erniedrigung, Erniedrigung … Ich überraschte mich beim Blick in den Spiegel, wo ich in meinem Gesicht nach einem neuen Zug suchte, geboren aus dem Schmerz, aus meiner Gemeinheit, etwas, das meinem Verstand einen Weg zu den aufgewühlten Instinkten bahnen könnte, die ich noch nicht akzeptieren wollte. Ich versuchte, meiner Seele Erleichterung zu verschaffen, indem ich mich quälte, und so raunte ich mir mit zusammengebissenen Zähnen zu: »Gemein … verabscheuungswürdig …« Dann wieder antwortete ich mir mutlos: »Aber mein gott (in Kleinbuchstaben, so wie er es mir beigebracht hatte), ich bin nicht schuld, ich bin nicht schuld …« Woran? Das bestimmte ich nicht näher. Irgendetwas Furchtbares und Starkes wuchs in mir heran, etwas, das mich vor Angst erstarren ließ. Nur das wusste ich.

Und verwirrenderweise machte ich mich bei der Erinnerung an ihn ganz klein, ich schmiegte mich an Jaime, zog ihn an mich im Wunsch, uns zu beschützen, uns beide gegen ihn, gegen seine Kraft, gegen sein Lächeln. Denn auch wenn ich ihn weit weg wusste, stellte ich mir vor, er sei Zeuge meines Tagesablaufs und lächle über irgendeinen der geheimen Gedanken, deren Existenz ich gerade einmal erriet, ohne je ihren Sinn zu durchdringen. Nach all der Zeit, nach mehr als einem Jahr, versuchte ich gleichsam, mich zu rechtfertigen und Jaime und unser bürgerliches Leben dazu, so sehr hatte er sich meiner Seele bemächtigt. Die langen Gespräche, in denen ich nur zugehört hatte, diese Flamme, die er in meinen Augen entzündete, dieser langsame, wissensschwere Blick unter schweren Lidern, all das hatte mich fasziniert und in mir dunkle Gefühle geweckt, den schmerzlichen Wunsch, mich zu versenken, ich weiß nicht, worin, etwas zu erreichen, ich weiß nicht, was … Und vor allem hatten sie in mir das Gefühl geweckt, in meinem Körper und meinem Geist poche ein tieferes, intensiveres Leben, als ich es lebte.

Nachts, schlaflos, wie im Gespräch mit einem Unsichtbaren, sagte ich mir leise, besiegt: »Ich gebe es zu, ich gebe zu, dass mein Leben bequem und mittelmäßig ist, ich gebe es zu, alles, was ich habe, ist klein.« Ich spürte, wie er wohlwollend den Kopf wiegte. »Ich kann nicht, ich kann nicht!«, rief ich mir zu, eine Klage, in die ich meine Unfähigkeit fasste, die Liebe für ihn aufzugeben und nicht in diesem Zustand zu verweilen, in dem ich hauptsächlich den grandiosen Wegen folgte, die er mir begonnen hatte zu zeigen und auf denen ich mich verlor, winzig und ohne Schutz.

Ich hatte von glühenden Leben erfahren, um doch in mein eigenes zurückzukehren, das banal war. Er hatte mir einen flüchtigen Blick auf das Sublime verschafft und mich aufgefordert, ebenfalls im geheiligten Feuer zu brennen. Ich wehrte mich kraftlos. ­Alles, was ich von Daniel gelernt hatte, führte mir die Beengtheit meines Alltags vor Augen und erfüllte mich mit Abscheu. Meine Erziehung war nicht abgeschlossen, er hatte es ja gesagt.

Ich fühlte mich haltlos, versuchte immer wieder in Tränen zu flüchten. Doch meine Haltung angesichts des Leidens war noch von Verwirrung geprägt.

Woher nahm ich die Kraft, alles zu zerstören, was ich gewesen war, Jaime zu verletzen und Vater und Mutter unglücklich zu machen, die schon alt und müde waren?

In der Phase, die meiner Entscheidung vorausging, gab es wie in der Zeit vor dem Tod, bei gewissen Erkrankungen, auch kurze Ruhepausen.

An jenem Tag war meine Freundin Dora gekommen, sie wollte mich, soweit es möglich war, von den Kopfschmerzen ablenken, die ich vorschützte, um mich der Melancholie frei überlassen zu können, ohne behelligt zu werden. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Satz von ihr, der mich auf anderen Wegen zu Daniel stieß.

»Du solltest mal hören, meine Liebe, wie Armando über Musik redet. Als würde er über das leckerste Essen der Welt sprechen oder über die Frau mit der tollsten ›Ausstrahlung‹. So naschhaft, als würde er jede einzelne Note zerkauen und dann die Knochen wegwerfen …«