Taliel: Erinnerung - Sascha Schröder - E-Book

Taliel: Erinnerung E-Book

Sascha Schröder

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Beschreibung

“Deine Vergangenheit, Cathryne Jessica Bennett, ist eine einzige Lüge.” Nach dem Mord an Horael muss Taliel sich für ihre Tat vor dem höchsten aller Engel, Metatron, verantworten. Doch selbst diese Anhörung kann ihre Gedanken nicht von dem abbringen, was sie gerade erst erfahren hat. Denn offenbar hat sie eine Schwester, von der sie nichts wusste, und eine Verbindung zu Sunael, die ihr bisher nicht bewusst war. Auf der Suche nach ihrer Vergangenheit muss Taliel feststellen, dass nichts so ist, wie sie es kennt. Wer hat ihre Erinnerungen manipuliert, und wieso? Die Wahrheit lässt Taliel an Allem zweifeln, was sie bislang für ihr Leben gehalten hat, denn plötzlich scheint auch die Frage nach Gut und Böse nicht mehr eindeutig beantwortbar zu sein…

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Table of Contents

Titel

Hinweis

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Nachwort

Charakterverzeichnis

Karte der Academy

Grundriss des Quartiers

Impressum

Claudia und Sascha Schröder

Die folgende Geschichte ist ein rein fiktives Werk. Die Autoren distanzieren sich hiermit ausdrücklich vom Versuch der Gotteslästerung.

Alle handelnden Personen sind rein fiktiv und beruhen auf Vorlagen der Bibel sowie auf eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

 

Der Schüler ging zum Meister und fragte ihn: "Wie kann ich mich von dem, was mich an die Vergangenheit heftet, lösen?" Da stand der Meister auf, ging zu einem Baumstumpf und umklammerte ihn und jammerte: "Was kann ich tun, damit dieser Baum mich losläßt?"

 

Aus China

 

 

Kapitel 1

 

Der Wind strich sanft durch ihr mittlerweile rückenlanges, braunes Haar.

Wieder war sie hierhin zurückgekehrt, an den Ort, der ihr inzwischen so vertraut war, dass sie ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit fand. Nun saß sie hier, die Knie aufgestellt, und beobachtete das emsige Treiben auf dem Platz unter ihr.

Das Gras kitzelte unter ihren nackten Füßen, und die kühle Brise ließ sie frösteln. Sie liebte das Gefühl der Grashalme an den Sohlen, gaben sie ihr doch das Gefühl, noch immer irgendetwas Menschliches in ihren Gedanken und Erinnerungen zu besitzen. Die Kälte krabbelte langsam weiter an ihren Beinen hinauf. Die schwarze Stoffhose, die kurz an der Mitte der Wade endete, bot nicht genug Schutz und Wärme. Sie zog ihre Beine noch enger an ihre Brust und umklammerte sie fester mit ihren Armen. Dann legte sie ihren Kopf auf die Knie und beobachtete einen Marienkäfer, der über ihre Zehen krabbelte.

Sie brauchte diese Ablenkung, diese Ruhe. Die vergangenen Tage hatten mehr an ihren Nerven gezerrt, als sie zugeben wollte. Weder Auriel noch Azrael wussten, was wirklich in ihr vorging.

Seit ihrer Rückkehr an die Academy, ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle und Horaels Tod waren nun fast zwei Wochen vergangen. Taliel hatte jeden Tag damit gerechnet, von Michael den Termin ihrer Anhörung zu erfahren. Mit jedem Tag, an dem sie nichts hörte, wurde sie unruhiger und panischer, sie malte sich neue Schreckensszenarien aus, die ihre Bestrafung darstellen könnten.

Auriels und Azraels Nähe vermied sie weitgehend. Sie hatte ihnen lediglich gesagt, dass sie die Sache erstmal mit sich selbst ausmachen wollte. Ihre beiden Vertrauten akzeptieren dies bisher und ließen sie in Ruhe. Aber das war nur ein Vorwand. In Wirklichkeit wollte sie sie aus dieser Sache heraushalten. Sie sollten nicht sehen, wie sehr sie unter den Vorkommnissen litt. Es war ihr peinlich. Sie hatte nach dem Angriff des Dämons schon genug Tränen vergossen. Danach wollte sie endlich stark sein. Aber nach Horaels Tod, den sie selbst verursacht hatte, kämpfte sie immer öfter gegen ihre Gefühle an.

Sie lächelte, wenn sie eigentlich weinen wollte, schwieg, wenn ein Schrei in ihr aufstieg und blieb wie angewurzelt stehen, wenn sie eigentlich lieber weglaufen wollte.

Dann, vor vier Tagen, erreichte sie Michaels Nachricht, dass die Anhörung morgen stattfinden würde.

Einerseits war sie erleichtert, endlich ein Datum zu haben, andererseits aber noch nervöser und angespannter.

Aber ihre mögliche Strafe war nur eines von zwei Dingen, die ihr in den letzten zwei Wochen nicht mehr aus dem Sinn gingen.

Sunael. Immer wieder tauchte dieser Name auf. Immer öfter sah sie den Engel in Visionen, über die sie keine Kontrolle hatte. Aber wegen der Ereignisse um Horael hatte sie keine Zeit gefunden, genauer nachzuforschen.

Im Kopf ging Taliel alles durch, was sie bisher über den geheimnisvollen Engel in Erfahrung bringen konnte.

Sunael war wesentlich älter als Taliel, zumindest war sie wesentlich früher hier auf die Academy gekommen. Sie und Auriel waren ein Paar gewesen, und kurz vor ihrem Tod wollte Sunael ihrer Freundin einen Heiratsantrag machen. Das Hochzeitskleid lag in einer Kiste versteckt in Taliels und Auriels Quartier. Das hatte Taliel durch Zufall gefunden, aber ihr Fund hatte nur noch mehr Fragen aufgeworfen.

Und dann gab es da auch noch dieses andere Mädchen, welches auch etwas mit ihr und Sunael zu tun zu haben schien.

Virginia Bennett. Hatte sich Horael einen Scherz erlaubt und ihre Gedanken vernebelt? Doch warum konnte sie sich plötzlich an Situationen erinnern, die so eigentlich gar nicht passiert sein konnten?

Fragen über Fragen, und nicht eine Antwort. Das grenzte schier an Wahnsinn, dem sie am liebsten ebenfalls entkommen wäre. Taliel wusste jedoch, dass das nichts bringen würde. Die Fragen würden sie verfolgen. So blieb sie und musste sich dem stellen, was das Schicksal für sie bereithielt. Sie konnte nur darauf hoffen, dass sie morgen nichts Schlimmes erwartete. Doch wenn morgen alles schief lief, würde sie die Antworten wohl nie erhalten.

Sie seufzte und konzentrierte sich wieder auf den Marienkäfer, der mittlerweile weiter zu ihrem Knöchel gekrabbelt war.

Eins … zwei … drei … vier … fünf …

Fünf Punkte, wie auf einem Würfel angeordnet, in tiefem Schwarz auf leuchtendem Rot.

Sie beobachtete den kleinen Käfer aufmerksam. Seine Fühler zuckten, als versuchte der Käfer, sich zu orientieren. Immer nur kurze, abrupte Bewegungen auf und ab. Dann lief er ein paar Schritte, blieb wieder stehen, krabbelte wieder ein paar Millimeter und tastete mit seinen Fühlern erneut die Umgebung ab.

In den letzten Tagen hatte sich eine alte Angewohnheit wieder ihren Weg an die Oberfläche gebahnt. Wann immer Taliel in Gedanken versank, oder drohte, in Panik zu geraten, begann sie eine Melodie zu summen.

Sie kannte die Melodie von ihrem Vater, der sie ebenfalls mit jener gesummten Melodieberuhigt hatte, wenn sie krank war, oder es ihr schlecht ging. Er hatte einmal gesagt, dass es ein uraltes Lied sei, dessen Ursprünge sich weit bis ins Mittelalter verfolgen ließen.

Taliel hatte nach dem Lied gesucht, aber nie etwas gefunden, sodass sie die Erklärung ihres Vaters für erfunden hielt, und ihm selbst die Herkunft der Melodie zuschob.

Der Marienkäfer krabbelte fast bis an den Saum in der Hose, doch bevor er sich entscheiden musste, ob er unter sie kroch, oder lieber mit Anstrengung die Klippe des Bunds erklomm um auf dem Stoff weiter zu kriechen, breitete er sein kleinen Flücgelchen aus und flog Richtung Academy davon. ,

Sehnsüchtig schaute Taliel hinterher. Für den Marienkäfer war das alles so einfach.. Flügel ausbreiten und Schwierigkeiten entgehen. Der Engel seufzte.

Sie hatte in den letzten zwei Wochen kaum ihre Schuluniform getragen, sondern immer die Kleidung, die sie sich hier gekauft hatte. Das bauchfreie, schwarz-violette Top, die dunkle Hose, und die braunen Stiefel.

Sie wollte so normal wie möglich erscheinen, wollte für ein paar Augenblicke vergessen, wo sie war, und was sie war. Früher, dachte sie, war alles einfacher. Da wurde sie nur von ihren Klassenkameraden gemobbt. Dem konnte sie gelassen begegnen, auch wenn es sie noch so sehr verletzte. Sie wusste damit umzugehen. Aber nun klebte Blut an ihren Händen. Sie hatte etwas getan, was sie bis dahin nicht einmal für möglich gehalten hatte. Sie hatte einen anderen Menschen, oder besser gesagt, Engel, umgebracht.

Wieder stieg die Trauer und die Angst in ihr auf. Nur noch wenige Stunden, dann würde sie sich für diese Tat rechtfertigen müssen.

Sie begann, die Melodie zu summen, die sie von ihrem Vater gelernt hatte.

Es gab keinen Text, aber wenn sie einen erfinden müsste, hätte sie von dem Leid zweier Liebender gesungen, die, wie Romeo und Julia, nicht zueinander fanden. Erst weit entfernt von allen Streitigkeiten, an einem Ort, wo niemand nach seinen Taten beurteilt wurde, konnte sie zueinander finden, und glücklich werden. Trauer und Schmerz, Freud und Leid.

Taliel hatte nicht bemerkt, wie jemand hinter sie getreten war, und zu singen begann.

»Koxhtet sira nevam nisu subari, areta nec totek korun…”

Erschrocken drehte sich Taliel um. Vor ihr stand Auriel. Sie lächelte ihre Freundin an und sang weiter. ,

»Eito nisutet kake geraxh temka naka suret totema.«

»Du kennst diese Melodie?«, fragte Taliel verblüfft.

»Ja«, antwortete Auriel vergnügt.

»Aber das kann nicht sein«, stieß Taliel hervor. Sie blickte Taliel mit offenem Mund an.

»Es kann auch nicht sein, dass jemand Mike zeichnet, ohne ihn jemals zuvor gesehen zu haben«, kicherte Auriel.

Taliel knirschte mit den Zähnen und dachte an den Anfang ihres Lebens als Engel. Als sie noch ein ganz normales Mädchen war, das in London lebte. Als nichts Ungewöhnliches um sie herum passierte, keine Engel und Dämonen um sie kämpften. Dann, eines Tages, begannen die Träume. In ihnen sah sie einen jungen Mann mit leuchtend roten Haaren, den sie irgendwann zu Papier brachte. Sie konnte sich jedoch nicht erinnern, wann sie ihn gezeichnet hatte.

Dieser junge Mann stellte sich später als Michael vor. Sie staunte nicht schlecht, als ihre Zeichnung lebendig vor ihr stand. Und damit begann ihr neues Leben als Engel.

»Das meine ich nicht«, erwiderte Taliel. »Diese Melodie hat mir mein Vater immer zum Einschlafen gesummt. Wenn du sie kennst, dann …«

Auriel schluckte. Sie begriff, warum Taliel so verwirrt war.

»Dann bedeutet das, dass dein Vater auch ein Engel ist.«

Taliel nickte schwach.

»Aber das ist völlig unmöglich. So unmöglich wie …«

Sunael irgendetwas mit mir zu tun hat, wollte sie sagen. Aber dann besann sie sich, dass es doch wohl nicht so unmöglich sein konnte. Wieso sonst, sah sie Taliel so verdammt ähnlich?

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte Taliel. »Kannst du alles über dieses Lied herausfinden, was es in der Bibliothek gibt?«

»Das kannst du selber«, entgegnete Auriel schwach lächelnd.

»Ich kann froh sein, wenn ich noch Schülerin dieser Schule bin. Ich muss damit rechnen, rausgeworfen zu werden. Ich möchte aber in jedem Fall wissen, was es mit diesem Lied auf sich hat!«

»Okay, ich tu dir den Gefallen«, antwortete Auriel nun.

»Danke«, entgegnete Taliel.

»Aber erst nach der Anhörung. Vorher finde ich keine Zeit dafür. Ich wurde auch eingeladen. Mike sagte, es könnte wichtig werden, falls es darum geht, wie du dich in den Tagen vor dem Unfall verändert hast.«

»Du weißt, wieso«, sagte Taliel monoton. »Lucifer hat meine Mutter entführt.«

»Es ist einfach so viel zusammengekommen.« Sanft legte Auriel ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter.

»Was auch immer passiert, ich halte zu dir.«

»Danke«, sagte Taliel. »Das bedeutet mir sehr viel.

»Sehen wir uns im Quartier?«, fragte Auriel.

Taliel schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte sie. »Ich möchte die letzten Stunden vor meiner Hinrichtung allein sein.«

»Hinrichtung?« Auriel lachte. »Du hast ein Talent dazu, aus allem ein Drama zu machen, weißt du das? So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Ich hoffe, du hast recht«, murmelte Taliel, doch ihre Kameradin war schon außer Hörweite.

 

 

***

 

 

Wieder musste sie mit aller Kraft die Angst unterdrücken, die sich wie ein Schwarm Käfer in ihrem Magen ausbreitete und langsam nach oben stieg.

Eine Panikattacke, dachte Taliel. Na, super. Wieso gerade jetzt?

Die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden. Seit dem Gespräch mit Auriel waren einige Stunden vergangen, Stunden, in denen Taliel mit wirren Gedanken dagesessen hatte. Auriels Aussage über das Lied hatten nicht gerade zu ihrer Beruhigung beigetragen. Nun hatte sie noch mehr Angst davor die Schule verlassen zu müssen, ohne auch nur eine ihrer Fragen beantwortet bekommen zu haben.

Taliel seufzte bitter und versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu kriegen.

Einerseits war da dieser brennende Zorn in ihr. Die Wut auf Horaels Verrat und die Geheimnisse, die er vor ihr hatte. Aber dann mischte sich Trauer und Verzweiflung mit hinein.

Sie schrie auf, als sie eine kräftige Hand auf ihrem Rücken spürte.

»Schhh«, machte eine sanfte Stimme. Taliel blickte mit angstgeweiteten Augen in das Gesicht ihres Mentors und Freundes Azrael.

»Auriel bat mich, nach dir zu sehen«, beantwortete Azrael Taliels ungestellte Frage. »Wie geht es dir?«

»Ich habe Angst«, wisperte sie. »Ich habe Angst vor der Anhörung.«

Azrael zog Taliel sanft zu sich und legte seine Arme schützend um sie. Taliel vergrub ihr Gesicht in seine Brust und sog seinen Duft in sich auf, der mühelos die Panik vertrieb. Sie war froh, dass Azrael zu ihr hielt, mehr noch, ihr Halt gab.

Seit er sie von dem Einfluss des Dämons befreit hatte, hatten sich ihre Gefühle für Azrael verändert. Anfangs fühlte sie sich unbehaglich in seiner Nähe, doch nach dem Vorfall konnte sie das Gefühl einordnen. Seine Lippen auf ihren, diese überwältigende Flut an Emotionen, hatten Klarheit gebracht, und sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, dagegen anzukämpfen. Seit einigen Wochen waren die beiden ein Paar.

»Du bist eine starke Frau«, sagte Azrael beruhigend. »Du wirst es überstehen.«

»Aber wenn ich …« Taliels Stimme war nicht mehr als ein hohles Krächzen. Sie räusperte sich, es half jedoch nicht.

»Wenn ich meine Flügel verliere … dich verliere, dann …«

»Das wird nicht passieren«, versicherte Azrael. »Und wenn doch, werde ich mit dir gehen.«

»Nein!«

Taliel hatte sich aus seiner Umarmung befreit und sah Azrael entsetzt an.

»Du wirst nicht … nicht wegen mir!«

»Taliel, es geht nicht anders. Meine Gefühle für dich sind stärker als meine Bindungen an diese Welt. Ich würde für dich sterben. Ich würde alles für dich tun!«

»Du weißt, dass ich das nicht von dir verlangen würde, richtig?«

»Ich würde es aus meinem freien Willen tun«, erwiderte Azrael lächelnd. »Aber das ist reine Spekulation. Ich glaube nicht, dass du rausgeworfen wirst. Wir haben andere Probleme, als eine kleine Schülerin, die …« Er brach ab, und der Tonfall in seiner Stimme, versetzte Taliel erneut in Alarmbereitschaft.«

»Was für Probleme?«, setzte sie nach.

»Ich darf dir eigentlich gar nichts erzählen. Nicht solange deine Anhörung nicht beendet ist. Aber es gibt gewisse Gerüchte.«

»Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«, forderte Taliel.

»Du weißt, dass Uriel seit deinem Ausflug in Lucifers Wohnzimmer verschwunden ist?«

»Nein«, sagte Taliel kopfschüttelnd.

»Sein Verschwinden und Horaels Tod werfen ein neues Licht auf die Sache. Unter den Lehrern munkelt man, dass Uriel der eigentliche Verräter ist. Aber weder Michael noch Gabriel äußern sich dazu. Und auch Metatron hüllt sich in Schweigen. Das gefällt den anderen nicht, aber …«

Er machte eine Pause, um seine Gedanken zu sortieren.

»Deine Aussage wird von elementarer Bedeutung sein. Alle sind sich im Klaren darüber, dass du nicht alleine den Weg zum Federjuwel gefunden hast.«

Das Federjuwel, schoss es Taliel durch den Kopf. Das Training mit Uriel und Horael. Lilith. Ihr Splitter.

»Ich werde dir eine Frage stellen, die dir auch während der Anhörung sicherlich mehrmals begegnen wird. Ich möchte dich nicht beeinflussen, aber es ist wichtig, dass du vorbereitet bist, dich nicht in Widersprüche verstrickst. Das schürt Misstrauen.« Er legte ihr eine Hand auf die Wange und sah ihr tief in die Augen.

Ein eiskalter Schauer lief Taliels Rücken hinab. Seine dunklen Augen waren so tief wie der Abgrund, der sich unter der Academy auftat.

Die Wärme seine Hand ließ Taliel erröten. Sie hatte sich noch immer nicht an seine Berührungen gewöhnt. Jede Einzelne von ihnen löste in ihr ein immer wieder wunderbares Kribbeln aus.

»Taliel«, durchdrang seine Stimme den Nebel, der ihren Geist einhüllte. »Hat Uriel dich gebeten, den Juwelensplitter Lucifer zu übergeben?«

»Nein«, antwortete sie schwach.

»Ich höre dich nicht«, sagte er bestimmt.

»Nein. Uriel hat mir nichts dergleichen aufgetragen. Er wollte mich nur im Kampf gegen Lucifer unterstützen.«

Azrael nickte.

»Gut. Genauso wirst du diese Frage auch in der Anhörung beantworten. Niemand kann dir einen Vorwurf machen, in die Falle gegangen zu sein. Du hast Schulregeln verletzt, das ist richtig, aber wir müssen festhalten, dass es Horael war, der dich erst zu diesen Taten ermutigt hat.«

»Horael«, wiederholte Taliel schwach. »Er hat gesagt, er war die ganze Zeit auf meiner Seite.«

»Eine Lüge«, mutmaßte Azrael. »Oder auch nicht. Das kann ich nicht sagen. Wir werden die Anhörung abwarten müssen.«

Sie schwiegen eine Weile. Taliel hatte sich an Azrael geschmiegt, der sie sanft im Arm hielt.

»Wie geht es Mum?«, fragte sie schließlich.

»Raphael sagt, es geht ihr besser, allerdings hat sie noch arge Probleme, sich hier zurechtzufinden. Sie gehört nicht hier her. Die Energie, die hier oben herrscht, ist zu viel für sie. Es ist nicht gefährlich aber…« Wieder machte er eine Pause. »Versuch es dir so vorzustellen. Wenn du einen Berg hochkletterst, wird die Luft dünner, je höher du kommst. Dir wird schwindelig, und deine Kraft verlässt dich. So in etwa fühlt sich Melissa im Moment. Wir tun unser Möglichstes, aber sie kann nicht für immer hier bleiben, das würde sie nicht verkraften.«

»Wann wird sie wieder auf die Erde gebracht?«

»Wir warten erst einmal deine Anhörung ab. Danach sehen wir, was wir mit Melissa machen. Es gibt dort noch etwas, dass Raphael Sorgen bereitet.«

»Und was?«, fragte Taliel.

»Erinnerst du dich an die Mauer, die du um deinen Geist errichtet hast?«

»Ich wünschte, ich müsste es nicht ständig«, erwiderte sie.

»Raphael hat eine ähnliche Mauer bei deiner Mutter gefunden. Sie ist ebenso undurchdringlich wie deine. Wir haben von jeglichem Versuch abgesehen, sie zu durchbrechen. Das würde deine Mutter töten. Selbst bei dir war es schon sehr eng. Dennoch ist etwas seltsam. Die Mauer, sie weist deine Energie auf.«

»Meine Energie?«, fragend blickte sie Azrael an.

»Heißt das, ich habe sie …«

»Nein, nein«, entgegnete Azrael eilig, bevor Taliel ihren Satz beenden konnte. »Wir sind uns selber nicht einig, was es zu bedeuten hat.«

Er kämmte mit seinen Fingern sanft durch ihr Haar.

»Wir werden schon herausfinden, was das zu bedeuten hat. Lass uns erst einmal die Anhörung hinter uns bringen. Danach sehen wir weiter.«

»Sollte ich von dieser Schule fliegen, kannst du mir etwas versprechen?«

»Alles«, antwortete Azrael und spielte mit einer von Taliels Haarsträhnen.

Genervt schlug sie seine Hand weg.

»Versprich mir, dass du hier bleibst, und versprich mir, dass du etwas für mich in Erfahrung bringst, sollte ich diese Schule verlassen müssen. Ich möchte, dass du mir hilfst, mehr über Sunael herauszufinden. Wer sie war, bevor sie hierherkam, meine ich.«

Azrael zögerte.

»Versprich es mir!«, forderte Taliel.

Seufzend gab Azrael nach. »Ich verspreche es dir. Aber dafür musst du mir auch etwas versprechen. Sollte die Anhörung damit enden, dass du weiterhin Schülerin an dieser Schule bleibst, dann versprich mir, dass du nur mit meiner Hilfe nach Sunaels Vergangenheit suchst.«

»Natürlich«, antwortete Taliel. »Es ist nur … Sunael ist der einzige Gedanke, den ich neben meiner Bestrafung fassen kann. Immer wieder taucht dieses Bild vor meinem geistigen Auge auf, wie ähnlich sie mir sah. Wieso ist das so?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Azrael. »Aber ich verspreche dir, ich werde alles tun, um dir zu helfen, die Antworten zu bekommen, die du dir so sehr wünschst.«

 

Kapitel 2

 

Taliel musste eine ganze Weile geschlafen haben. Als sie die Augen öffnete, begrüßte sie der Tag bereits hell und freundlich mit strahlendem Sonnenschein.

Verschlafen blinzelte sie der Sonne entgegen. Dann drehte sie den Kopf und blickte zu Azrael hinauf. Seine dunklen Augen schimmerten in einem sanften Goldton. Ein warmes, beruhigendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Guten Morgen«, sagte er sanft.

»Morgen«, murmelte Taliel.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Nervös, aber ausgeruht.«

»Sehr schön.«

Taliel erhob sich.

»Bitte sag mir, dass du mich nicht mit irgendeinem Beruhigungszauber belegt hast.«

»Nein, keine Angst. Du bist von ganz allein eingeschlafen. Ich scheine auch ohne Magie eine beruhigende Wirkung auf dich zu haben.«

Taliel nickte nur. Dann blickte sie hinunter auf den Platz, wo sich schon etliche Schülertrauben gebildet hatten.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

»Noch etwa eine halbe Stunde bis zu deiner Anhörung.

»Wir müssen los«, sagte sie zu Azrael und war schon aufgesprungen und hatte ihre Kleidung glattgestrichen.

»Ich komme nicht mit«, erwiderte er. »Solche Anhörungen langweilen mich.«

»Na gut«, antwortete sie gespielt beleidigt. »Dann lass mich halt alleine.«

Trotz der Lässigkeit, die sie in ihre Worte zu legen versuchte, konnte Azrael ihre Anspannung spüren.

»Es wird schon alles gut gehen«, sagte er lächelnd und streckte seine Hand aus, die Taliel nur zu gerne ergriff. Mit seinem Daumen strich er sanft über ihren Handrücken. Diese Berührung ging Taliel durch Mark und Bein und schien einen Teil ihrer Nervosität einfach mitzunehmen.

»Viel Erfolg«, sagte er. »Und jetzt geh. Sonst wirst du bestraft, weil du zu spät kommst.«

Taliel breitete ihre silbrig-schwarzen Schwingen aus und flog in Richtung Academy. Der kühle Morgenwind schnitt und brannte auf ihrer Haut. Die Sonne hatte es noch nicht geschafft, den Morgen zu erwärmen. Aber die Kühle vertrieb die restliche Angst und die Nervosität. Auf dem Vorplatz hatten sich die ersten Schüler eingefunden. Sie selbst landete jedoch in der Nähe des Verwaltungsgebäudes.

In der Halle war es angenehm ruhig. So konnte sie sich sortieren und wieder klare Gedanken fassen.

Einige wenige Engel hatten bereits ihre Plätze eingenommen und waren in die Akten auf ihren Schreibtischen vertieft.

So leise wie möglich schritt sie durch die Halle in Richtung des Ausgangs zum Lehrerareal, wo die Anhörung stattfinden sollte.

Dort wurde sie bereits von einer kleinen Gruppe erwartet.

Neben ihrer Mutter entdeckte Sie Michael, Gabriel, Azrael und Mirael, die sie bereits von einer früheren Sitzung kannte. Ein anderer Engel hatte ihr den Rücken zukehrt, sodass sie ihn nicht erkennen konnte.

Doch viel mehr als dieser Engel zog ihre Mutter Taliels Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatte tiefe Falten im Gesicht. Ihre Haare hingen schlaff herab. Kaum dass sie Gelegenheit dazu hatte, umarmte sie ihre Tochter.

»Es wird alles gut, mach dir keine Gedanken, Mum«, sagte Taliel.

»Das weiß ich, Cathryne. Das weiß ich. Wo warst du letzte Nacht? Lily hatte mir zwar gesagt, sie wüsste, wo du bist, aber sie hat mir nicht verraten, wo.«

»Ich war an einem meiner Lieblingsorte. Dort bin ich oft, wenn ich nachdenken muss.«

»Verstehe«, nickte Melissa.

»Mir geht es gut, Mum. Ich bin nervös, aber ich hoffe, dass sich alles wieder einrenken wird.«

Gemeinsam kehrten sie zum Rest der Gruppe zurück. Dort wurde Taliel stürmisch von Auriel begrüßt. Auch Michael und Gabriel warteten bereits auf sie. Nun wandte sich jener Engel um, der ihr vorher den Rücken zugedreht hatte. Jemand, den Taliel nur von Erzählungen kannte. Das musste er sein. Er sah genauso aus, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte.

»Hallo Taliel«, sagte eine ruhige, junge Stimme.

»Metatron.«

Taliel verbeugte sich.

Der ranghöchste Engel legte seine Hand auf Taliels Kopf.

Ein unbeschreibliches Kribbeln erfasste sie. Es fühlte sich an, als würden tausende und abertausende Ameisen durch jede einzelne Faser ihres Gehirns kriechen. Sie wusste, was Metatron tat und ließ es geschehen.

»Ich spüre, dass du Angst hast, Taliel. Angst davor, deinen Rang als Schülerin an dieser Einrichtung zu verlieren. Und noch mehr.«

Er lachte. Taliel konnte nur vermuten, dass Metatron von ihr und Azrael wusste.

»Ich kann dir versichern, dass ich bisher noch niemanden verbannt habe. Du wirst garantiert nicht die Erste sein.«

Eine riesige Last fiel von ihren Schultern. Sie atmete hörbar auf.

»Dennoch werde ich dein Fehlverhalten bestrafen, dessen kannst du dir sicher sein. Alles Weitere wird die kommende Anhörung zeigen.«

Er führte die Gruppe in einen Besprechungsraum, der sich gewaltig von dem Saal unterschied, in dem sie ihre erste Anhörung hatte, kurz, nachdem sie ihre alte Welt hinter sich gelassen hatte. Er bot gerade genug Platz für alle. Er war vielleicht so groß wie ein Wohnzimmer, mit einem gewaltigen Tisch in der Mitte, um den herum alt wirkende Holzstühle standen, die sich gerade weit genug zurückschieben ließen, um Platz zu nehmen. Auch war der Raum nicht besonders hoch, sodass sie sicherlich die Decke hätte berühren können, wenn sie ihren Arm ausstreckte. Die Enge trieb Taliel die Schweißperlen auf die Stirn. Sie hatte keine Platzangst, viel mehr war sie überwältigt von der Energie, die diesen Raum erfüllte, allen voran die schier unvorstellbare Kraft von Metatron. Die Energie lag wie dichter Nebel in der Luft. Sie waberte in alle Ecken und drückte schwer auf ihren Brustkorb. Wenn es ihr als Engel schon so zusetzte, wollte sie sich nicht ausmalen, wie es ihrer Mutter gehen musste. Sie war nur ein gewöhnlicher Mensch, für sie musste dieses Gefühl unerträglich sein, und es war ein Wunder, dass sie noch nicht ohnmächtig geworden war.

Metatrons blonde Haare umrahmten sein makelloses Gesicht. In Menschenjahren hätte Taliel ihn auf zwanzig oder einundzwanzig geschätzt.

»Ich denke, ich muss nicht ausführen, warum wir hier sind.«

Mit einer geschmeidigen Handbewegung strich er über die Tischplatte.

Nun erkannte Taliel, dass der vermeintliche Tisch in Wahrheit ein riesiger Bildschirm war. Sie hatte von solchen Tischen schon einmal in einer Zeitung gelesen. Laut dem Artikel stellten sich die Entwickler so die Besprechungsräume der Zukunft vor. Kein Papier, sondern funktionale Möbel, die alle notwendigen Informationen auf einem riesigen Touchscreen, der die Tischplatte bildete, darstellen konnten. Sie war überrascht, solche Hightech-Geräte hier vorzufinden.

Taliel blickte vor sich auf den Tisch, wo ihr ihr eigenes Bild entgegensprang.

»Taliel hat in den vergangenen Wochen unzählige Schulregeln massiv verletzt. Sie hat mit Kräften gespielt, die weit über das hinausgingen, was sie als Schülerin ihrer Lernstufe kontrollieren durfte und konnte. Somit hat sie sich und andere, meist jedoch unwissentlich aufgrund der Unkenntnis des Risikos, in Gefahr gebracht. Aber Unwissenheit war keine Entschuldigung! Obendrein hat sie das Allerheiligste verletzt und uns und die Academy durch ihren Vorstoß in die Hölle gefährdet und Blut auf unserem Boden vergossen.«

Betretene Gesichter. Niemand sagte ein Wort.

»Es scheint, dass sich keiner von Euch dazu äußern möchte. Dann beginnen wir doch einfach mit dem Ende. Taliel, du hast nach deiner Aussage Horael für seinen Verrat mit dem Tode bestraft. Ist das richtig?«

»Ja«, antwortete sie knapp. Sie wollte diesen Augenblick vergessen.

Als wenn er sie quälen wollte, schob Metatron ihr ein Foto über die virtuelle Tischplatte. Ein Foto von Horael.

»Erzähl mir von eurer Beziehung.«

Taliel kniff die Augen zusammen.

Verdränge die Gefühle, ermahnte sie sich.

»Wir waren Partner.«

»Das ist nicht die ganze Wahrheit«, sagte Metatron gelassen.

Taliel senkte den Kopf.

»Ich möchte mich nicht weiter zu dieser Sache äußern.«

»Das ist aber schade. Dann erzähle ich eben, was ich weiß. Und das ist eine ganze Menge, wie du dir sicherlich denken kannst.«

Er holte sich Horaels virtuelles Foto mit einer Fingerbewegung wieder zurück.

»Ihr beide wart mehr als nur Partner. Du hast Gefühle für ihn entwickelt. Es kam zwischen euch beiden zu zarten Annäherungen, ehe dir klar wurde, dass er dich nur benutzt hatte, um an Informationen über das Federjuwel zu kommen. Er hat deine Wut und deine Verzweiflung darüber ausgenutzt, dass Lucifer deine Mutter, Mrs. Melissa Bennett, entführt hat, ist das richtig?«

Taliel ballte die Hände zu Fäusten.

»Ja«, entgegnete sie gepresst.

»Als es zu spät war, sammeltest du allen Hass, der sich in dir aufgestaut hatte, zusammen und tötetest ihn.«

»Er war ein mieser Verräter. Wenn jemand die Academy in Gefahr gebracht hat, dann er!«, sagte sie mit bebender Stimme.

»Obwohl du ihn geliebt hast, hast du ihn getötet«, stellte Metatron fest.

»Er hat mich belogen. Nur deshalb fiel es mir leicht.«

Taliel musste all ihren Willen aufbringen, um nicht durchzudrehen. Ihre Wut wollte die Kontrolle über ihren Körper, forderte sie auf, Dinge zu tun, die sie später bereuen würde.

Zu ihrer Erleichterung ritt Metatron vorerst nicht weiter darauf herum.

»Du hast eben zugegeben, dass deine Verzweiflung das Motiv deiner Tat war. Nur für das Protokoll, war es so?«

»Ja«, antwortete Taliel schnaubend.

»Wann hast du von der Entführung deiner Mutter erfahren?«

»Michael fing mich eines Tages nach dem Unterricht ab und befahl mir, mit ihm zu kommen. Es gäbe da etwas, dass ich mir ansehen müsste. Wir reisten auf die Erde, wo wir mein Elternhaus verlassen vorfanden. Mittels meiner Fähigkeiten erkannte ich, dass Melissa von einer Frau entführt wurde, die mich schon zu meiner Zeit auf der Erde tot sehen wollte.«

»Du hast Michael von deinen Entdeckungen berichtet?«

»Ja, das habe ich. Er versprach mir, sich darum zu kümmern.«

»Unabhängig von diesem Versprechen wolltest du die Sache jedoch selbst in die Hand nehmen«, fasste Metatron zusammen. Er hatte sich nach hinten gelehnt und die Hände hinter den Kopf gelegt.

Taliel hielt ihren Blick stur auf die Tischplatte gerichtet.

»Bei allem Respekt, ehrwürdiger Seraphim Metatron, aber ich finde, wir sollten sie nicht emotional überlasten«, warf Gabriel ein.

Doch Metatron brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

»Ich halte es für das Beste, wenn wir die Situation noch einmal gemeinsam durchgehen. Hast du Uriel angesprochen, ihn gebeten, dir zu helfen?«

»Nein«, antwortete Taliel kalt. »Es war Horael. Er hatte meine Verzweiflung gespürt und mir angeboten, mich zu jemandem zu bringen, der mir helfen würde.«

»Wusstest du, dass du dich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hast?«

»Zum damaligen Zeitpunkt war es mir nicht bewusst. Erst als ich … Lilith begegnet bin, wurde mir einiges klar, aber da war es für eine Umkehr schon zu spät.«

»Uriel hat dir einen Splitter des Federjuwels übergeben, ist das zutreffend?«

»Das hat er«, antwortete Taliel und griff unter ihre Robe, zog den Splitter hervor und streifte ihn über ihren Kopf. Dann legte sie ihn auf die Tischplatte.

»Das ist der Splitter, den Uriel mir gab.«

»Hat Uriel dich gebeten, ihn Lucifer zu bringen?«

Da war sie. Die Frage, vor der Azrael sie gewarnt hatte.

»Nein«, entgegnete Taliel, wie sie es mit ihrem Mentor geübt hatte. »Er hat mich nie um etwas Derartiges gebeten. Erst durch Horael erfuhr ich, dass Lucifer hinter dem Splitter her war.«

»Hat er dir erzählt, weshalb Lucifer ihn unbedingt haben wollte?«

»Horael hat mir nichts darüber gesagt.«

Michael hob die Hand, und Metatron erteilte ihm das Wort.

»Wovon gingst du aus, als du Horael auf dem großen Platz hingerichtet hast?«

»Ich ging davon aus, dass er die ganze Zeit über ein Spion von Lucifer war, der mich nur benutzt hatte.«

»Deshalb bestraftest du ihn.«

»Richtig«, antwortete Taliel.

»Obwohl ich versucht habe, dich aufzuhalten.«

»Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe«, sagte Taliel nur langsam, darauf bedacht, die richtigen Worte zu wählen.

»Aber die gesamte Situation, meine Wut, meine Verzweiflung …«

»Was waren seine letzten Worte?«

»Er sagte: ›Ich bin trotz allem einer von euch.`«

»Konntest du mit diesen Worten etwas anfangen?«

»Nein«, seufzte Taliel. Nach einigen Sekunden fuhr sie fort. »Ich bin von meiner Mutter dazu erzogen worden, auf mein Herz zu hören. Es hat mich hierher geführt. Aber ich musste feststellen, dass mein Herz mich manchmal betrügt und mein Urteilsvermögen trübt.«

Sie blickte Michael an. Auriel, die die ganze Zeit neben Taliel gesessen hatte, strich ihr sanft über den Rücken.

»Trotzdem, wenn ich jetzt zurückblicke und mir die Zeit, die ich mit Horael verbracht habe, erneut ins Gedächtnis rufe, steht sein Verrat und damit die Gefahr für uns alle vor meinen Gefühlen, die ich für ihn empfand.«

Ihr Blick glitt hinüber zu Metatron, der noch immer zurückgelehnt in seinem Stuhl saß.

»Doch nicht er allein war eine Gefahr für diese Akademie. Auch ich habe durch meinen Leichtsinn fahrlässig Entscheidungen getroffen. Ich wollte meine Mutter aus den Fängen Lucifers befreien, ohne zu erkennen, wie schwach ich ohne Hilfe bin. Ich habe mich auf die falschen Personen verlassen, und wäre somit beinahe selbst zu einer Verräterin geworden. Das gebe ich zu, und gleichzeitig bereue ich, so naiv gewesen zu sein.«

Melissa blickte ihre Tochter mit tränenverklärtem Blick an. Die Reife, die aus Taliels Worten sprach, erfüllte sie mit Stolz.

»Du hattest keine Ahnung davon, dass Horael in der Tat einer unserer Schüler war?« Metatron schloss die Augen, die Antwort ahnend.

»Nein«, antwortete Taliel tonlos. Dann hatte er die Wahrheit gesagt, dachte sie. Sie hatte einen Kameraden getötet.

»Er hat sich zu keinem Zeitpunkt vorher als einer von uns zu erkennen gegeben?«

»Nein«, wiederholte Taliel.

»Ich verstehe«, erwiderte der blonde Engel. Dann kehrte betretenes Schweigen ein. Auriel kaute ungeduldig auf ihrer Unterlippe herum, Michael machte sich Notizen auf einem Blatt Papier, Gabriel blickte unschlüssig umher, und Melissa behielt ihre Tochter fest im Blick.

»Niemand hier hat also gewusst, dass Horael ein Schüler war?«

Allgemeines Kopfschütteln in der Runde.

»Es scheint, dass jemand alle Aufzeichnungen über ihn vernichtet hat«, warf Michael ein und blickte Horael direkt an. »Die Frage ist nur, wer. An diesem Punkt beginnt die Spekulation, aber es ist eine Tatsache, dass Raphael von Seraphiel bedroht wurde. Darüber hinaus haben wir eigene Nachforschungen angestellt, die Taliels Verräterthese stützen. Demnach hat Horael zu Zeiten auf der Erde mit Lucifer Kontakt gehabt. Der Grund ist uns jedoch nicht bekannt und leider sind auch diese Ergebnisse spurlos verschwunden.«

Auriel schnappte nach Luft. In dieser Sekunde begriff sie, dass sie sicherlich an Taliels Stelle säße, hatte sie Uriels Rat angenommen und sich mit Seraphiel getroffen.

»Dieser Umstand ist mir zu Ohren gekommen, allerdings gibt es außer Raphael für diesen Vorfall keine Zeugen, und genauso wie Uriel ist auch Seraphiel verschwunden. Niemand kennt ihren Aufenthaltsort.«

»Wie überaus praktisch«, murmelte Gabriel.

Metatron wies Gabriel mit einem giftigen Blick stumm zurecht.

»Bis wir etwas Genaueres über ihren Verbleib wissen, müssen wir davon ausgehen, dass zumindest Uriel ein falsches Spiel trieb, in das er Taliel mit einbezogen hat.«

Er wandte sich an Taliel.

»Tatsache ist aber, dass du nicht gänzlich unbeteiligt warst und obendrein auch noch einen Schüler getötet hast. Was wir dir zugutehalten ist, dass du davon ausgehen musstest, dass es sich dabei um einen von Lucifers Gefolgsleuten gehandelt hatte. Dennoch hast du uns und die Academy in große Gefahr gebracht.«

Er erhob sich.

»Möchtest du noch etwas sagen, bevor ich das Urteil fälle?«

Taliel schluckte schwer.

»Ich bin nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, sagte sie mit brüchiger, vor Aufregung und Panik verzerrter Stimme, »und es ist mir egal, welche Strafe mich erwartet. Alles, worum ich bitte ist, Teil dieser Schule, dieser Welt zu bleiben.«

Taliel blickte hinüber zu ihrer Mutter.

»Ich hoffe, das verstehst du, Mum.«

Metatron versank einen Augenblick in Gedanken. Dann sprach er:

»Taliel, ich werde hiermit folgendes Urteil fällen. Erstens wird der Juwelensplitter, den Uriel dir unrechtmäßig verliehen hat, wieder an seinen alten Platz gebracht. All deine durch Uriels Training erworbenen Fähigkeiten werden dir entzogen und mit dem Juwelensplitter versiegelt.«

»Nur zu gerne«, flüsterte Taliel. Sie wollte nicht mehr an das denken müssen, was geschehen war, und der Anhänger frischte bei jeder Berührung ihren Schmerz neu auf. Lieber war sie wieder eine ganz gewöhnliche Erstklässlerin als ständig daran erinnert zu werden, dass Horaels Blut an ihren Händen klebte.

»Zweitens wird dir untersagt, das Schulgelände ohne Begleitung deines Mentors Azrael zu verlassen. Während der Schulzeit wirst du Auriel nicht von der Seite weichen. Wir wollen lückenlos wissen, wo du wann warst, und zwar fürs Erste für die kommenden sechs Monate.

Außerdem wird dir für die Zeit deiner Strafe eine Höherstufung verwehrt.«

Er setzte sich wieder.

»Hast du alles verstanden?«, fragte Metatron ruhig.

»Das habe ich«, antwortete Taliel, und fügte hinzu. »Ich danke für das milde Urteil.«

»Ich möchte noch zwei weitere Dinge anmerken.«

Metatron schritt um den Tisch herum und kniete sich vor Melissa. Taliel konnte geradezu sehen, wie ihre Mutter eine Gänsehaut bekam.

»Melissa, obwohl wir mächtige Wesen sind, konnten auch wir nicht ahnen, was Ihnen zugestoßen ist. Auch deshalb ist das Urteil ihrer Tochter so milde ausgefallen. Sie war lediglich um ihre Mutter besorgt. Wir werden in den kommenden Tagen unsere Maßnahmen verschärfen, um alle Angehörigen von Engelsseelen zu schützen. Sie werden also in Kürze in Ihr altes Haus zurückkehren.«

Seine goldfarbenen Augen blickten direkt in Melissas.

»Allerdings hat mich Raphael darum gebeten, noch ein paar Tests mit ihnen machen zu dürfen. Es gibt einige … Unstimmigkeiten, die er nach eigener Aussage gerne klären möchte. Bis dahin werden Sie also weiterhin bei Ihrer Tochter und deren Freundin im Quartier wohnen.«

»Ich habe nur eine Bitte«, sagte Melissa. »Ich möchte mich nach meiner Rückkehr auf die Erde an alles erinnern können.«

Metatron zögerte.

»Da ich fürchte, dass Horael Lucifer ohnehin mit allen notwendigen Informationen versorgt hat, kann ich wohl zu dieser Bitte nicht ›nein‹ sagen.«

Er wandte sich wieder Taliel und Auriel zu, die sich mittlerweile vor Freude in den Armen lagen.

»Taliel, ich möchte gerne mit dir unter vier Augen reden«, sagte er und deutete auf die Tür.

Taliel verstand und folgte ihm.

Als er die Tür geschlossen hatte, setzte er sich auf den Boden. Er bedeutete Taliel, sich neben ihn zu setzen.

Taliel zögerte. Metatron war nicht Azrael, nicht irgendein Engel. Er war der Herrscher über alle Engel, ein mächtiges Wesen.

»Na komm schon, ich beiße nicht.«

Zitternd ließ sie sich neben ihn nieder.

»Ehrwürdiger Seraphim, ich finde nicht, dass es angemessen …«

»Lass den Blödsinn. Seraphim hier, ehrwürdig da. Auch wenn ich mächtiger bin als alle anderen zusammen, heißt das nicht, dass ich unnahbar bin. Sieh mich einfach als Direktor dieser Schule.«

Es fiel ihr schwer, diesen Gedanken zu akzeptieren. Es kam ihr nicht richtig vor. Allein der Gedanke, dass sie nun physisch auf gleicher Stufe standen, missfiel ihr. Sie war kein gottgleicher Engel, sie war noch immer naiv wie zu ihrer Zeit auf der Erde.

»Ich habe erfahren, dass es etwas gibt, was dich belastet, seit du mit Uriels Training begonnen hast.«

»Da gibt es so einiges«, murmelte Taliel und spielte verlegen mit dem Saum ihres rechten Ärmels.

»Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, geht es dabei um Sunael.«

»Ich …« Sie zögerte. »Ich würde gerne mehr über sie erfahren. Selber … ohne Hilfe.«

»Oh, das sollst du auch«, erwiderte Metatron. »Alles, was ich dir über Sunael sagen kann, ist, dass sie eine hervorragende Schülerin war. Du bist ihr sehr ähnlich, weißt du das? Nicht nur was das Äußere angeht. Auch in Sunael schlummerten Kräfte. Mächtige Kräfte, die sie nie ganz kontrollieren konnte.«

Er strich mit der Hand durch die Luft. Taliel spürte Vibrationen, die tief in ihren Kopf eindrangen. Sie sah die Bilder vom Kampf gegen die Dämonen in London vor ihren Augen.

»Du hast die Dämonen in einem einzigen großen Knall ausgelöscht. Was meinst du, was das war?«

»Ich nehme an, meine Wut und Verzweiflung hat dies bewirkt.«

»Das ist fast richtig. Auf der Erde sagt ihr oft, ein Mensch wächst in Extremsituationen über sich hinaus. Das hat nichts mit übermenschlichen Kräften zu tun. Sondern in solchen Situationen zeigt sich erst das volle Potential.«

Der Film vor ihrem geistigen Auge fror an dem Moment ein, in dem die Schockwelle von ihrem Körper ausging.

»In diesem Augenblick hast du dein volles Potential ausgeschöpft. Die Kräfte eines Todesengels wurden freigesetzt.«

Er macht eine Pause.

»Weißt du, was das heißt?«

»Das heißt, dass ich meine wahre Kraft noch nicht einmal erweckt habe, richtig?«

»Richtig. Du hast die Flügel eines Todesengels. Den Rest musst du dir erarbeiten. Lass dich von Azrael leiten. Er wird dir zeigen, wie du diese Kräfte nutzt.«

»Diese Schockwelle, war sie ein einmaliges Ereignis?«

»Lass es mich so ausdrücken«, begann Metatron. »Die Schockwelle war das Maximum an Energie, die du freisetzen kannst. Wie Sunael musst du einfach nur lernen, deine Kräfte zu kontrollieren.«

»Mhm«, machte Taliel. Zugegeben, sie verstand kein Wort, aber sie würde Metatrons Rat befolgen und Azrael um Hilfe bitten.

Metatron war aufgestanden und reichte Taliel die Hand. Zögerlich ergriff sie sie. Seine Haut war ganz weich und zart, warm und schützend.

»Übrigens«, sagte er. Seine Stimme war nicht mehr als ein tiefes Raunen. »Was dich und Azrael betrifft, sei unbesorgt. Ich werde nichts dagegen sagen.«

Lachend ließ er die rot anlaufende Taliel auf dem Gang zurück und verschwand in den Besprechungsraum.

 

Kapitel 3

 

Kaum hatte Taliel das Quartier erreicht und die Tür aufgesperrt, ließ sie sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit, das Sofa, sinken. Die Anspannung fiel von ihr ab und mit ihr die Kraft, aufrecht zu stehen.

Sie hatte ihr Ziel erreicht, war nicht von der Academy geflogen. Einziger Wermutstropfen war, dass sie nirgendwo alleine hingehen konnte, aber mit Azrael und Auriel an ihrer Seite konnte eigentlich nicht viel schief gehen.

Einige Zeit später betraten auch Auriel und Melissa das Quartier. Auriel hatte Melissa ein wenig herumgeführt. Dazu war bisher keine Zeit gewesen, und deshalb hatte Auriel mit Michaels Einverständnis beschlossen, Melissa die Quartiere und Händler zu zeigen.

»Bist du zufrieden?«, fragte Auriel, die sich neben Auriel auf das Sofa fallen ließ.

»Es hätte schlimmer laufen können«, entgegnete Taliel hörbar erleichtert.

»Ab morgen machen wir uns auf die Suche nach dem Lied und nach Virginia Bennett«, sagte Auriel glucksend.

Melissa setzte sich neben ihre Tochter und umarmte sie.

»Alles Okay, Mum?«

»Ja«, antwortete sie. »Es ist nur so ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass ich meine Tochter im Arm habe, aber gleichzeitig auch wieder nicht.«

»Was redest du da, Mum? Ich werde immer deine kleine Cathryne bleiben.«

»Ich weiß, aber dein Platz ist nun einmal hier, und hier bist du nicht Cathryne«, erwiderte ihre Mutter. »Ich bin einfach überwältigt von all dem hier. Ich meine, man erfährt nicht jeden Tag, dass die eigene Tochter ein Engel ist.«

»Ich weiß«, sagte Taliel lächelnd. »Aber ich bin immer noch deine Tochter, okay?

»Natürlich, aber du siehst so … anders aus. Erwachsener und stärker. Bist du gewachsen?«

»Ein paar Zentimeter«, log Taliel. Dabei waren es in Wirklichkeit gut zehn Zentimeter.

»Dir geht es besser, seit du hier bist, oder?«

»In gewisser Weise, ja«, antwortete Taliel. »Hier habe ich Freunde, hier gibt es kein Mobbing. Aber ich vermisse dich.«

»Ich vermisse dich auch, Schatz. Aber daran wird sich erst einmal nichts ändern. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin ein Mensch.«

»Noch bist du ja hier, und das sollten wir feiern«, sagte Taliel.

Sie wollte gerade aufstehen, als es an der Tür klopfte. Nur eine Sekunde später steckte Michael seinen Kopf durch den Spalt.

»Ich hoffe, ich störe euch nicht«, sagte er und blickte erwartungsvoll in die Runde.

»Nein, komm ruhig rein«, erwiderte Auriel freundlich. Michael schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen Stuhl.

»Ich bin hier, um dein Urteil zu vollstrecken«, sagte er ernst und zog den Anhänger aus der Tasche, der wenige Stunden zuvor noch in ihrem Besitz war.

»Es fällt mir wirklich nicht leicht, aber Befehl ist nun einmal Befehl.«

»Ich verstehe«, sagte Taliel unberührt und bedeutete Michael, ihr nach oben zu folgen, wo sich vorübergehend Melissa Schlafzimmer befand.

Als sie die Treppen hinaufstiegen, sagte Michael: »Ich habe mich nochmal im Lehrerkollegium umgehört. Niemand weiß, wo Sunaels Akte geblieben ist. Das kann nur bedeuten, dass jemand sie verschwinden ließ. Ich denke, wir können uns beide denken, wer die Möglichkeit dazu hatte.«

»Seraphiel«, antwortete Taliel knapp. »Immerhin hat sie auch Raphael im Archiv angegriffen. Also hatte sie ungehinderten Zugang.«

»Genau dasselbe dachte ich auch. Die Frage ist, was sie damit bezweckt. Wieso hat sie Sunaels Unterlagen gestohlen? Was ist so geheim an ihrer Akte, dass niemand sie in die Finger bekommen darf?«

»Das würde ich nur zu gerne herausfinden.«

Michael schloss die Tür, nachdem Taliel eingetreten war.

»Leg dich bitte auf das Bett«, sagte er. »Energie entzogen zu bekommen fühlt sich ein wenig wie Blut spenden an, nur schlimmer.«

Ein markerschütternder Schrei gellte über Taliels Lippen.

Sofort drehte sich Michael um und schaffte es gerade noch, die rückwärts taumelnde Taliel zu stützen.

»Na so schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte Michael, unwissend, weshalb sie so aufgeschrien hatte.

Schnell kamen auch Auriel und Melissa herbeigeeilt. Beinahe hätten sie Michael die Tür ins Kreuz gerammt.

»Was ist los? Wieso schreist du so?«, fragte Auriel alarmiert.

Taliel deutete noch immer auf das Bett, auf dem sich ein kleines, rechteckiges Stück Papier befand.

»Das ist … unmöglich!«, stammelte sie.

Auriel trat an Michael vorbei und sah sich das Papier genau an.

»Ein Foto«, murmelte sie. Sie begriff Taliels Fassungslosigkeit.

»Mrs. Bennett, Taliel … ich meine, Cathryne, sie ist doch ein Einzelkind, oder?«, fragte Auriel. Ihre Finger strichen über das Foto.

»J … ja … seit ich wusste, dass ich mit ihr schwanger bin, brachte ich meine ganze Kraft auf, um mein einziges Kind zu schützen. Wieso?«

»Dann frage ich mich, wer die zweite Person hier ist.«

Sie drehte das Foto herum.

Michael musterte es eindringlich. Im Hintergrund erkannte er ein Gebäude. Es war das Wohnhaus, in dem sie wohnten, als sie Taliel ihre wahre Gestalt offenbarten.

Vor dem Gebäude standen drei Personen. In der Mitte stand Melissa Bennett. Ihre Haare waren auf dem Foto etwas kürzer, reichten ihr nur bis zu den Schultern. Auch das Gesicht wies die eine oder andere Falte weniger auf. Er schätzte, dass das Foto mindestens drei Jahre alt sein musste.

Links von Melissa stand ein junges Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt. Obwohl es nur ein Foto war, das mit einer gewöhnlichen Kamera aufgenommen wurde, spürte er, dass dieses Mädchen Taliel gewesen war. Dann blickte er auf die andere Bildhälfte. Wenn Taliel links von Melissa stand, wer stand dann rechts von ihr?

Die Gesichtszüge ähnelten dem des anderen Mädchens, nur viel jünger. Zehn, vielleicht elf, dachte er. Von diesem Mädchen ging nichts aus. Keine Energie, sie hatte nichts von einer Engelsseele. Wer war sie?

»Mum? Was hat das zu bedeuten?«, fragte Taliel. Unsicherheit und Panik lag in ihrer Stimme.

Melissa betrachtete mit weit geöffnetem Mund das Foto.

»Ich erinnere mich an dieses Bild«, sagte sie, »zumindest teilweise. Aber das ist unmöglich.«

»Erzählen sie mir alles, was sie über dieses Bild wissen«, forderte Michael und führte die noch immer schockierte Taliel zum Bett, wo sie sich beinahe neben die Kante fallen ließ.

Melissa nahm auf einem Stuhl neben dem Fenster Platz, das Foto noch immer in der Hand.

»Vor sechs Jahren hatte ich zum ersten Mal genug Geld, um aus unserer Wohnung auszuziehen. Der Tag des Umzugs. Wir hatten gerade alle Kartons und Möbel ins Haus getragen. Um mich immer an diesen Tag zu erinnern, bat ich Cathrynes Vater, ein Foto von uns zweien zu machen. Zwei, nicht drei. Ich weiß nicht, wer das andere Mädchen ist.«

Taliel hatte sich auf das Bett gesetzt. Der Sreck war ihr anzusehen. Auriel ließ sich neben ihrer Freundin nieder und hielt ihre Hand.

Michael grübelte einen Moment.

»Moment«, rief er aus. »Sagten sie, das Foto ist vor sechs Jahren entstanden? Sind sie sich da vollkommen sicher.«

»Ja, ziemlich«, erwiderte Melissa nach einer kurzen Denkpause.

»Dann ist die Kleine hier rechts von Ihnen Taliel. Aber wer ist das andere Mädchen?

Die, von der er dachte, dass sie Taliel war.«

»Das weiß ich nicht. Ich habe sie noch nie gesehen. Sie sieht Cathryne ähnlich aber …«

»Virginia«, sagte Taliel, die aus ihrer Schockstarre erwacht war. »Das muss Virginia sein. Virginia Bennett. Sie ist meine Schwester. Nur so kann es sein.«

»Das wissen wir nicht«, antwortete Michael. »Noch nicht. Aber es stellt sich doch noch eine andere, offensichtlichere Frage.«

Er ging vor Taliel in die Hocke.

»Wer hat außer dir und Auriel noch Zugang zum Quartier?«

»Außer uns beiden nur ihr Lehrer, sofern ich richtig informiert bin. Damit ihr in Notfällen zu uns kommen könnt«, antwortete Auriel an Taliels Stelle.

»Und du hast das Foto nie zuvor gesehen?«

Taliel schüttelte mühsam und langsam den Kopf.

»Dann haben wir es hier mit der Eine-Millionen-Pfund-Frage zu tun. Wie ist das Foto hier hereingekommen? Aber auch das finde ich noch heraus. Jetzt sollten wir uns erst einmal um das Motiv dieses Fotos kümmern. Wer ist das mysteriöse Mädchen? Und ich habe auch eine Idee, wie wir Klarheit in die Sache bringen können. Aber ich warne dich, es ist gefährlich. Sehr gefährlich.«

»Gefährlicher als unvorbereitet deinem Freund Lucifer einen Besuch abzustatten?«, entgegnete Taliel. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ich bin sofort wieder zurück. Ich werde Azrael zur Sicherheit mitbringen. Er sollte über alles informiert sein.«

»Informiert worüber?«, wollte Auriel wissen. Doch Michael war schon durch die Tür verschwunden.

 

 

***

 

 

Eine halbe Stunde später kehrte Michael mit Azrael im Schlepptau in Auriels und Taliels Quartier zurück. Azrael gab Taliel zur Begrüßung einen Kuss, sehr zu Melissas Überraschung.

»Wir kennen uns noch nicht«, sagte Azrael, und reichte Melissa die Hand. »Ich bin Azrael oder Gabriel Hemmingway, falls Ihnen der Name mehr sagt.«

»Allerdings«, sagte Melissa. Sie war von Azraels großer Statur und seiner enormen Ausstrahlung eingeschüchtert.

»Ich bin Taliels Lehrer und … naja … fester Freund eben.«

»Freut mich«, sagte Taliels Mutter verlegen.

»Ich habe mit Azrael bereits alles besprochen«, sagte Michael, und unterbrach zu Melissas Erleichterung die peinliche Situation.

»Taliel, wir werden etwas tun, dass dir wahrscheinlich genauso wenig gefallen wird, wie uns. Deshalb muss ich wissen, ob du bereit bist, alles zu tun, um die Wahrheit über Virginia Bennett herauszufinden.«

»Ja«, antwortete Taliel mit fester Stimme. Sie versuchte, ihre Angst im Zaum zu halten, aber es gelang ihr nur schwer.

»Gut. Du fürchtest dich, das kann ich verstehen. Solange du hier auf der Academy bist, wird dir nichts geschehen. Aber ich bezweifle, dass das ausreicht.«

Taliel warf ihrem Lehrer einen fragenden Blick zu und legte den Kopf leicht schief.

»Was Michael damit sagen möchte, ist, dass du vielleicht nicht alle Antworten hier auf dem Gelände der Academy findest, sondern wir gemeinsam auf die Erde reisen werden«, sagte Azrael.

»Ich verstehe es immer noch nicht so ganz«, sagte Taliel.

Michael setzte sich neben seine Schülerin. Auriel und Melissa hatten auf der anderen Seite des Raums an einem Tisch Platz genommen und warteten angespannt, was nun geschehen würde.

»Als wir das letzte Mal gemeinsam auf der Erde waren, habe ich dir etwas beigebracht. Du hast herausgefunden, wie deine Mutter entführt wurde, und von wem.«

»Psychometrie?«, fragte Taliel. Michael nickte.

»Auf die gleiche Art und Weise werden wir mehr über Sunael und Virginia Bennett rausfinden. Ich habe aber auch im Hinterkopf, wie du auf diese Technik reagiert hast.«

Unweigerlich griff sich Taliel an die Brust. Die Erinnerung an die Minuten nach der Trance flammte erneut auf. Wie sie sich übergeben hatte, wie sie sich gefühlt hatte.

»Willst du es wirklich tun?«, fragte Michael ernst.

»Es gibt keinen anderen Weg, oder?«, entgegnete Taliel.

»Ich fürchte, nein. Zumindest keinen einfacheren und effektiveren Weg.«

»Dann habe ich keine andere Wahl«, sagte Taliel, aber die Furcht war deutlich in ihrer Stimme zu hören.

»Ich bewundere deinen Mut, weißt das?«, sagte Michael aufmunternd. »Du stürzt dich in Situationen, wissend, dass du denen nicht gewachsen bist. Und trotzdem lässt du dich nicht beirren.«

Er tippte Taliel mit zwei Fingern an die Stirn.

»Ich möchte, dass du deine Augen schließt, und ganz ruhig atmest. Erfühle die Energie um dich herum. Alles hier ist von Energie erfüllt, auch der Raum, der Tisch, der Schrank. Jeder Gegenstand hier trägt seine eigene Energie und die Energie derer, die sie berührt haben. Ich möchte, dass du alle lebende Energie außer Acht lässt. Kümmere dich nicht um die Michaels und Auriels dieser Welt. Konzentriere dich auf die Energie, die übrig bleibt. Die Reste von Energie an Tisch und Schrank.«

Er bedeutete Auriel, ihm das Foto zu geben.

»Gehe nun tiefer in die Trance, bis du nur noch die Energien sehen kannst. Ich werde dir nun das Foto geben, und ich möchte, dass du dich auf die Energie konzentrierst, die dieses Foto umgibt. Lass dich in diese Energie fallen, wehre dich nicht dagegen, verweile nicht. Lass sie fließen, lass die Bilder ziehen wie einen Film, den du nicht aufhalten kannst. Du bist nur der stumme Beobachter im Kino.«

Taliel fühlte, wie Michael das Foto in ihre geöffnete, linke Hand legte.

Das Bild pulsierte in ihrer Hand. Vielleicht war es aber auch nur ihr eigener Herzschlag.

Ehe sie sich versah, verlöschte die Energie um sie herum, und sie fiel. Tiefer und tiefer, bis sie plötzlich in dem Foto zu versinken glaubte.

 

***

 

Mit einem lauten Piepen setzte der LKW zurück. Melissa fuhr mit dem Auto vor, als der Fahrer des Lasters gerade die Ladefläche absenkte.

»Ihr bleibt im Wagen, ich hole euch gleich«, sagte sie zu den beiden Mädchen gewandt, die auf dem Rücksitz saßen und mit großen, glänzenden Augen ihr neues Zuhause betrachteten.

Melissa stieg aus und schloss die Tür.

»Hallo Schatz«, rief sie, als sie ihren Mann erblickte.

Der Angesprochene blickte kurz nach links und rechts und überquerte dann die kleine Straße, die in einem ruhigen Wohngebiet im Londoner Westend lag.

»Das hier ist der Letzte«, sagte er und deutete auf den LKW.

Jonathan Bennett-Wilson war ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit schwarzen, kurzgeschnittenen Haaren und einem kantigen Gesicht. Er überragte Melissa um gut einen Kopf, sodass sie sich zum Begrüßungskuss auf die Zehenspitzen stellen musste. Er trug einen Blaumann und Bauhandschuhe, dazu schwarze Stahlkappenschuhe.

»Ich habe aber eine schlechte Nachricht«, sagte er und kratze sich verlegen am Hinterkopf. »Eine der Vasen deiner Mutter hat es nicht überlebt. Sie ist mir beim Ausladen heruntergefallen.«

»Großartig«, sagte Melissa. Ihre Laune änderte sich schlagartig von fröhlich zu wütend. »Ich habe dir vor dem Umzug dutzende Male gesagt, dass du besonders mit ihnen vorsichtig sein sollst. Es waren Erbstücke.«

»Hässliche Erbstücke«, warf Jonathan ein.

»Sie waren überhaupt nicht hässlich«, zischte Melissa und trat einen Schritt zurück.

»Bete, dass dies das einzige Stück ist, das zu Bruch geht.«

Die beiden Mädchen hatten die Szene vom Auto aus beobachtet.

»Dad hat Mist gebaut«, sagte die ältere von ihnen lachend. »Und jetzt ist Mum sauer.«

»Ginny?«, fragte die jüngere der beiden Mädchen. »Kannst du Mum sagen, dass sie sich beeilen soll? Ich muss nämlich mal dringend.«

»Cat«, murrte ihre Schwester. »Du warst doch erst, als wir losgefahren sind.«

»Schon«, erwiderte sie, »aber ich habe ja auch zwei Gläser Apfelsaftschorle getrunken.

Ginny strich ihrer Schwester lachend über den Kopf.

»Da kommt sie schon, halt nur noch ein wenig durch.«

»So, meine beiden Schätze, dann kommt mal mit und schaut euch unser neues Zuhause an.«

Sie führte die beiden Mädchen durch den Vorgarten in das Haus.

»Mum, wo ist die Toilette? Cat hat es eilig.«

»In der Eingangshalle die erste Tür links«, sagte Melissa, und Cathryne hastete in die angegebene Richtung.

»Ich find es schön hier, Mum«, sagte Ginny. »Viel besser als unsere alte Bude.«

»Dein Zimmer liegt im Obergeschoss, genauso wie das von Cathryne. Ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich ihr das Größere gegeben habe.«

»Nein, ist schon in Ordnung«, antwortete Ginny. »Cathryne wird den Platz sicherlich brauchen. Darf ich Stella die neue Adresse mitteilen?«

»Natürlich, Schatz. Wir sind hier doch nicht im Zeugenschutzprogramm.«

Ginny atmete tief durch, ehe sie fortfuhr.

»Wenn wir heute Abend zur Ruhe gekommen sind, müsste ich mit dir sprechen. Mit euch beiden.«

»Ist es so dringend?«, fragte Melissa besorgt.

»Es gibt etwas, dass ihr einfach wissen solltet«, sagte sie.

»Wir werden sicherlich nachher Zeit zum Reden haben. Wenn Cathryne im Bett ist.«

»Einverstanden«, sagte Ginny und eilte die Treppen hinauf.

Wie aufs Stichwort kam Cathryne aus dem Bad.

»Wo geht Ginny hin?«, fragte sie.

»In ihr neues Zimmer. Und du solltest dir deins auch mal ansehen.«

»Wo ist es denn?«

»Am Ende des Gangs im Obergeschoss«, sagte Melissa und zeigte auf die Treppe.

»Ihr habt dort oben sogar ein eigenes Badezimmer.«

»Wow«, machte Taliel und stürmte strahlend die Treppe hinauf.

Mittlerweile hatten die Männer vom Umzugsservice gemeinsam mit Jonathan den LKW entladen und trugen die einzelnen Möbelstücke vom Vorgarten ins Haus.

Melissa drückte sich an die Wand, um den Männern Platz zu machen, die soeben einen Teil des schweren Wohnzimmerschranks hineinhievten.

»Schatz, wenn ihr fertig seid, könntest du dann von mir und den Kindern ein Foto vor unserem neuen Zuhause machen?«

»Aber klar«, sagte er stöhnend.

Cathryne beobachtete das Treiben im Erdgeschoss von der Treppe aus. Sie hatte entschieden, sich ihr Zimmer erst später anzusehen.

Mit einem süßen Grinsen beobachtete sie, wie sechs Erwachsene verzweifelt versuchten, einen großen Schrank durch die Wohnzimmertür zu bekommen.

»So wird das nie was!«, sagte eine Stimme, und erschrocken drehte Cathryne sich um. Hinter ihr stand Ginny, die Hand an die Stirn gelegt, den Kopf leicht schüttelnd.

»Der Schrank ist einfach zu breit für die Tür. Den müssen sie wohl noch weiter zerlegen.«

Sie setzte sich auf die Stufe über ihre Schwester und legte ihre Arme von hinten um Cathryne.

Diese ließ sich nach hinten fallen und lächelte.

»Ich find es schön hier, Ginny«, sagte sie.

»Ja, ich auch. Hier haben wir viel mehr Platz, und können uns mehr entfalten.«

»Die Handwerker hatten gerade die Regalböden entfernt, als Ginnys Handy piepte.

»Wer ist das?«, fragte Cathryne neugierig.

»Das ist Stella. Sie hat mir ein Foto geschickt, von ihrem Urlaubsort. Weißer Sandstrand, Badewetter …«

»Zeig mal«, forderte Cathryne und nahm Ginny das Handy aus der Hand.

»Hey«, protestierte das ältere Mädchen, unternahm jedoch keinen Versuch, das Mobiltelefon zurückzuerobern.

»Wieso hat sie denn so wenig an?«, fragte Cathryne entsetzt.

Ginny lachte. »Das ist bei uns älteren Mädchen halt so. Das nennt man einen Bikini. Und ehrlich gesagt sieht sie ziemlich heiß aus.«

»Was bedeutet das?«

Ginny wuschelte ihrer kleinen Schwester durch die kinnlangen, nussbraunen Haare.

»Davon verstehst du nichts. Ich mag Stella einfach. Sehr sogar.«

»Liebst du sie?«

Ginny war perplex, das Wort ›Liebe‹ aus dem Mund ihrer kleinen Schwester zu hören.

»Wenn du mich so fragst, ja.«

»Ihhh«, machte Cathryne. »Das geht doch nicht! Sie ist doch auch ein Mädchen.«

Ginny lachte. »Oh doch, das geht. Ach Cat, du musst noch viel lernen. Da draußen in der Welt, gibt es so viele Dinge, die du vielleicht erst später verstehen wirst. Liebe ist nur eines davon.«

»Ich will sie aber jetzt schon verstehen«, motzte Cathryne.

»Das wirst du. Bald.«

Sie schwieg eine Weile.

»Cat?«

»Hm?«, machte die kleine Schwester und blickte Ginny über die Schulter an.

»Du zeichnest doch sehr viel, oder?«

»Ja, das mache ich am liebsten.«

»Zeichnest du auch manchmal Dinge, ohne zu wissen, warum?«

»Nein, sowas mache ich nicht. Wieso?«

»Ich habe Mum beim Einpacken deiner Sachen geholfen, als du bei deiner Freundin warst. Wie hieß sie noch gleich?«

»Meinst du Jill?«

»Ja, genau. Jill. Also, als du bei ihr warst, haben Mum und ich dein altes Zimmer ausgeräumt, und dabei habe ich eine Zeichnung gefunden. Ich wollte wissen, ob sie dir irgendetwas sagt.«

Sie holte aus ihrer Hosentasche ein gefaltetes Stück Papier.

»Tut mir leid, dass ich es geknickt habe.«

»Ist schon okay. Die meisten Bilder werfe ich sowieso weg.«

Ginny faltete das Bild auseinander und zeigte es ihrer kleinen Schwester.

»Hast du das gemalt?«

Cathryne sah sich das Bild genau an und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich war das nicht. Vielleicht warst du es ja und jetzt sagst du, ich hätte es getan.«

»Du weißt, dass ich nicht malen kann, Cat. Es sagt dir absolut nichts?«

»Nein«, sagte Cathryne und stand auf. »Ich gehe jetzt in mein Zimmer.«

»Mhm«, machte Ginny und strich mit ihren Fingern über die Zeichnung.

Auf dem Bild war ein Gebäude zu sehen. Ein sehr hohes Gebäude mit Türmen, und einem großen Platz davor.

Sie war sich absolut sicher, dass Cathryne es gemalt hatte, und es jetzt nur nicht zugeben wollte. Aber wo hatte sie das Gebäude dann gesehen?

Ginny war ratlos.

Es wurde bereits dunkel, als Melissa und Jonathan den Möbelpackern für ihre Arbeit dankten und ein Trinkgeld gaben.

»Kinder, kommt bitte runter«, rief Melissa. Kurz Zeit später kamen Cathryne und Ginny die Treppe heruntergerannt.

»Was ist, Mum?«, fragten beide neugierig.

»Ich möchte gerne mit Euch zusammen ein Foto machen, vor dem neuen Haus, damit wir uns immer an diesen Tag erinnern.«

»Tolle Idee«, rief Cathryne begeistert.

»Gut, dann kommt mit«, sagte Melissa und führte Cathryne nach draußen.

Virginia blieb kurz neben ihrer Mutter stehen.

»Wir reden heute Abend«, versicherte Melissa. »Ich verspreche es dir.«

Sie stellten sich vor dem Haus auf und lächelten, ehe die Welt in einem gleißenden Blitz unterging.

 

Kapitel 4

 

Keuchend schreckte Taliel hoch. Sie blickte sich unstet um, atmete flach, röchelnd und zitterte am ganzen Körper.

»Beruhige dich«, sagte Azrael mit sanfter Stimme. Er streckte die Hand aus, doch ehe er Taliel an der Schulter berühren konnte, ergoss sich deren Mageninhalt auf dem Fußboden. Angewidert wandten sich Melissa und Auriel ab.

Michael schmunzelte jedoch.

»Ich hätte euch vorwarnen sollen«, sagte er. »Sie hat auch beim letzten Mal so reagiert. Eine durchaus verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, was sie gerade eben getan hat. Vergleichbar mit einem Marathonläufer, der am Ende seiner Kräfte ist und kurz vor einem Kreislaufzusammenbruch steht.«

Melissa blickte Michael wütend an. »Als wäre dass das Normalste der Welt!«

»Das wird Taliel schon verkraften. Wer, wenn nicht sie? Sie hat schon ganz andere, weitaus gefährlichere Situationen überlebt. Da wird sie diese relativ harmlose Psychometrie auch überstehen. Und mit der Zeit wird ihr auch nicht mehr schlecht.«

»Das stimmt«, pflichtete Auriel ihrem Lehrer bei.

»Ich werde erstmal die Kotze beseitigen«, sagte er.