Taliel: Verlust - Sascha Schröder - E-Book

Taliel: Verlust E-Book

Sascha Schröder

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Beschreibung

An der Feathergem Academy herrscht Unruhe. Seit Metatrons Verrat und Taliels Tod bereiten sich alle verbliebenen Engel auf den Krieg gegen die Hölle vor. Auch Sunaels Rückkehr ändert hieran wenig. Doch als Michael und Gabriel versiegelte Akten finden, die ausgerechnet Melissa, Taliels und Sunaels Mutter, zum Inhalt haben, ändert sich alles. Könnte Melissa der Schlüssel sein, den Krieg abzuwenden? Und welche Rolle spielt Ridael, Taliels und Sunaels Vater?

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Table of Contents

Title Page

Über die Autoren

Erklärung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Nachwort

Karte der Academy

Impressum

 

 

 

Traumschwingen Verlag

 

 

 

 

 

 

Sascha & Claudia Schröder

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

 

 

 

 

Sascha Schröder wurde 1989 in Bremerhaven begonnen. Hauptberuflich IT-Systemadministrator, gilt seine eigentliche Leidenschaft dem Schreiben.

Mit "Taliel: Erwachen" hat er gemeinsam mit seiner Frau Claudia den Grundstein für diese Buchreihe gelegt. Neben "Taliel" arbeitet er derzeit auch an einem Buch zusammen mit Claudia.

Neben dem Schreiben widmet er seiner Musik, sowie den gemeinsamen Tieren, viel Zeit

 

Claudia Schröder lebt seit ihrer Geburt 1978 in ihrer Heimatstadt Bielefeld, wo sie als Arzthelferin arbeitet.

Mit ihrem Ehemann hat sie gemeinsam mehrere Bücher veröffentlicht. Als Leserin betreibt sie außerdem einen Buchblog, in dem sie regelmäßig gelesene Bücher rezensiert.

Aktuell arbeitet sie an mehreren Projekten, darunter ein historischer Roman.

Die folgende Geschichte ist rein fiktiv. Die Autoren distanzieren sich ausdrücklich vom Versuch der Gotteslästerung.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, bzw. beruhen auf Vorlagen der Bibel, sowie eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als reine Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

 

Der Mut, in die Dunkelheit zu gehen, aber die Kraft, zum Licht zurückzukehren.

Aus dem Videospiel „Destiny”

Kapitel 1

 

 

 

Es war, als wäre um sie herum die Zeit stehen geblieben. Als würde sie sich nicht mitten auf dem belebtesten Platz dieser Akademie befinden, und keine Massen an Schülern um sie herum stehen. Die anderen nahm sie nur wie durch einen Vorhang wahr, als Schemen und vorbeihuschende Schatten. Ihre Sinne waren völlig aus der Balance.

Das Einzige, was sie überdeutlich wahrnahm, war der Engel, der direkt vor ihr stand. Einen Kopf größer als sie, lange, braune Haare, in den nussbraunen Augen einen goldenen Schimmer. Und ihr Lächeln… dieses Lächeln, das sie schon seit langer Zeit vermisst hatte. Das eine Wärme in sich trug, die Eisberge schmelzen lassen konnte.

Und so warm wie dieses Lächeln war ihre Stimme.

»Hallo, meine Süße.«

Diese Stimme war ihr so unheimlich vertraut, und doch ließen diese drei Worte ihr eisige Schauer über den Rücken laufen. Es war nicht die Art, wie sie diese Worte ausgesprochen hatte, sondern die Worte selbst. Diese drei Worte, die sie, Auriel, so lange nicht gehört hatte.

Die ganzen letzten Wochen hatte sie in Sorge gelebt. Sie hatte niemandem, dem sie ihre Gedanken anvertrauen konnte. Michael und die anderen Engel waren zu beschäftigt damit, sich auf den bevorstehenden Krieg vorzubereiten. Niemand konnte oder wollte für sie da sein. Sie, Auriel, die sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, das Taliel tot war. Dass sie das Ritual, mit dem sie ihre Schwester wiederbeleben wollte, nicht überlebt hatte. Doch es war nicht nur die Sorge und die Trauer, die sie belasteten. Für Melissa, Taliels Mutter, die seit einiger Zeit ebenfalls hier auf der Academy lebte, obwohl sie nur ein Mensch war, musste sie sich immer neue Lügen und Ausreden ausdenken, wieso Taliel nicht nach Hause kam.

Eine wichtige Mission. Sondertraining mit Michael. Eine schlimme ansteckende Krankheit. Mit jedem Tag, der verging, kamen ihr diese Ausreden alberner und surrealer vor, und sie ertappte sich zweimal dabei, wie sie vor Wut mit ihrer Faust irgendetwas zertrümmern wollte, um dem psychischen Druck ein Ventil zu bieten. Sie war seelisch am Ende, und es fehlte nicht viel, und sie würde zusammenbrechen und etwas Unüberlegtes tun. Azrael zwingen, sie auch ins Jenseits zu geleiten. Melissa die Wahrheit sagen. Michael so lange provozieren, bis er sie von der Akademie verbannte. Sich doch noch in Metatrons Dienst stellen, und dem Himmel den Kampf ansagen. Irgendetwas, dass ihren sicheren Tod bedeutete. Es war ihr egal, sie wollte nur wieder bei Taliel und Sunael sein. So sehr brannte die Verzweiflung in ihr. Ein loderndes heißes Feuer, das sich jetzt, hier, an diesem Ort zu dieser Zeit in heißen Tränen seinen Weg bahnte.

Auriel vergrub ihr Gesicht tief im Gewand der Person. Diese legte schützend und liebevoll die Arme um sie. Mittlerweile waren einige andere Engel stehen geblieben, tuschelten, zeigten mit dem Finger auf die beiden.

»Hey, ist das nicht …«

»Seit wann ist sie wieder hier…?«

»Ich dachte, sie ist …«

»Das ist unmöglich!«

Sie bekam nur Fetzen von dem mit, was um sie herum gesprochen wurde. Auriel genoss die Umarmung, nach der sie sich schon so lange gesehnt hatte.

»Du bist zurück, Sunael«, brachte sie zwischen zwei Schluchzern heraus.

»Schhhhh«, machte Sunael, und zog Auriel näher an sich heran. Auch sie hatte mit den Tränen zu kämpfen. Ihre Schwester, Taliel, hatte es geschafft. Sie selbst hatte dafür große Risiken auf sich genommen, hatte sprichwörtlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Taliel hatte ihren Plan durchschaut und sie zurück ins Leben geholt. Für sie gab es drei Dinge, die von größter Wichtigkeit waren. Nun, eigentlich waren es vier, aber an das Vierte verschwendete sie im Augenblick keine großen Gedanken. Erstens wollte sie ihrer Schwester danken. Zweitens wollte sie Uriel für seine Taten büßen lassen, und drittens wollte sie so viel Zeit wie möglich mit Auriel verbringen.

In die Schülermenge, die sich mittlerweile um sie gescharrt hatte, kam Bewegung, als jemand, den Sunael erst auf den zweiten Blick wiedererkannte, sich seinen Weg bahnte.

»Michael«, sagte Sunael mit zitternder Stimme. Es war eine Mischung aus Angst und Überwältigung, wieder mit Auriel vereint zu sein.

»Man sagte mir, hier hat jemand eine Houdini-Nummer abgezogen, das wollte ich mir doch lieber mal mit eigenen Augen ansehen«, entgegnete der rothaarige Erzengel mit gekonnt lässigem Ton. »Ich meine, passiert nicht alle Tage, dass jemand von den Toten zurückkehrt.«

Sunael löste die Umarmung, während Auriel sich noch immer in Sunaels Gewand verkrallt hatte, aus Angst, sie könnte einfach so wieder verschwinden.

»Es tut mir leid«, wollte Sunael gerade ansetzen, doch Michael winkte bereits nach »Es tut« ab.

»Abgesehen davon, dass wir im Moment größere Probleme haben als einen Engel mit Lazarus-Komplex, haben dich Regeln ja sowieso noch nie wirklich interessiert. Ach, übrigens, unsere Bücherei vermisst noch immer ein Buch. Du weißt schon, das, was Uriel dir schon mehrmals abgenommen hat, weil du es eigentlich gar nicht haben dürftest. Zu viel schwarze Magie, du weißt schon. Naja, ich möchte lieber nicht wissen, wie hoch die Leihgebühr mittlerweile ist. Nach drei Jahren hat sich da sicherlich ein nettes Sümmchen angesammelt.«

Sunael blickte Michael mit einem verzweifelten Lächeln und Freudentränen in den Augen an. Der Erzengel schritt auf die beiden zu und legte seine Arme um Sunael. Auch ihm liefen Tränen die Wangen hinab.

»Ich weiß nicht, wie Taliel es geschafft hat, aber ich bin froh, dass du hier bist, Sunael. Willkommen zurück«, sagte er mit leiser Stimme. Der Klang hatte etwas, das Sunael so noch nie bei Michael gehört hatte. Aufrichtige Erleichterung.

Und dieser Klang, so beruhigend und zusprechend er auch war, versetzte Sunael in Alarmbereitschaft. Wieso diese Erleichterung? Was war geschehen? Sie erinnerte sich nicht daran, Taliel am Tag ihrer Rückkehr in der Höhle, in der sie im Leben ankam, gesehen zu haben. Es war dunkel, kalt und feucht, und sie wusste nicht, wie lange sie nach dem Ausgang gesucht hatte. Als sie ihn schließlich fand, wurde die von Azrael in Empfang genommen, und ohne Umweg zur Academy gebracht, wo sie nun, in dieser Sekunde, Michael gegenüberstand, Auriel an ihre Brust geschmiegt, und noch immer ratlos.

»Apropos Taliel, wo ist sie?«, wollte Sunael wissen. Sie hoffte, eine Antwort zu bekommen, doch Michael legte ihr einen Zeigefinger auf die Lippen.

»Nicht hier«, antwortete er knapp, »und das ist alles, was du zum jetzigen Zeitpunkt wissen musst.«

»Ja, aber …«

»Nicht. Hier.«

So ruhig wie er sprach, so bedrohlich waren seine Worte, und Sunael vermied es, noch ein weiteres Mal nachzuhaken.

»Auriel ist für den restlichen Tag vom Unterricht befreit. Ihr solltet in euer Quartier gehen. Ich werde Melissa Bescheid geben.«

»Mum?«, fragte Sunael, und sie machte nicht einmal einen Versuch, ihre Überraschung zu verbergen. Wieso war ihre Mutter hier? Dafür gab es nur wenige Erklärungen, und eine gefiel ihr weniger als die andere.

»Sie ist hier«, antwortete Michael. »Wieso und weshalb soll sie dir selbst erklären. Wie gesagt, ich habe wichtigeres zu tun.«

Mit diesen Worten schob sich der Rothaarige an Sunael und Auriel vorbei und verschwand im Gebäude der Academy.

Auriel löste sich von Sunael und sah ihr tief in die Augen.

»Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch, Süße, ich dich auch. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht.« Die Braunhaarige strich Auriel sanft über den Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Es war eine verdammt lange Zeit, aber nicht so lang wie sie dir vielleicht vorgekommen ist. Komm, lass uns nach Hause gehen.«

 

 

***

 

 

Ihr Quartier hatte sich kaum verändert. Nur hier und da waren kleine Details anders, als Sunael sie in Erinnerung hatte. Mit jedem Atemzug, den sie tat, konnte sie Taliels Präsenz deutlicher spüren. Ihre Schwester hatte in der kurzen Zeit bereits einen deutlichen Eindruck hinterlassen, ihre Energie war in jeder Ecke dieses Zuhauses spürbar.

»Ihr habt umdekoriert«, stellte Sunael fest, um die Stille zu durchbrechen.

»Taliels Idee. Sie wollte sich etwas mehr wie zuhause fühlen. Und ich hatte nichts dagegen.«

»Was habt ihr noch verändert?«

»Eigentlich nur das Obergeschoss. Die Bibliothek musste weichen.«

»Lesen ist wohl nicht euer Ding«, grinste Sunael.

»Naja, wir mussten Melissa irgendwo unterbringen.«

»Dann stimmt es? Sie ist hier?«

»Wir mussten sie vor Dämonen in Sicherheit bringen, die sie als Köder benutzen wollten, um an Taliel heranzukommen«, erklärte Auriel. »Wieso, wissen wir alle nicht. Wir wissen nur, dass Taliel auf eigene Faust da runter ist und eure Mutter gerettet hat.«

»Nicht dein Ernst!«, entfuhr es Sunael, doch Auriel nickte nur bekräftigend.

»Nicht ganz allein, Michael und die anderen kamen ihr zu Hilfe. Letztlich musste sie irgendwo hin, und da hielten wir es für das Beste, wenn sie hierbliebe.«

»Aber doch nicht für immer«, hakte Sunael nach.

»Naja«, druckste Auriel herum. »Anfangs nicht. Eigentlich sollte sie nur so lange bleiben, wie sie in Gefahr war, aber jetzt wo der Krieg tobt, ist sie nur hier sicher, und außerdem …«

»Außerdem?«

»Ach, naja… eigentlich nichts wildes.«

»Okay?«

Dieses »Okay?« war vielmehr ein »Was verheimlichst du mir?« als ein »Und das heißt?«. Und das wusste Auriel. Es brauchte nicht viel, bis sie das Geheimnis lüftete. Und als hätte sie Auriels Gedanken gelesen, hob Sunael nun skeptisch die Augenbraue.

Ein lautes Seufzen entfuhr Auriel.

»Sag mal, hast du eigentlich schon gesehen, was wir im Obergeschoss alles …«

»Lenk nicht ab.« Sunael wurde ungeduldig, und Auriel wurde klar, dass sie das Unvermeidbare nicht länger aufhalten konnte.

»Eure Mum und Raphael sind zusammen.«

»So? Sind sie das?«

An Sunaels Haltung hatte sich nichts verändert. Noch immer stand sie mit verschränkten Armen und hochgezogener Augenbraue vor Auriel.

»Tut mir leid, ich dachte, du wirst sauer, wenn ich es dir sage.«

»Sauer? Ich?«

Ein verächtliches Schnaufen strafte Sunaels Satz Lüge.

»Reg dich nicht auf, Sunael. Es ist einfach so passiert, Raphael war der Einzige, der für Melissa da war. Er hat ihr das Leben gerettet, und mit der Zeit sind sie sich nähergekommen.«

»Aha«, machte Sunael nur. Mittlerweile war ihre Mine aufgetaut, und sie runzelte die Stirn. Sie suchte sich einen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Dann schwieg sie. Auriel versuchte, ihre Gedanken zu lesen, doch es gelang ihr nicht. Ob Sunael sie nun bewusst abblockte oder sie einfach so kein Glück hatte, wusste sie nicht.

»Gibt es noch etwas, was ich wissen muss?«, fragte Sunael schließlich. »Ich meine, anscheinend habt ihr in den drei Jahren, in denen ich tot war, mal eben den ganzen Lebenslauf der Erde umgeschrieben. Welche Naturgesetze habt ihr noch außer Kraft gesetzt? Dreht sich die Erde mittlerweile in die andere Richtung oder ist ein zweiter Mond dazugekommen?«

Wow, dachte Auriel. Wenn man ein Lexikon aufschlug und nach »Sarkasmus« suchte, klebte dort sicherlich ein Foto von Sunael, wie sie, die Arme verschränkt, auf einem Stuhl saß und schmollte.

»Sunael, es tut mir leid. Wirklich. Es ist so viel passiert, was ich selber nicht kapiere. Allein das Taliel hier ist … alles, was mit ihr zusammenhängt, bringt mein Hirn zum Schmelzen!«

Täuschte sie sich, oder musste Sunael sich wirklich ein Lachen verkneifen?

»Und dieser Krieg … Sunael, ich habe Angst! Um dich, um Taliel, um alle. Bitte, ich brauche dich.«

Sunael knirschte missmutig mit den Zähnen. Einerseits wollte sie ihre wütende Mine aufrechterhalten, doch andererseits konnte sie nicht lange sauer auf ihre Verlobte sein. Immerhin konnte Auriel ja nichts dafür, dass sie gestorben war, und noch weniger dafür, dass Taliel in den letzten Wochen und Monaten durch die Hölle gegangen sein musste, buchstäblich.

Es war ein Fehler, Taliel zum Erwachen zu zwingen. Ein selbstherrlicher und egoistischer Akt, nur, um ein Extraleben zu bekommen. Von dem, was gerade vor sich ging ganz zu schweigen. Aber sie biss sich auf die Zunge, als die Frage herausplatzen wollte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Es gab jemand anderen, der ihren Zuspruch benötigte. Auriel war verzweifelt, hatte Angst und war noch immer im Schock darüber, dass Sunael wieder hier war.

Wie sie da saß, auf dem Boden kauernd und Sunael anflehend, hatte sie Mitleid mit ihrer Freundin. Ihr war nie in den Sinn gekommen, wie sich Auriel fühlen musste, dass Taliel fort war. Sunael ließ sich vor Auriel nieder und legte ihr eine Hand auf die Wange.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie du dich fühlst. Ich meine, Taliel ist verschwunden, und dafür tauche ich plötzlich wieder auf. Eine Achterbahnfahrt ist ein Dreck dagegen, hm?«

Auriel nickte nur. Sie wollte nicht schon wieder weinen. Nicht dieses Mal. Wenigstens jetzt wollte sie stark sein.

»Ich verspreche dir, ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen. Niemand wird uns zwei wieder auseinanderbringen, und wenn ich Lucifer persönlich umbringen muss.«

»Das würde ich lassen«, entgegnete Auriel mit einem schiefen Lächeln. »Die Fronten haben sich verschoben, die Karten wurden neu gemischt.«

»Was heißt das?«, fragte Sunael irritiert.

»Lucifer ist nun auf unserer Seite. Er hat der Hölle abgeschworen, und Michael und mir seine Treue geschworen.«

Sunael sog zischend Luft ein.

»So schlimm?«

Auriel begriff nicht sofort, wohin Sunael mit dieser Frage zielte, schüttelte dann aber heftig den Kopf.

»Er hat den Fluch, der über dem Garten lag, aufgehoben, und kämpft auf unserer Seite gegen seine einstigen Brüder. Verdammt, er war es sogar, der Taliel geholfen hat, dich zu finden.«

»Wirklich?« Ungläubig sah Sunael ihre Verlobte an. Der Lucifer, den sie einst bis aufs Blut bekämpfen sollte, war nun ein Verbündeter? Dann schüttelte Sunael den Gedanken ab. »Nein, was ich eigentlich fragen wollte, ist, ob es wirklich so schlimm um uns steht, dass selbst Lucifer nun für uns kämpft.«

Doch Auriel hatte keine Zeit, zu antworten. Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Tür. Sunael wandte ihren Kopf herum.

»Mum …«

Melissa sah ihre Tochter an und schlug die Hände vor den Mund. Trauer legt sich auf ihr Gesicht.

»Ginny«, hauchte sie. Dann stürmte sie auf Sunael zu und schloss sie in ihre Arme.

»Bist du es wirklich?«

»Ja, Mum, ich bin es«, gab Sunael ebenso tonlos zurück.

»Du lebst! Aber wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht«, log Sunael. »Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich in einer Höhle zu mir kam, und nach dem Ausgang suchte.«

Es war vielleicht besser so, denn sie wusste nicht, ob Melissa von Taliels Plan erfahren hatte. Sie wusste so vieles nicht, deshalb war es besser, wenn sie behutsam vorging.

»Ich habe dich nie in deiner Engelsgestalt gesehen«, sagte Melissa, löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Du siehst Cathryne sehr ähnlich.«

»Ja«, erwiderte Sunael grinsend. »Schwestern, schon vergessen?« Für diesen frechen Kommentar fing sie sich einen Knuff gegen die Schulter ein.

Melissa betrachtete ihre Tochter eingehend. Die Haare waren zerzaust, und die Haut blass. Sunael trug nur ein einfaches weißes Kleid und keine Schuhe, wobei sie davon ausging, dass es ihr nicht viel ausmachte, denn wenn sie in ihrer Zeit hier eines gelernt hatte, dann, dass Engel weder Hitze noch Kälte noch Müdigkeit oder Hunger verspürten.

Sie tastete nach dem Stuhl, auf dem Sunael gesessen hatte und ließ sich nieder.

»Wie lange ist es jetzt her?«

»Zu lange«, entgegnete Sunael und wandte sich wieder Auriel zu.

»Was habe ich noch verpasst?«, fragte sie ihre Verlobte.

»Nicht viel. Ich bewahre immer noch deine Sachen in meinem Schrank auf. Das heißt, ich habe Taliel erlaubt, sie anzuziehen, wenn sie will, denn du warst ja …«

»Tot«, beendete Sunael den Satz. »Schon in Ordnung. Wir sind uns nun einmal sehr ähnlich. Liegt bestimmt daran, dass wir Schwestern sind.«

Auriel setzte sich auf das Sofa. »Stimmt es? Hat Uriel dich getötet?«

Sunael nickte schwach. »Ich habe ihm vertraut, und er hat mich betrogen. Und ich weiß noch nicht einmal, wieso.«

»Du kannst ihn nicht fragen, denn er ist ja zusammen mit Metatron und Seraphiel verschwunden.«

»Glück für ihn, ansonsten hätte ich ihm jede Feder einzeln herausgerissen.«

»Taliel wollte sich an ihm rächen, aber es ging nicht gut für sie aus.«

»Ich war dabei«, murmelte Sunael. »Sie ist quasi direkt über meinem Grab …« Sie schüttelte sich. »Können wir bitte über etwas anderes reden? Du bist doch mit ihr in einer Klasse. Wie macht sie sich so?«

»Du meinst, wenn sie mal nicht neugierig ist und sich und andere in Gefahr bringt? Sie ist eine exzellente Schülerin, und im Kampf nicht zu verachten. Nur bei der Elementarmagie hat sie große Probleme.«

»Das wundert mich nicht. Die ist echt verflixt kompliziert.«

»Ansonsten bin ich stolz, sie als Partnerin zu haben. Wie läuft das jetzt eigentlich, wo du wieder da bist? Denn ich war ja auch deine Partnerin.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, und ich fürchte, wir haben aktuell auch keine Zeit, uns darum Gedanken zu machen.«

»Stimmt, wir müssen uns auf einen Krieg vorbereiten.«

»Na, das ist wohl mein Stichwort.«

Azrael war in das Quartier getreten und stand in der Tür.«

»Hallo, Azrael«, sagte Sunael lächelnd.

»Sunael«, nickte er ihr freundlich zu. Dann ließ er sich auf dem Sofa nieder und legte seine Hände auf die Knie.

»Der Krieg ist unvermeidlich«, begann er. »Metatron hat die Seinen zusammengerufen und wird bald einen Angriff planen. Einige äußere Sphären sind bereits überrannt, aber unsere Soldaten halten eisern dagegen. Wir erwarten, dass sie auch die Erde ins Chaos stürzen werden. Michael und Gabriel planen bereits Gegenmaßnahmen, aber eines ist sicher: Wir arbeiten alle am Rande unserer Leistungsfähigkeit. Einen Krieg und einen geregelten Betrieb der Akademie gleichzeitig zu koordinieren ist nicht einfach, zumal sehr viele Lehrer an die Front berufen wurden. Wir müssen also dazu übergehen, Schüler der höheren Stufen in den Unterricht zu setzen.«

Während des gesamten Monologs sprach Azrael ruhig und gefasst, doch Sunael spürte, wie es in ihm brodelte. Ihm gefiel die gesamte Situation nicht, das war klar. Aber das war nicht das Einzige.

»Ich nehme an, dass ich auch unterstützen soll«, schloss Sunael.

»Das wäre wünschenswert, aber wir haben leider auch noch ein anderes Problem. Nach dem Verrat ist der Rat der Sieben zerbrochen. Mit nur vier Engeln konnten wir da nichts machen, deshalb hat Michael Lilith um Rat gefragt. Der Kreis war wieder geschlossen, aber …«

Er seufzte. »Taliel ist …«

Sunael blickte zur Seite. Sie wollte in diesem Moment mit niemandem Blickkontakt aufnehmen.

»Taliel war es, die dich wiedererweckt hat, Sunael. Aber das weißt du sicherlich bereits. Doch leider hat sie das Ritual mit ihrem Leben bezahlt.«

Er blickte erst Sunael, dann Auriel, dann Melissa an, ehe er die Augen schloss. Er wollte ihre Gesichter nicht sehen, denn es tat ihm selbst zu sehr weh, diese Worte auszusprechen.

»Taliel ist tot.«

Einen Augenblick lang herrschte eine gespenstische Stille. Niemand wagte zu atmen, geschweige denn, etwas zu sagen.

Auriel, Sunael und Melissa blickten den Todesengel mit versteinerter Miene an.

Azrael war es, der diese Leere durchbrach. »Es tut mir leid«, sagte er und senkte den Kopf. »Ich hätte sie aufhalten müssen, und trotzdem stand ich daneben und tat nichts. Wenn jemand schuld an Taliels Tod ist, dann ich. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr Schwester wieder ins Leben zurückzuholen, und ich habe sie auch noch ermutigt. Dabei weiß ich wie kein anderer Engel, wie gefährlich dieses Vorhaben ist. Allein daran zu denken ist schon Wahnsinn, aber einen toten Engel wirklich wiederzubeleben …«

Melissa war die Erste, die ihre Fassung wieder erlangte.

»Das … das kann nicht sein. Es hieß … ich meine, Lily sagte immer wieder, sie wäre auf Missionen und müsse so viel lernen. Ich verstehe das nicht.«

Auriel schluckte schwer, ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.

»Ich wollte dich nicht belügen«, erwiderte sie. »Ich wusste selber nichts davon, das schwöre ich. Ich hatte es befürchtet. Jeden Tag habe ich mich mit dem Gedanken herumgeschlagen, dass ihr etwas passiert sein könnte. Aber ich wollte niemanden beunruhigen. Hätte ich irgendwem von meinen Befürchtungen erzählt, hätte ich vermutlich nur Panik verbreitet. Ich glaubte immer, es gibt bestimmt eine ganz einfache Erklärung dafür. Sie hat bestimmt einen Grund, weshalb sie nicht hier ist.«

»Mum, bitte sei Auriel nicht böse«, stand Sunael ihrer Freundin bei. »Sie hat es nur gut gemeint, sie wollte dich nicht verletzten. Sie liebt Taliel genauso wie dich oder mich, Taliel war in meiner Abwesenheit ihre wichtigste und vermutlich einzige richtige Freundin.«

»Warum?«, fragte Melissa, doch ihre Frage war nicht an Sunael gerichtet. Sie fixierte Azrael. »Wieso hast du nichts getan? Wieso hast du sie sterben lassen? Du warst ihr Freund, ihr engster Vertrauter, und trotzdem hast du sie im Stich gelassen!«

»Ich konnte nichts dafür«, verteidigte sich Azrael. »Es war ihre Entscheidung. Du kennst deine Tochter besser als ich, du weißt, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt sie nichts und niemand davon ab.«

»Du hast sie umgebracht!« Melissa war aufgesprungen und stürmte auf Azrael zu. Wieder und wieder versuchte sie, auf den Engel einzuprügeln. Doch Azrael war davon unbeeindruckt. Er umfasste ihre Handgelenke, aber machte keine Anstalten, sie wegzustoßen oder sich zu wehren.

»Du hast sie umgebracht«, wimmerte Melissa, die nun langsam neben Azrael auf das Sofa sank. Azrael zog sie an sich.

»Ich weiß, und glaube mir, das werde ich mir nie verzeihen. Taliel war der wichtigste Engel für mich, und wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen und mich selbst für sie opfern.«

Auriel blickte beschämt zu Boden. Nun war es heraus, sie brauchte sich nicht in Lügen verstricken. Einerseits war sie erleichtert darüber, doch andererseits überkam sie die Panik, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.

Sunael stand auf.

»Ich … ich bin ihre Schwester, sie hat mich zurückgeholt. Dann kann ich sie ...«

»Denk. Nicht. Mal. Daran.« Azrael sprach jedes Wort mit Nachdruck aus. »Wohin soll das denn führen? Du belebst sie wieder und stirbst dabei selbst. Dann belebt sie dich wieder und lässt erneut ihr Leben. Ändert es irgendetwas? Wird es dadurch irgendwie besser?«

»Ich war drei Jahre lang tot, Azrael. Drei beschissene Jahre! An meinen Tod hatte sich jeder auf dieser verdammten Schule gewöhnt. Taliel hat zu viel durchgemacht!«

»Nein!«, schrie Auriel. »Bitte, tu mir das nicht an! Bitte!«

»Was habe ich davon, Auriel?«, blaffte Sunael zurück. »Meine Schwester hat sich geopfert, nur damit ich wieder lebe. Wow, Glanztat! Hätte ich gewusst, dass sie es nicht schafft, hätte ich sie …« Wütend und mit einem markerschütternden Schrei warf sie ein Glas an die Wand, das auf dem Tisch vor Azrael stand.

»Aufhören!«

Nun war es Melissa, die ihre Stimme erhob. Sie wischte sich die Tränen weg und sah ihre Tochter an.

»Du kannst genauso wenig etwas für ihren Tod wie Azrael oder Lily. Hast du sie gezwungen?«

»Nein«, antwortete Sunael patzig. Erneut wandte sie den Blick ab. Niemanden ansehen, bloß nicht falsche Emotionen zeigen.

»Sie hat all das aus freien Stücken getan. Ich verstehe nicht einmal die Hälfte von all dem. Wieso auch? Ich bin nur ein Mensch.« In ihre Stimme mischte sich ein Anflug von Sarkasmus. »Wieso sollte man da auch mit mir sprechen? Aber das ist nicht der Punkt, Virginia! Deine Schwester hat ihre eigene Entscheidung getroffen, und auch wenn sie diese Entscheidung mit dem Leben bezahlt hat, sollten wir das respektieren. Sie wusste, was sie erwartet, oder Azrael?«

»Sie wusste, dass es gefährlich werden würde, ja.«

»Ich verzeihe dir trotzdem nicht, dass du sie nicht aufgehalten hast«, erwiderte Melissa verbittert.«

»Das kann ich dir nicht verdenken, mir geht es genauso.

»Trotzdem«, sagte sie wieder an ihre Tochter gewandt, »hat Cathryne ihr Leben nicht umsonst hergegeben. Du bist hier, Virginia. Und wenn ihr Tod nur eine gute Sache hat, dann die, dass du hier bist.«

»Ich wäre lieber tot als …«

Mit einer schnellen Bewegung, die alle Anwesenden überraschte, hatte Melissa ihrer Tochter eine Ohrfeige verpasst. Doch kaum hatte sie realisiert, was sie getan hatte, trat Melissa einen Schritt zurück und hielt die Hand, mit der sie gerade ihre Tochter geschlagen hatte, vor den Mund.

»Virginia … ich …das war …«

Sunael blickte ihre Mutter an, doch nicht wütend oder hasserfüllt. Dann schüttelte sie sich einmal, und lachte.

»Danke, Mum, das habe ich gebraucht.« Sie legte den Kopf in den Nacken und seufzte. »Wir können nichts für Taliel tun, soviel steht fest.«

Sie hielt inne und blickte dann Azrael an.

»Aber du schon!«

Azrael blickte von Melissa zu Sunael und wieder zurück. »Ich?«

»Du bist ein Todesengel!«

»Du auch«, erwiderte Azrael kühl.

Sunael blickte ihre Mutter an. »Okay, für die nicht-Engel im Raum erkläre ich das jetzt zum Mitschreiben.«

Melissa kratzte sich am Kopf. »Ihr seid Todesengel, ihr geleitet Seelen ins Jenseits. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Ich bin nur ein Mensch, aber ich bin nicht blöd, Virginia!«

Azrael räusperte sich. »Das ist zum Teil korrekt, aber offenbar herrscht bei den Menschen eine falsche Vorstellung davon, was wir wirklich tun.«

Er faltete die Hände und drückte die Daumenspitzen gegeneinander.

»Wir sind keine Seelensammler, haben keine Sense und keinen schwarzen Umhang. Wir sind nicht für Tod und Leid verantwortlich, wir haben keine Kontrolle darüber, wann jemand stirbt, auch wenn wir bei jeder Seele ihr Todesdatum erkennen können, wobei auch das nicht immer zutrifft. Unfälle, Selbstmorde, Verbrechen, all das, sehen wir nicht, wir sehen nur, wann eine Seele auf natürlichem Wege ihren Körper verlassen würde. Aber ich schweife ab.«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.

»Als Todesengel haben wir die Fähigkeit, ins Jenseits zu reisen. Eine Fähigkeit, die wir nur sehr selten und nur in ganz besonderen Notfällen anwenden. Besonders für Taliel war es nicht leicht, denn sie traf dort eine Freundin, Stella Baker. Ich gehe recht in der Annahme, dass du sie kennst?«

»Ja, sie war Sunaels feste Freundin, wieso?«

»Ein unbedeutendes Randdetail. Die Sache ist die: Taliel und ich gehören einer anderen Sorte Todesengel an. Wir können Dinge, von denen ihr Menschen nur zu träumen wagt, zu denen ihr jedoch nie in der Lage sein werdet. Wir Todesengel können manchmal, unter ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen, die Toten zum Leben erwecken.«

Melissa schüttelte den Kopf. »Moment, bitte nochmal langsam.«

»Es gibt Situationen, in denen wir Tote zurück ins Leben holen müssen. Getötete Engel, die wichtige Informationen haben, oder Menschen, die mit Dämonen in Kontakt gekommen sind. Allerdings ist es sehr riskant, die Wahrscheinlichkeit, dass der wiederbelebte Engel oder Mensch dem Wahnsinn verfällt, ist sehr hoch, weshalb wir es um jeden Preis vermeiden, oder aber die Zeit der Wiederbelebung so kurz wie möglich halten. Vier, fünf Minuten, danach ist derjenige wieder tot. Auch Taliel muss diese Kraft kontrollieren können.«

»Nur deshalb war es ihr möglich, mich wieder zu beleben«, bestätigte Sunael.

Melissa begriff, was Azrael ihr sagen wollte.

»Du sagst, du kannst die Toten wiederwecken?«, fragte Melissa.

Azrael nickte.

»Dann tu es«, forderte Melissa. »Hol meine Tochter zurück. Mir ist egal, ob du dafür in der Hölle landest. Es ist deine Schuld, dass sie tot ist. Du hättest sie aufhalten müssen, das ist deine Pflicht als Lehrer und Freund.«

»Das kann ich nicht«, sagte Azrael.

»Du wirst es sofort tun, oder …«

»Oder was?« Azraels Stimme war keinesfalls bedrohlich, aber sein bestimmter Ton ließ Melissa augenblicklich verstummen. »Ich kann deine Wut verstehen, Melissa. Die Wut einer Mutter ist die gefährlichste Waffe. Aber auch diese Waffe ist gegen mich wirkungslos, verstehst du? Niemand liebt Taliel so wie du als Mutter, nicht einmal ich. Was bringt es uns aber, wenn Taliel wieder hier ist, aber nur noch ein sabberndes Etwas ist, das in der Ecke vor sich hinvegetiert?«

Sunael seufzte: »Mum, Azrael hat recht. Selbst wenn er Cathryne aus dem Jenseits zurückholen kann, niemand weiß, ob sie dann überhaupt noch unsere Cat ist. Es ist nicht leicht, aber ich fürchte, wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass sie ihr Leben für mich geopfert hat. Und auch wenn es makaber und völlig würdelos klingt, aber ich bin stolz auf meine Schwester, und ich hätte an ihrer Stelle das gleiche getan!«

Melissa senkte ihren Kopf.

»Vielleicht hast du recht.«

 

 

***

 

 

Danach schwiegen sie eine ganze Weile. Die Situation war zu schockierend für alle Beteiligten, und jeder musste erst einmal verarbeiten, was Azrael ihnen gerade offenbart hatte.

Ein lautes Klopfen ließ alle zusammenzucken. Kurze Zeit später trat Michael ein.

»Entschuldigt die Verspätung, ich hatte noch etwas zu erledigen.«

Er ließ sich neben Azrael auf einem Stuhl nieder und legte die Mappe auf seine Knie.

»Sunael, du siehst gut aus.«

»Danke«, sagte sie, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Sie wissen es«, sagte Azrael leise. Er war neben Michael getreten.

»Ich habe ihnen bereits erzählt, dass Taliel …«

»Verstehe«, antwortete Michael ebenso leise. Dann wandte er sich an die Runde.

»Ich möchte an dieser Stelle mein Beileid ausdrücken. Ein Leben für ein anderes. Ein schrecklicher Tausch.«

Michael räusperte sich. »Wir können es leider nicht ändern. Selbst wenn wir wollten, ein Sturm zieht auf, und wir müssen uns darauf vorbereiten. Und jeder von uns muss seine Aufgaben erfüllen.«

Er runzelte die Stirn.

»Das bedeutet, dass wir alle erst einmal die Vergangenheit aufarbeiten müssen. Taliel und Melissa waren ja bereits dabei, und wir haben einiges erfahren. Doch leider ergeben sich für jede Antwort neue Fragen. Und obendrein ist Ridael verschwunden. Wir haben also an allen Ecken und Enden Probleme.«

»Ridael ist fort?« Melissa blickte Michael entgeistert an.

»Er hat sich aus dem Staub gemacht, kurz nachdem Taliel auf Uriel losgegangen ist.«

Melissa senkte den Kopf. »Mistkerl«, zischte sie leise.

»Wie dem auch sei«, sagte der rothaarige Engel, »Melissa, es gibt einiges, dass wir nicht verstehen. Wir haben etwas gefunden, und es betrifft dich. Es würde uns freuen, wenn du uns hilfst, dieses Rätsel zu lösen.«

»Nur zu gerne«, sagte sie, »solange ER hier bleibt.« Sie deutete auf Azrael. Dieser nickte nur.

»Mum!«, maßregelte Sunael ihre Mutter. »Jetzt mach aber mal einen Punkt. Wenn du auf jemanden wütend sein willst, dann auf mich. Ich habe damals geahnt, dass etwas passieren würde, und ich habe alles dafür getan, dass Taliel mich wieder ins Leben zurückholen kann. Ich habe mein eigenes Leben dafür riskiert, um überhaupt die Chance zu haben, zurückkehren zu können. Also bitte, Mum, sei nicht wütend auf Azrael, sondern auch auf mich.«

Melissa fixierte Azrael für einige Sekunden, ehe sie sich ihrer Tochter zuwandte.

»In Ordnung, Virginia. Also, worum geht es Michael?«

»Ich würde es gerne mit dir unter vier Augen bereden, wenn das okay ist.«

»Mach doch nicht so ein Geheimnis daraus«, protestierte Auriel. »Es geht uns auch etwas an.«

»Tut mir leid«, entgegnete Michael kühl. »Aber in diesem Fall muss ich dich leider erst einmal da raushalten.«

»Dann würde ich wenigstens gerne wissen, was los ist«, mischte sich Sunael ein. »Sie ist meine Mutter.«

Michael ließ einen tiefen Seufzer vernehmen. »Habt ihr eigentlich alle Tomaten in den Ohren? Ich sagte ›unter vier Augen. Das heißt, nur Melissa und ich!«

Seine Stimme war mehr ein tiefes Grollen.

»Ich habe nichts dagegen«, versuchte Melissa die Situation zu beruhigen.

»Gib‹ dir nen Ruck.« Azrael hatte sich bis eben aus der Diskussion herausgehalten, jedoch hielt er es für das Beste, wenn zumindest Sunael bei dem Gespräch anwesend war.

»Melissa, Sunael, mitkommen. Auriel, du wirst nicht lauschen, verstanden. Gabriel und Azrael tragen dafür Sorge. Solltest du irgendwas versuchen,…«, er blickte die beiden an, »schneidet Ihr ihr die Ohren ab.«

Auriel wollte zum Protest ansetzen, doch Michael funkelte sie nur böse an, sodass sie sich still auf das Sofa setzte und den Kopf auf ihren Händen abstützte.

»Gut«, sagte er. Auriel hatte verstanden. Er ging voran und blieb einige Meter von Auriels Quartier entfernt stehen. Die Straßen waren nach der Kriegserklärung wie ausgestorben. Viele Unterschüler hatten sich in ihren Quartieren verschanzt, als rechneten sie jede Sekunde mit einer Invasion. Die erfahreneren Engel, die kurz vor dem Ende ihrer Grundausbildung standen, hatten zwar ihre Türen geschlossen, aber saßen, soweit Michael es durch die Fenster erkennen konnte, auf ihren jeweiligen Sitzgelegenheiten, so entspannt, wie die Situation es eben zuließ.

Sunael und Melissa hatten den rothaarigen Engel eingeholt.

»Was ist los?«, wollte Melissa wissen.

»Taliel hat kurz vor ihrem … Tod einige interessante Dinge herausgefunden.«

Er blickte sich hektisch um, als befürchtete er, Auriel würde sich doch nicht an seine Anweisung halten.

»Es ist verdammt kompliziert, und selbst ich kann es nicht überblicken.«

»Du stammelst wirres Zeug«, entgegnete Sunael maßregelnd. »Beruhige dich erstmal.« Wenn sie gewusst hätte, dass sie es nicht bereute, hätte sie Michael in dieser Sekunde an den Schultern gepackt und geschüttelt.

Michael holte tief Luft, sortierte seine Gedanken und fing von vorne an.

»Wir haben vor wenigen Stunden Zugang zu Metatrons Büro erlangt. Er war mit einem ziemlich mächtigen Bannkreis versiegelt, aber wir konnten das Siegel brechen und uns Zutritt verschaffen. Wir wissen noch nicht, was wir von dem halten sollen, das wir gefunden haben. Entweder es ist eine böse Falle, oder Metatron hat sehr eilig und überhastet sein Büro geräumt.«

»Warum?«, fragte Melissa.

»Wir haben Hinweise auf eine versteckte Bibliothek gefunden. Außerdem etliche Notizen, mit denen wir bisher nichts anfangen können. Kryptische Symbole, die uns unbekannt sind. Wir hoffen, dass wir mit unseren Recherchen weiterkommen, wenn wir wissen, wo sich diese Bibliothek befindet.«

»Gut, aber weshalb wolltest du mit Melissa sprechen?«

»Richtig, Melissa. Wir haben auch hier Material in Metatrons Büro gefunden, das uns stutzig werden lässt. Noch dazu die Akte, die Rafael über dich gefunden hat.«

»Akte?«, fragte Melissa verwundert. »Wieso existiert eine Akte über mich? Ich meine… als Kind hat meine Mutter mir immer erzählt, dass Gott über jeden Menschen Buch führt …«

Michael zischte belustigt.

»Nicht solche Art von Akten. Eigentlich mischen wir uns in die Angelegenheiten der Menschen überhaupt nicht ein, und wenn überhaupt wäre das Sache der Todesengel.« Er überreichte Melissa die Aktenmappe. »Schau selbst, dann wirst du verstehen, weshalb ich so irritiert bin.«

Melissa fuhr mit den Fingern über die Schrift. Sie war handverfasst, mit Tinte geschrieben. Melissa Bennett, geb. Wilcomb. Aktenzeichen EDU24-19-2X4.

Wollte sie den Inhalt wirklich kennen? Ihre innere Stimme hielt sie davon ab, die Mappe aufzuklappen, flehte sie regelrecht an, Michael den Ordner zurückzugeben.

Ihr Unterbewusstsein sperrte sich dagegen. Sie stand regungslos da und starrte auf das Aktenzeichen, als würde es irgendetwas in ihr auslösen, eine Erinnerung, ein Gefühl, irgendeine Regung. Aber natürlich passierte nichts. Sie kannte die Akte nicht, wusste nicht, weshalb sie existierte, und ihr war nicht wohl dabei, den Inhalt zu ergründen.

»Ich kann nicht«, sagte sie schließlich und hielt ihrer Tochter die Akte hin.

»Und ich will nicht.« Sunael war sichtlich überfordert mit der Situation.

»Und ich darf nicht«, sagte Michael belustigt. »Und jetzt stehen wir hier und schweigen uns an.« Er legte Melissa eine Hand auf die Schulter. »Komm schon, egal was da drin steht, wir sind hier, wir sind für dich da.«

Widerwillig nahm Melissa die Akte. Sie kämpfte mit sich, zwang sich, die Akte aufzuklappen.

Kapitel 2

 

»Sekunde mal«, sagte Sunael, noch ehe Melissa sich dazu durchgerungen hatte, einen Blick in ihre Akte zu werfen.

»E.D.U.? Das ist doch die Earth Defense Unit. Was haben die mit der Sache zu tun?«

»Genaueres wissen wir auch nicht, aber Raphael und ich sind zufällig über einige Notizen gestolpert, die auf diese Akte hindeuteten. Als wir sahen, wem sie gehört, oder besser gesagt, um welche Person es sich handelt, bin ich umgehend hierhergekommen. Der Inhalt ist äußerst interessant.«

»Also hast du sie schon gelesen?«

»Natürlich, ich bin doch so neugierig. Aber es ist wichtig, dass auch du sie liest, Melissa. Wir haben die Hoffnung, dass es vielleicht irgendetwas in dir auslöst, ähnlich wie es bei Taliel ist.«

Sunael zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts.

»Okay, bevor ich da reinlese, gestatte mir eine Frage. Wer oder was ist die E.D.U.?«

»Die Earth Defense Unit«, mischte sich Sunael ein. »Stell es dir vor wie den Scotland Yard der Engel. Wann immer es auf der Erde zu einem widernatürlichen Ereignis kommt, in das Engel oder Dämonen verwickelt sind, werden Mitglieder der E.D.U. entsandt, um zu ermitteln, was passiert ist. Das können ganz einfache Fälle sein, wie eine Familie, die von Dämonen heimgesucht wird, über Menschen, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, bis hin zur Suche nach Engelsseelen.«

»Das heißt, die E.D.U. hat nach Taliel gesucht?«

»Ja und nein. Taliel war aus irgendeinem Grund besonders wichtig für Metatron, weshalb Michael und die anderen es selbst in die Hand genommen haben.«

»Die Tatsache, dass es über dich eine Akte gibt, Melissa, ist nichts Besonderes«, schaltete sich Michael ein. »Wir haben über viele Erdenbewohner Akten angelegt, weil sie im Laufe ihres Lebens mit, wie Sunael es so schön ausgedrückt hat, ›widernatürlichen‹ Ereignissen zu tun hatten. Allerdings sind die meisten dieser Akten nicht so dick wie deine.«

Melissa seufzte. »Das heißt, ich war in etwas Besonderes verwickelt?«

»Ohne die Spannung wegnehmen zu wollen, aber es gab in deiner Vergangenheit einige sehr interessante Begebenheiten.«

Sunael stellte sich neben ihre Mutter und legte den Kopf auf ihre Schulter.

»Dann hast du wohl keine andere Wahl«, sagte sie, »bringen wir ein wenig Licht ins Dunkel.«

Melissa nickte und klappte langsam die Mappe auf.

Das Erste, was sie erblickte, war ein Foto von sich. Sie war auf dem Foto gut dreißig Jahre jünger, ihre Haare ein ganzes Stück kürzer. Sie erinnerte sich an diese Zeit. Sie war eine rebellische Teenagerin, hörte Musik von Pink Floyd oder den Rolling Stones, sehr zum Ärger ihrer Eltern.

Sie stutzte. Wer hatte dieses Foto aufgenommen? Soweit sie wusste, gab es aus dieser Zeit fast keine Aufnahmen. Ihre Eltern hatten sich stets geweigert, sie so zu fotografieren. Und auch ihre Verwandten waren wenig begeistert von dieser rebellischen jungen Frau, sodass es nicht einmal ein Familienfoto gab, auf dem sie zu sehen war.

Zunächst hatte sie ihren Stil beibehalten, doch als sie merkte, wie sehr sie ihre Eltern verletzte, änderte sich Melissa ihnen zuliebe, wurde erfolgreich in Schule und Beruf, studierte zunächst Betriebswirtschaft, brach das Studium dann aber ab – sehr zum Ärger ihres Vaters – und wurde Verkäuferin. Doch die Strenge ihrer Eltern hatte sie übernommen. Sie schämte sich nachträglich dafür, dass sie ihrer Tochter Cathryne zugemutet hatte, auf diese Schule zu gehen. Cathryne …

Betrübt schob Melissa das Foto zur Seite. Darunter kam ein Bericht zum Vorschein.

»23. August 1979, Zielperson zeigt erste Anzeichen einer außergewöhnlichen Seele. Nach Zeugenaussagen hat die Zielperson einen Dämon mit Magie vernichtet. Erste Kontaktaufnahme erfolgte vier Wochen später durch die Außeneinsatzgruppe 4 unter der Leitung von Menuel. Zielperson zeigte bei weiteren Tests jedoch keine reproduzierbaren Zeichen. Ihre Erinnerung an das Treffen wurde gemäß Anweisung 7D des Rekrutierungsprotokolls gelöscht.« Melissa schüttelte den Kopf.

»Bitte was?«

»Ich versuche mal, zu übersetzen, obwohl mir die Chiffren der E.D.U. nicht geläufig sind.«

Er tippte sich an die Stirn, als ob dies helfen würde, seine Gedanken zu sortieren.

»Also, soweit ich die Akte verstanden habe, verfolgte die E.D.U.-Einheit einen Dämon, der auf der Erde ein kleines Kind angegriffen hatte. Eigentlich ist so ein Einsatz Routine. Den Dämon aufspüren, festsetzen, vernichten. Bei diesem Einsatz kam es jedoch zu einem Zwischenfall. Und an diesem Zwischenfall bist du beteiligt.«

»Ich? Aber wie?«

»Irgendetwas brachte in dir einen riesigen Ausbruch der PSI-Energie hervor. Diese Energieform ist auf der Erde heutzutage sehr selten und meistens unterdrückt und überlagert von euren Funkwellen, Handystrahlung und Sendemasten.«

»Und das war wirklich ich? Wieso weiß ich davon nichts mehr?«

»Steht doch da, Mum. Die Erinnerungen wurden gelöscht… oder nur versiegelt, was wiederum bedeutet...«

Sunael legte ihren Zeigefinger nachdenklich an die Lippen. Nach einer kurzen Weile trat sie vor ihre Mutter.

»Schließe die Augen«, bat sie Melissa. »Ich bin nicht mehr im Training, aber ich war schon immer gut in Erinnerungsmagie.«

Michael musste sich ein Grinsen verkneifen. Schließlich hatte sie die Erinnerungen ihrer ganzen Familie derart manipuliert, dass sie bis vor einigen Wochen nicht einmal von ihrer Existenz wussten. Gerade noch rechtzeitig erlangte er seine Fassung zurück, bevor Sunael ihm einen bösen Blick zuwerfen konnte. »Das habe ich ganz sicher nicht verlernt.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Michael und kämpfte wieder gegen den Drang an, zu kichern.

»Also nur, wenn du nichts dagegen hast«, entgegnete Sunael sarkastisch.

»Sie ist deine Mutter, sie wird sich dir eher öffnen als uns.« Michael verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust.

Melissa kam der Aufforderung sofort nach. Sunael legte ihr Zeigefinger und Mittelfinger ihrer linken Hand auf die Stirn. »Konzentriere dich nur auf die Atmung. Ich werde dir helfen, dich zu erinnern. Ich werde die Mauern, die um deine Erinnerungen errichtet wurden, niederreißen, sofern es meine Mauern sind, die ich zu deinem Schutz aufgebaut habe. Gehe ganz an den Anfang. An das Erste, woran du dich erinnerst. Ich helfe dir, dich zu konzentrieren, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen.«

Melissa war in eine leichte Trance gefallen. Ihre Gedanken flossen, von Sunael geleitet, wie ein seichter Fluss dahin, ließen sich lenken und wie ein Film an die richtige Stelle spulen.

»Ich war im Park mit ein paar Nachbarskindern. Wir haben Ball gespielt und getobt.«

»War es warm? Windig?«

»Es war sonnig, aber der Wind war kalt. Ich weiß, dass meine beste Freundin Mary mir den Ball zuwerfen wollte, aber zu weit geworfen hat … ich drehte mich um, um ihn zu holen.«

»Was geschah dann?«

»Ich hörte einen Schrei, und drehte mich um. Und dann …«

»Dann ist da eine Lücke. Als hättest du etwas gesehen, was du nicht hättest sehen sollen. Jemand hat gezielt Teile von Erinnerungen gelöscht.«

»Ich erinnere mich nicht mehr.«

Sunael spürte, wie Panik in Melissa aufstieg.

»Alles gut, Mum… lass die Gedanken ziehen. Es ist okay, wenn du dich nicht erinnerst. Springen wir ein paar Augenblicke weiter, einverstanden? Was weißt du?«

»Ich sehe einen Schatten. Er umkreist Mary. Dann wird wieder alles schwarz, und als nächstes sehe ich, wie sie über mich gebeugt ist. Aber wieso? Was ist passiert?«

Sunael löste die Finger von Melissas Stirn, die zurücktaumelte.

»Alles okay, Mum?«, fragte sie.

»Nur etwas schwindelig, geht gleich wieder«, sagte sie.

Sunael wandte sich an Michael: »Zu viele Lücken. Es ergibt kein zusammenhängendes Bild. Die Erinnerungen sind gelöscht. Welcher Engel hat die Macht dazu?«

»Mir fällt nur einer ein. Aber ich wüsste nicht, welchen Grund er dazu hätte.«

»Du meinst Metatron?«, fragte Sunael.

»Richtig. Aber weder war er jemals in der E.D.U., noch würde er sich mit den Belangen der Menschenwelt abgeben …«

»Was, wenn es nicht Metatron war?«

»Woran denkst du?«, wollte Michael wissen.

»Was, wenn Mum selbst die Erinnerungen ausgelöscht hat?«

»Kein Mensch hat die Macht dazu, und selbst wenn, wieso sollte sie es tun?« Michael schüttelte den Kopf. »Völlig ausgeschlossen.«

In diesem Moment trat Azrael ins Freie. Er streckte sich, ehe er auf die kleine Gruppe zuschritt.

»Und?«

»Nicht viel«, erwiderte Michael knapp. »Aber wir haben eventuell etwas. Allerdings wurden Erinnerungen gelöscht.«

»Du meinst, sie sind blockiert«, korrigierte Azrael, doch Michael schüttelte den Kopf.

»Nein, gelöscht.«

»Das ist unmöglich.«

»Bis eben dachte ich genau dasselbe. Aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Und was heißt das jetzt?«, fragte Melissa.

»Das bedeutet, wir lassen uns etwas einfallen«, sagte Azrael ruhig. »Auch wenn du mir nicht mehr vertraust, ich möchte dir helfen.«

Melissa schnaufte nur verächtlich, als er sich an ihr vorbeischob und mit Michael gemeinsam in Richtung Academy-Gebäude aufbrach.

Gerade als sie um die Ecke biegen wollten, hielt Sunael sie auf.

»Sag mal, Azrael. Seit wann trägst du diesen Ring?«

Sie zeigte auf einen kleinen Goldring mit feinen Gravuren, den Azrael an seinem linken Ringfinger trug.

»Den? Seit ein paar Tagen. Ich dachte mir, etwas Neues könnte nicht schaden.«

»Mhm«, machte Sunael. Sie hatte das Muster schon einmal gesehen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wo. Nur eines wusste sie. Azrael verheimlichte etwas.

 

 

***

 

 

Als die Sonne bereits zur Hälfte hinter dem Horizont verschwunden war, hatte sich Michael bereits in die Arbeit gestürzt. Dutzende Aktenmappen lagen auf seinem Schreibtisch. Etliche waren mit kleinen, leuchtenden Kugeln versehen, Markierungen von bestimmten Seiten oder Textstellen, die hier an der Feathergem Academy die klassischen »Post-it«-Klebezettel ersetzt hatten. Zwischen einigen dieser Kugeln befand sich ein feiner Faden aus Licht.

»So weit, so gut«, murmelte er, »aber wo ist die Ur-Akte?«

Gabriel, der gegenüber von Michael Platz genommen hatte, brummte nur, sagte jedoch nichts weiter dazu. Auch er überflog das Gewirr aus Notizen, Vermerken und Verweisen.

Michael starrte auf die Notizen, die er sich gemacht hatte, eine Zusammenfassung dessen, was er bereits in Erfahrung gebracht hatte. Seine Gedanken drifteten ab.

Seit Horael vor wenigen Wochen durch Taliels Hand gestorben war, hatte sich etwas in ihr verändert. Die Sache mit ihrer Schwester, und die Strafe, die sie von Metatron bekommen hatte (die er aber im Eifer des Gefechts zu vollstrecken vergessen hatte), hatten etwas in ihr ausgelöst.

Bereits am Morgen hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur die vielen Schüler, die sich abgewandt und Metatrons Ruf gefolgt waren, hatten die Energie, die Schwingungen hier an der Academy verändert. Noch etwas lag in der Luft.

Während des Kampftrainings mit einer kleinen Gruppe ließ er sich immer wieder von dieser seltsamen Atmosphäre ablenken, und wurde deshalb beinahe von einem Schüler verletzt. Es gelang ihm erst im letzten Moment, den Angriff abzuwehren. Nach dem Unterricht hatte er sich in seinem Büro verkrochen, und die Tür verschlossen. Er wollte wissen, was diese Schwingungen verursachte. Erst zu spät bemerkte er, dass er diese Art von Energie bereits einmal gespürt hatte. Damals, als Auriel die größte Dummheit ihres Lebens beging.

Als hätte man den ersten Stein angestoßen, fügten sich die Gedanken und Empfindungen plötzlich zu einem Bild zusammen. Er sprang so schnell auf, dass der Stuhl mit einem lauten Knall zu Boden fiel, und rannte durch die Flure, hinaus ins Freie, wo er sich sofort in die Lüfte erhob. Der eiskalte Wind peitschte ihm ins Gesicht, schnitt und brannte in seinen Augen. Aber er musste so schnell wie möglich dorthin. Auch wenn er es noch so sehr versuchte, aber Azrael konnte sich nicht vor Michael verstecken, und wenn er ihn fände, wüsste er auch, wo Taliel sich befand. Er musste sie aufhalten!

Mit jeder Sekunde wurde ihm bewusster, dass sie ihren Plan wirklich in die Tat umzusetzen versuchte. Sie wollte Sunael wieder erwecken. Mit einem Mal ergaben die fehlende Rose auf dem Vorplatz, und ihr häufiges Verschwinden Sinn. Ihre Visionen, ihre Träume, hatten sie auf eine riskante Selbstmordmission geschickt. Auch wenn Azrael ihr zur Seite stehen würde, stünden die Chancen nicht gut. Sie würde sterben, und das musste Michael verhindern. Auch wenn sie nur ein einzelner Engel war, jetzt, nach Metatrons Kriegserklärung, kam es auf jeden Engel an.

In der Ferne erspähte er die Insel, auf der sich Azraels Versteck befand. Die Energie, die von diesem Ort ausging, hüllte Michael ein, und er musste mit aller Macht dagegen ankämpfen, von dieser Macht zurückgedrängt zu werden. Meter um Meter näherte er sich der Höhle, in der Taliel dabei war, ihr Todesurteil zu unterschreiben.

Die Magie, mit der sie es zu tun hatte, war für einen Engel ihrer Stärke und ihrer Erfahrung viel zu mächtig, und Michael konnte froh sein, wenn es noch einen Körper gab, den sie beisetzen konnten. Auch wenn er diesen Gedanken verdrängen wollte, wusste er, dass es möglich war, dass das Ritual Taliel komplett verschlingen würde.

Er erreichte die Insel, und machte sich keine Mühe, zu landen. Mit leicht eingefahrenen Flügeln glitt er durch die engen Gänge und erreichte die große Halle, in der Taliel das Ritual abhalten würde.

Er kam zu spät. Taliel lag regungslos auf dem Boden. Er versuchte, ihre Energie zu spüren, doch sie war kaum vorhanden, nicht mehr als ein letztes Glimmen am Docht einer Kerze. An ihren Armen liefen kleine, blutrote Rinnsale herab und versickerten im Stein. Ihr Gesicht war ebenso blutverschmiert. Michael schluckte. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Taliel war gestorben. Er blickte zu Azrael, der mit tiefen Sorgenfalten über seine Schülerin gebeugt war.

»Du«, knurrte Michael und wollte gerade losstürmen, als er noch jemanden entdeckte. Neben Azrael stand eine dritte Gestalt. Michael verengte die Augen zu Schlitzen, doch er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Eine eigenartige Aura umgab die Person, sodass es ihm unmöglich war, sie zu identifizieren. Erst jetzt fiel Michael auch das große Portal auf, dass in der Mitte der Halle funkensprühend rotierte.

Taliel hatte das Ritual durchgeführt und das Portal ins Totenreich geöffnet. Michael konzentrierte sich wieder auf die fremde Person. Was sie dann tat, ließ Michael auch jetzt, vier Wochen später, noch eiskalte Schauer über den Rücken jagen. Sie hielt die Hand über den leblosen Körper des jungen Engels, und ein gleißendes Licht schoss aus ihrer Hand. Michael kniff die Augen zusammen. Wer war das? Und was hatte dieses Licht zu bedeuten? Für einen Sekundenbruchteil glaubte Michael, ihr Gesicht zu erkennen.

Unmöglich, dachte er. Das helle Licht ließ jedoch nicht zu, dass Michael die Person genauer betrachtete. Michael schloss die Augen, versuchte, jemanden ganz Bestimmtes zu orten, aber das Licht schien ihm jegliche Kraft zu entziehen, seine Sinne zu vernebeln und seine Gedanken vollkommen durcheinanderzubringen.

»Verdammt«, fluchte er leise. So sehr er es auch versuchte, er konnte nicht gegen die Energie ankämpfen, die den Raum erfüllte.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, war es dunkel und still. Vorsichtig öffnete Michael die Augen. Die Gestalt war verschwunden. Und auch das Portal hatte sich wieder geschlossen. Dafür stand nun jemand anderes im Raum. Jemand, den Michael sofort erkannte.

»Sunael.« Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Taliel hatte es geschafft. Sie hatte ihre Schwester wiedererweckt.

Taliel.

Michael rannte so schnell er konnte. Azrael bemerkte nun seinen Mitstreiter und machte Platz, als der rothaarige Erzengel zum immer noch regungslosen Körper der Schülerin stürzte.

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Azrael. Die Falten auf der Stirn waren einem milden Lächeln gewichen.

»Du dämlicher Mistkerl!«, schrie Michael. »Wie konntest du es zulassen? Wenn du kein Erzengel wärst, ich würde dich auf der Stelle umbringen!«

 

 

***

 

 

»Taschentuch?«, fragte Gabriel und riss Michael aus seinem Tagtraum. Dieser blickte seinen Partner nur fragend an und fuhr mit seiner rechten Hand über seine Wange. Tränen liefen sein Gesicht herab und waren auf seine Notizen getropft.

»Scheiße!« Mit einer Handbewegung trocknete er das Papier und brachte die verwischte Tinte wieder zurück an ihren Platz. Etwas, das nur funktionierte, weil er selbst wusste, was er dort geschrieben hatte.

Dann riss er Gabriel unsanft die Taschentuchpackung aus der Hand.

»Entschuldigung«, murmelte der Rothaarige nur. »Ich war abgelenkt.«

»Das merke ich, aber wovon? Was lässt dich derart emotional werden?«

Michael senkte den Kopf. Er hatte seinem Partner nie erzählt, was in der Höhle vorgefallen war. Und auch, dass er verstand, weshalb Taliel diese unheimlich große Dummheit begangen hatte. Sie hatte Sunael nicht wiedererweckt, um ihre Schwester wieder zu haben. Sie hatte es für Auriel getan, die noch immer unter dem Verlust litt. Das hatte Michael selbst gespürt, als Auriel verzweifelt ihr eigenes Leben opfern wollte, um wieder bei Sunael zu sein.

Taliel hatte ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, damit ihre beste Freundin glücklich war. Mehr noch, damit alle Engel wieder in Frieden leben konnten.

Die Gefühle, die in den letzten Tagen vor jenem Zwischenfall von Taliel auf ihn einströmten, waren zu viel für den sonst so gefestigten und starken Erzengel. Er konnte ihre Verzweiflung spüren, ihre Liebe zu ihrer Schwester Sunael, die sie nie wirklich kannte, von der sie bis vor wenigen Wochen nicht einmal wusste. Er fühlte ihre Angst vor den Konsequenzen, der Enttäuschung ihrer Freunde und Lehrer, ihre Trauer, wieder allein zu sein und niemanden zu haben, wenn sie wirklich verbannt werden würde.

»Du dummes Mädchen«, hatte er nur zu ihr gesagt, bevor Tränen der Erleichterung wie heißes Feuer in seinen Augen brannten, und sich erbarmungslos einen Weg nach draußen bahnten. »Du dummes, tapferes, wundervolles Mädchen.«

Von all dem hatte er Gabriel nie erzählt. Und bestimmt gab es einen besseren Zeitpunkt, ihn davon zu unterrichten. Deshalb antwortete er nur knapp: »Nicht so wichtig.«

Gabriel beließ es dabei und gab seinem Freund einige Momente, sich wieder zu fangen.

»Ich habe da etwas entdeckt«, begann er schließlich, und tippte auf eine Notiz, die auch Michael bereits markiert hatte.

»Ach, ja?«, fragte dieser skeptisch.

»Nun ja, wir suchen doch immer nach Hinweisen, die in den Akten stehen, richtig?«

»Ja, natürlich, wir sind ja nicht blöd.«

»Doch, sind wir«, erwiderte Gabriel. »Warum suchen wir nicht mal nach dem, was nicht in den Akten steht?«

»Ich glaube, die stickige Luft hier drin bekommt dir nicht. Soll ich vielleicht ein Fenster…«

»Du bist echt seltsam drauf, Mike, ich meine aber etwas anderes. Was müsste in den Akten sein, wenn alles so wäre, wie es sich uns darstellt?«

»Wie meinst du das?«

»Wir haben die Akte von Melissa von der E.D.U. … wir haben auch die Akte von Taliel. Die Akte von Sunael wurde vernichtet, das wissen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Aber wessen Akte fehlt noch?«

Michael überlegte einen Moment, ehe sich seine Mine aufhellte.

»Moment mal …«

Er überflog alle Notizen.

»Aber das …«

»Wenn wir es von dieser Seite aus betrachten, stellt sich alles plötzlich ganz anders dar.«

Kapitel 3

 

Nachdem Michael und Azrael das Quartier verlassen hatten, machten sich Sunael und ihre Mutter Melissa auf den Weg zu Raphael. Sunael wusste, dass Raphael alle Hände voll zu tun hatte. Das harte Training, die Vorbereitung auf den bevorstehenden Krieg, forderte ihren Tribut. Dutzende Schüler verletzten sich, und Raphael musste alle Blessuren, Schnitt- und Schürfwunden behandeln.

Trotzdem hielt Sunael es für eine gute Idee, ihm einen Besuch abzustatten, vielleicht auch, um ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Ich …«, begann Melissa.

»Ja, Mum? Was ist los?«

»Ich habe dich noch nie … ich meine …«

Sunael blieb stehen und blickte ihre Mutter geduldig an. Beruhigend legte sie Melissa eine Hand auf die Schulter.

Melissa atmete tief durch und sortierte ihre Gedanken.

»Gott, es ist so seltsam. Ich bringe dich zur Welt, vergesse dich, und nun stehst du vor mir. Und meine ganze Welt, alles, was ich dachte, zu wissen, stellt sich als falsch heraus. Himmel, Hölle, Engel, Dämonen…. Werde ich das alles je ganz verstehen?«

Sunael lächelte. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Glaub mir, für mich ist es nicht weniger ungewohnt, meine Mutter zu sehen.«

»Es herrscht das totale Chaos in mir. Bitte, Virginia, hilf mir, dieses Chaos zu ordnen.«

»Deshalb gehen wir zu Raphael. Er kann es sogar noch besser als ich.«

»O… okay, wenn du meinst.«

Sunael warf ihrer Mutter einen prüfenden Blick zu. Irgendetwas verschwieg sie. Doch Sunael empfand es als falsch, sie danach zu fragen.

Die Krankenstation war mit unzähligen Schülern beinahe überfüllt, sodass auch Schüler aus den oberen Stufen Raphael bei seiner Arbeit unterstützen. So konnte sich der Erzengel auf die besonders schweren Verletzungen kümmern. Einem Schüler war beim Training ein Teil des kleinen Fingers abgetrennt worden. Einem anderen fehlte ein Stück des Ohrs.

Als Raphael Melissa sah, blieb er angewurzelt stehen. Für einen Augenblick war das Chaos, das um ihn herum herrschte, vergessen.

»Tsumiel«, rief er einer Schülerin zu. »Verband, Suranwurzel zur Blutstillung, und Mituskraut zur Regeneration.« Dann wandte er sich an den Schüler mit dem abgetrennten Fingerglied. »Das wird schon wieder. Aber ich warne dich vor, es tut höllisch weh. Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein.«

Die Schülerin kam wenige Augenblicke später mit dem Verbandszeug und den Kräutern und verband die Wunde.

Raphael nutzte die Pause und schritt auf Melissa und Sunael zu.

»Was führt euch denn her? Ist alles okay bei dir?«

Melissa nickte.

»Raphael, kann ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen?«

Raphael sah die Schülerin fragend an, nickte dann aber.

»Such dir nen Stuhl«, sagte er dann zu Melissa. »Das könnte länger dauern.«

Dann verließ er mit Sunael den Raum.

»Stimmt es? Du und Mum?«

»Ja«, gab Raphael zerknirscht zu. »Es stimmt. Melissa und ich sind ein Paar. Es tut mir leid.«

»Spinnst du eigentlich vollkommen? Was planst du, Raphael? Willst du unsere Mutter ins Verderben stürzen?«

»Hör zu, Sunael. Melissa ist die erste, die in mir das Bedürfnis auslöst, meine himmlische Gabe aufzugeben. Ich empfinde sehr tief für sie. So tief, dass ich für sie meine Schwingen opfern würde, okay? Ich habe bei ihr das Gefühl, mehr sein zu können als ein Engel.«

»Du redest wirres Zeug, Raphael.«

»Aber es ist so. Versteh doch, Sunael, ich habe mir das nicht ausgesucht.«

»Mir bleibt wohl nichts anderes, als es zu akzeptieren«, seufzte Sunael. »Aber versprich mir, dass du ihr nicht wehtun wirst, okay? Wenn du meine Mutter verletzt, dann schwöre ich dir, werde ich dir Verletzungen zufügen, von denen dich deine stärksten Heilkräuter nicht heilen können.«

»Ich verspreche es dir, Sunael. Ich würde mein Leben für sie opfern.«

Sunael nickte und blickte Raphael missmutig, aber verständnisvoll an.

»Gut, dann lass uns reingehen.«

Gemeinsam betraten sie das Zimmer, wo Melissa es sich an einem kleinen Tisch gemütlich gemacht hatte.

»Ist alles okay?«, wollte sie wissen. Sunael nickte nur. »Ja, Mum, es ist alles okay.«

»Ich habe ihr die Wahrheit über uns erzählt. Sie akzeptiert es.« Raphael setzte sich gegenüber von Melissa hin und sortierte einige Notizen. »Gut, kommen wir zu den wichtigen Dingen. Melissa, die Akte, die ich gefunden habe, beinhaltet einige sehr seltsame Begebenheiten. Allein die Existenz dieser Akte wirft alles über den Haufen, was wir zu wissen glaubten.«

»Es ist alles so verwirrend«, stimmte Melissa zu. »Raphael, ich glaube, ich verliere den Verstand. Es sind Erinnerungen da, die gar nicht da sein können, und es fehlen Erinnerungen, die da sein müssten.«

Raphael legte ihr eine Hand auf den Oberarm. »Hey, hey…. Ganz ruhig. Es ist alles okay.«

»Ich kann nicht mehr. Wie konnte ich meine Tochter vergessen? Und wie konnte ich vergessen, dass ich … Diese Akte …«

»Du hast sie also gelesen?«, fragte Raphael.

»Ja, und Ginny hat versucht, meine Erinnerungen zu wecken.«

»Aber sie sind weg«, warf Sunael ein. »Nicht ›verborgen gelöscht‹, sondern ›gelöscht gelöscht‹. Als hätte jemand die Erinnerungen vollständig entfernt.«

»Das ist merkwürdig. Die Akte ist auch unvollständig. Ich habe in meiner Freizeit, oder dem, was mir davon noch übrig geblieben ist, vergleichbare Akten der E.D.U. hervorgezogen. Selbst für viel einfachere Fälle ist die Akte wesentlich umfangreicher als die über Melissa. Entweder, jemand hat Berichte entfernt, oder die E.D.U. gezwungen, Beweise zu vernichten.«

»Alles deutet auf Metatron hin. Hoffentlich bekommen wir bald vollständigen Zugang zu seinen Geheimarchiven.« Sunael seufzte. Wie lange das auch immer dauern mochte.

»Wir können nur hoffen und warten«, sagte Raphael. Dann blickte er Melissa tief in die Augen.

»Ich bin für dich da, okay? Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ruf mich. Ich komme so schnell ich kann.«

»Danke«, hauchte Melissa.

»Okay, eine Sache kapiere ich aber nicht«, funkte Sunael dazwischen, und fixierte ihre Mutter. »Seit wann bist du hier? Und wieso?«

Melissa strich sich verlegen durchs Haar und warf Raphael einen Blick zu.