Taliel: Verrat - Sascha Schröder - E-Book

Taliel: Verrat E-Book

Sascha Schröder

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Beschreibung

“Wir können einander doch vertrauen, oder nicht?” Nachdem Cathryne ihr neues Leben als Taliel angenommen hat, geht der Stress erst richtig los. Im Unterricht kann sie nur mühsam folgen, Selbstzweifel blockieren ihre Fähigkeiten und ihre Mitschüler geben ihr das Gefühl, auch dort nicht Zuhause zu sein. Deshalb bekommt sie einen Schüler an ihre Seite, Horael. Dieser ist nett und charmant, und so ist es kein Wunder, dass Taliel sich nach und nach in ihn verliebt. Doch schon sehr bald findet sie heraus, dass ihre Mutter von Dämonen entführt wurde. Sie setzt alles daran, sie zu befreien. Nur mit Spezialtraining hat sie eine Chance. Mit eisernem Willen setzt sie alles auf eine Karte. Aber sie pokert zu hoch und bringt sich und alle anderen in große Gefahr….

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Table of Contents

Titel

Hinweis

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Nachwort

Charakterverzeichnis

Karte der Academy

Impressum

Claudia und Sascha Schröder

Taliel: Verrat

Die folgende Geschichte ist ein rein fiktives Werk. Die Autoren distanzieren sich hiermit ausdrücklich vom Versuch der Gotteslästerung.

Alle handelnden Personen sind rein fiktiv und beruhen auf Vorlagen der Bibel sowie auf eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

 

Wer da? in Teufels Namen. Schau, ein Zweizüngler, der für jede und zugleich gegen jede Seite seinen Meineid bereit hatte. Verrat geübt hat er genug und sich doch nicht in den Himmel gezweizüngelt.

William Shakespeare, Macbeth (Übersetzung von Friedrich Schiller)

 

Kapitel 1

 

Mit schnellen Schritten eilte sie zielstrebig durch die Haupthalle der Academy. Am liebsten hätte sie den großen Brunnen überflogen, um den Weg abzukürzen. Jedoch war den Schülern das Fliegen innerhalb des Gebäudes untersagt. So rannte sie vorbei an anderen Schülern, die sie flüchtig grüßte. Beinahe hätte sie einen Lehrkörper fast übersehen und über den Haufen gerannt. Es gelang ihr aber, zum Glück, im letzten Moment auszuweichen. Der Lehrer, den sie als ihren Elementarkundelehrer Zeruel identifizierte, rief ihr etwas hinterher, was aber nur undeutlich an ihr Ohr drang.

Sie war wütend und verzweifelt. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn, wenn sie darüber nachdachte, was sie gleich erwarten würde. Bis zur Missionsbesprechung war es noch eine Weile hin. Trotzdem war sie in diesem Moment so aufgeregt wie damals, als sie sich für Taliels Rettung freiwillig gemeldet hatte. Der Grund für ihre Nervosität war heute aber ein anderer.

Vor wenigen Tagen hatte Auriel die Nachricht erhalten, dass sie demnächst auf eine neue Mission entsendet werden sollte. Sie hatte ihrer besten Freundin noch nichts davon erzählt, in der Hoffnung, das Schicksal noch einmal abwenden zu können. Sie hatte die Missionsleitung nahezu angefleht, jemand anderen zu schicken. Nach einigen Tagen Bedenkzeit hatten sich Michael und Gabriel immerhin auf ein Gespräch eingelassen. Es war nur ein kleiner Erfolg, denn es war ungewiss, ob dieses Treffen etwas bringen würde.

Für sie war es dennoch ein Zeichen, dass die beiden Erzengel darüber nachdachten.

Nicht zu früh freuen, ermahnte sie sich selbst. Noch war das Thema nicht vom Tisch. Sie wusste, dass insbesondere Michael nicht immer mit sich reden ließ. Immer schneller rannte sie durch die dunkel geflieste Eingangshalle Richtung Ostflügel. Dort eilte sie durch den langen Gang, von dem in regelmäßigen Abständen dunkelbraune Türen in die jeweiligen Klassenzimmer abgingen. Die Lampen an der Decke tauchten den Korridor in ein warmes, gelbweißes Licht.

Schließlich stand sie vor der Eichentür, die den Ostflügel vom Lehrertrakt trennte. Letzterer war für Schüler an sich tabu. Es gab nur wenige Ausnahmen. Das Anliegen, das Auriel hatte, war eines davon.

Sie holte tief Luft, ehe sie die Tür aufstieß. Kaum, dass sie einen Spalt breit offen stand, hörte Auriel bereits eine Stimme hinter sich.

»Hey, wo willst du hin?«

Sie erschrak und blieb wie angewurzelt stehen. Er war nun wirklich der Letzte, dem sie begegnen wollte.

Die Stimme gehörte zu Uriel. Er gehörte neben Michael, Gabriel, Raphael, Azrael, Seraphiel und dem größten und höchsten aller Engel, Erzengel Metatron, zu den sieben ranghöchsten Engeln, die diese Academy leiteten und beschützten.

Sie drehte sich um und sah ihren Verdacht bestätigt.

Ein schwarzes Jackett mit goldenen Säumen, eine schwarze Hose und schwarze Stiefel. Seine aschblonden Haare zu einem Zopf gebunden, aus denen nur zwei einzelne Strähnen sein hageres Gesicht umrahmten. Auriel hatte ihm nur selten gegenübergestanden, ohne dass er diese Uniform trug. Sie konnte sich nur an einen kurzen Moment erinnern, an dem sie Uriel einmal in Kleidung gesehen hatte, die man mit viel gutem Willen als Freizeitkleidung bezeichnen konnte.

Überhaupt war dieser Erzengel für sie ein Rätsel, so unergründlich wie seine dunkelgrünen Augen, die seinem Gesicht eine eigentümliche Ausstrahlung verliehen.

Zwar war auch er Lehrer an dieser Academy, aber die Anzahl der Stunden, in denen er sie bisher unterrichtet hatte, konnte sie an einer Hand abzählen. Ihr war jedoch bekannt, dass Schüler der Stufen sechs bis neun regelmäßig mit ihm zu tun hatten. Trotzdem hatten sie keinen blassen Schimmer, was dieser Engel jenen Schülern beibrachte. Darüber hinaus sah man ihn so gut wie nie auf dem Gelände der Academy. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Sie konnte ihn nicht einmal orten geschweige denn telepathisch erreichen. Nichtsdestotrotz war er eine sehr umgängliche Person. In den wenigen Unterrichtsstunden hatte sie nicht ein einziges Mal den Eindruck von Strenge bekommen. Ganz im Gegensatz zu Azrael.

Wenn sie so darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass sich ein feines Muster zu entfalten begann. Sie konnte es nicht beweisen, aber sie glaubte, dass innerhalb der ranghohen Engel ein fragiles Gleichgewicht herrschte. Zwischen Michael und Gabriel herrschte eine Hassliebe. Die beiden waren wie Brüder. Der eine war hitzköpfig und stur, der andere besonnen und reflektiert. Sie ergänzten sich perfekt. Ähnlich verhielt es sich mit Uriel und Azrael.

Während der Todesengel ein aggressives Verhalten zeigte, war Uriel zurückhaltend und abwartend.

Und dann waren da noch Raphael und … Völlig gedankenverloren hatte Auriel nicht bemerkt, dass Uriel neben sie getreten war. Ihr Blick musste vollkommen ins Leere gegangen sein.

»Auriel, du hast es wohl sehr eilig.«

Das Mädchen nickte erschrocken. Er erinnerte sich an sie.

»Ja, du bist mir in guter Erinnerung. Eine eifrige Schülerin, die in meinem Unterricht immer vorne mit dabei war. Es hätte nicht viel gefehlt …«

Er brach ab und schüttelte sachte den Kopf.

»Was machst du hier?«

»Ich bin auf dem Weg zu Mike … ich meine Michael«, stotterte sie. Ihre angestaute Nervosität drohte, an die Oberfläche zu kommen.

»Meine Güte, beruhig dich. Nur weil du ihn bei seinem Spitznamen nennst, wird er dir nicht gleich den Kopf abreißen. Vielleicht einen Finger brechen, aber mehr nicht.«

Er lachte kurz auf, ehe er in Sekundenbruchteilen wieder ein ernstes Gesicht machte.

»Es geht um deine nächste Mission, habe ich recht?«

Er forderte sie mit einer Geste auf, ihm zu folgen. Sie gingen ein paar Schritte bis zum Treppenhaus, wo sie sich auf eine der Stufen setzten. Im Gegensatz zum restlichen Boden waren sie nicht gefliest, sondern bestanden aus einfachem Parkett.

»Ich habe von deiner letzten Mission gehört. Sie ist gut gelaufen, oder?«

»Wie man’s nimmt«, murmelte Auriel.

»Wieso zweifelst du?«, fragte er lächelnd.

»Ich weiß es nicht. Wir haben das Ziel dieser Mission erreicht, aber trotzdem fühlt es sich nicht richtig an.«

»Du hast deine Sache sehr gut gemacht. Ich fühle, dass in dir große Fähigkeiten schlummern. Vielleicht solltest du dich mal mit Seraphiel …«

Abrupt war sie aufgesprungen.

»Nein. Ich habe bereits mit ihr gesprochen. Es hat mir überhaupt nichts gebracht.«

»Du hast die Fähigkeiten in dir.«

»Trotzdem«, protestierte sie.

Uriel zuckte mit den Schultern.

»Wie du meinst. Ich kann dir nur das wiedergeben, was ich weiß. Seraphiel wartet auf dich.«

Er stand auf und trat zu der Tür, die zurück auf den Gang führte.

»Du besitzt eine größere Stärke, als du dir selbst zutraust. Es ist ein Jammer, dass du dir deiner eigenen Fähigkeiten nicht bewusst bist. Ich dachte, mein Unterricht hätte dir das klar gemacht. Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich nicht …«

Wieder brach er ab und war nur einen Moment später durch die Tür verschwunden.

Auriel schnaufte. Seraphiel war so ziemlich die Letzte, mit der sie sich treffen wollte. Sie. Das Gegenstück zu Raphael.

Sie, die in allem Zeichen sah. Die dem Glauben aufgesessen war, nichts passiere aus Zufall.

Wenn sie jedoch darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie sich während ihrer letzten Mission nicht anders verhalten hatte. Klar, es war nur gespielt gewesen. Doch die Parallelen zwischen ihrem Missions-Ich Lily Emmett und Seraphiel waren markant. Hatte Uriel vielleicht recht?

Sie seufzte.

»Ich überlege es mir«, murrte sie, bevor sie die Treppen erklomm und vor Michaels Büro stand.

Zaghaft klopfte sie an.

Ihr Herz schlug wie wild. Aus Wut und Verzweiflung, aus Nervosität, aus Angst.

Wenn sie es nicht schaffte, Michael umzustimmen, würde Taliel auf sich allein gestellt sein. Das durfte nicht passieren.

Wenige Sekunden später trat sie ein.

Das Büro hatte sich seit ihrem letzten Besuch verändert.

Zwar stand der massive Schreibtisch noch immer vor den großen Fenstern, aber statt eines weinroten Teppichs war der Boden nun mit Schieferfliesen bedeckt. Die Wände waren in einem warmen Ockerton gestrichen. Mehrere Lampen beleuchteten den Raum indirekt. An den Wänden standen hohe Bücherregale mit einer Unmenge an Büchern. Gabriel blätterte in einem der Bücher umher, blickte kurz auf, um Auriel mit einem Nicken zu begrüßen und konzentrierte sich dann wieder auf das Buch.

Neben dem großen Schreibtisch stand an der rechten Wand ein etwas kleinerer Tisch, auf welchem sich mehrere Gläser und Flaschen befanden. An der linken Wand lehnten einige Polsterstühle an der Wand.

Leise schloss sie die Tür. Kaum, dass sie die Klinke losgelassen hatte, setzte sich einer der Stühle auf magische Weise in Bewegung und glitt lautlos vor den Schreibtisch.

»Setz dich«, sagte Michael, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.

Unsicher schritt Auriel auf ihren Lehrer zu.

»Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte Michael, ohne aufzublicken und weiterhin in die Aktenmappe vertieft, die vor ihm auf dem Tisch lag.

»Zwei Jahre und vier Monate«, sagte Auriel mit zitternder Stimme.

»Sind es wirklich schon vier Monate seit Taliels Rettung?« Fassungslos schüttelte er den Kopf.

»Wie dem auch sei. Nach dieser Zeit begegnest du mir immer noch mit Angst?«

»Mit Ehrfurcht«, korrigierte sie ihn.

»Und das, obwohl ich fast einen Kopf kleiner bin als du«, schmunzelte er. Endlich sah er auf. Seine feuerroten Augen fixierten sie. Ein mildes Lächeln lag auf seinem Gesicht.

»Na los, komm schon«, forderte er Auriel freundlich auf.

Endlich nahm sie auf dem Stuhl Platz.

»Tut mir leid, wenn ich etwas zu spät bin, aber ich …«

»Du hast mit Uriel geredet. Das wissen wir bereits«, sagte Gabriel. Er setzte sich neben Michael.

»Du hast mich um dieses Treffen gebeten. Und obwohl du meine Antwort bereits kennen solltest, habe ich diesem Treffen zugestimmt. Ich hoffe, du hast gute Gründe, warum du die Mission verweigern willst.«

»Ich habe einen Grund, ja«, antwortete Auriel. »Der Grund ist Taliel.«

Michael legte den Kopf in den Nacken. »Warum war mir das klar?«, fragte er rhetorisch. »Auriel, du weißt, dass deine Aufgabe nicht darin besteht, ihr Händchen zu halten und sie durch ihre Ausbildung zu begleiten. Für so etwas haben wir Lehrer.«

»Natürlich, das verstehe ich ja auch. Aber bitte verstehe auch meine Situation. Sie ist neu hier. Sie hat hier niemanden außer mir.«

»Ich denke, wir geben ihr genug Zeit, sich zurechtzufinden«, warf Gabriel ein. »Umso wichtiger ist es, dass ich in ihrer Nähe bin!«

Von der großen Fensterfront hinter dem Schreibtisch konnte sie die gesamte Academy überblicken.

An diesem Mittag herrschte reges Treiben. Sie erkannte, wie beinahe im Sekundentakt Portale geöffnet wurden, und Engel kamen und gingen. Wie Rauchringe hingen die Tore in andere Welten in der Luft, schillernd in allen Farben des Regenbogens. Sie waren kaum wahrnehmbar und trotzdem lagen hinter ihnen Geheimnisse und Gefahren.

Nur mühsam konnte sie den Blick von diesem faszinierenden Ereignis abwenden. Auch wenn sie jetzt seit zwei Jahren hier war, musste sie sich eingestehen, dass auch sie noch immer leicht zu beeindrucken war.

»Bitte Michael, versteh doch, dass Cathryne …«

Sie besann sich auf das, was sie ihrer Freundin versprochen hatte. »… dass Taliel mich hier jetzt braucht! Sie ist gerade erst angekommen. Zugegeben, es war ihre eigene Schuld, aber sie hat bereits die Grausamkeit des Kriegs gegen die Dämonen am eigenen Leib erfahren. Ihr könnt nicht ernsthaft erwarten, dass sie alleine klarkommt. Sie braucht Freunde in ihrer Nähe, Personen, denen sie vertrauen kann!«

Sie wusste, dass es ihr nicht zustand, so mit ihren Vorgesetzten zu reden. Dennoch war es ihr in diesem Moment egal. Auch wenn sie größten Respekt vor ihren Lehrern, insbesondere vor Michael hatte, sie konnte Taliel nicht im Stich lassen. Sie hatte Angst, ihre Freundin würde mit dieser neuen Situation nicht klarkommen. Nicht nur, dass sie von heute auf morgen in eine, für sie neue Welt gebracht worden war, sie musste schon relativ schnell mit eigenen Augen erkennen, welche Gefahren diese Welt für sie bereithielt.

Sie atmete schwer. Ihr war nicht bewusst, wie sehr sie sich in Rage geredet hatte.

Michael und Gabriel hatten ihre Tiraden an sich abprallen lassen und reagiert entspannt, als sich die Gelegenheit zu einer Erklärung bot.

»Wir verstehen ja, dass du dir Sorgen um unseren Neuzugang machst, aber du bist nicht alleine für ihr Wohlergehen verantwortlich. Dieses obliegt immer noch der Leitung dieser Einrichtung. Außerdem darf ich dich daran erinnern, dass du vor zwei Jahren in exakt der gleichen Situation warst wie sie.«

Auriel holte zum Gegenschlag aus.

»Das stimmt nicht, und das wisst ihr auch. Ich habe mich freiwillig hierher begeben weil ich … weil es keinen anderen Ausweg gab als meiner Bestimmung zu folgen. Ich wurde nicht von Lucifers Gefolge angegriffen. Ich wurde nicht Zeuge, wie eine gesamte Schule in einen Winterschlaf verfällt. Ich hatte keine Freundin, die mich umbringen wollte!«

»Sie wird es überstehen«, sagte Michael lakonisch.

Auriels Lippen bebten. War Michael so ein Blödmann, oder liebte er es, sie zu provozieren?

Dann eben anders, dachte sie.

»Als ihre Vertrauensschülerin habe ich ebenfalls eine Verantwortung für sie. Wollt ihr mir das etwa absprechen?«

Michael hob beschwichtigend die Hand.

»Mitnichten. Wir denken nur, dass du nicht die richtige Person bist, quasi nicht in der Lage dazu bist, ihre Fragen zu beantworten.«

»Das ist Blödsinn!«, keifte Auriel. Sie wusste, dass sie ihre Grenzen erreicht, bereits beinahe überschritten hatte. Dennoch blieben Gabriel und Michael ruhig. Sie nahm sich vor, sich für ihre Fehlgriffe zu entschuldigen. Später.

»Möchtest du ihr erklären, warum sie eine ganze Horde Dämonen mit einem einzigen Schlag ausgelöscht hat? Hast du auch nur ein grundlegendes Verständnis für ihre Fähigkeiten, den Kräften eines Todesengels?«

Auriel öffnete den Mund für eine Antwort, doch es fiel ihr nichts ein, was sie darauf entgegnen konnte.

»Siehst du. Umso besser ist es, wenn ein Lehrer diese Aufgabe übernimmt.«

Sie hatte ihre Fassung wiedererlangt. Diese Aussage bot ihr die nächste Steilvorlage.

»Das mag ja sein. Nur wer soll das übernehmen? Der Einzige, der dafür in Frage käme, wurde von Euch ebenfalls auf eine neue Mission entsandt. Außer Azrael und Euch ist niemand in der Lage, Taliel zu helfen.«

»Eben. Genau aus diesem Grund werden wir beide uns persönlich darum kümmern.«

Eisiges Schweigen erfüllte den Raum. Michael wandte seinen Blick von Auriel ab und zog den Einsatzbefehl aus einem Stapel Dokumenten hervor.

»Du hast bewiesen, dass du als Stufe Zwei-Schülerin bereits den Anforderungen für solche Missionen gewachsen bist. Ich versichere dir, dieses Mal wird es ungefährlicher.

Du wirst einen Transport begleiten und sichern. Natürlich nicht alleine. Es handelt sich dabei um eine Waffenlieferung für einige unserer Männer, die ein von Dämonen besetztes Gebiet befreien sollen.«

»Ich habe verstanden«, antwortete Auriel schwach. Sie musste einsehen, dass es unnötig war, diese Diskussion fortzuführen.

»Mach dir keine Sorgen um Taliel«, sagte Gabriel beruhigend.

»Ich habe mich bisher noch nie geirrt. Sie ist eine starke Person, davon gehe ich felsenfest aus. Wir sollten sie nicht unterschätzen.«

»Trotzdem. Ich habe einfach Angst um sie. Sie ist …«

Auriel schluckte.

»Sie ist wie eine Schwester für mich. Sie ist zur wichtigsten Person in meinem Leben geworden. Verrückt, oder?«

Sie lachte bitter und schüttelte langsam den Kopf.

»Da lernt man jemanden kennen, und nach kurzer Zeit geht ihm diese Person schon nicht mehr aus dem Kopf.«

»Egal, wie sehr du dir Gedanken um sie machst, vergiss bitte darüber deine Aufgaben nicht.« Gabriel sah sie eindringlich an.

»Das werde ich nicht.«, entgegnete Auriel. »Ich werde meine Pflichten über alles andere stellen, wenn es darauf ankommt.«

 

Kapitel 2

 

Nach der Unterredung hatte sie lange in der großen Halle auf dem Rand des Brunnens gesessen, ihre Füße in das eiskalte Wasser getaucht und nachgedacht.

Sie konnte Michaels Standpunkt ja verstehen. Es war nicht so, dass sie ihn grundsätzlich ablehnte. Aber sie hatte allen Grund, sich Sorgen um Taliel zu machen. Die Gesamtumstände ihrer Ankunft boten genug Anlass dazu.

Als sie vor zwei Jahren hier ankam, war alles anders gewesen. Sie wusste, dass sie hierhin gehörte. Durch den Tod ihres Freundes auf der Erde hatte sie nichts mehr, woran sie sich klammern konnte. Da kam es ihr nur gelegen, dass sich zu jenem Zeitpunkt ihre Engelsseele zeigte und sie der Welt, die ihr alles genommen hatte, entfliehen konnte.

Aber bei Taliel war das anders gewesen. Sie hatte Freunde, mit denen sie sich regelmäßig traf. Ihre Mutter Melissa war stolz auf ihre Tochter. Und von einem Tag auf den anderen änderte sich dies alles.

Erst wurde Taliel in Situationen verwickelt, die sie an ihrem Verstand zweifeln ließen. Dann wurde sie von der Person angegriffen, der sie vertraut hatte und dabei beinahe getötet. Sie erfuhr, dass ihre einzige Vertraute, Auriel, ein Engel war. Und zu allem Überfluss musste sie sich damit auseinandersetzen, selbst ein Engel zu sein und ihr altes, vertrautes Leben für immer hinter sich zu lassen. »Was für ein Mist«, fluchte sie leise vor sich hin.

»Was ist los?«, hörte sie eine nur allzu bekannte, piepsige Stimme hinter sich.

»Oh nein«, murmelte sie. Man hatte sie wohl doch gehört. Vor Wut musste sie lauter geredet haben, als gewollt.

»Was machst du für ein Gesicht?«

Gut, vielleicht lag es wirklich nur an ihrer sauertöpfischen Miene. Sie versuchte ein Lächeln aufzusetzen und schaute den Ankömmling an.

Eine Frau in langen, fernöstlichen Gewändern trat neben sie. Ihre langen schwarzen Haare waren kunstvoll hochgesteckt.

»Hallo Seraphiel«, sagte Auriel. Ausgerechnet die Person, der sie nicht über den Weg laufen wollte… »Ich spüre, dass etwas nicht so geklappt hat, wie du es dir vorgestellt hast.«

»Spar dir dieses ›Ich spüre negative Schwingungen‹-Gequatsche. Du brauchst deinen sechsten Sinn nicht, deine fünf anderen reichen, denke ich, vollkommen aus.«

Der Tonfall in Seraphiels Stimme veränderte sich. »Ich verbitte mir diesen Ton. Ich gehöre zu den sieben Erzengeln, da darf ich doch etwas mehr Respekt verlangen.«

Auriel seufzte. Seraphiel war vielleicht doch die richtige Person. Wenn sie schon nicht zu Auriels besten Freunden zählte, war sie vielleicht immerhin als seelischer Mülleimer zu etwas nütze.

Der Erzengel setzte sich neben Auriel auf den Brunnenrand, mit dem Rücken zum Wasser.

»Ich werde auf eine neue Mission geschickt, obwohl ich der Überzeugung bin, dass ich hier an der Academy von größerem Nutzen bin. Taliel braucht jemanden, dem sie vertraut und der für sie da ist. Ich wäre die richtige Person. Leider sehen Michael und Gabriel das anders.«

»Denkst du, sie haben recht?«

»Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite weiß ich, dass ich Taliel nicht alle Fragen beantworten könnte. Aber auf der anderen Seite …«

»Du machst dir Sorgen, dass Taliel sozial isoliert sein könnte.«

»Ja, wahrscheinlich ist es genau das.« Auriel musste zugeben, dass Seraphiel das Problem genau erkannt hatte.

»Wie du weißt, herrscht in unserer Einrichtung das Gesetz der Liebe. Kein Engel darf einem anderen schaden. Weder körperlich, noch seelisch.«

Auriel nickte.

»Das Problem ist ein anderes. Taliel ist selbstbewusst, aber in neuen Situationen überfordert. Ihr fällt es schwer, neue Leute kennenzulernen. Und nach den Ereignissen der Vergangenheit kann ich es ihr nicht verübeln. Sie beobachtet lieber erst einmal alles und bleibt unsichtbar. Sie möchte nicht nochmal so sehr verletzt werden. Das hängt ihr immer noch sehr nach, obwohl sie es nicht zugeben will.«

»Du redest von Stella Baker, nicht wahr?«

»Taliel hat ihr vertraut und hätte dieses Vertrauen beinahe mit ihrem Leben bezahlt.«

»Aber hier kann ihr doch nichts passieren. Wir sind alle Wesen des Lichts. Wir lieben einander wie Geschwister.«

Auriel hob die Hand. »Bitte, kein Gesülze, auch wenn es der Wahrheit entspricht.«

»Du musst lernen, loszulassen. So sehr, wie du deine Lehrer respektierst, so sehr solltest du ihnen auch vertrauen.«

»Vielleicht sollte ich das wirklich …«

Das meinte sie ernst. Wahrscheinlich hatten sowohl Michael als auch Seraphiel recht, wenn sie sagten, dass Auriel nichts für Taliel tun konnte. Sie war ihre Freundin, zweifelsohne. Aber es gab außer ihr auch noch andere Schüler. Vielleicht war es wirklich an Taliel, sich zu öffnen und weitere Freunde zu finden. Sie musste einfach lernen, neu zu vertrauen.

Seraphiel war vielleicht doch keine abgedrehte Schreckschraube, wie sie zuerst angenommen hatte. Aber wenn das stimmte, geriet ihre Theorie vom Gleichgewicht unter den Erzengeln ins Wanken. Vermutlich hatte sie sich auch dort geirrt.

»Uriel meinte, ich sollte mich mit dir unterhalten. Wir beide wären uns sehr ähnlich.«

»Das stimmt.« Seraphiel ließ sich neben ihr auf den Rand nieder. »Ohne dich verletzten zu wollen, aber seien wir ehrlich. Du bist nicht gerade eine begnadete Kämpferin.«

»Ich hasse Waffen. Ich benutzte sie nur, wenn es unbedingt notwendig ist.«

»Und für die Verwaltung ist dein Potential einfach zu schade. Aber es gibt etwas, darin bist du gut.«

»In Raphaels Unterricht kann ich einigermaßen akzeptable Ergebnisse vorweisen«, bestätigte Auriel.

»Und das ist kein Zufall. In dir schlummern die Kräfte der Heilung und der Reinigung. Würdest du mir da zustimmen?«

Auriel nickte. Sie hatte bisher nur kleinere Verletzungen geheilt, aber Raphael war bisher von ihren Prüfungen mehr als beeindruckt gewesen.

»Was hältst du davon, wenn du nach deiner nächsten Mission eine Woche Sondertraining mit mir machst, damit wir schauen können, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege?«

»Gerne, was habe ich zu verlieren?«

Seraphiel nickte und erhob sich.

»Wenn du mich suchst, frag Raphael. Er weiß, wo ich mich meistens aufhalte.«

Auriel verharrte noch einen Moment reglos am Brunnenrand, ehe sie ihre mittlerweile blau angelaufenen Füße aus dem Wasser zog und abtrocknete.

Wenn sie so darüber nachdachte, gab es doch ein Gleichgewicht. Aber anders, als sie es gedacht hatte. Es waren nicht nur die Charaktereigenschaften, sondern ebenfalls die Fähigkeiten, die sich ergänzten. Und daraus ergaben sich neue Paare.

Michael und Gabriel waren wie Feuer und Wasser, soviel war von ihrer bisherigen Überlegung übrig geblieben. Doch gehörten nicht Azrael und Uriel zueinander, sondern Azrael und Raphael. Leben und Tod.

Und daraus ergab sich das Pärchen Uriel und Seraphiel. Aber welche Fähigkeiten hatte Uriel? Wie passte er ins Bild? In diesem Moment brach ihre Theorie abermals wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis sie hinter dieses Gleichgewicht kommen würde.

Als sie die Haupthalle verließ und ins Freie trat, war es bereits dunkel. Gemütlich schlenderte sie über den menschenleeren großen Platz. Der Mond stand in vollem Glanze über dem Gelände. Entfernt hörte sie ein paar Grillen zirpen. Nur wenige Schüler waren so spät abends noch auf dem Vorplatz. Die meisten waren entweder in den Quartieren oder im Händlerdistrikt.

Auriel genoss die Ruhe. Sie brauchte sie, um klare Gedanken fassen zu können. Der ganze Tag hatte miserabel begonnen und wollte einfach nicht besser werden.

Schritt um Schritt setzte sie, bewegte sich nur langsam vorwärts. Sie hatte bewusst jegliches Tempo herausgenommen. Ihr Blick fiel auf etwas Glitzerndes. Die Erinnerung versetzte ihr einen Stich, als sie begriff, was dieses Glitzern bedeutete.

Im hellen Licht konnte sie jedes einzelne Muster auf dem Boden des Platzes erkennen. In beinahe regelmäßigen Abständen unterbrach eine feingearbeitete, silberne Rose den Sandsteinboden. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie sich vorgenommen, alle Rosen zu zählen, aber nachdem sie den Platz einmal komplett auf und ab gegangen war, hatte sie bereits eine derartig hohe Anzahl an Rosen, dass sie entnervt aufgab. Später erfuhr sie, dass mehr als fünf Millionen Rosen den Platz säumten. Und auch, dass es noch genügend Stellen gab, um weitere Rosen zu platzieren.

Azrael erklärte ihr, was es mit diesen Rosen auf sich hatte. Er sagte, jede Rose stünde für einen Kameraden, der im Krieg gefallen war. Er war eine Art Mahnmal oder Grabstein, der an die Verluste erinnern sollte, die im Kampf gegen die Hölle nötig wurden. Viele dieser Engel hatte Azrael persönlich gekannt und ins Jenseits geschickt.

Als sie diese Worte begriffen hatte, stiegen heiße Tränen in ihr auf. Sie malte sich das Leid aus, dass der Kampf gegen die Dämonen über sie gebracht hatte und wie viele Engel ihr Leben in dieser Schlacht verloren haben mussten.

Erneut überkam sie bei diesem Gedanken eine tiefe Trauer, als sie sah, wie eine weitere Rose in den Boden eingelassen wurde.

»Wir haben wieder jemanden verloren?«, fragte sie den Engel, der das feine silbrige Kunstwerk an seinen Platz setzte. Tränen tropften auf den Boden und färbten ihn dunkel.

»Mhm«, gab dieser knapp zurück. »Es gab einen Überfall von Dämonen, irgendwo in Rumänien. Die dort stationierte Truppe musste ihr Lager aufgeben. Einer von ihnen … hat es nicht geschafft.«

Mit all ihrer Kraft kämpfte sie gegen die Tränen der Verzweiflung an. Es war ein aussichtsloser Krieg. Diese Dämonen waren wie die sagenhafte Hydra. Hatte man einen getötet, tauchten irgendwo auf der Welt zwei neue auf. Sie konnte nur hoffen, dass bald mehr Engelsseelen gefunden und rekrutiert wurden. Ansonsten würden die Dämonen ihnen zahlenmäßig überlegen sein.

Ein leises Schluchzen verließ ihre Lippen. Sie wollte stark sein, die Emotionen in den Griff kriegen, aber es gelang ihr nicht. Es zerriss sie innerlich. Noch größer als ihre Furcht, selbst Opfer eines Dämonenangriffs zu werden, war ihre Angst, jemanden zu verlieren, den sie mochte. Wie damals. Bevor sie mit Taliel das Quartier geteilt hatte, gab es eine andere Schülerin, die so etwas wie ihre Vertrauensperson war. Sunael war damals diejenige gewesen, die Auriel ihre Bestimmung vorbereitet hatte. Sie war für sie zu einer Freundin, einer Vertrauten geworden. Sunael stand in etwa im gleichen Verhältnis zu Auriel, wie diese ihrerseits zu Taliel stand. Nein, das stimmte nicht. Zwischen Sunael und Auriel war mehr. Eine weitere Welle heißer Trauer überrollte Auriel.

Sie hatte Sunael geliebt. Sie war Sunaels Partnerin geworden. Heimlich, aber intensiv und leidenschaftlich. Sie glaubte, immer noch Sunaels zärtliche Berührungen spüren zu können. Schon vom ersten Tag an spürte sie eine eigenartige Verbindung zwischen sich und ihrer Kameradin. Ein Gefühl, das sie zuletzt auf der Erde gespürt hatte. Anfangs hatte sie gegen diese Emotion angekämpft. Sie fühlte sich schuldig. Aber sie war sich sicher, ihr Freund hätte gewollt, dass sie ihr Leben weiterlebte. Als es zwischen den beiden zum ersten Kuss kam, fühlte sie sich zum ersten Mal wieder richtig glücklich und lebendig. Und auch Sunael veränderte sich, wurde fröhlicher. Aus diesem Grund schlug Sunael auch das Angebot aus, nach ihrer Promotion auf die Stufe vier das Quartier zu wechseln, wie viele andere ihrer Kameradinnen es getan hatten.

Aber schon bald legte sich das Schicksal wie ein seidenes Tuch über Auriel.

Ein halbes Jahr nach ihrer eigenen Einschulung und unzähligen gemeinsamen Stunden starb Sunael. Ein Dämon hatte bei einem Angriff ihre Flügel zerfetzt und ihren Körper in grauenhafterweise zugerichtet. Raphael konnte nichts mehr für Sunael tun. Azrael hatte ihre Seele ins Totenreich geleitet. Auch für sie wurde eine Rose in den Vorplatzboden eingelassen. Auriel war die Erste, die von Sunaels Tod erfuhr. Sie durfte einen kurzen Blick auf den entstellten Körper ihrer Kameradin werfen, als diese abtransportiert wurde. Sie sah sie zwar, aber sie konnte es dennoch nicht begreifen. Sunael war einfach fort. War gegangen und nahm jegliches Glück mit sich. Auriel war wieder allein. Ein weiteres Mal wurde sie zurückgelassen.

Es fiel ihr schwer, damit umzugehen, dass Sunael gefallen war. Aber mit Hilfe von Azrael und Raphael konnte sie die Trauer bewältigen, und die Vergangenheit gab ihr noch mehr Kraft, ihr Schicksal und ihre Aufgabe anzunehmen und voller Leidenschaft zu erfüllen.

Trotzdem blieb ein Fleckchen Leere in ihrer Seele zurück. Die Leere, die bereits nach dem Tod ihres Freundes klaffte, wie eine offene Wunde.

Die Liebe, die Sunael erwiderte war reiner als alles, was sie bisher kannte. Nichts konnte diese Liebe ersetzen.

Ja, sie fühlte sich zu Taliel hingezogen. Aber sie wusste, dass ihre Kameradin Gefühle für ihren Mentor Azrael hegte. Sie würde ihr Glück wiederfinden, da war sie sich sicher.

Mit den Fingerspitzen berührte sie die Rose des gefallenen Engels.

»Ich kenne dich nicht, aber ich bin mir sicher, du hast dich den Feinden gestellt, um deinen Kameraden Zeit zu verschaffen. Du bist vermutlich als Held gestorben.«

Sie erhob sich und trocknete ihre Tränen. Der Krieg hatte schon zu viele Opfer gefordert. Es wurde Zeit, dass er endete.

Mit wackligen Beinen tapste sie in Richtung der Quartiere. Sie wusste nicht, ob Taliel noch wach war. Deshalb versuchte sie, so gut es ging zu verbergen, dass sie geweint hatte. Es war ihr peinlich, Schwäche zu zeigen. Das war es ihr schon zu ihrer irdischen Zeit. Nur ganz wenige Menschen und Engel kannten die zerbrechliche, schwache Auriel. Taliel gehörte noch nicht dazu. Und das sollte vorerst auch so bleiben.

Als sie in die Gasse einbog, in der die Unterkunft lag, die sie mit Taliel bewohnte, überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie beschleunigte ihre Schritte und hatte in Windeseile die Tür erreicht. Sie wusste instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Ein Ziehen in der Magengrube sagte ihr eindeutig, dass sie vorsichtig sein musste. War jemand in das Quartier eingedrungen? Sie zweifelte nicht an ihrem Bauchgefühl. Auf ihren Instinkt konnte sie sich immer verlassen. Sie hatte ihn bereits auf der Erde entwickelt und war das erste Anzeichen dafür, dass eine Engelsseele in ihr wohnte und darauf wartete zu erwachen.

Damals wusste sie ihre Eingebungen noch nicht einzuordnen, aber nachdem sie ihr wahres Ich erkannt hatte, wurde ihr klar, was es damit auf sich hatte. Wann immer Gefahr drohte, wusste sie vor allen anderen, was zu tun war. Sofort sperrte sie die Tür auf und rannte die Treppe nach oben.

Taliel wälzte sich unruhig in ihrem Bett umher. Mit ihren Armen schien sie eine unsichtbare Macht abzuwehren. Wieder und wieder stieß sie etwas von sich. Ihr Kopf flog wild hin und her.

»Taliel!« Auriel stürzte neben ihre Freundin und packte sie an den Schultern.

»Wach auf, wach auf! Was ist los?«

Taliel öffnete die Augen und sah Auriel mit leerem Blick an. Auriel glaubte, etwas darin wabern sehen zu können.

Es dauerte eine Weile, bis sie zu sich kam.

»Alles Okay bei dir?«, fragte Auriel vorsichtig.

»Ja … ja, es ist … es ist nichts, ich hatte nur einen schlechten Traum.«

»Magst du darüber sprechen?« Auriel setzte sich neben Taliel auf das Bett und strich ihrer Freundin die Strähnen aus ihrem schweißnassen Gesicht.

»Ich war … wieder auf dem Schlachtfeld in London.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Auriel reichte ihr eine Flasche Wasser. Sie nahm einen großen Schluck.

»Aber es war anders … alle waren tot. Die Dämonen waren zu stark. Wir … wir hatten keine Chance.«

»Schhh«, machte Auriel und nahm ihre Kameradin sanft in den Arm.

»Es war nur ein Traum, okay? Es war nur ein böser Traum. Ihr habt euch gut geschlagen und die Dämonen vertrieben.«

Taliel atmete tief durch. Auriel konnte spüren, dass ihr Herz raste.

Nach dem Gespräch mit Michael und Seraphiel wusste sie, dass sie nichts ausrichten konnte. Deshalb versuchte sie, anderweitig Hilfe zu holen.

»Raphael, hörst du mich?«

Telepathisch versuchte sie, ihren Lehrer zu erreichen.

»Was ist los? Stimmt etwas nicht?«

»Taliel … ich glaube, sie hatte sowas wie einen Albtraum.«

»Das ist nicht normal«, antwortete Raphael. »Da wir Engel weder schlafen noch träumen, ist sowas eigentlich unmöglich. Bist du dir ganz sicher?« »Ziemlich«, bekräftigte Auriel.

»Dann bedeutet das, dass etwas ihre Seele belastet. Ich kann nur vermuten, dass sie der Kampf in London nicht loslässt. Bring sie morgen vor der Schule zu mir, ich werde mit ihr reden« antwortete er. Auriel atmete innerlich auf. Es fiel ihr schwer, Taliel jemandem anzuvertrauen. Aber dieses Mal gab es keine Wahl. Jetzt musste sie sie nur noch davon überzeugen, die Hilfe anzunehmen.

»Hör zu, Taliel. Ich weiß, es klingt albern, aber du brauchst Unterstützung. Psychologische Hilfe.«

»Was?«, fragte sie entsetzt.

»Was du durchgemacht hast, ist vergleichbar mit den Gräueln, die Soldaten auf der Erde durchleben. Viele von ihnen sind nach ihren Einsätzen so zerrüttet, dass sie kein normales Leben mehr führen können. Ohne die Fürsorge durch Psychologen werden sie nicht mit ihren Erlebnissen fertig. Ich bitte dich, vertrau mir.«

Widerwillig stimmte Taliel zu. »Wenn es unbedingt sein muss.«

»Mir geht es nur um dich.«

Auriel kletterte über sie hinweg und legte sich neben sie.

»Ich lass dich heute Nacht nicht mehr alleine. Es reicht schon, wenn ich das demnächst tun muss.«

»Warum?«

»Ich habe einen neuen Auftrag bekommen, eine neue Mission. In zwei Tagen muss ich abreisen. Du wirst dann die nächsten Tage auf dich allein gestellt sein.«

»Verstehe«, sagte Taliel. »Mir gefällt es auch nicht. Ich habe darum gebeten, jemanden anderes zu schicken. Aber … ich konnte nichts tun.«

»Ist schon okay«, gab sie gleichgültig zurück. »Jeder hat seine Aufgaben.«

Eine Weile schwiegen sie. Auriel dachte darüber nach, die Mission abzusagen. Sie würde sich einfach verweigern. Aber das würde nur Konsequenzen haben, die sie nicht bereit war zu tragen. Sie würde ihren Rang als Stufe zwei-Schülerin verlieren. Das alleine war nicht weiter tragisch, doch darüber hinaus musste sie sich einem Training unterziehen, das viel härter war als jeder Unterricht, den sie bisher bekommen hatte. Sie würde fliegen müssen, bis sie erschöpft vom Himmel fiel, oder so lange kämpfen, bis sie keine Kraft mehr hatte, um das Schwert festzuhalten. Eine Freundin musste diese Qualen durchstehen. Sie hatte Auriel gesagt, dass sie diese Erfahrungen bitter bereute. Und deshalb konnte Auriel ganz gut darauf verzichten.

»Na komm, ruh dich weiter aus. Ich bleibe bei dir und pass auf dich auf.«

Taliel schmiegte sich eng an Auriel und schlief nach einigen Minuten wieder ein. Die bösen Träume schienen offensichtlich nicht wiederzukommen. Auriel lächelte zufrieden und betrachtete Taliel, während diese gleichmäßig atmete.

Die Wärme ihres Körpers ließ zum ersten Mal am heutigen Tag wieder ein Fünkchen Hoffnung und Zuversicht in Auriel aufkeimen. Wenn schon Taliel Sunael niemals würde ersetzen können und niemals Auriels Liebe erwidern, würde sie trotzdem für Auriel wie eine kleine Schwester sein. Auriel genoss die Nähe ihrer Kameradin.

»Ich beschütze dich«, flüsterte sie Taliel zu. Diese nickte nur sanft, als hätten die Worte Taliels Schlaf erreicht.

 

Kapitel 3

 

Am nächsten Morgen lag Taliel noch immer eng neben Auriel. Sie hatte wie versprochen die ganze Nacht wachgelegen. Müde war sie jedoch nicht. Eigentlich musste sie gar nicht schlafen. Das war einer der Vorteile, ein Engel zu sein. Was den Menschen der Schlaf war für Engel eine reine Ruhephase, die die meisten anderen Engel beim Lesen oder einem Rundflug genossen. Sie als Engelssele legte sich jedoch aus reiner Gewohnheit jeden Abend ins Bett und verfiel in jenen schlafähnlichen Zustand tiefer Entspannung. Es war eines der wenigen Dinge, die sie an ihre Zeit auf der Erde erinnerten. Deshalb aß und trank sie auch regelmäßig, obwohl auch dies eigentlich nicht mehr nötig war. Um Taliel nicht zu wecken, stand sie mit größter Vorsicht und Sorgfalt auf. Danach wusch sie sich und deckte den Tisch.

Anschließend legte sie ihre Uniform an und wartete, bis Taliel aufgestanden war.

Diese tapste kurze Zeit später in den Wohnbereich. Ihr Haar war leicht zerzaust, aber wenigstens schien sie gut geschlafen zu haben. Freundlich lächelnd blickte sie ihre Kameradin an.

»Auriel, wegen letzter Nacht … danke.«

»Keine Ursache«, erwiderte sie fröhlich. »Dafür sind doch Freunde da.«

»Stimmt es wirklich, dass du demnächst auf eine Mission entsandt wirst?«

»Ich fürchte ja. Michael hat mir gestern unmissverständlich klar gemacht, dass ich mich auf meine Aufgaben konzentrieren soll, nicht auf dich.«

»Da kann man nichts machen«, sagte Taliel betrübt.

»Aber die Mission startet erst in ein paar Tagen. Bis dahin haben wir noch ein wenig Zeit.«

Nach dem Frühstück zog auch Taliel sich an, ehe sie gemeinsam das Haus verließen.

»Der Tag beginnt heute ganz entspannt«, sagte Auriel grinsend, als sie auf den Stundenplan in ihrer Hand schaute. Zur Sicherheit schrieb sie sich die Fächer immer in die Handinnenfläche.

»Mirael wird es wahrscheinlich ruhig angehen lassen und uns nicht so früh am Morgen schon überfordern.« Die beiden verließen das Quartier und gingen den gewohnten Weg durch die Gassen der Quartiere zum großen Platz. Dort befanden sich schon etliche Schüler, die entweder in Gespräche vertieft waren, oder sich gegenseitig über den Platz jagten.

Einen Augenblick lang veränderte sich Taliels Blick. Statt ausgelassener Stimmung sah Taliel wieder die Szenen vom Schlachtfeld vor ihrem geistigen Auge. Aus Engeln, die sich gegenseitig im Spiel jagten, wurden Engel, die mit erhobenem Schwert Dämonen nachjagten. Taliel kniff die Augen zusammen und schüttelte sich kurz in der Hoffnung, diese Vision loszuwerden.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand Auriel besorgt vor ihr.

»Alles Okay?«, fragte sie.

»Ja«, versicherte Taliel. »Mir lief es nur plötzlich eiskalt den Rücken hinunter. Aber es ist schon wieder weg.«

»Okay«, sagte Auriel. Noch immer blickte sie ihre Freundin mit gerunzelter Stirn an.

»Was ist das eigentlich für eine Mission?«, fragte Taliel, um die Situation zu entschärfen.

»Nichts was der Rede wert wäre. Ich soll einen Waffentransport eskortieren. Eine einfache Mission, verglichen mit deiner Rettung. Die Wahrscheinlichkeit, dort auf Feinde zu treffen tendiert gen null. Du wirst ebenfalls mit solchen Missionen konfrontiert, sobald du Stufe drei erreichst.«

»Wieso wirst du geschickt? Ich dachte, meine Rettung wäre eine Ausnahme. Du bist immerhin nur Stufe zwei.«

»Das stimmt, aber offenbar hat deine Rettung mir Pluspunkte eingebracht. Ich wette mit dir, es dauert nicht mehr lange, bis ich eine Stufe aufsteige.«

»Das heißt, unsere Wege werden sich bald trennen, wie?«

Taliel senkte traurig den Kopf.

»Nein, keine Sorge. Weißt du, ich habe mir dieses Quartier mit jemandem geteilt, der den vierten Rang innehatte. Es war ihre Entscheidung, mich bei sich aufzunehmen.«

»Wo ist sie jetzt?«, wollte Taliel wissen.

»Wir haben uns gestritten, und sie ist ausgezogen. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist«, log Auriel. Wieso tat sie das? Auriel wusste es selber nicht.

»Versprich mir, dass wir uns nie streiten.« Taliel hielt ihrer Freundin den kleinen Finger hin.

»Versprochen«, erwiderte Auriel und hakte ihren kleinen Finger in Taliels.

»Ich störe euch nur ungerne«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »aber ich würde gerne unter vier Augen mit dir sprechen, Taliel.«

Die beiden Mädchen drehten sich um. Vor ihnen stand Raphael. Er trug ein schwarzes Hemd und eine dunkelblaue Jeanshose. Auriel versuchte, seine Mimik zu deuten. Als Erstes fiel ihr die Sorge auf, die Raphael deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Sorge um Taliel. Doch es verbarg sich mehr hinter der Fassade. Raphael mochte ein Erzengel sein, der das tat, wofür er bestimmt war. Dennoch hatte er eine emotionale Seite, die sich in diesem Augenblick deutlich zeigte. Er wollte nicht nur mit Taliel sprechen, weil sie, Auriel, ihn darum gebeten hatte. Er hatte ein persönliches Interesse an diesem Gespräch. Er sorgte sich nicht, weil er es musste, weil es seine Aufgabe war, sich Taliel anzunehmen. Er sorgte sich aufrichtig um sie. »Du siehst gut aus«, sagte Auriel. »Verglichen mit den Klamotten, die du sonst trägst.«

Er ignorierte die Worte und blickte Taliel streng an.

»Wollen wir ein Stück spazieren gehen?«

»Von mir aus.« Sie wandte sich an Auriel. »Wir sehen uns später im Unterricht.«

Sie verabschiedeten sich voneinander und Taliel folgte Raphael. Sie gingen über den großen Außenbereich, einer Wiese mit Ausmaßen, die Taliel bisher noch nicht gesehen hatte, zum schmiedeeisernen Tor, der die Wiese vom Garten trennte.

Mit einem Ruck zog Raphael das Tor auf und bat Taliel, einzutreten.

Die Gartenanlage blühte in den schillerndsten Farben. Viele der Blumen erkannte sie auf Anhieb. Rosen, Nelken, Orchideen, alles Blumen, die sie auch im Garten ihrer Mutter schon selbst gepflanzt hatte. Aber auch einige ungewöhnliche Blumen standen in voller Blüte. Eine kleine blaue Blume, deren Blätter denen von Brennnesseln ähnelten, stach aus dem roten Farbenmeer der sie umgebenden Tulpen hervor.

Raphael bemerkte Taliels Interesse an dieser Pflanze und legte den Arm um ihre Schulter.

»Das ist eine Speerpyramonie, eine von mir kreierte Züchtung. Ihre Blätter sind gut gegen diverse Verletzungen. Allerdings sind ihre Blüten weniger hilfreich, im Gegenteil, sie sind hochgradig giftig. Ich sage allen Schülern, sie sollen nur die Blumen bewundern, die sie kennen. Gestorben ist bisher niemand, allerdings hatte ich ein paar wirklich unschöne Fälle in meinem Behandlungsraum, die diese Warnung missachtet haben.«

»Der Garten ist wunderschön.«

Sie erinnerte sich an Auriels Blick, als sie Taliels Haus zum ersten Mal sah. Damals hatte Taliel mit Auriel einen Shoppingtrip in London machen wollen, wollte aber vorher noch ihre Schuluniform gegen etwas luftigere Kleidung tauschen. Deshalb war Auriel mitgekommen. Als sie dann vor Taliels Haus standen, war Auriel überwältigt von dem Anblick. Für Taliel war es nichts Besonderes, aber Auriel konnte sich an den Blumen nicht sattsehen. Ungefähr so fühlte Taliel sich beim Anblick dieser Blütenpracht.

»Ja, tagsüber ist er das. Du hast sicherlich schon gehört, dass dieser Garten nachts zu einem Ort des Grauens und Schreckens wird.«

Sie nickte.

»Daran ist Lucifer schuld. Als er sich abwandte, verfluchte er diesen Garten. Er sagte, als Lichtbringer solle dieser Garten nur bei Licht seine Schönheit zeigen, bei Dunkelheit solle er jedoch die Hässlichkeit in uns allen zum Vorschein bringen.«

»Was meinte er damit?«, hakte sie nach, doch Raphael winkte ab.

»Bete, dass du die Antwort nie herausfinden wirst.«

Er führte Taliel zu einer Bank. Die Armlehnen waren schmiedeeisern und gleichzeitig mit feinen Details verziert. Das Holz der Lehne und der Sitzfläche war in einem dunklen braun gestrichen.

Beide nahmen ein gutes Stück voneinander Platz. Einen Moment lang schwieg Raphael. Unschlüssig, wie er das Gespräch beginnen sollte, ohne dass Taliel sofort in eine Abwehrhaltung verfiel. Er entschied sich, das Thema direkt anzusprechen.

»Auriel hat mir erzählt, dass du unruhige Entspannungsphasen hast. Stimmt das?«

»Das ist etwas übertrieben dargestellt, finde ich. Ich habe hin und wieder einen Albtraum, da ist doch nichts dabei. Den hat jeder von uns.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Raphael ruhig. »Für uns Engel ist es sehr ungewöhnlich, Albträume zu haben. Vielleicht musst du dich erst daran gewöhnen. Du bist noch nicht lange ein Engel. Also lass dir gesagt sein, normal ist es nicht.«

Er warf ihr von der Seite einen Blick zu. Ihr Blick war starr auf die Blumen gerichtet. Sie erinnerten Taliel entfernt an Lilien, jedoch waren ihre Blüten wesentlich größer. Ihre Gedanken wanderten zu Auriel. Lily. So hatte sie geheißen, als sie sie damals kennengelernt hatte. Ein naiv und schusselig wirkendes Mädchen, das sie nach und nach in eine, wie sie damals dachte, Esoteriktante verwandeln wollte. Aber schon bald stellte Taliel fest, dass sie Kräfte besaß, die kein Mensch haben konnte. So erfuhr sie langsam von ihrer wahren Gestalt und ihrer Bestimmung als Engel. Es fiel ihr schwer, es zu akzeptieren. Als dann der Angriff auf London begann, und sie sich unerlaubterweise in den Kampf einmischte, erwachten ihre Kräfte, und sie erkannte, dass sie, wie ihr Mentor Azrael, ein Todesengel war.

Raphael musste nicht erst seine Fähigkeiten einsetzen, um den Grund für diese Trance zu erraten.

»Die Geschehnisse in London, die beschäftigen dich noch«, sprach er seine Vermutung offen aus.

»Naja, ich habe damals einfach etwas getan, was ich nicht hätte tun dürfen. Was wäre passiert, wenn es schiefgelaufen wäre? Ich hätte sterben können.«

»Das stimmt. Es hätte passieren können. Aber du hattest Azrael an deiner Seite. Er ist nicht umsonst Lehrer für euer Kampftraining. Er hat zusammen mit Michael die meisten Schlachten geschlagen. Er hätte dich im Ernstfall beschützt. Er hat mehr als genug Erfahrung um die Situation zu erfassen und richtig einzuschätzen. Im Übrigen ist es mehr oder weniger seine Schuld, dass dir etwas Derartiges widerfahren ist. Er war der Ansicht, dass dies für dich ein gutes Training wäre.«

»Und ich habe auf ganzer Linie versagt.«

»Taliel, wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Wer hat die Dämonen vertrieben?«

Sie schwieg. Raphael hatte keine Ahnung, wieso. Entweder, sie konnte es nicht verstehen, oder aber sie wollte es nicht.

»Du warst es, Taliel. Du hast in diesem Moment deine wahren Kräfte entfesselt und somit den Kampf von einer auf die andere Sekunde beendet. Du hast die Dämonen in die Flucht geschlagen. Weder Azrael, noch Michael, noch all die anderen. Du allein. Aber darum geht es eigentlich auch nicht. Dein Problem ist ein anderes.«

Er rieb sich das Kinn.

»Es hätte so vieles passieren können. Aber es nützt dir nichts, wenn du dir Vorwürfe machst. Anstatt darüber zu sinnieren, was hätte sein können, solltest du diese Erfahrungen dazu nutzen, zu lernen. Was hast du aus dieser Situation gelernt? Das ist die Frage, die du dir viel eher stellen solltest.«

»Ich habe gelernt, dass ich mich aus Dingen heraushalten sollte, die mich nichts angehen. Und ich muss lernen, mich an Anweisungen zu halten.«

»Was war deine größte Angst, als du auf dem Schlachtfeld warst?«

Taliel ballte die Faust. Raphael sprach ein Thema an, dass sie liebend gerne vergessen wollte.

»Ich hatte Angst, der Situation nicht gewachsen zu sein. Ich wollte meiner Mutter helfen, wollte sie beschützen. Aber als ich durch das Portal geflogen war, erkannte ich erst, welche Dummheit ich begangen hatte. Nur gab es da kein zurück mehr.« »Deshalb hast du dich für die Flucht nach vorn entschieden.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Mir blieb nichts anderes übrig. Mein Plan war es eigentlich, mich im Hintergrund zu halten, und später zusammen mit allen anderen zurückzukehren, so, als wäre nichts gewesen. Bis Azrael mich entdeckte.«

»Er entschied sich dann dazu, dich ein wenig praktische Erfahrung sammeln zu lassen.«

»Aber ich war den Dämonen nicht gewachsen. Ich beging einen fatalen Fehler.« Sie wischte sich mit der rechten Hand durch ihr Gesicht.

»Du hast nicht das angewendet, was du in Training gelernt hattest.«

»Azrael hatte uns beigebracht, die Schwachstelle unseres Gegners zu finden und auszunutzen. Und ich bin blindlings in die gleiche Falle getappt. Das zweite Mal.«

»Der Dämon hat sich in deine Gedanken eingegraben und deine negativen Gefühle genährt.«

»Ich sah wieder die Bilder meiner Vergangenheit vor mir. Wie ich von meinen Mitschülern behandelt wurde, wie sie mich auslachten, weil ich andere Ziele hatte als sie selbst.«

»Ein einziger Moment der Schwäche reicht für einen Dämon aus, dir schweren Schaden zuzufügen.«

»Ich habe einfach Angst, dass ich immer wieder die gleichen Fehler mache. Dass ich immer wieder Schwäche zeige.«

Flehend blickte sie Raphael an. »Was soll ich tun?«

Raphael nickte. »Deine Angst öffnet den Dämonen Tür und Tor. Solange du diese Angst nicht überwindest, passiert genau das, wovor du dich fürchtest. Du musst deine Schwachstellen verstecken. Um diese Angst zu überwinden, musst du deine Gefühle im Griff haben. Ein erster Schritt wäre es, dich mit deiner Vergangenheit auszusöhnen und loszulassen.«

Er machte eine kurze Pause.

»Azrael hat mir ein Geheimnis anvertraut. Bitte sei nicht sauer auf ihn. Er macht sich einfach genauso Sorgen um dich wie Auriel. Azrael besitzt als Todesengel gewisse Fähigkeiten, die denen von Dämonen sehr ähnlich sind. Diese Fähigkeiten sind für ihn als Todesengel sehr nützlich. Die meisten anderen Engel sind jedoch froh, nie mit diesen Kräften in Kontakt zu kommen. Für Todesengel und Dämonen ist es ein Kinderspiel, andere zu manipulieren. Gefühle und Gedanken sind für einen Dämon nicht mehr als nur Spielfiguren, die er beliebig umsetzen kann, wie er es gerade braucht. Er kann in deine intimsten Gedanken eindringen und deine dunkelsten Geheimnisse ans Licht bringen. Das macht Dämonen so gefährlich, denn sie können uns dort treffen, wo wir am verwundbarsten sind. Du kannst lernen, dich gegen diese Beeinflussung zu stellen, sie abzublocken. Aber das erfordert Training.«

»Ich bin doch auch ein Todesengel. Das heißt, ich habe die gleichen Fähigkeiten?«

»Prinzipiell ja. Du musst wissen, dass du als Todesengel die spirituelle Brücke zwischen Himmel und Hölle bildest. Du wirst zu gegebener Zeit lernen, was das bedeutet, und wie du daraus Vorteile ziehen und Nachteile ausblenden kannst.«

Taliel atmete erleichtert auf.

»Um dem Dämon Einhalt zu gebieten, hat auch Azrael sich in deinen Geist gegraben. Bitte verurteile ihn nicht dafür. Er wollte dich beschützen. Er wollte deine intimsten Gedanken vor dem Dämon abschirmen, damit er sie nicht gegen dich verwenden kann. Aber dadurch hat er Dinge erfahren …«

Taliel lächelte schief. Sie begriff noch nicht ganz, worauf Raphael hinaus wollte.

»Azrael hat mir von den Kränkungen erzählt, die dir angetan wurden. Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie grausam und verletzend Menschen sein können. Azrael war zutiefst erschüttert darüber, wie deine Klassenkameraden mit dir umgegangen sind. Ich glaube, auf der Erde nennt ihr es ›Mobbing‹. Ganz gleich, wie sehr es dich verletzt hat, und ich bin mir sicher, das hat es, aber du bist nicht davongelaufen und hast dich versteckt. Dass du dich der Situation gestellt hast, beweist, wie stark du bist. Schon warst, bevor du erwacht bist. Du bist nicht weggelaufen, du bist kein Feigling. Du bist eine starke Person. Du musst es nur noch für dich selbst begreifen.«

Raphael schaute Taliel fest und entschlossen in die Augen, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu geben. Taliel musste einfach begreifen, dass sie nicht so war, wie sie sich selbst sah.

»Aber wie kann ich stark sein, wenn ich Fehler mache und mich von so einem blöden Dämon überrumpeln lasse?«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wärst du ein Feigling, hättest du dich an die Anweisungen gehalten. Versteh mich nicht falsch, es war nicht richtig, dich zu widersetzen und du hast dich in große Gefahr begeben. Aber trotzdem bewundere ich deinen Mut. Du wolltest helfen und hast dabei begriffen, wer du bist und was deine Bestimmung ist. Das, Taliel, das ist Stärke. Dir war es in dem Moment egal, in welche Hölle du dich begibst. Als du den Entschluss gefasst hast, zu helfen, warst du mutig und stark. Alles, was dir fehlte, war die Kampferfahrung. Aber die innere Stärke hattest du schon vorher. Halte dir diese Tatsache bitte immer vor Augen.«

Raphael erhob sich.

»Ich kann dich nicht von deinen Albträumen befreien, so gern ich es tun würde. Das kannst du nur selbst. Aber wenn du für dich selber begreifst, dass du stärker bist, als diese Dämonen, wirst du dich im Kampf nie wieder so leicht austricksen lassen. Du wirst dich ihnen in den Weg stellen und kämpfen. Alles, was du brauchst, lernst du hier. Trotzdem ist ein Kämpfer erst richtig stark, wenn er seine innere Stärke zu seinem Vorteil nutzt und auch weiß, wo seine Schwächen liegen«

Er ging ein paar Schritte und wandte sich ein letztes Mal um.

»Im Übrigen liegen Mut und Wahnsinn oft nah beieinander. Kolumbus, Galilei, Luther. Alle wollten sie beweisen, dass das vorherrschende Weltbild nicht der Wahrheit entsprach. Sie wollten aufklären und den Menschen ihr Wissen vermitteln. Das war einerseits sehr mutig, aber andererseits sehr gefährlich. Dennoch waren sie davon überzeugt und standen für ihre Sicht auf die Dinge ein und veränderten so den Lauf der Geschichte. Sie haben der Menschheit neue Perspektiven und Ansichten gegeben. Nur durch ihren Mut und Wahnsinn, Taliel.«

Er war aufgestanden.

»Falls du noch Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest. In erster Linie ist es aber jetzt an dir, mit der Vergangenheit abzuschließen.«

Er ließ Taliel allein zurück und schritt durch das große Tor.

Sie blieb noch ein paar Minuten auf der Bank sitzen und ließ Raphaels Worte auf sich wirken. Die Worte brachten sie zum Nachdenken. Alles was er sagte klang nachvollziehbar und ehrlich. Das, was Raphael ihr gesagt hatte, erreichte ihr Inneres. Es war vollkommen sinnlos, darüber nachzudenken, was alles hätte schieflaufen können. Aber wenn sie es sich genauer betrachtete, hatte sie es nicht getan, um die große Heldin zu spielen. Es ging ihr einzig und allein um ihre Mutter. Nur für sie hatte sie sich in diese Gefahr begeben. Und was hatte ihr das gebracht? Sie hatte die Dämonen vertrieben. Aber ansonsten hatte sie alles verloren. Ihr Selbstvertrauen, ihren Mut. Sie war verletzt worden, war den anderen zur Last gefallen und hatte alle anderen ebenfalls in Gefahr gebracht. Da konnte Raphael noch so oft betonen, dass Azrael ihre Sturheit für eine Trainingsstunde benutzt hatte. Es änderte nichts an der Tatsache, dass sie die Situation unterschätzt und sich selbst überschätzt hatte. In einem Punkt jedoch stimmte sie Raphael zu. Sie konnte nur daran arbeiten, dass ihr ein solcher Fehler nicht mehr passierte.

Mit gemischten Gefühlen machte sie sich auf den Weg zum Unterrichtsraum. Die Gänge waren verlassen. Offenbar hatte die Stunde bereits begonnen. Sie war zu spät.

»Mist«, fluchte sie leise. Es würde Ärger geben, da war sie sich sicher.

Hastig stieg sie die Treppen hinauf und geriet dabei mehrmals ins Straucheln, weil sie in der Hektik auf den Saum ihres Gewands trat oder die Treppenstufe verfehlte. Als sie endlich die Tür erreicht hatte, war sie außer Atem. Sie beruhigte sich einige Sekunden lang, ehe sie die Tür aufzog und sich leise in den Klassenraum schlich.

Der Telepathieunterricht war bereits in vollem Gange. Glücklicherweise war der Platz neben Auriel frei, sodass sie sich zügig setzen konnte.

Beinahe hätte Taliel geglaubt, Mirael hätte nicht mitbekommen, dass sie zu spät gekommen war. Aber sie wurde eines Besseren belehrt.

»Warum ist es so schwierig, Engelsseelen zu finden, Taliel?«

Mirael hatte sie eiskalt erwischt. »Ähm …«, war das Einzige, was sie hervorbringen konnte.

»Falsch, aber danke, dass du mitgespielt hast.«

Gelächter in der Klasse. Taliel senkte beschämt den Kopf.

»Zunächst sollten wir einmal definieren, wie sich Engelsseelen von menschlichen Seelen unterscheiden. Nennt mir mal ein paar Anhaltspunkte, woran ihr festmachen würdet, ob es sich um eine Engelsseele handelt oder nicht.«

Auriel meldete sich.

»Oft haben diese Menschen besondere Fähigkeiten. Sie können Gedankenlesen, haben Visionen oder mit etwas Glück beherrschen sie die Telekinese.«

»Das stimmt, allerdings gibt es auch Menschen, die so etwas können, ohne auch nur ansatzweise ein Engel zu sein«, entgegnete Mirael. »Aber bestimmt nicht so gut«, sagte ein anderer Schüler.

Mirael fixierte ihn mit ihrem Blick.

»Ich würde es begrüßen, wenn du dich das nächste Mal melden würdest, bevor du eine richtige Antwort gibst, Risael.«

»Tut mir Leid, ist mir einfach so rausgerutscht.«

»Schon gut. Aber es stimmt«, sagte sie an die Klasse gewandt.

»Der Unterschied besteht nicht allein in dem Besitz von irgendwelchen Fähigkeiten. Es gibt durchaus Menschen, die übernatürliche Begabungen haben. Vielmehr ist es so, dass es Engelsseelen leichter fällt, sie zu erlernen. Mehr noch, die Fähigkeiten sind, wie Risael richtig anmerkte, stärker ausgeprägt.«

Taliel dachte an die Busfahrt, bei der sie von Auriel die Kunst der Telepathie erlernt hatte. Es war ihr wirklich sehr leicht gefallen. Rückblickend ergab es ja auch Sinn.

»Aber es ist trotzdem nicht so leicht, Engelsseelen ausfindig zu machen. Wir hatten bisher oft sehr große Probleme.«

Risael erhob erneut die Hand.

»Aber für die Engelsseelen muss es doch auch Anhaltspunkte geben, dass irgendetwas nicht stimmt. Woher wissen sie, ob sie Engelsseelen sind oder nicht?«

»Nun, auch diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten.«

Taliel meldete sich.

»Es ist unmöglich, für eine Engelssele, sich selbst der Bestimmung bewusst zu werden. In bestimmten Situationen jedoch kann es durchaus dazu kommen.«

»Was meinst du damit?«, fragte Mirael interessiert.

»Zwei Jahre bevor … bevor ich … bevor Auriel mich hierherbrachte, gab es ein Erlebnis. Ich kam spät abends mit meiner Mutter nach Hause. Wir stellen fest, dass unser Haus durchwühlt worden war. Wir dachten an Einbrecher, aber kurz darauf sah ich ein Mädchen. Ich wollte meine Mutter rufen, aber das Mädchen war bereits verschwunden. Als ich später am Abend zu Bett ging, versuchte das Mädchen, mich umzubringen. Sie erzählte mir, sie sei ein Geist. Beinahe wäre ich von einer Glasscherbe aufgeschlitzt worden …«

Sie erschrak über das Wort. Aufgeschlitzt.

So rede ich doch sonst nicht, dachte sie, schenkte dem jedoch keine weitere Beachtung und fuhr fort.

»Kurz bevor es dazu kam, erwachte meine Engelsseele, geleitete den Geist ins Licht und versuchte, mit mir Kontakt aufzunehmen. Aber mein eigenes Ich wehrte sich dagegen, und so kam es, dass ich jedes Mal, wenn ich meinem wahren Ich zu nahe kam, das Bewusstsein verlor. Den Rest kennt ihr ja.«

Auriel blickte ihre Freundin mit krauser Stirn an. Es war das erste Mal, dass sie diese Geschichte hörte. Aber die Art und Weise, wie sie sie erzählte, passte so gar nicht zu ihr.

»Taliel, was du gerade erzählt hast, ist sehr ungewöhnlich. Mir sind nur eine Handvoll solcher Fälle bekannt, in dem die Engelsseele derart in das Leben der menschlichen Seele eingegriffen hat.«

Mirael lehnte sich gegen das Pult und kratze sich an der Stirn. »Wir benutzen den Begriff ›Engelsseele‹, als wäre es eine zweite Seele. Dabei ist die Engelsseele nichts anderes als der übernatürliche Teil einer Seele. Menschliche Körper sind sehr fragile Gebilde, die die ganze Energie nicht verkraften würden. Deshalb spaltet eine Engelsseele einen kleinen Teil von sich ab und legt sich selbst in eine Art Winterschlaf. Der Mensch lebt ganz normal auf der Erde und nimmt mit etwas Glück Kontakt zum Engelsteil auf, ehe er als Engel erwacht. Die physische Hülle nimmt die Energie der Engelsseele auf und verwandelt sich. Viele würden dies eine ›neue Bewusstseinsebene‹ nennen. Wenn der Körper jedoch zu früh mit der Energie in Kontakt gerät, dann könnte dies sehr großen Schaden anrichten. Ich habe selber keine Erfahrung damit, deshalb kann ich es nicht nachvollziehen, aber Taliel, es war doch sicherlich schmerzhaft, als die Engelsseele deinen Körper benutzt hat?«

»Was soll ich sagen? Ich habe diese Episode aus meinem Leben beinahe verdrängt, weil ich sie nicht verstand. Mittlerweile wird mir einiges klar. Die Fähigkeit, Geister sehen und mit ihnen kommunizieren zu können verdanke ich wahrscheinlich meiner Bestimmung als Todesengel.«

Während sie redete, gewährte sie lediglich Auriel einen Blick in ihre Gedanken. Ihr Kampf gegen ihr eigentliches Ich und die Reaktion ihres Körpers. Auriel griff sich an die Brust. Sie fühlte, was Taliel zu jener Zeit gespürt hatte. Symptome, die definitiv vom Körper kamen. Sie wäre beinahe an einem Herzinfarkt gestorben, gepaart mit einem Schlaganfall, dachte Auriel. Nun ergab auch für sie alles Sinn. Die physischen Schmerzen, die sie erlitt, wann immer Taliel mit ihrer Bestimmung konfrontiert wurde. Die Ohnmachtsanfälle. »Aber wenn es derartige Interaktionen gibt, müssten wir hier oben nicht etwas davon mitbekommen?«, warf Risael in den Raum.

»Ich … ich bin mir nicht sicher. Wir konnten das leider bisher nicht wirklich … ich meine …«, stotterte Mirael.

Taliel stärkte ihrer Lehrerin den Rücken und setzte zu einer Erklärung an:

»Du hast es doch gehört. Sowas ist äußerst selten. Wenn es von tausend Fällen vielleicht fünfmal vorkommt, wie soll man dann gerade diese fünf Fälle finden? Du suchst nach einer Nadel im Heuhaufen.

»Ich bin noch nicht lange ein Engel. Aber nach allem was ich weiß, geschieht sowas nur äußerst kurz. Zu kurz. Davon würden wir nie etwas bemerken. So sehr ich die Bestrebungen verstehen kann, aber es wird sicherlich einen besseren, effektiveren Weg geben. Zumal wir ja gerade gehört haben, dass auch Engelsseelen nicht immer wissen, dass sie Engelsseelen sind.« Mirael lächelte Taliel zu und ergänzte:

»Bis wir diesen Weg gefunden haben, müssen wir uns aber weiterhin auf unseren Instinkt verlassen. Behaltet den Unterschied zwischen Menschenseelen und Engelsseelen im Hinterkopf. Dieses Wissen solltet ihr nutzen. Eure Klassenkameradin Auriel hat ihre Aufgabe nahezu perfekt gelöst. Sie hat Taliels Vertrauen gewonnen und ihr ein Experiment vorgeschlagen, auf dass sich Taliel eingelassen hat.«

Auriel errötete.

»Solltet ihr euch also wie Auriel für die Rekrutierung melden, beherzigt diese Hinweise. Sie können euch nützlich sein.«

Mirael beendete den Unterricht und die Schüler verließen den Raum.

»Eines würde mich aber trotzdem interessieren«, sagte Taliel, als Mirael gerade den Raum verlassen wollte.

»Woher wusstet ihr eigentlich, dass ich eine Engelsseele bin?«

Mirael hielt inne. Die Stille hing wie dichter Rauch in der Luft. Zischend sog die Lehrerin Luft ein.

»Du hast es uns verraten.«

Taliel schluckte. Wie konnte das sein?

»Aber wenn ich doch selbst nichts von meiner wahren Bestimmung geahnt habe, woher sollt ihr es dann gewusst haben?«

Mirael lehnte sich gegen das Pult und blickte Taliel mit ihren silbergrauen Augen eindringlich an.

»Einen Teil der Antwort hast du selbst soeben gegeben. Du hast den Geist ins Jenseits befördert, richtig? In deinem Fall war es wirklich Glück, denn es kam uns komisch vor, dass ein Portal ins Totenreich geöffnet wurde, ohne dass Azrael davon wusste. Also gingen wir alle Szenarien durch. Da es neben Azrael keinen weiteren Todesengel gab, gingen wir zunächst von einem Vorfall in Lucifers Gefilden aus. Aber nach einer Recherche kamen wir darauf, dass das Portal auf der Erde geöffnet wurde. Der Rest war wirklich purer Zufall. Wärst du in diesen zwei Jahren umgezogen, hätten wir dich wahrscheinlich niemals gefunden.«