Tatort - Hendrik Buhl - E-Book

Tatort E-Book

Hendrik Buhl

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Beschreibung

Hendrik Buhl untersucht das Phänomen gesellschaftspolitischer Themen im Genreklassiker 'Tatort'. Der 'Tatort'-Krimi am Sonntagabend gehört für viele Menschen zum Ausklang des Wochenendes dazu. Die erfolgreichste Krimireihe im deutschen Fernsehen unterhält nicht nur mit spannenden Geschichten, sondern informiert auch über gesellschaftspolitische Probleme und Konfliktlagen. Bei der Mörderjagd sehen sich die Kommissarinnen und Kommissare mit schlechten Arbeitsbedingungen in Discountern, Obdachlosigkeit oder Voyeurismus im Internet konfrontiert. Anhand aller Erstausstrahlungen eines Jahres zeigt Hendrik Buhl, wie unterhaltsame Ermittlungsarbeit einerseits und Informationen andererseits in 'Tatort'-Krimis miteinander verbunden werden. Damit leistet er einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie die Krimireihe 'Tatort' öffentlich-rechtliche Aufklärung im doppelten Sinn audiovisuell umSetzt und wie dies wissenschaftlich zu konzeptualisieren und zu analysieren ist. Dabei sind unter anderem folgende Forschungsfragen erkenntnisleitend: Welche sendungsübergreifenden Inszenierungsstile gibt es? Welche Figurenkonzepte spielen eine Rolle? Wie parteiisch ist politische Unterhaltung im 'Tatort'?

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Alltag, Medien und Kultur

Herausgegeben von Joachim von Gottberg, Lothar Mikos, Elizabeth Prommer, Claudia Wegener

Band 14

In dieser Reihe werden in erster Linie empirische, aber auch theoretische Arbeiten veröffentlicht, die den Zusammenhang von Alltag, Medien und Kultur aus der Perspektive der gesellschaftlichen Akteure, der Mediennutzer thematisieren. Mit ihrer mediensoziologischen Orientierung und interdisziplinären Ausrichtung trägt die Reihe zum Dialog zwischen Medienpraxis, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Medienpädagogik und Jugendschutz sowie zur Diskussion um die gesellschaftliche Bedeutung der Medien im 21. Jahrhundert bei.

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

2. Die Reihe »Tatort« in der Populären Kultur

2.1 Relevanz der Reihe

2.2 Das Krimigenre

2.3 Öffentlich-rechtliche Aufklärung

2.4 Geschichte und Konzept der »Tatort«-Reihe

2.4.1 Wandel und Heterogenität

2.4.2 Reihenstruktur und Serialität

2.4.3 Figureninventar

2.4.4 Individualität und Serialität

2.4.5 Lokalkolorit

2.4.6 Realismus, Authentizität, Repräsentation

2.5 Forschungsstand

3. Theorie: Begriffe und Konzepte

3.1 Wozu Theorie(n)?

3.2 Populäres und Kultur

3.2.1 Cultural Studies und das Populäre

3.2.2 Medien, Informationen, Wissen

3.2.3 Neues Fernsehen, neue Aneignungsweisen

3.2.4 Fernsehen und Macht

3.3 Politisches und Populäres

3.3.1 Politik und Populäre Kultur

3.3.2 Ideologische Staatsapparate (Althusser

)

3.3.3 Hegemonie (Gramsci

)

3.3.4 Populäre Diskurse und mediale Texte (Fiske

)

3.4 Politainment (Dörner

)

3.4.1 Politik und Entertainment

3.4.2 Funktionsweisen von Politainment

3.4.3 Konstruktionsweisen von Politainment

3.5 Interdiskurstheorie (Link

)

3.6 Definition: Gesellschaftspolitische Themen

4. Methode

4.1 Hermeneutik populärer Medientexte

4.2 (Inter-)Diskursivitäten im Fokus

4.3 Angewandte Fernsehanalyse als »Theoretical Sampling«

4.4 Materialkorpus, Instrumente und Verfahrensweisen

5. Detailanalysen und Kontextualisierung

5.1 Gesellschaftspolitische Themen im »Tatort«

5.2 »Kassensturz«: Gewerkschaft und Arbeit im »Tatort«

5.2.1 Das Thema »Arbeit im Discounterwesen«

5.2.2 Vorlage »Schwarz-Buch Lidl«

5.2.3 Durch schlechte Arbeit zur Tat

5.2.4 Arbeit und ihre Bedingungen

5.2.5 Betriebsratsgründung und -verhinderung

5.2.6 Der Lidl-Skandal in »Kassensturz«

5.2.7 Der Experte von der Gewerbeaufsicht

5.2.8 Führungskräfte im Dauerstress

5.2.9 Das große Ganze: Vertriebsleiterin Fuchs

5.2.10 Fazit: »Kassensturz«

5.3 Kontextualisierung: Arbeitswelt und Gewerkschaft im »Tatort«

5.3.1 Arbeit im Krimi

5.3.2 »Um jeden Preis«: neue Gewerkschaftsarbeit

5.3.3 »Schweinegeld«: schlechte Arbeit in der Fleisch verarbeitenden Industrie

5.3.4 »Baum der Erlösung«: Arbeit und Integration I

5.3.5 »Familienaufstellung«: Arbeit und Integration II

5.3.6 »Rabenherz«: Personal- und Zeitmangel in der Krankenhauspflege

5.3.7 »Neuland«: Arbeit, die nicht lohnt

5.3.8 »Mauerblümchen«: Leiharbeit

5.3.9 »Oben und Unten«: Vorurteile gegenüber Putzkräften

5.3.10 »Kinderwunsch«: Arbeit in der Stahlindustrie

5.3.11 Fazit: Arbeitswelt und Gewerkschaft im »Tatort«

5.4 »Mit ruhiger Hand«: Alkoholismus im »Tatort«

5.4.1 Ermittler und der Alkohol

5.4.2 Ermittler und Betroffener: Kommissar Max Ballauf

5.4.3 Expertin, Helferin, Frau: Polizeipsychologin Lydia Rosenberg

5.4.4 Exkurs: Lebensverhältnisse von »Tatort«-Ermittlern

5.4.5 Generationsübergreifender Alkoholismus: Professor Julius Gann und Sohn Jonas Gann

5.4.6 Subthema: Illegale in Deutschland

5.4.7 Fazit: »Mit ruhiger Hand«

5.5 Kontextualisierung: Alkohol im »Tatort«

5.5.1 »Schön ist anders«: Alkoholismus im Intertext des »Tatorts«

5.5.2 Alkohol im »Tatort« 2009/2010

5.5.3 »Bittere Trauben«: Alkohol als Kulturgut

5.5.4 Fazit: Alkohol und Alkoholismus im »Tatort«

6. Thematisch gruppierte Sendungsanalysen

6.1 Böser Mediengebrauch, Wohlstandsverwahrlosung und Drogen

6.1.1 »… es wird Trauer sein und Schmerz«: digitaler Voyeurismus

6.1.2 »Herz aus Eis«: Wohlstand ohne Werte

6.1.3 »Im Sog des Bösen«: Drogenopfer

6.2 Sexuelle Identität und Reproduktionsmedizin

6.2.1 »Tödlicher Einsatz«: Homosexualität in Männergesellschaften

6.2.2 »Tote Männer«: Bisexualität und Identität

6.2.3 »Kinderwunsch«: Reproduktionsmedizin

6.3 Migration und Integration

6.3.1 »Baum der Erlösung«

6.3.2 »Familienaufstellung«

6.3.3 »Häuserkampf«

6.4 Thematische Vielfalt: Konsensuelles und Konfliktäres

6.4.1 »Borowski und die heile Welt«: Kindesmisshandlung und Vorurteile

6.4.2 »Schwarzer Peter«: häusliche Gewalt

6.4.3 »Falsches Leben«: Unrechtsstaat DDR

6.4.4 »Gesang der toten Dinge«: Profitgeschäft Esoterik

6.4.5 »Das Gespenst«: Terrorismus

6.4.6 »Altlasten«: Alter, Demenz, Tod

6.4.7 »Platt gemacht«: Obdachlosigkeit

6.4.8 »Oben und Unten«: soziales Gefälle

6.4.9 »Mauerblümchen«: Zwangsprostitution, Fluglärm, Leiharbeit und mehr

6.5 Fazit: Thematisch gruppierte Sendungsanalysen

7. Resümee

8. Filmografie

9. Literatur und Quellen

Vorwort

»Tatort«-Krimis aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu analysieren ist ein zumeist spannendes, stets arbeitsreiches, zuweilen lustiges und viele Überraschungen bereithaltendes Unterfangen. Die gesellschaftspolitischen Themen im »Tatort« und ihre Konstruktionsweisen sind der Gegenstand der vorliegenden Studie. Wie funktionieren Themen-»Tatorte«? Welche Figuren erwecken die Themen auf dem kleinen Bildschirm zum Leben? Mit welchen Wissensbeständen werden sie verknüpft? Welche etablierten Konventionen gibt es bei der Einbindung brisanter Themen in die Detektionshandlungen der Krimis? Gesellschaftspolitische Themen im »Tatort« werfen viele Fragen auf, denen ich mich beim Konzeptionalisieren und Schreiben meiner hiermit vorliegenden Dissertation stellte. Den Forschungsgegenstand gefunden, gewählt und mit viel Leidenschaft bearbeitet zu haben, macht mich glücklich und zufrieden.

Mein herzlicher Dank gilt all jenen, die mich bei der Realisierung meines Dissertationsprojektes in intellektueller, zwischenmenschlicher und finanzieller Hinsicht unterstützt haben.

Dank gilt meiner Betreuerin und Erstgutachterin, Prof. Dr. Jutta Röser, für ihre tatkräftige Unterstützung und ihr stets konstruktives und forderndes Interesse an meiner Arbeit von der ersten Idee an bis hin zum fertigen Buch. Ebenfalls gedankt sei Prof. Dr. Lothar Mikos für seine inspirierenden Publikationen, sein Gutachten und die freundliche Hilfe bei der Realisierung dieses Buches und seinem Erscheinen in der UVK-Reihe »Alltag, Medien und Kultur«. Mein Dank für sein Interesse und sein Gutachten gilt ebenfalls Prof. Dr. Sven Kramer.

Danken möchte ich auch mehreren Institutionen, allen voran der Hans-Böckler-Stiftung (HBS), die mich in ihr Programm zur Promotionsförderung aufnahm, mich materiell und ideell unterstützte und ohne deren Hilfe ein zügiger Abschluss meiner Promotion und die Drucklegung dieses Buches nicht möglich gewesen wären. Dank auch an Dr. Markus Stauff für seine wertvollen Ratschläge, die er mir in seiner Eigenschaft als Vertrauensdozent der HBS gab. Mein Dank gilt ebenfalls der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Leuphana Universität Lüneburg und dem wunderbaren Magisterstudiengang Angewandte Kulturwissenschaften, dem Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur (IfKM), der AG Populärkultur innerhalb der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) sowie der UVK Verlagsgesellschaft und der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), namentlich Sonja Rothländer und Karin Dirks, für ihre tatkräftige Hilfe bei der Publikation meiner Arbeit.

Für kritische Einwände, freundschaftliche Ermunterungen und Korrekturen danke ich Caroline Rothauge, Steffen Rudolph, Yvonne Mattern, Lars O. Güthling, Florian Grote und Matthias N. Lorenz. Mein herzlichster Dank geht an Caroline Rothauge, die mich während meiner gesamten Promotionszeit nach Kräften unterstützte und mir Halt gab.

Besonderer Dank gilt meinen Eltern, Roswitha und Claus-Peter Buhl, für ihre Anteilnahme und materielle Unterstützung.

Ich widme dieses Buch meiner im Jahr 2009 verstorbenen Mutter.

Hendrik Buhl

Fürth, Juli 2013

1. Einleitung

Unterhaltende Angebote des Fernsehens tragen als kulturelle Foren zur gesellschaftlichen Selbstverständigung bei. Sie sind »Not only Entertainment« (Müller 2011) und für die Entwicklung von Denkweisen, Sinnentwürfen und Weltanschauungen bedeutsam, denn sie erweitern und formen soziales Wissen (vgl. Hall 2001, S. 346). Als Ressourcen des konfliktären Feldes alltäglicher Bedeutungsbildung sind sie mit den symbolischen Wissenshorizonten der Kultur, deren konsensuellen Grundlagen und konventionellen Bedeutungen (inter-)diskursiv verbunden (vgl. Müller/Wulff 2006, S. 197). In den realitätsbezogenen Als-ob- Welten der »Tatort«-Krimis geschieht dies mittels selektiver, komplexitätsreduzierter und mehr oder minder genretauglicher Einbindungen von Wiss- und Sagbarkeiten qua »Personalisierung, Narrativisierung und Dramatisierung« (Müller 2011, S. 22). Das macht sie zu populären Interdiskursen, die spezialisiertes und verstreut zirkulierendes Wissen aufbereiten und reintegrierend verfügbar machen (vgl. Link 1999, 2005, 2006; Nohr 2009, 2012). Darüber hinaus sind diese populären Artefakte in den Diskurs um das Fernsehen selbst eingebettet, namentlich um jenen um die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für den gesellschaftlichen Wissenshorizont und das damit verbundene Normen- und Wertegefüge. Knut Hickethier nennt die Als-ob-Welten der Krimireihe »fiktionale […] Weltverständnisangebote« (1995, S. 79) und führt an anderer Stelle aus:

»Im Tatort erkennen wir die Realität der Bundesrepublik wieder, wie sie ist, wie sie sein könnte und vor allem, wie disparat und vielfältig sie sich entwickelt« (Hickethier 2010, S. 46).

Jochen Vogt bezeichnet die Reihe sogar als den »wahre[n] deutsche[n] Gesellschaftsroman« (Vogt 2005, S. 111).

Das im Rahmen vorliegender Arbeit zentrale Erkenntnisinteresse richtet sich auf das Phänomen gesellschaftspolitischer Themen in Krimis der Reihe »Tatort« und gilt damit der qualitativen Erforschung realitätsbezogener Fiktionalität in Texten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Im Fokus stehen damit (inter-) diskursiv aufgeladene, mediale Repräsentationen im Politainment-Format, in denen konfliktäre oder konsensuelle Wissensbestände aufgenommen und machtvoll signifiziert werden (vgl. Hickethier 1995, S. 69, Dörner 2000, 2001). Die Erforschung der Krimireihe »Tatort« als Politainment (Dörner 2001) und institutionalisierter Interdiskurs (Link 2006, Nohr 2012) zielt auf die audiovisuelle Bedeutungsproduktion von Genretexten im Modus politischer Unterhaltung. Politisch ist diese Form der Unterhaltung deshalb, weil sie konfliktäres und/oder konsensuelles Wissen symbolisch komprimiert in ihre Narrationen aufnimmt, dazu Interpretationen und Perspektivierungen etabliert und somit in den Kampf um Bedeutungen eingreift. Dieser Prozess kreist stets um die unsichere Kategorie des gesellschaftlichen Konsenses (vgl. Leggewie 2008, S. 297). Da die populären Sendungen der »Tatort«-Reihe politisch und kulturell im Rahmen des Mainstreams (vgl. Hügel 2007) zu verorten sind, geben ihre Textualitäten Aufschluss über jeweils aktuelle Horizonte der Wert- und Sinngebung und deren Verschiebungen in unserer Gesellschaft: »Hier lässt sich feststellen, welche Themen, Lebensweisen, Ziel- und Sinnkonstruktionen und welche politischkulturellen Traditionen in einer Gesellschaft konsensfähig sind« (Dörner 2006a, S. 229 f., vgl. Vogt 2005, S. 121). Die Analytik in der vorliegenden kulturwissenschaftlichen Studie zielt also darauf ab, zu verstehen, wie manifeste und latente Wissensbestände mit den unterhaltsamen Narrationen populärkultureller Artefakte verschmelzen. Die aufzudeckenden »Signifikationspolitiken« (Marchart 2008, S. 164) lassen interpretative Schlüsse auf die Konsensbereiche deutschsprachiger Medienkultur zu, wobei unter Medienkulturen jene Kulturen zu verstehen sind, »deren primäre Bedeutungsressourcen mittels technischer Kommunikationsmedien vermittelt bzw. zur Verfügung gestellt werden« (Hepp 2008, S. 124, vgl. Hepp et al. 2010).

Die Leitfragen dieser Arbeit lauten: Wie materialisieren sich gesellschaftliche Diskurse in Sendungen der Krimireihe »Tatort«? Was vermögen Genretexte des Fernsehens als Manifestationen von spezifischen Diskursen zur Produktion von Formen des Wissens beizutragen (vgl. Mikos 2008, S. 285)? Die Leitfragen betreffen somit die Verflechtungen unterhaltsamer Genretexte mit den gesellschaftlich relevanten, problembezogenen Wissensbeständen – die politische Dimension populärkultureller Unterhaltung (vgl. Krah 2004, S. 96, Nieland/Kamps 2004, Maase 2010). Sie beziehen sich auf zwei Dimensionen des Phänomens: das jeweilige Was und das Wie der Darstellung.

1. Was? Wie sieht die (inter-)diskursive Agenda der Sendungen aus und welche Themen werden daraus generiert? Das »Tatort«-Jahr 2009 bildet die entsprechende Materialgrundlage; alle 34 sonntäglichen Erstausstrahlungen des Jahres werden analysiert. Dieser synchrone Schnitt durch die über 40-jährige »Tatort«-Geschichte ist deshalb sinnvoll, weil es weder um einzelne, ex ante zu benennende Themen oder Themenverläufe wie »Rechtsradikalismus« (vgl. Süss 1993), »Migration« (vgl. Ortner 2007a/b, Walk 2011) oder die Inszenierungsweisen ostdeutscher Identität (vgl. Welke 2012) im »Tatort« geht noch um eine diachrone Perspektive auf mehrere Jahrzehnte »Tatort«-Geschichte (vgl. Gräf 2010) gehen soll. Stattdessen gilt es, aktuelle Modi der Thematisierung und Spezifika der Inszenierung in einzelnen Sendungen und sendungsübergreifend, im Hinblick auf den Reihenverbund als Ganzes, zu erforschen. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, welche spezialdiskursiven Wissensbestände für die Zuschauer im »Tatort« als institutionalisiertem Interdiskurs relativ voraussetzungslos zugänglich gemacht werden (vgl. Link 1999, Göttlich 2009, S. 213). Dabei stellt sich die Frage, aus welchen Spezialdiskursen die Wissensbestände stammen, die in den Krimis verarbeitet werden. Um dies herauszuarbeiten, ist es notwendig, in den Sendungen signifiziertes Wissen rekonstruierend zu betrachten, um anschließend Aussagen darüber zu treffen, wie was davon selektiert, filmisch transformiert und genregemäß verarbeitet wird.

2. Wie? Welche textuellen Strategien und Inszenierungsstile gibt es bei der Einbindung konfliktärer bzw. konsensueller Wissensbestände? Hier geht es darum, »wie sich Inhalt und Repräsentation eines Film- oder Fernsehtextes mit Diskursen verbinden und auf diese Weise von den Zuschauern mit Bedeutung gefüllt werden können« (Mikos 2008, S. 111). Wie funktionieren die thematisch aufgeladenen »Tatort«-Krimis? Sind sendungsübergreifende Darstellungs- und Inszenierungsstile zu erkennen? Welche Strategien und Verfahren der Repräsentation gibt es und welche Lesarten werden dabei favorisiert? Was soll ein »Problemkrimi der unaufdringlichen Art« (TV Spielfilm 2009a) sein? Wodurch zeichnet sich eine »vertrackte Story mit korrekter Botschaft« (TV Spielfilm 2009b) aus?

Die Fragen zielen darauf ab, herauszufinden, wie televisuelle Darstellungskonventionen der Genretexte die Art und Weise des Aufgreifens konfliktärer bzw. konsensueller Wissensbestände strukturieren. In welchem Verhältnis stehen dabei Information und Unterhaltung, aktuelle Gesellschaftsbezüge und konventionalisiertes Genre, Fakten und Fiktionen, Ernst und Unernst, Konsensuelles und Konfliktäres? Wo hingegen dienen die realitätsbezogenen, sozialweltlichen Verankerungen der Krimis nur als Kulisse zur Ausbreitung spannender Geschichten (vgl. Weber 1992)? In welchen Sendungen geschieht eine gelungene Versinnlichung gesellschaftlich relevanter Themen in Verbindung mit spannender Unterhaltung (vgl. Gansel/Gast 2007)? Mit welchen filmischen Mitteln geschieht dies?

Zur Beantwortung der Forschungsfragen werden umfangreiche Produktbzw. Textanalysen durchgeführt. Dabei würde eine einseitige Fokussierung auf Fernsehform und -ästhetik weder der Komplexität des Gegenstandes noch dem kulturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse gerecht werden. Stattdessen wird Fernsehen im Folgenden – wie auch in soziologisch orientierten Filmanalysen bzw. -interpretationen – immer im Rekurs auf Gesellschaft betrachtet. Fernsehanalyse ist in diesem Sinne immer auch (kritische) Kultur- und Gesellschaftsanalyse (vgl. Mai/Winter 2006, S. 9, Faulstich 2002, S. 196).

Zum Aufbau der Arbeit: Das zweite Kapitel befasst sich zunächst mit der Definition des Genrebegriffs im Allgemeinen und des Krimigenres im Besonderen. Hier findet sich zudem Wissenswertes zum öffentlich-rechtlichen Produktionskontext der Reihe, zu ihrer Entstehung, zu ihrer Geschichte und Konzeption, zum Prinzip der stetigen Selbsterneuerung der Marke »Tatort«, zur Organisation der einzelnen Krimis im Verbund der Reihe, zum Figureninventar – den 2009 und darüber hinaus tätigen Ermittlerinnen und Ermittlern –, zur Individualität der erzählten Geschichten, ihrer lokalen Verankerung, zum Realismusgebot der Reihe sowie zum Forschungsstand bezüglich gesellschaftspolitischer Themen. Im dritten, der Theorie gewidmeten Kapitel geht es um Begriffe und Konzepte, die für die Anlage der vorliegenden Studie grundlegend sind: Unter den kulturwissenschaftlichen Vorzeichen der Cultural Studies werden Populärkultur, Fernsehen, die spannungsreichen Verhältnisse von Information und Unterhaltung sowie von Politik und Populärem beleuchtet, ebenso die theoretischen Ansätze der Politainment-Forschung nach Andreas Dörner und der Interdiskurstheorie von Jürgen Link. Am Ende des Theorieteils steht eine Definition dessen, was im Rahmen dieser Studie unter »gesellschaftspolitischen Themen« verstanden wird. Das vierte Kapitel ist der Methodik gewidmet und gibt Aufschluss über die Entwicklung eines auf das Erkenntnisinteresse zugeschnittenen Methodendesigns und dessen Anwendung in der Forschungspraxis. Diese hat gezeigt, dass damit die Analyse auch großer Mengen an Fernsehsendungen erfolgreich bewältigt werden kann und es somit auch für andere Formen zeitgenössischer Fernsehserienforschung taugt (vgl. Buhl 2012, Rothemund 2012).

Das umfangreiche fünfte Kapitel enthält zunächst einen Überblick über die im Sinne der Fragestellung getroffene Auswahl an Sendungen. Gemeinsam mit dem nachfolgenden Kapitel sechs bildet es den empirischen Kern der Arbeit. Dass längst nicht alle Krimis der Reihe gesellschaftspolitisch aufgeladen sind, kommt darin ebenso zur Sprache wie die Feststellbarkeit thematischer Schwerpunkte bzw. Konjunkturen. Kapitel fünf enthält zwei große Detailanalysen unter kontextualisierendem Einbezug weiterer Folgen. Die Analyse der thementragenden Figuren sorgt darin jeweils für die Struktur und ist auch für die kürzeren Sendungsanalysen in Kapitel sechs erkenntnisleitend. Im Resümee werden die in den Einzel- und Detailanalysen gewonnen Erkenntnisse zusammengefasst, an die Theorie zurückgebunden und reflektiert.

2. Die Reihe »Tatort« in der Populären Kultur

»Wo waren Sie am Sonntagabend zwischen 20.15 Uhr und 21.45 Uhr?« Für den Ausklang des Wochenendes bei spannender Krimiunterhaltung bedarf es keines Alibis. Das »Tatort«-Gucken ist für sehr viele Menschen im deutschsprachigen Raum längst eine selbstverständliche und ritualisierte medienkulturelle Praxis (vgl. Buhl 2007). Ob sonntags allein zu Hause, mit Freunden beim Abendessen, mit Fremden beim »Public Viewing« (vgl. Hinrichs 2005) in städtischen Lokalen oder an den Tagen danach in der Internet-Mediathek der ARD, die »Tatort«-Krimis werden seit Langem regelmäßig von sehr vielen Menschen gesehen (vgl. Scherer/Stockinger 2010a/b, Zubayr/Geese 2005). Eine anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Reihe im Jahr 2010 publizierte, quantitative Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie ergab, dass die Sendung von »knapp drei Viertel der Bevölkerung […] zumindest hin und wieder« (IfD 2010, S. 2) gesehen wird. Besonders beliebt ist die Reihe bei über 45-Jährigen (ebd., S. 3).

2.1 Relevanz der Reihe

Der seit November 1970 existierende »Tatort« ist die langlebigste Sendung unter den Krimiserien und -reihen und eine der am längsten laufenden des deutschen Fernsehens überhaupt. Als beständiger Quotenfänger bildet sie die Speerspitze eines der populärsten Genres im Fernsehen. Die »Tatort«-Reihe gehört zu den stärksten Marken der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD). Im Produktverbund gibt es neben den Fernsehkrimis auch Bücher sowie seit 2008 auch Radio-»Tatorte«. Die Hörspiele erscheinen auf CD, und eine beständig erweiterte Auswahl an Spielfilmen ist im Vertrieb von Walt Disney Studios Home Entertainment mittlerweile auf DVD, in Einzelfolgen und in Städte- bzw. Teamkompilationen verfügbar.

Im Fernsehfluss nach der »Tagesschau«, die den Beginn des Fernsehabends faktenreich einläutet, und vor den unterhaltsamen Selbstdarstellungen politischer Akteure in der Polit-Talkshow »Günther Jauch« (vgl. Armbruster/Mikos 2009, Schultz 2006, S. 317) platziert, bietet der »Tatort« fiktionale Welten mit faktualen Anteilen (vgl. Vogt 2005, S. 112).

Der berühmt gewordene und weitgehend unverändert gebliebene Vorspann mit dem Fadenkreuz und den blauen Augen von Horst Lettenmayer, den Fond15 wechseln im Takt der Spannung evozierenden Musik von Klaus Doldinger, die nach dem Erreichen der Klimax in einen groovigen Bassriff mündet und mit zackigen Bläserakzenten endet, während Lettenmayer läuft und eingekreist wird, sowie der (verkürzte) Abspann markieren als gemeinsames Signet den Rahmen der Reihe (vgl. Fuchs 2007, S. 70).

Reinhold Viehoff sieht in dem markanten Vorspann die Modellierung einer spezifischen erkenntnistheoretischen Situation: die Pupillen im close-up der Kamera als angedeutete Verheißung von Authentizität und Objektivität der Darstellung, beginnend am Ort der Tat. Schließlich gelte: kein Fernsehkrimi ohne Tat-Ort. Am Ort der Tat, Ausgangspunkt und Conditio sine qua non des Ermittlungsgeschehens, beginnt das vor den distanzierten Blicken der sich zu Hause sicher wissenden Zuschauer ausgebreitete Spiel um Verdachtsmomente, Indizien und Motive, das stets auf die erwartbare Überführung der Täterin oder des Täters hinausläuft (vgl. Viehoff 1999, S. 117 f.).

2.2 Das Krimigenre

Die Reihe »Tatort« ist dem erfolgreichsten fiktionalen Genre des deutschen Fernsehens zuzurechnen: dem Fernsehkrimi (vgl. Brück et al. 2003). Genres dienen der Bezeichnung und Klassifizierung von Gruppen inhaltlich und formal ähnlicher Artefakte (vgl. Mikos 2008, S. 263, Borstnar et al. 2008, S. 65 ff., Müller 2003, S. 212 ff.). Sie umfassen familienähnliche Produkte, die hinsichtlich ihres Figureninventars, ihrer Geschichten, Dramaturgien, Motive, ästhetischer und stilistischer Standards zusammengefasst werden können. Dies hat ihnen den Vorwurf der »Formelhaftigkeit« (Ganz-Blättler 1999, S. 264, Hallenberger 2002, S. 85) eingebracht, einhergehend mit einem Hang zur Stereotypisierung (vgl. Schweinitz 2006). Dieser Denktradition verbunden, spricht Thomas Weber beispielsweise von Genres als »Warenkategorien im Handel mit Unterhaltungsprodukten« (Weber 1994, S. 258).

Wie alles Kulturelle unterliegen auch Genres dem historischen Wandel. Filme eines Genres sind zwar einander ähnlich, aber nie gleich. Es herrscht das Grundprinzip von Schema und Variation (vgl. Hallenberger 2002, S. 95). Das heißt, es gilt, nach zwei »Merkmalsklassen« zu differenzieren: in »obligatorische, genrekonstitutive und in fakultative, genretypische Struktureinheiten« (Bauer 1992, S. 48, Herv. i. Orig.). Konstitutiv für das Krimigenre ist beispielsweise die normüberschreitende Tat, der Mord, während das Warten im Auto auf einen der Tat Verdächtigen zu den zwar typischen, aber nicht zwingend notwendigen Elementen zählt. Genres bieten ein »Gebrauchswertversprechen« (Mikos 2008, S. 265), das heißt eine Erwartbarkeit dessen, was die Zuschauer in Sendungen verschiedener Genres (Krimi, Heimatfilm, Arztfilm etc.) geboten bekommen. Wer sich einen als Krimi angekündigten Spielfilm anschaut und mit den Regeln des Genres vertraut ist, dessen Erwartungen werden beim Anschauen in der Regel erfüllt werden. Das Krimigenre im Besonderen ist geprägt von einem Trend zur »Hybridisierung, d.h. die Vermischung des Krimigenres mit anderen Genres, Formen oder Annäherung[en] an die ästhetischen Standards anderer Genres oder Medien« (Brück et al. 2000, S. 14, Herv. i. Orig.). Ein »Tatort«-Krimi kann heute Elemente des Melodrams, des Öko-Thrillers, des Sozialdramas, der Industriereportage, des Justizfilms, des Westerns, der Komödie und noch von vielem mehr enthalten.

In der Summe dienen Genres der Organisation von Medienhandeln, -distribution und -produktion. Jason Mittel spricht sich deshalb für ein über den Text hinausweisendes Verständnis von Fernsehgenres aus, für Genres

»as a process of categorization that is not found within media texts, but operates across the cultural realms of media industries, audiences, policy, critics, and historical contexts« (Mittell 2005, S. xii, vgl. Mikos 2008, S. 264).

Diese umfassenden Zusammenhänge gilt es im Zuge der produktanalytischen Anlage vorliegender Studie stets mitzudenken.

Für das Krimigenre konstitutiv ist die Trias aus Normübertretung (Mord), Detektion (Ermittlung) und Aufklärung (Lösung des Falles bzw. Festnahme der Täterin/des Täters) (vgl. Bauer 1992, S. 45, Brück 1996, S. 321). Dabei wird deutlich, dass der Krimi kein genuines Genre des Fernsehens ist. Die Genreentwicklung verläuft in intermedialen Entwicklungslinien und hat eine lange Geschichte (vgl. Vogt 1998, Mikos 2002a/b). Ingrid Brück bietet in ihrer Begriffsdefinition ein Destillat aus vielen Definitionsversuchen an:

»Der Fernsehkrimi ist (1) eine im Fernsehen gesendete (2) Spielhandlung, die (3) auf die Darstellung von Verbrechen bzw. Kriminalität und deren Aufklärung abzielt« (Brück 2004, S. 11).

Die Definition umfasst damit Medialität, Fiktionalität, Thema und Rätselstruktur dieser Textsorte. Die Reihe »Tatort« ist innerhalb des Krimigenres dem Subgenre des Polizeifilms zuzurechnen (vgl. Mikos 2008, S. 263, Hickethier et al. 2005, S. 19). Das heißt, die Verbrechensaufklärung findet (fast immer) im offiziellen Auftrag und unter der Ägide dafür zuständiger Behörden statt. Den verbeamteten Ermittlern steht zur Bewältigung ihrer Aufgabe ein großer Polizeiapparat zur Verfügung; der verdeckt arbeitende und weitgehend auf sich allein gestellte Mehmet Kurtulus als Cenk Batu in Hamburg war in dieser Hinsicht eine seltene – und letztlich nur kurze Zeit zu erlebende – Ausnahme. Die Kommissare verfügen über zahlreiche Zuträger von detektionsrelevantem Wissen: Zunächst die Leute von der Spurensicherung, die weiß gekleidet am Tatort Hinweise auf die Täterin bzw. den Täter suchen und finden, indem sie pinselnd Fingerabdrücke sichern, Spuren katalogisieren und Fundstücke eintüten. Denkbar sind auch Experten für Blutspuren, die imstande sind, Tatverläufe zu rekonstruieren (vgl. die US-amerikanische Erfolgsserie »Dexter«, SHOWTIME 2006 ff., Rothemund 2013). Daneben gibt es Pathologen, die Auskünfte über Auffindsituationen, Todeszeitpunkte und -ursachen, Tatwerkzeuge (»stumpfer Gegenstand«), Mageninhalte, Promillewerte und Drogencocktails, auffällige Körpermerkmale oder prämortalen Geschlechtsverkehr geben. Darüber hinaus helfen Psychologen, die Täterprofile zu erstellen, kindliche Traumata zu deuten und Beziehungsgefüge zu entschlüsseln. Kriminaltechniker (»KTU« steht für »Kriminaltechnische Untersuchung«) rekonstruieren und lesen die Handy- und Computerdaten aus, bringen Navigationssysteme zum Laufen oder ordnen Tatwaffen zu. Ein schwer bewaffnetes »SEK« (»Spezialeinsatzkommando«) rufen die Kommissare dann zu Hilfe, wenn es um die Verhaftung von gefährlichen Straftätern geht. Zu den zum Polizeiapparat gehörenden Experten kommen ausländische Helfer bei länderübergreifender Polizeiarbeit (»Amtshilfe«), inoffizielle Informanten aus dem »Milieu«, einsitzende Sträflinge und weitere Personen aus dem Umfeld der Opfer. Als Experten ausgewiesene Figuren spielen darüber hinaus im Rahmen interdiskursiver Informationsvergabe eine große Rolle (vgl. Kapitel 3.5).

Genretexte sind konventionalisiert. Das Grundmuster von Schema und Variation sorgt dementsprechend dafür, dass es zahlreiche textuelle Bausteine gibt, die Fernsehkrimis enthalten müssen oder können (vgl. Bauer 1992, S. 48). Zu den obligatorischen gehören traditionellerweise die die Detektion auslösende Tat bzw. der Fund der Leiche, die Aufklärungsarbeit sowie die schlussendliche Auflösung des möglichst Spannung evozierenden Täterrätsels (whodunit) bzw. die Entschlüsselung der Gründe für die Tat (whydunit) (vgl. Mikos 2002a). Die meisten »Tatort«-Krimis enthalten diese Elemente, allerdings nicht alle. Anstelle eines Mordes kann es sich auch um einen Selbstmord handeln, es muss nicht zwingend ein Leichenfund am Beginn der Narration stehen, und die Detektion muss auch nicht immer mit der Verhaftung der Täterin oder des Täters in Handschellen enden.1

Zu den fakultativen Elementen in Fernsehkrimis gehören die Überbringung der Todesnachricht an die Angehörigen des Opfers, Verfolgungsjagden, das Sichten von Überwachungsvideos, das Überprüfen von Alibis, Observationen Tatverdächtiger, Recherchen in Archiven und Datenbanken, Befragungen und Verhöre. Hinzu kommen kleine Scherze und Sticheleien, Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten und über den Verbleib von Haustieren, Essen und Trinken, Flirten sowie das Pflegen von Kauzigkeiten. Die Aufzählung zeigt, dass viele der genannten narrativen Versatzstücke im Polizeipräsidium, der Zentrale der Detektion, stattfinden. In diese häufig nach außen hin abgeschottete Innenwelt werden Tatverdächtige und Zeugen einbestellt und verhört. Die Kommissare sprechen dort auf Fluren und in Treppenhäusern Strategien der Detektion miteinander ab, fassen in ihren Büros bereits gewonnene Erkenntnisse zusammen, halten Informationen in Bildern und Texten auf Pinnwänden oder beschreibbaren Plexiglaswänden fest, schauen auf Stadtpläne, telefonieren und brechen gemeinsam oder einzeln von dort auf, um Weiteres in Erfahrung zu bringen und die Detektion voranzutreiben.

Nach einer ideologiekritischen These zum Krimigenre im Allgemeinen handelt es sich dabei um ein Instrument der Erziehung und Disziplinierung. Gestützt wird sie durch die Grundstruktur des Krimis, zumeist beginnend mit einer individuellen, justiziablen Normverletzung, dem Mord, und der komplementären Wiederherstellung der Norm nach erfolgreicher Detektionsarbeit. Wenn die Handschellen am Ende klicken, ist die Botschaft eindeutig: »Verbrechen lohnt sich nicht!« (Brück 1996, S. 336). Knut Hickethier schreibt dazu: »Das Kriminalgenre betreibt auf diese Weise gesellschaftliche Disziplinierungsarbeit« (Hickethier 1994b, S. 279) und, an anderer Stelle, der Kriminalfilm sorge »als massenmediale Form auf unterhaltende Weise für die Stabilität der Verhältnisse, gerade weil er immer wieder aufs Neue ihr Infragestellen thematisiert« (Hickethier et al. 2005, S. 12). Im Hinblick auf die krimikonstitutiven Topoi Verbrechen und Aufklärung treffen diese Befunde grundsätzlich zu; im Hinblick auf politische Unterhaltung und Interdiskursivität in Themenkrimis sind sie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

2.3 Öffentlich-rechtliche Aufklärung

Die »Tatort«-Reihe gilt als das Aushängeschild der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, kurz: ARD. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk leitet seinen Namen vom »Öffentlichkeitsideal der Aufklärung« (Lucht 2009, S. 27) sowie vom Begriff des Rundfunks ab, verstanden als Fernsehen und Radio im engeren Sinne. Mit dem Öffentlichkeitsideal verknüpft ist der Wunsch nach Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess bei der Meinungs- und Willensbildung und die Nachvollziehbarkeit politischer Prozesse sowie nach Transparenz, der Sichtbarkeit staatlicher Prozesse und Handlungen. Beides hat eine »allgemeine […] Zugänglichkeit« (Lucht 2006, S. 87, Herv. i. Orig.) von entsprechenden Informationen zur Bedingung. In der Präambel ihres in kombinierter Form veröffentlichten Arbeitsberichts für die Jahre 2009/2010 und ihrer Leitlinien für die folgenden Jahre 2011/2012 verlautbart die ARD hinsichtlich ihrer Funktion:

»Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erfüllt mit der Gesamtheit seiner Angebote und Dienstleistungen eine unverzichtbare gesellschaftliche Funktion. Die ARD stellt mit ihrem Gemeinschaftsprogramm Das Erste ein unabhängiges, hochwertiges und nachhaltiges Angebot für alle Bevölkerungs- und Altersgruppen bereit. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt des Gemeinwesens wie auch zur Integration in Deutschland und Europa. Die Erfüllung ihres Programmauftrags verbindet die ARD mit einem auf Werten wie Menschenwürde, Toleranz und Minderheitenschutz gründenden Qualitätsanspruch. Dieser Qualitätsanspruch gilt für alle durch den Rundfunkstaatsvertrag und die ARD-Grundsätze festgelegten Kernbereiche Information, Bildung, Beratung, Unterhaltung und Kultur« (Putz/Jacob 2010, S. 10).

Wesentliche Teile der genannten fünf Kernbereiche finden sich in Sendungen der »Tatort«-Reihe wieder. Die Funktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Rahmen seines Auftrages zur dem Gemeinwohl verpflichteten Grundversorgung der Bevölkerung sind nach Jens Lucht (2006, S. 174):

1. Die »Integrationsfunktion«. Der Rundfunk soll dazu dienen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bevölkerung zu erhalten bzw. herzustellen, »alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen, deren Teilhabe am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu ermöglichen, auseinanderstrebende Tendenzen der Massengesellschaft zusammenzuführen, alle Bürger oder doch möglichst viele am Zeitgespräch der Gesellschaft zu beteiligen sowie Bürgersinn und Engagement für das demokratische Gemeinwesen zu motivieren« (Lilienthal 2009, S. 6, vgl. Dörner 2001, S. 243).

2. Die »Forumsfunktion« in übergeordneter und von der auf das Fernsehen im engeren Sinne bezogenen Konzeption Horace Newcombs und Paul Hirschs (1986) zu unterscheidender Perspektive. Sie steht für »politische Ausgewogenheit und die Berücksichtigung von Minderheiteninteressen« (Lucht 2006, S. 174) sowie für einen offenen Austausch an Ideen und Meinungen. Außerdem soll der Rundfunk über internationale bzw. globale Vorgänge umfassend informieren.

3. Die »Komplementärfunktion« steht für die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, auch unwirtschaftlichen, wenig quotenträchtigen Angeboten Gehör zu verschaffen. Dies betrifft vor allem kulturelle und wissenschaftliche Themenfelder und deren Randbereiche.

4. Die »Vorbildfunktion« des öffentlich-rechtlichen Rundfunks schließlich steht für das Setzen allgemeiner Qualitätsstandards, vor allem hinsichtlich Seriosität und Professionalität.2

Das Gros des für die Erfüllung seines Auftrages nötigen Geldes, etwa 85 %, bekommt der öffentlich-rechtliche Rundfunk – also auch die den »Tatort« produzierende ARD – von denjenigen, für die er es ausgibt: den Rundfunkteilnehmern, also den Zuhörern bzw. Zuschauern. Insgesamt sind es über sieben Milliarden Euro pro Jahr, die über die obligatorischen Rundfunkabgaben eingenommen werden. Für ein Fernsehgerät, Radio und ein sogenanntes »neuartiges Rundfunkgerät«, einen internetfähigen PC oder Ähnliches, mussten 2009 17,98 Euro pro Monat gezahlt werden. Mit dem Geld aus den Rundfunkgebühren wird die (Programm-)Arbeit der neun Landesrundfunkanstalten der ARD, des ZDF und zweier nationaler Radioprogramme finanziert. Das heißt, es werden damit neben den zwei Hauptprogrammen ARD und ZDF sieben dritte Programme, drei Spartensender – die sogenannten »Kultursender« 3SAT, PHOENIX und ARTE – sowie der skandalgeschüttelte KIKA, des Weiteren die Digitalsender von ARD und ZDF sowie die Radioprogramme von DEUTSCHLANDRADIO KULTUR und DEUTSCHLANDFUNK sowie zahlreiche Angebote im Internet, wozu auch der »Tatort«-Stream zu zählen ist, betrieben (vgl. Lilienthal 2009, S. 9). Einnahmen aus Rundfunkwerbung und Sponsoring – hierzu zählt die 18 Jahre währende Präsentation der »Tatort«-Reihe durch den Bierhersteller Krombacher – betragen etwa sechs Prozent der Einnahmen, den Rest, circa neun Prozent, machen andere Erträge aus, etwa aus Koproduktionen, Kofinanzierungen und Programmverwertungen. Hierzu ist auch der Verkauf der »Tatort«-DVD-Rechte an die Home-Entertainment-Sparte des Disney-Konzerns durch die ARD zu zählen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sieht sich angesichts von Konkurrenz- und Quotendruck im Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Anbietern in einem Dilemma: Er muss seine Adressaten einerseits umfassend informieren, mit Spannendem, Spektakulärem und Buntem unterhaltsam begeistern und damit zum wiederholten Einschalten bewegen. Andererseits muss er dem unmissverständlichen Ernst seines Auftrages Genüge tun, zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen, um damit die demokratische Verfasstheit des Staatswesens zu stützen. Ob das, was er leistet, akzeptiert wird, darüber entscheidet der Souverän an der Fernbedienung.

»Über die politische Legitimität der Rundfunkgebühr entscheidet die Akzeptanz der Programme, ihre breite Nutzung durch die Zahlenden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss deshalb auch Unterhaltung anbieten, weil er andernfalls den Zuspruch der Vielen verlöre. Von ihm, von der Kreativität seiner Programmmacher ist zu erwarten, dass sie gerade im Modus der Unterhaltung relevante gesellschaftliche Themen verhandeln und so der Mehrheit der Bürger für das interessieren, was für die Meinungsbildung bedeutend ist« (Lilienthal 2009, S. 10).

Wiederum erscheint die quotenträchtige Reihe »Tatort« als idealtypisches Destillat des Wunsches, verschiedene Aufgabenbereiche des öffentlich-rechtlichen Rundfunks publikumswirksam miteinander zu verschmelzen (vgl. Weiß 2010, S. 286). Dem eigenen Bekunden der ARD zufolge gelingt in den Genrenarrativen die publikumswirksame Verbindung von Brisantem und Populärem im Rahmen fiktionaler Unterhaltung. In ihrem Bericht zum Zeitraum 2009/2010 heißt es:

»Der ›Tatort‹, die älteste Krimiserie im deutschen Fernsehen, feierte 2010 sein 40-jähriges Bestehen. Die Reihe zeichnet sich zum einen durch eine gelungene Mischung aus Tradition und Innovation aus: […] Zum anderen führt die Reihe vor, wie über spannende Kriminalgeschichten, innovative Erzählweisen und ästhetisch avancierte Darstellungsmittel gesellschaftlich relevante Themen vermittelt werden können. […] Die Krimis der Reihen ›Tatort‹ und ›Polizeiruf 110‹ waren auch, obwohl es sich um fiktionale Produktionen handelt, wegen ihrer realitätsnahen Milieuschilderungen aus allen Regionen Deutschlands beim Publikum so beliebt« (Putz/Jacob 2010, S. 75, 99).

Was genau derartig »gesellschaftlich relevante Themen« im »Tatort« ausmachen, wie sie beschaffen sind und mit spannender Genreunterhaltung verknüpft werden, bleibt eine empirisch zu beantwortende Frage, die dem vorliegenden Erkenntnisinteresse entspricht.

2.4 Geschichte und Konzept der »Tatort«-Reihe

2.4.1 Wandel und Heterogenität

Die Reihe »Tatort« startete – als erste der deutschen Krimiserien und -reihen in Farbe – am 29.11.1970 mit der Folge »Taxi nach Leipzig« nach einem Buch von Friedrich Werremeier und unter der Regie von Peter Schulze-Rohr. Vor dem Hintergrund der deutschen Teilung löste Walter Richter als Kommissar Trimmel seinen ersten Fall. Zwei Jahre zuvor war die pseudo-dokumentarische Krimiserie »Stahlnetz« (1958 – 1968) von der ARD eingestellt worden. Der ab 1969 anhaltende Erfolg der Serie »Der Kommissar« des konkurrierenden ZWEITEN DEUTSCHEN FERNSEHENS (ZDF) mit Erik Ode als Ermittler veranlasste die Verantwortlichen bei der ARD dazu, über ein neues Krimikonzept nachzudenken. Es entstand ein »Erfolgsrezept aus Verlegenheit« (Vogt 2005, S. 111. In dem Wissen, dass eine einzelne Landesrundfunkanstalt eine zum »Kommissar« konkurrenzfähige Serie nicht würde produzieren können, machten sich die Verantwortlichen die föderale Struktur des Senderverbundes ARD zunutze (vgl. Wehn 2002, S. 35). Dabei war die neue Sendung ursprünglich nur für eine Laufzeit von zwei Jahren vorgesehen (vgl. Brück et al. 2003, S. 160). Der Schauplatz der einzelnen Episoden sollte in den Titel integriert werden, es sollte also beispielsweise vom »Tatort Köln« die Rede sein, was aber letztlich der Einfachheit wegen nicht realisiert wurde (vgl. Wenzel 2000, S. 26).

Zur Konzeption der Reihe schrieb der Erfinder des »Tatort«-Konzepts und ehemalige Fernsehfilmchef des WDR, Gunther Witte, anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens:

»Also sind die Besonderheiten des ›Tatorts‹ Grund seiner großen Beliebtheit? Absurderweise verhelfen ihm seine offensichtlichen Regelverstöße zu höchstem Ansehen. Statt einer festen identifizierbaren Ansiedlung wechselt jeweils sein regionaler Bezug. Statt der üblicherweise einen profilierten Ermittlerfigur verfügt er über eine unübersehbare Zahl von Kommissaren, verschwindet einer, kommt ein neuer hinzu. Er erzählt sowohl konventionelle Krimi-Stories als auch sozialkritische oder politische Kriminal-Geschichten. Seine einzelnen Folgen tragen die unterschiedlichsten Handschriften. Jeder Beitrag zur Reihe präsentiert sich als eigenständiger, abendfüllender Fernsehfilm. Gerade diesem heterogenen Konzept – oder Nicht-Konzept – verdankt der ›Tatort‹ seinen unerschöpflichen Reichtum an inhaltlichen und künstlerischen Möglichkeiten« (Witte 2000, S. 6).

Beständiger Wandel und Selbsterneuerung als Kennzeichen ihrer Heterogenität gehören somit zu den Charakteristika der Reihe. Die für die Fernsehfilmproduktion zuständigen Redaktionen der Landesrundfunkanstalten arbeiten mit wechselnden wie auch wiederholt tätigen Drehbuchautoren und Regisseuren zusammen, die altbekannte wie auch neue Ermittler an wechselnden Handlungsorten in jeweils neuen Geschichten auf die Mörderjagd schicken. Dabei befinden sich die einzelnen Teams in einem Verhältnis produktiver Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Einschaltquoten zueinander. Die Sendungen fallen hinsichtlich ihrer Milieuzeichnungen, Topografien, Spannungsdramaturgien, Komikanteile, interdiskursiven Gehalte – der Qualität der Sendungen insgesamt – höchst verschieden aus. Abwechslung scheint garantiert. Jede der beteiligten Sendeanstalten steuert abgeschlossene Einzelfolgen und gelegentlich auch in Kooperation entstehende Doppelfolgen zum Reihenganzen bei. Die Folgen sind jeweils verbunden über gemeinsame Handlungsträger, Schauplätze und das Sujet des Verbrechens und seiner Aufklärung.

2.4.2 Reihenstruktur und Serialität

Das »Strukturmerkmal der losen Kopplung« (Rademacher 2003, S. 375) zeigt, dass es sich beim »Tatort« um eine Sendereihe handelt, das heißt, die Handlungsorte und Hauptpersonen wechseln von einem Sonntag zum nächsten, nach der Mörderjagd in den Straßen Berlins wird eine Woche später in der niedersächsischen Provinz ermittelt. Die dem heterogenen Produktionszusammenhang geschuldete »Individualität« (Brück et al. 2003, S. 161) der Einzelfolgen unterscheidet die Sendung damit von anderen des Krimigenres. In Verbindung mit einem Format von knapp 90 Minuten Länge ist es den Machern möglich, komplexere Dramaturgien und Figuren zu entwickeln, als dies in kürzeren Fernsehkrimis der Fall ist. Der gemeinsame Vorspann, die Sendungslänge und das Sujet sind die verbindenden Elemente. Insofern handelt es sich um »wechselnde Episoden (Folgen) bei gleich bleibendem Handlungshintergrund (Reihentitel)« (Plake 2004, S. 145) und weniger um einzelne »Teilreihen« (vgl. Krah 2004, S. 105) unter dem Label »Tatort«. Die in loser Folge gesendeten Episoden aus Berlin, Kiel etc. sind deshalb keine »Teilreihen«, da es durchaus über die Einzelfolgen hinaus inhaltliche Zusammenhänge zwischen ihnen gibt (vgl. Mikos 1992b, S. 20). Es handelt sich vielmehr um einzelne Serien, also weniger mehrteilige, dafür aber miteinander verknüpfte Formen innerhalb eines größeren Zusammenhangs – der Reihe. Entscheidend für den seriellen Zusammenhang der einzelnen Teilserien sind in erster Linie die wiederholt auftretenden Protagonisten des Aufklärungsgeschehens – Kommissare, Staatsanwälte und Pathologen –, aber auch die mit ihnen verbundenen Nebenfiguren mit ihren im Kern festgelegten »Rollenbiographie[n]« (Hickethier 2001, S. 177) und Charakteristika sowie die wiedererkennbaren Handlungsorte (Münster, Köln, Berlin etc.). Die jeweils regional situierten »Tatort«-Serien entsprechen damit dem »Modell der Serie mit abgeschlossenen Folgehandlungen« (Hickethier 2003, S. 400) innerhalb eines größeren Reihenverbundes.

2.4.3 Figureninventar

Die föderale Organisationsstruktur der ARD (und Deutschlands) prägt die des »Tatorts« entscheidend (vgl. Hickethier 2010, S. 44). Sie schlägt sich nicht nur im Lokalkolorit der Sendungen nieder, sondern auch wesentlich in der Gestaltung ihres Figureninventars. Jede der neun Landesrundfunkanstalten schickt je nach ihren finanziellen Möglichkeiten einzelne oder mehrere Kommissarinnen und Kommissare auf die Mörderjagd. Ermittler gehörten früher in der Regel dem »unteren Kleinbürgertum« (Seeßlen 1999, S. 12) an, heute sind sie in der Regel als verbeamtete Normalbürger dem mittleren Bürgertum zuzurechnen. Ihr unauffälliger Sozialstatus gestattet es ihnen, ein gleichsam distanziertes Verhältnis zu unteren wie oberen Gesellschaftsschichten zu pflegen und in einer Art von stellvertretendem Voyeurismus in ihnen und der Majorität des Publikums fremde Lebenswelten einzudringen und diese zu erkunden. Dabei dürfen sie dann »ohne devote Gesten zu vollführen, in die Villen der Reichen eindringen, ohne sich die Schuhe abzuputzen« (Koebner 1990, S. 18), müssen aber auch temporär soziales Elend ertragen.

Für den Bayerischen Rundfunk (BR) ermitteln seit 1991 gemeinsam die alt gedienten Kommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und der kroatischstämmige Ivo Batic (Miroslav Nemec). Die von 2002 bis 2010 für den Hessischen Rundfunk (HR) tätigen Kommissare aus Frankfurt, Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf), wurden nach der Aufklärung von 18 Fällen abgelöst: zum einen durch das gegensätzliche und nur in fünf Fällen ermittelnde Duo Conny Mey (Nina Kunzendorf) und Frank Steier (Joachim Król), zum anderen durch Ulrich Tukur als Felix Murot in Wiesbaden. Für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) ermitteln seit 2008 die ebenfalls ungleichen Partner und früheren Eheleute Eva Saalfeld (Simone Thomalla) und Andreas Keppler (Martin Wuttke) in Leipzig. Sie beerbten damit den Volksschauspieler Peter Sodann als Kommissar Bruno Ehrlicher und dessen Partner Kain (Bernd-Michael Lade).3 Beim MDR hinzu kommt im Jahr 2013 ein junges Team, das im thüringischen Erfurt ermittelt. Es besteht aus den Schauspielern Alina Levshin, Friedrich Mücke und Benjamin Kramme. Einen als besonderes Ereignis angekündigten »Tatort« mit Nora Tschirner und Christian Ulmen siedelt der MDR zudem in Weimar an.

In Hannover und der niedersächsischen Provinz geht Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) seit 2002 für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) auf stets quotenträchtige Mörderjagd. Sie zählt zu den beliebtesten Ermittlern. Ebenfalls für den NDR fahndet in Kiel der ein Jahr später berufene Klaus Borowski (Axel Milberg), dem die durch Fatih Akins Drama »Gegen die Wand« (2004) bekannt gewordene und später ausgezeichnete Sibel Kekilli in der Rolle der Sarah Brandt als neue Helferin zur Seite steht. In Hamburg ermittelte von 2008 bis 2012 Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) überdies verdeckt für den NDR. Mit seiner Berufung erfuhr das dem »Tatort« zugrunde liegende Genrekonzept eine Neuerung. Der von Kurtulus verkörperte Cenk Batu ist überdies der erste eigenverantwortlich handelnde türkischstämmige Fahnder.4 Die erste Folge mit ihm, »Auf der Sonnenseite« (NDR 2008), wurde ein Jahr nach der Erstausstrahlung mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Seit 2013 ist mit Wotan Wilke Möhring als in und rund um Hamburg tätiger Ermittler Thorsten Falke ein weiterer Kommissar hinzugekommen; an seiner Seite ermittelt Petra Schmidt-Schaller als Katharina Lorenz. Mit vier »Tatort«-Serien liefert der NDR neben dem WDR das größte Kontingent an Beiträgen zur Reihe. Das kleine Radio Bremen (RB) verfügt hingegen über nur ein Team und lässt seit 1997 die studentenbewegte Inga Lürsen (Sabine Postel) ermitteln. Ihr zur Seite steht der junge Kommissar Nils Stedefreund (Oliver Mommsen).

Ebenfalls ein einzelnes Team schickt der Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) ins föderale Rennen. Es besteht seit 2001 aus den in der Hauptstadt und Umgebung ermittelnden Kommissaren Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic). Der Saarländische Rundfunk (SR) war mit einem Team unter der Leitung des gebürtigen Bayern Franz Kappl (Maximilian Brückner) und Stefan Deininger (Gregor Weber) von 2006 bis 2012 mit einer jährlichen Folge aus Saarbrücken in der »Tatort«-Reihe vertreten.5 Ihnen folgt der vielfach ausgezeichnete Devid Striesow als Ermittler Jens Stellbrink mit der noch weitgehend unbekannten Elisabeth Brück als Lisa Marx an seiner Seite nach. Ein ebenfalls zugezogener Kommissar, der aus Hamburg stammende Thorsten Lannert (Richy Müller), deckt gemeinsam mit seinem Kollegen Sebastian Bootz (Felix Klare) für den Südwestrundfunk (SWR) in Stuttgart Mordfälle auf. Die beiden ermitteln mundartfrei seit 2008. Ebenfalls für den SWR rekonstruiert und kombiniert in Konstanz am Bodensee die renommierte Schauspielerin Eva Mattes als Klara Blum seit 2002 mit psychologischem Geschick. Ihr zur Seite steht der junge Kommissar Kai Perlmann (Sebastian Bezzel). Das dritte Team des SWR ist das um die seit 1989 in über 50 Fällen erfolgreich ermittelnde Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) in Ludwigshafen. Erst mit dieser Figur wurde die Ermittlungsarbeit im »Tatort« auch eine selbstverständliche Frauensache (vgl. Brück et al. 2003, S. 170 f.).6 Ihr Partner ist seit 1996 der als italienischstämmig eingeführte Mario Kopper (Andreas Hoppe).

Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) steuert zur »Tatort«-Reihe drei Teams bei, eines in Münster, eines in Köln und neuerdings eines in Dortmund. Der beliebte Münsteraner »Tatort« ist stets eine hybride Mischung aus Krimi und Komödie und wird seit 2002 von zwei höchst verschiedenen Protagonisten bestritten, dem vielfach ausgezeichneten Schauspieler Axel Prahl als Kommissar Frank Thiel und Jan Josef Liefers in der Rolle des exaltierten Rechtsmediziners Prof. Karl-Friedrich Boerne. Ihre Kölner Kollegen sind bereits seit 1997 für den WDR im Polizeieinsatz. In über 50 Folgen haben die laut einer Allensbacher Studie (IfD 2010, S. 4) beliebtesten Ermittler, die Kommissare Freddy Schenk (Dietmar Bär) und Max Ballauf (Klaus J. Behrendt), bereits ermittelt. Behrendt war seit 1989 als stets problembehafteter Kommissar für das Düsseldorfer Team Flemming/Koch im Einsatz, bevor er über Florida nach Köln gelangte. Die beiden Kölner gründeten 1998 im Zusammenhang mit der »Tatort«-Folge »Manila« (vgl. Schnake 2000), in der es um Kinderprostitution geht, den Verein »Tatort – Straßen der Welt e.V.«, der sich für philippinische Straßenkinder einsetzt. Im direkten Anschluss an die Erstausstrahlung von »Manila« (19.04.1998) waren Behrendt und Bär in der Polit-Talkshow »Sabine Christiansen« zu Gast und diskutierten darin über das reale Thema der Kinderprostitution. Die Schauspieler sprachen »›ernst‹ und in einem eigentlich ernst zu nehmenden Fernsehformat über Fälle, die sie nur filmisch, medial darstellen« (Krah 2004, S. 128). Politische Unterhaltung traf auf unterhaltsame Politik (vgl. Dörner 2001). Das »Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung« (BMZ) gab zudem ein Medienpaket heraus, bestehend aus dem »Tatort«-Krimi »Manila«, einer Dokumentation und einem Begleitbuch (vgl. Block 1998).7 In Dortmund fahndet für den WDR ab Herbst 2012 außerdem das Ermittlerteam: Peter Faber (Jörg Hartmann) und Martina Bönisch (Anna Schudt) sowie Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske).

Der seit 1999 als Wiener Chefinspektor und Sonderermittler tätige Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) des Österreichischen Rundfunks (ORF) sowie der nach über zehnjähriger eidgenössischer Abstinenz für das Schweizer Fernsehen (SF) aufklärende Kommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) liefern die einzigen ausländischen Beiträge zur Reihe. Eisner wurde 2011 die als alkoholkrank gezeichnete Bibi Fellner (Adele Neuhauser) zur Seite gestellt. Die Ausstrahlung der ersten neuen Schweizer Folge verzögerte sich aufgrund von Sorgen um die Qualität der Episode unter dem Titel »Wunschdenken« (ORF 2011).

Mit der vorangegangenen Vorstellung der im Zeichen des Fadenkreuzes ermittelnden Kommissare wird das seit den 1990er-Jahren vorherrschende Prinzip der »Team-Konstellationen« (Brück 1996, S. 317) deutlich. Die Aufklärungsarbeit erledigen meist zwei gleichrangige Kommissare im Team (unter anderem in Köln, München, Stuttgart) oder in geringfügig hierarchisch geprägten Figurenkonstellationen (z.B. in Konstanz und Bremen), seltener einzelne Fahnder (in Hamburg und lange Zeit in Wien). Eine Besonderheit stellen die aus einem Kommissar und einer Helferfigur aus dem Polizeiapparat mit detektionsnaher Profession bestehenden Teams dar. Es waren bzw. sind dies eine Psychologin und ein Rechtsmediziner (»Tatort« Kiel bzw. »Tatort« Münster). In jedem Fall sind die Kommissarinnen und Kommissare die Protagonisten und damit Träger der Detektionshandlung.

2.4.4 Individualität und Serialität

Die »Tatort«-Krimis haben heute das große Format von knapp 90 Minuten Spielfilmlänge ohne Werbeunterbrechung. Pro Jahr gibt es eine Zahl von circa 35 Erstausstrahlungen, deren Sendeplatz stets der Sonntagabend zur Primetime ist. Darüber hinaus gibt es wöchentlich viele Wiederholungen meist wenige Jahre alter Folgen und seltener Fernsehabende, an denen Klassiker wie »Reifezeugnis« (NDR 1977) oder »Tote Taube in der Beethovenstraße« (WDR 1973, vgl. Hüser 2011) gezeigt werden.

Trotz der Individualität und weitgehenden Geschlossenheit der Sendungen gibt es auch episodenübergreifende, serienspezifische Charakteristika in Sendungen der »Tatort«-Reihe (vgl. Mikos 1992b, S. 20). Die Wohnsituation der Kommissare ist beispielsweise in den einzelnen Serien ein wiederkehrendes Thema: Ballauf als langjähriger Bewohner einer Kölner Pension, Odenthal und Kopper in ihrer Ludwigshafener Wohngemeinschaft sowie Boerne und Thiel im selben Münsteraner Haus. Ebenso gibt es biografische Details wie die backstory wound (vgl. Krützen 2004, S. 4 ff.) des Kommissars Lannert, dessen grausame Familiengeschichte mehrmals in Stuttgart thematisiert wurde und ein wichtiges Charakteristikum der Figur ausmacht. Des Weiteren gab und gibt es Verwandte (die Tochter und spätere Vorgesetzte von Lürsen in Bremen), Spleens und Merkwürdigkeiten (der Klingelton von Thiels Handy oder der Porsche von Leitmayr in München) sowie intertextuelle Kohärenzen (z.B. das wiederholte ironische Sichausgeben als Homosexuelle durch Lannert und Bootz). Außerdem altern die länger im Dienst befindlichen Kommissare für die Zuschauer sichtlich (z.B. Leitmayr und Batic, Odenthal). Derlei Merkmale und Bezugnahmen sind zwar meist dysfunktional für die Detektionshandlungen, das heißt, sie sind für den inneren Zusammenhang des einzelnen Krimitextes und seines Verständnisses unwichtig und dienen häufig der Generierung von Komik. Dennoch schaffen sie partiell serielle Zusammenhänge. Jochen Vogt spricht sogar vom »Tatort« als einer »Hyper-Serie«, die ein »Atlas der Bundesrepublik«, eine »Chronik der deutschen Gesellschaft« seit der Zäsur von 1968 sowie ein »Hypertext« ist (Vogt 2005, S. 115). Zur Organisationsstruktur als Reihe mit seriellen Anteilen schreibt er:

»Die föderalistische Produktionsweise schafft innerhalb des lockeren Reihenverbundes zusammenhängende Struktureinheiten bzw. Komplexe von Folgen, die jeweils um dieselbe Ermittlerfigur kreisen. Diese weisen in Minimalmerkmalen serielle Elemente auf, ein Phänomen, das die Bindung der Rezipienten an diese Folgen erhöht und konventionalisierten Zuschauererwartungen entgegenkommt, die durch die allgegenwärtigen Serialisierungstendenzen innerhalb des Programmangebots prädisponiert sind« (ebd., S. 126).

Der »Tatort« der ARD ist somit Reihe und Serie zugleich. Eine Reihe im Sinne des losen Zusammenhangs in sich abgeschlossener Einzel- und Doppelfolgen und eine Serie als Fluss konventionalisierter Darstellungen und Erzählungen mit begrenzt periodischen Strukturen (vgl. Hickethier 1991, S. 10 ff.).

2.4.5 Lokalkolorit

Ein weiteres Charakteristikum der »Tatort«-Reihe ist ihre »Regionalität« (Brück et al. 2003, S. 161), das Lokalkolorit. Dieses der föderalen Struktur der ARD geschuldete Merkmal bezieht sich auf die im »Tatort« wiedererkennbaren Städte, Landschaften und Regionen, denen die Kommissare, wie zu zeigen sein wird, dauerhaft zugeordnet sind. Damit sind sie die »Lokalmatadore« (Prümm 1987, S. 358) des Aufklärungsgeschehens, wenngleich sie selbst immer weniger im jeweils landestypischen Dialekt sprechen (vgl. Schneider 2012). Im »Tatort« wird trotz des konzeptionell vorgesehenen Regionalbezugs nur noch selten Mundart gesprochen, wie etwa in der programmatischen plattdeutschen NDR-Folge »Wat Recht is, mutt Recht bliewen« (1982) oder der jüngeren BR-Produktion »A gmahde Wiesn« (2007). Meist sind es Assistenten, Verdächtige, Täter oder Nebenfiguren, die mit gelegentlich lokalkolorierter Sprachfärbung oder vermeintlich charakteristischen Verhaltensweisen für Illustrationen des Regionalen sorgen (vgl. Vogt 2005, S. 116 f.). Die Repräsentationen des Regionalen sind dabei häufig mit Stereotypisierungen verbunden. Der in den Stuttgarter Bienzle-Krimis den sprichwörtlichen schwäbischen Geiz repräsentierende Hauswirt namens Romminger ist dafür nur ein Beispiel. Die Kommissare selbst verzehren landestypische Speisen und Getränke und sehen sich mit regionalspezifischen Sitten, Festlichkeiten und Gebräuchen wie dem Oktoberfest in München, der Fastnacht in Oberschwaben oder einem Weinfest an der Obermosel konfrontiert. Sie sind damit Projektionsflächen für die filmische Verarbeitung regionaler Mentalitäten und Besonderheiten. Das der Repräsentation Deutschlands und der deutschen Kultur in der Welt verschriebene Goethe-Institut widmete dem »Tatort« gar eine zweisprachige Publikation (vgl. Desinger 2002). Ihm wird nicht nur von dieser Institution offenbar zugetraut, ein repräsentatives Bild des Inlands zu liefern.

Der »Tatort« als »Länderspiegel mit Leichen« (Eisenhauer 1998, S. 65) zeichnet sich durch spezifische mediale Topografien aus. Björn Bollhöfer zeigt in seiner Dissertation zu den »Geographien des Fernsehens« (2007) die Konstruktion von Stadtansichten am Beispiel des Kölner »Tatorts« auf. Die filmische Arbeit mit »Identitätskennzeichen der Stadt« (ebd., S. 134) sowie des Ländlichen mittels Autokennzeichen, touristischen Attraktionen und markanten Wahrzeichen sorgt für (über-)deutliche Inszenierungen metaphorischer Orte. Es handelt sich um »mimetische Raumkonstitution[en] durch topographische Zeichen« (Bauer 1992, S. 131). Björn Bollhöfer stellt kritisch fest:

»Während die Filmreihe behauptet, dass jeweils bestimmte, unverkennbare Städte dargestellt werden, konnte hier gezeigt werden, dass jede Stadt, wie sie auf dem Bildschirm erscheint, eine enorme apparative Künstlichkeit erfordert, um als real zu wirken. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund der Produktionsbedingungen nicht alle Motive vor Ort gedreht werden können. Genau diese Artifizialität unterwandert aber eine detaillierte Innensicht der Städte und lässt ihre Eigenarten verschwinden« (Bollhöfer 2007, S. 142 f.).

In der Tat sind in den »Tatort«-Krimis lediglich audiovisuell inszenierte Ausschnitte deutscher Lebenswirklichkeiten und -räume zu sehen. Diese werden mit filmischen Mitteln erzeugt und sind aufgrund ihrer Künstlichkeit weit davon entfernt, ein tatsächliches Abbild des Inlands zu sein. Es handelt sich vielmehr um eine idealisierende Darstellung der Wirklichkeit mittels Signalen der Authentizität, die zur Schaffung von Glaubwürdigkeit und einer anknüpfungsfähigen Verortung der Krimihandlungen beitragen (vgl. Borstnar et al. 2008, S. 41). Kritiker sprechen dem Lokalkolorit lediglich eine Kulissenfunktion zu, doch es ist weitaus vielschichtiger und bedeutsamer für die Krimiplots als häufig angenommen (vgl. Weber 1992).

Claudia Stockinger und Stefan Scherer stellen in ihrer »Typologie zum Realismus des Raums in der ARD-Reihe ›Tatort‹ und ihre Umsetzung am Beispiel Münchens« folgende These auf: »Das ARD-Format ›Tatort‹ bildet die Realität unterschiedlicher Räume nicht nur ab […], sondern erzeugt zuallererst jene Räume, als deren Abbildung es sich dann versteht« (Scherer/Stockinger 2010a, S. 4). Die Orte im »Tatort« werden als filmische Tat-Orte erst geschaffen, »das ARD-Format ›Tatort‹ bildet mit der Realität unterschiedlicher Räume die Eigenlogik deutscher Städte ab, die es in der Abbildung selbst erst erzeugt« (ebd., S. 31). Scherers und Stockingers Typologie umfasst fünf Raumtypen: 1. den Typus des lokalen Raums, 2. den Typus des globalen Raums, 3. den Typus des vernetzten Raums, 4. den Typus des ländlichen Raums sowie 5. den Typus des romantischen bzw. mythischen Raums (ebd., S. 34 ff.). Zur Verdeutlichung der Vielschichtigkeit von Raumkonstruktionen im »Tatort« verdienen sie eine genauere Betrachtung.

1. Der »Realismus des Lokalen« (ebd., S. 39) als erster Typus des lokalen Raums umfasst »signifikante Bauwerke, Straßenzüge oder landschaftliche Eigenheiten« (ebd.), »Landmarks« (Bollhöfer 2007, S. 142) wie der zentrale Lüneburger Platz »Am Sande«, der von der »Wurstbraterei« aus zu sehende »Kölner Dom« oder das »Brandenburger Tor« in Berlin. Ebenfalls subsumieren die Autoren den gesprochenen Dialekt darunter (vgl. Schneider 2012).

2. Der zweite Typus ist der des »Realismus des Globalen«. Er »versammelt Folgen mit unterschiedlichen Merkmalen, die sich der konzeptionellen Verpflichtung auf Regionalität entziehen oder diese transzendieren« (Scherer/Stockinger 2010a, S. 44). Dies zeigt sich an der »Auflösung der Handlungsorte ins Beliebige«, der »Internationalisierung der Fälle und Orte« oder aber der »Auflösung traditioneller Milieus« (ebd.), was an der mittlerweile als Selbstverständlichkeit zu erachtenden Möglichkeit von Migrationshintergründen der Ermittler festzumachen ist. Die Beliebigkeit vieler Handlungsorte wird exemplarisch deutlich an jüngeren Episoden aus Stuttgart und Leipzig, an denen seit kurzer Zeit zugezogene Ermittler ohne lokalen Bezug tätig sind. Die Internationalisierung war zwar von Beginn an Teil des »Tatort«-Konzeptes, hat jedoch heute nur eine geringe Bedeutung. Insbesondere das Lokalkolorit kann heute als Grund dafür angesehen werden, dass die »Tatort«-Krimis im Gegensatz beispielsweise zur weltweit vermarkteten »Derrick«-Serie (1974 – 1998) des ZDF nur in sehr bescheidenem Umfang ins Ausland verkauft wurden (z.B. in die Niederlande). Der »Tatort« genießt viel nationales, aber wenig internationales Renommee.

3. Der dritte Typus ist der des »Realismus der Vernetzung« (ebd., S. 57). Er ist seltener und betrifft Koproduktionen einzelner Sendeanstalten, in denen Teams aus verschiedenen Städten aufeinandertreffen, wie in der Einheitsfolge »Quartett in Leipzig« aus dem Jahr 2000.

4. Häufiger ist der vierte Typus, der »Realismus des Ländlichen« (ebd., S. 65). Er zeichnet sich aus durch »die gelegentliche Verlagerung der Ermittlungsarbeit in dörfliche Mikrokosmen, die auf überschaubarem Raum die gängigen Optionen zwischenmenschlicher Interaktion bereithalten und vorführen« (ebd.). Der Krimi ist dann auch ein Heimatfilm mit spezifischen ethnografischen Qualitäten (vgl. Struck 2000, S. 105 ff.). Diese Räume sind nicht mehr nur als vormodern und rückständig oder gar provinziellpathologisch (vgl. Niedenthal 2007, S. 211) gegenüber dem Urbanen gestaltet, die Kommissar agieren in ihnen häufig als Ethnografen ihnen fremder Sozialwelten. So ermittelt Manfred Krug als einer der zwei singenden Kommissare (Stöver und Brockmöller) verdeckt in der NDR-Folge »Undercover-Camping« (NDR 1997) und taucht in die kleinbürgerliche Welt der Dauercamper ein. Eine promovierte Anthropologin klärt ihn darin mit Expertenwissen über das dortige Sozialgefüge auf:

»Ich arbeite an einer Studie über Dauercamper. […] Der Dauercamper definiert sich durch die Gemeinschaft mit Seinesgleichen. Dauercamper haben einen gemeinsamen Wertekodex, sie suchen nach Naturnähe, Romantik und Freiheit, reduzieren diese aber wiederum auf ein privates Glück im Rahmen fester Regeln einer Platzgemeinschaft – Klingt ja wahnsinnig wissenschaftlich – Sehen sie hier zum Beispiel …« (»Undercover-Camping«, NDR 1997, Min. 18:38 ff.).

Mit einer ähnlichen Sozialstruktur sieht sich Maria Furtwängler als Sonderermittlerin des LKA, Charlotte Lindholm, in »Erntedank e.V.« (NDR 2008) konfrontiert (vgl. Gräf 2010, S. 312 ff.). Die Figur entspricht prototypisch der seit den 1990er-Jahren verstärkten Entwicklung zu »mehr Frauen und mehr Provinz« (Martens 2002, S. 4) und ermittelt von Hannover aus häufig in den ländlichen Regionen Niedersachsens.

5. Dem »Realismus des Ländlichen« ordnen Scherer und Stockinger (2010a, S. 74) einen letzten Typus zu, den »Realismus des Romantischen bzw. Mythischen«, in deren Spielhandlungen »keine urbanen Räume, sondern Landschaftsräume im Mittelpunkt der Handlung stehen und diese zugleich motivieren oder kommentieren« (ebd.). Landschaften werden darin zu zentralen Trägern der Handlung, wie etwa in den am Bodensee spielenden Episoden des Südwestrundfunks. Darüber hinaus werden »Tatort«-Krimis darunter subsumiert, in denen das Durchbrechen des Realismusgebotes zum Prinzip erhoben wird, wie in der Münsteraner Serie oder der bisher einzigartigen Science-Fiction-Episode »Tod im All« (SWF 1997), die dieses Gebot von allen bisherigen »Tatort«-Folgen am konsequentesten missachtet.

Scherer und Stockinger fassen ihre Erkenntnisse wie folgt zusammen:

»Auf den Punkt – und schließlich auf die o.g. Typologie gebracht: Das ARD-Format ›Tatort‹ bildet mit der Realität unterschiedlicher Räume die Eigenlogik deutscher Städte ab, die es in der Abbildung selbst erst erzeugt. […] Stadtansichten sind immer Stadterfindungen« (ebd., S. 31).

Das von Scherer und Stockinger hinsichtlich der Raumordnungen angesprochene Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität im Fernsehkrimi spielt im Hinblick auf die Fragestellung eine entscheidende Rolle und verdient daher im Folgenden eine genauere Betrachtung.

2.4.6 Realismus, Authentizität, Repräsentation

»Dieser Fall ist wahr!« (Brück 2004, S. 94) war zu Beginn einer jeden Folge der ersten ARD-Krimiserie »Stahlnetz« (1958 – 1968) zu lesen. Der Anspruch, Realistisches darzustellen, spielte bereits in der frühen Entwicklungsphase des Fernsehkrimis eine große Rolle und prägt das gesamte Genre bis heute. Realismus gilt im Fernsehkrimi als »positiv normatives Bewertungskriterium« (Brück 1996, S. 335). Die Darstellungen sollen insofern realistisch sein, als sie sich wie gezeigt zugetragen haben könnten (vgl. Borstnar et al. 2008, S. 41). Sie müssen plausibel bzw. glaubwürdig sein. Damit ist das grundlegend problematische Verhältnis von Medien und Wirklichkeit angesprochen. Werner Früh schreibt in seiner Publikation »Realitätsvermittlung durch Massenmedien. Die permanente Transformation der Wirklichkeit« (1994):

»Medien bilden ›die Realität‹ nicht umfassend und ›objektiv‹ ab, da dies erstens aus Kapazitätsgründen nicht möglich ist und zweitens auf dieser globalen Betrachtungsebene nicht ihrer Funktion entspricht« (Früh 1994, S. 56).

Und:

»Medien sind keine bloßen Weltchronisten, die Realität in Text und Bild möglichst ›unverfälscht‹ zum Publikum transportieren, sondern sie sind ebenso wie das Publikum Teil dieser Realität, so dass sie diese genauso selektieren, transformieren und ergänzen, nur eben auf ihre besondere Art und Weise« (ebd., S. 58).

Eine Widerspiegelung von Realität im Krimi ist mithin nicht möglich, weil Fernsehen nicht das, was in der Welt passiert, unverändert und perspektivlos reflektieren kann. Es taugt lediglich bzw. immerhin dazu, Teile der außerfilmischen Welt in Worte, Töne und Bilder selektiv zu transformieren, die dann in den Köpfen und stärker noch in den Herzen der Zuschauer mit Bedeutungen versehen werden (vgl. Hall 2001, S. 354, Hickethier 2010). Film- und Fernsehtexte sind insofern »Repräsentationen von Wirklichkeit« (Mikos 2008, S. 26) mit »lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge[n]« (ebd., S. 24). Film (und Fernsehen, beide werden in diesem Zusammenhang synonym verwendet) »repräsentiert abwesende Phänomene und Sachverhalte, er ist nicht identisch mit dem, was er repräsentiert, er ist demnach bedeutungstragend und interpretationsbedürftig« (Borstnar et al. 2008, S. 39, Herv. i. Orig.). Das, was Wirklichkeit ist bzw. wir dafür halten, bestimmen die medialen Repräsentationen entscheidend mit, denn Kultur und mediale Artefakte befinden sich in einem reflexiven Verhältnis zueinander. Aufgrund dieses permanent zirkulären Austauschs haben die medialen Repräsentationen einen entscheidenden Anteil an den menschlichen, soziokulturellen Konstruktionen von Wirklichkeit (vgl. Hepp 2004, S. 277).8

Für den Fernsehkrimi im Besonderen konstatierte Thomas Weber einen »äußerlichen Realismus […], zeichenhaft reduziert auf Details« (Weber 1994, S. 262), was zwar im Kern zutrifft, aber dennoch präzisiert werden muss. Der »Realitätseindruck« (Hickethier 1995, S. 64) insbesondere der »Tatort«-Krimis kommt vielmehr dadurch zustande, dass sie eine Mischung aus Signalen der Fiktionalität und Faktualität bzw. Authentizität zur Bedeutungsproduktion liefern. Fiktionalitätssignale wie extradiegetische Musik, natürliches Licht, Inserts etc. betonen bzw. zeigen den fiktionalen Status der Krimitexte an. Authentizitätssignale hingegen suggerieren den scheinbar unverstellten Wirklichkeitsbezug der Texte (vgl. Bauer 1992, S. 36, Hattendorf 1994, S. 54). Der alltagssprachlich mit den Begriffen »echt«, »glaubwürdig« und »verbürgt« in Verbindung gebrachte Begriff der Authentizität steht im Hinblick auf die medialen Konstruktionsleistungen von Fernsehkrimis für die Erzeugung eines »Eindrucks von Wirklichkeitstreue« (Pinseler 2006, S. 25) bei den Zuschauern. Herauszufinden auf der Ebene der medialen Artefakte ist dementsprechend, »wie Authentifizierung zustande kommt, ein authentischer Ausdruck hergestellt und/oder geglaubt [bzw. beglaubigt, H.B.] wird« (Hügel 1997, S. 47). Dies geschieht mittels besagter Authentizitätssignale sowie mittels Strategien der Authentisierung:

»Authentizitätssignale betonen also den Charakter des Abgebildeten als authentisch, stellen diese Authentizität jedoch nicht her. Unter Authentisierungsstrategien werden hingegen all die filmischen Mittel verstanden, die verwendet werden, um nichtdokumentarisches Material authentisch erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu Authentizitätssignalen stellen Authentisierungsstrategien den Eindruck von Wirklichkeitstreue, der beim Betrachter erzeugt werden soll, erst her« (Pinseler 2006, S. 67).

Ihr Einsatz erhöht die Glaubwürdigkeit der Kommunikate gerade dadurch, dass sie ihre Konstruiertheit ausstellen (vgl. Borstnar et al. 2008, S. 41). Besonders augenscheinlich ist dies bei der Verwendung von Wackelkameras, Unschärfen, jump cuts und selbstreflexiven Elementen wie direkten Ansprachen des Publikums durch die Protagonisten (vgl. Borstnar et al. 2008, S. 43, vgl. Jean-Luc Godards »À bout de souffle«, 1959). Weniger deutlich fungieren Originalschauplätze als Authentizitätssignale, wie z.B. die für »echt« zu haltende Kulisse eines Krankenhauses mit weiß bekitteltem Personal oder aber ein »echter« Rohbau mit behelmten Menschen darin. Andere Schauplätze mit eindeutig künstlich geschaffenen, aber dennoch zuzuordnenden lebensweltlichen Referenzen, wie z.B. ein realistisch gestalteter Supermarkt eines fiktiven Discounters mit Waren, Kunden, Kassen etc., zeigen das Changieren zwischen Faktizität und Fiktionalität noch deutlicher. Die Krimis erheben dann einen partiell dokumentarischen Anspruch, wenn sie mittels Strategien der Authentisierung (Sprache, Kameraführung, Ton, Musik etc.) es vermögen, eine »Balance zwischen Annäherung und Distanz« (Hattendorf 1994, S. 71) zu ihrem Gegenstand (Milieu, Thema, Problembereich) herzustellen. In der Summe sind »Tatort«-Krimis realistisch gestaltete Fiktionen.

Dass sich die außerfilmische Wirklichkeit trotz filmischem Realismus nicht in den »Tatort«-Welten in eins zu eins abgebildeter Form wiederfindet, zeigen sehr deutlich die regelmäßig vorgebrachten Einwände und Beschwerden von Berufs-und Branchenverbänden, die sich und ihre Zünfte nicht »korrekt« im »Tatort« repräsentiert sehen (vgl. Kapitel 5.2, 6.4.5). Abgesehen von den Modi der Darstellung liegt dies auch an entsprechend kritischen Vorzugslesarten und Textperspektiven im Rahmen politischer Unterhaltung. Ebenfalls dem Politainment der »Tatort«-Reihe geschuldet ist die Tatsache, dass die Krimis zum Teil schlichtweg Unrealistisches enthalten. So entspricht die fest etablierte Feminisierung der Aufklärung im »Tatort« keineswegs der außerfilmischen Wirklichkeit. Die zahlenmäßig häufige Leitung von Mordkommissionen durch Frauen im »Tatort« repräsentiert vielmehr die wünschenswerte Realität einer vollendeten Gleichberechtigung der Geschlechter. In der den Ermittlern übergeordneten Staatsanwaltschaft ist dieses Ziel nahezu erreicht (vgl. Stolz 2011). Ebenfalls an der außerfilmischen Realität vorbei geht die Häufigkeit des genrekonstitutiven Mordens im »Tatort«. Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) besagt, dass in Deutschland weit weniger Menschen ermordet werden, als dies sonntäglich in der ARD der Fall ist (vgl. Frehsee 2000). Matthias Stolz hat die Daten der PKS in einer ZEIT-Grafik aufbereitet und pointiert kommentiert:

»Im Tatort geht der Trend ja zum Zweit- und Drittmord. Um 20.18 Uhr liegt der Erste tot da, gegen 21.30 Uhr wird nachgelegt. Es entsteht der Eindruck, dass auch in den gar nicht so großen Städten viel gemordet wird. Die Wirklichkeit ist zum Glück etwas friedlicher. Die Tatort-Städte Ludwigshafen, Kiel, Münster und Saarbrücken hatten 2009 zusammen gerade mal sechs Tote, München hatte nur vier. Münster war in den Jahren zuvor mehrmals mord- und totschlagfrei« (Stolz 2011, S. 10, Herv. i. Orig.).

Der Mord indes ist heute die Conditio sine qua non des Krimis. Weniger gewalttätige Delikte bergen weniger Schauwerte sowie überzeugende Gründe dafür, die Kommissare in gefährliche Situationen zu bringen und riesige Polizeiapparate mit Ermittlungen zu beschäftigen

2.5 Forschungsstand

Der selbst auferlegte »Aktualitätszwang« (Prümm 1987, S. 354) der »Tatort«Reihe sorgt dafür, dass ihre Sendungen seit 1970 stets im jeweiligen Hier und Jetzt spielen und damit Gegenwärtiges aufnehmen und verarbeiten. Deshalb ist die Historizität der zur Authentisierung eingesetzten Settings und Ausstattungsdetails von Belang: (städte-)bauliche Zustände, die jeweilige Mode, das Auto-und Möbeldesign und technische Standards wie z.B. stationäre und später mobile Telefone. Ein Teil des Realismus der »Tatort«-Reihe besteht mithin darin, als Indikator für kulturelle Ist-Zustände einerseits und Veränderungsprozesse andererseits zu fungieren (vgl. Viehoff 2005, S. 100 und Gräf 2010). Jochen Vogt schreibt der Reihe »Tatort« deshalb einen »chronikalischen Charakter« (Vogt 2005, S. 119) zu. Ihre Historizität ermögliche es, sich zeitreisengleich durch über 40 Jahre bundesrepublikanischer Kultur zu bewegen (ebd., S. 127). Zeittypische Lebensstile, Einstellungen und Werthaltungen, verbunden mit aktuellen Problemlagen, die sich in Form gesellschaftspolitischer Themenbezüge, aber auch ganz beiläufig in den Krimis materialisieren, machen ebenfalls einen Teil ihres Realismus aus. Sie sind der zentrale Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit.