Tatort Kanban - Siegfried Kaltenecker - E-Book

Tatort Kanban E-Book

Siegfried Kaltenecker

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Beschreibung

Ein Sicherheitsunternehmen, das sich Agilität auf die Fahnen geschrieben hat. Ein Whiteboard, an dem viele bunte Karten hängen. Ein Mitarbeiter, der vor dem Board tot aufgefunden wird. Chefinspektor Robert Nemecek nimmt die Ermittlungen auf. Dabei müssen er und seine Kollegin Nina Obermayr zunächst ein dichtes Netz von Beziehungen entwirren. Ein Dschungel an neuen Begriffen macht ihnen die Suche nach dem Täter auch nicht gerade leichter: Agilität, Selbstorganisation, visuelles Arbeitsmanagement ... Zu Beginn ist Nemecek höchst skeptisch. Handelt es sich bei Kanban & Co nicht um reine Modeerscheinungen, wie er sie von seinem Vorgesetzten Oberst Kappacher zur Genüge kennt? Doch dann entdeckt er nicht nur eine neue Arbeits- und Organisationswelt, sondern auch wie ihm Kanban bei der Ermittlungsarbeit helfen kann. Lassen Sie sich von diesem Wirtschaftskrimi überraschen! Erkunden Sie einen außergewöhnlichen Tatort! Und lösen Sie mit Inspektor Nemecek auf agile Weise einen Fall, der untrennbar mit Wien, seiner Familie und mit seinem Fahrrad verbunden ist! Das Buch richtet sich an Krimi-Fans, an Liebhaber von Business-Romanen und an alle, die sich für agile Praktiken interessieren. Um den Lesern die Ermittlungsarbeit zu erleichtern, sind im Anhang des Buches noch zwei Glossare zu finden: Das erste stellt kurz die wichtigsten Charaktere vor; das zweite liefert bündige Definitionen vieler Fachbegriffe, die im Buch vorkommen.

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Kanban-Board

Siegfried Kaltenecker ist geschäftsführender Gesellschafter der Loop GmbH, die sich auf agile Unternehmensentwicklung spezialisiert hat. Seit mehr als 20 Jahren unterstützt er die Umsetzung innovativer Arbeits- und Organisationsformen in den unterschiedlichsten Bereichen. Die Erfahrungen, die er dabei sammelt, verarbeitet er in Artikeln und Büchern wie Kanban in der IT, Selbstorganisierte Teams führen und Selbstorganisierte Unternehmen.

Zu diesem Buch – sowie zu vielen weiteren dpunkt.büchern – können Sie auch das entsprechende E-Book im PDF-Format herunterladen. Werden Sie dazu einfach Mitglied bei dpunkt.plus+:

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Siegfried Kaltenecker

Tatort Kanban

Ein agiler Kriminalroman

Siegfried Kaltenecker

[email protected]

Lektorat: Christa Preisendanz

Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg

Satz: Birgit Bäuerlein

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

Print    978-3-86490-653-4

PDF      978-3-96088-793-5

ePub    978-3-96088-794-2

mobi    978-3-96088-795-9

1. Auflage 2019

Copyright © 2019 dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

Hinweis:

Dieses Buch wurde auf PEFC-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie.

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Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: [email protected].

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

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Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.

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Inhalt

Montag, 20:15Streit in der SafeIT

Dienstag, 7:29Ein agiler Coach nimmt Fahrt auf

Dienstag, 8:13Familie Nemecek verschläft

Dienstag, 9:09Tatort SafeIT

Dienstag, 10:17Von Kaffeepausen, Untersuchungen und Zeugen

Dienstag, 11:44Ermittlungen in der Kommunikationsbox

Dienstag, 13:56Zu Mittag beim Pokorny

Dienstag, 15:16Von Liebesdingen und Zukunftsplänen

Dienstag, 18:19Laufende Reflexionen

Dienstag, 19:25Ein traditionsbewusstes Abendessen

Dienstag, 21:15Selbstorganisation bei Nacht

Mittwoch, 8:01Morgenbesprechung bei Oberst Kappacher

Mittwoch, 8:33Der Tagesplan der Ermittler

Mittwoch, 8:42Gerichtsmedizinische Einsichten

Mittwoch, 9:31Familien-, Geschäfts- und Führungsgeschichten

Mittwoch, 10:42Dem Täter auf der Spur

Mittwoch, 13:18Austausch im Augarten

Mittwoch, 14:45Die Schwester des Opfers

Mittwoch, 16:09Eine Inspektion in eigener Sache

Mittwoch, 18:42Eine erkenntnisreiche Radtour

Mittwoch, 21:21Späte Lektüre

Donnerstag, 5:03Traumhafte Turbulenzen

Donnerstag, 5:47Nemecek goes Kanban

Donnerstag, 8:02Eine diskrete Chefsache

Donnerstag, 9:39Visuelles Ermittlungsmanagement

Donnerstag, 10:16Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man sprechen

Donnerstag, 12:38Unerwartete Enthüllungen

Donnerstag, 15:01Ein Standup im Rückspiegel

Donnerstag, 17:54Wie Bewegung in den Fall kommt

Donnerstag, 19:32Schildbürgerliche Erkenntnisse

Freitag, 7:59Geheimmissionen und Bastelstunden

Freitag, 8:28Ein Verdächtiger taucht auf

Freitag, 9:56Irreführung der Behörden

Freitag, 11:28Eine Sackgasse, die keine sein sollte

Freitag, 12:53Das erste Standup der Mordkommission

Freitag, 14:31Zurück zum Start: Hausbesuch in der SafeIT

Freitag, 16:01Retrospektive in Action

Freitag, 18:06Am Tiefpunkt der Erkenntnis

Freitag, 23:11Unerwartete Wendungen

Samstag, 7:17Verfolgungsjagd durch die Innenstadt

Samstag, 9:29Das vorläufige Ende der Aufklärung

Samstag, 11:00Vom Zentrum nach Ottakring

Nachwort

Glossar der Figuren

Glossar der Fachbegriffe

Literatur

Musik

Montag, 20:15

Streit in der SafeIT

»Was denkst du dir eigentlich dabei?«

Eleanore Ortiz war laut geworden. Gleichzeitig hatte sie sich nach vorne gebeugt und ihre Hände links und rechts auf der Tischplatte aufgestützt. Paul Steiner sah, wie sich ihre Finger verspannten. Es wirkte, als ob sie sich schon im nächsten Moment auf ihn stürzen könnte. Da schlägt wohl wieder einmal ihr südamerikanisches Temperament durch, dachte er, während er sich betont langsam zurücklehnte.

»Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufregst.«

»Das verstehst du nicht?«, fuhr ihn Ortiz an. Sie war nun tatsächlich von ihrem Stuhl aufgesprungen. Ihre Augen funkelten zornig.

»Ele, setz dich bitte wieder hin und lass uns vernünftig darüber reden«, probierte er es auf die väterliche Tour, die normalerweise immer funktionierte. Die beherrschte er wie kein anderer: Luft herausnehmen, sich in einzelnen Punkten nachsichtig zeigen, den eigentlichen Vorwurf aber sukzessive entkräften, bis am Ende alles auf ein Missverständnis hinauslief.

»Vernünftig?«, wurde ihm die Tour schon im Ansatz vermasselt. »Das sagst ausgerechnet du?«

»Jetzt beruhige dich doch erst mal!«, versuchte es Steiner noch einmal. Doch seine Kollegin war nicht mehr zu bremsen. »Wie soll ich mich beruhigen, wenn du unsere Arbeit vorsätzlich sabotierst?«

»Ich bin doch kein Saboteur!«, wandte Steiner ein, hörte aber selbst, wie schwach das klang.

»Allein dein Verhalten im heutigen Meeting: die pure Verweigerung! Als hättest du immer noch nicht verstanden, dass Transparenz und Offenheit für unsere Arbeit essenziell sind.«

Steiner setzte erneut an, doch seine Kollegin wischte seinen Einwand mit einer energischen Handbewegung zur Seite, bevor er ihn aussprechen konnte. Sie war jetzt so richtig in Fahrt gekommen.

»Schlimm genug, dass du deine Teamkollegen an der kurzen Leine hältst«, schleuderte ihm Ortiz ins Gesicht. »Aber deine Geheimniskrämerei im Projekt bringt das Fass endgültig zum Überlaufen!«

Steiner musste blinzeln und fuhr sich rasch über die Augen. Ortiz starrte ihn unverwandt an. Obwohl sie fast einen Kopf kleiner und sicher 30 Kilo leichter war, musste Steiner zugeben, dass jetzt etwas Bedrohliches von seiner Kollegin ausging. Ihr ganzer Körper wirkte wie ein einziger Muskel, der zum Zerreißen angespannt war. Als er sich gerade fragte, ob sie wirklich einen Angriff wagen würde, gab es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall. Steiner fuhr zusammen. Wie vom Blitz getroffen, kam ihm in den Sinn, während er die Tischplatte unter Ortiz’ Hand anschaute, die immer noch von der Wucht ihres Schlages zu zittern schien.

Dann aber ging ein Ruck durch ihn. Ansatzlos sprang er auf. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, brüllte er sie an. »Dass du mir da Moralvorträge halten kannst!«

»Moralvorträge!«, schrie Ortiz zurück. »Es geht nicht um Moral. Es geht um Fairness! Und Loyalität!«

Steiner schluckte. »Du bist ja verrückt«, presste er hervor, konnte aber nicht verhindern, dass er dabei den Blick abwandte.

»Leugne nur. Du wirst schon sehen, wohin das führt!«, zischte Ortiz so heftig, dass sich zwischen ihnen ein feiner Sprühregen von Speicheltropfen ergoss.

»Willst du mir etwa drohen?«, fragte Steiner, während er seinen Blick wieder in die Richtung seiner Kollegin zwang.

»Jedenfalls werde ich morgen noch einmal mit Viktor reden«, erklärte Ortiz. »Und am Donnerstag wird das Projekt das Erste sein, was ich mit Heidrun und Ferdinand bespreche. Dieses Mal kommst du nicht ungeschoren davon!«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, entgegnete er so gleichgültig wie möglich. Ortiz sollte ja nicht glauben, dass er sich gleich in die Hose machte, wenn sie zu den beiden Geschäftsführern lief. Seit Heidrun und Ferdinand Junior ihren Vater beerbt hatten, war zwar vieles anders geworden – passiert war ihm dennoch nie etwas. Und Viktor Solochin war zwar fachlich ein Genie, sozial aber eher autistisch unterwegs. Wahrlich kein Grund, sich derart zu echauffieren! Wenn ihm jetzt noch ein verächtliches Grinsen gelang, war die Sache wohl wieder im Lot. In seinen 30 Jahren im Vertrieb hatte er weiß Gott schon schwierigere Situationen bewältigen müssen!

»Darauf kannst du Gift nehmen«, holte ihn Ortiz wieder in die Gegenwart zurück. Sofort fiel Steiner auf, dass sich ihre Stimme wieder ganz normal anhörte. Keine Spur von Emotion mehr. Was sie sagte, klang wie eine nebensächliche Feststellung. War das die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Doch bevor Steiner sich die plötzliche Veränderung erklären konnte, machte seine Kollegin auf dem Absatz kehrt und ging rasch davon. Ehe er sich versah, war sie beim Ausgang angelangt. Das Licht im Treppenhaus sprang an und er sah, wie sie Stufe für Stufe kleiner wurde. Für eine Weile hörte er noch das Klappern ihrer Absätze. Dann war es auf einmal ganz still.

Steiner atmete durch. Erst jetzt, da er seinen langen Körper langsam durchstreckte, fiel ihm seine Anspannung auf. Das war nicht gut, das war gar nicht gut! Ob man ihm jetzt doch noch einen Strich durch die Rechnung machte, wo doch schon die Kassa klingelte?

Die macht ihre Drohung doch ohnehin nicht wahr, versuchte er sich zu beruhigen. Bei der SafeIT verpetzte man einander nicht. Stattdessen tat man alles dafür, die Konflikte kollegial zu lösen. Und Konflikte hatte es zuhauf gegeben, seit die jungen Glaser-Geschwister die Geschäftsführung übernommen hatten.

Zugegeben: In den letzten Monaten waren die Auseinandersetzungen des Öfteren eskaliert. Daran war vor allem die Einführung dieser Kanban-Methode schuld. Warum musste plötzlich alles transparent sein? Wozu brauchte es überall Austausch? Und das nicht nur zwischen den Kollegen untereinander, den verschiedenen Geschäftsbereichen, dem Management und sogar zwischen Unternehmen und Kunden? Am Anfang hatte er das Ganze ja bloß für ein Kinderspiel gehalten. Er erinnerte sich noch gut an sein herzhaftes Lachen, als der eigens von der Geschäftsführung eingestellte agile Coach die Idee vorstellte. Dieser Nikolas Gauss glaubte allen Ernstes, dass man seine Arbeit auf ein paar Zettelchen auf einem Whiteboard darstellen konnte! Und bildete sich ein, damit komplexe Unternehmensprozesse managen zu können! Aber nachdem alle davon so angetan waren, hatte er halt gute Miene gemacht. Schließlich wollte er nicht als Spielverderber dastehen.

Sein Team hatte er von Anfang an ganz gut im Griff gehabt. Die fraßen ihm ja ohnehin aus der Hand. Wer von denen hatte denn schon eine Ahnung von den speziellen Vorgängen im Bankensektor, auf den sie sich fokussiert hatten? Von den eigenen Gesetzen des Vertriebs ganz zu schweigen!

Doch jetzt war allerorten Kommunikation angesagt. Überall mussten nunmehr Informationen fließen, explizite Abstimmungen erfolgen und klare Vereinbarungen getroffen werden. Wofür das gut sein sollte, konnte ihm bislang keiner erklären. Das führte doch bloß dazu, dass man sich permanent rechtfertigen musste, statt sich auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren zu können – so wie früher, wo ihn wochenlang keiner gefragt hatte, womit er sich eigentlich beschäftigte.

Im Grunde brauchte sich also keiner zu wundern, dass er sich diesem Transparenzzwang entzog, wo es nur ging. Mittlerweile war es wie ein Spiel, dessen Regeln er auszureizen versuchte – und manchmal bewusst übertrat. Natürlich führte das zu weiteren Konflikten. Erst letzte Woche hatte ihm Gauss vorgeworfen, die größte Blockade in der SafeIT zu sein! Aber solche Angriffe war er gewohnt und Gauss’ Wutausbrüche hatten fast schon etwas Rituelles. Der konnte sich so schön ärgern, dass es die reine Freude war, die getroffenen Vereinbarungen zu missachten. Doch möglicherweise sah die Sache nun doch ein wenig anders aus. Vorausgesetzt, dass Ortiz wirklich etwas wusste. Aber das konnte doch gar nicht sein – oder doch? Hatte etwa Viktor etwas verraten?

Steiner blickte auf die Uhr: 20:42. Wahnsinn! Eigentlich wollte er am Abend nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen. Aber dann war alles ganz anders gekommen. Zuerst war Gauss bei ihm vorbeigeschneit, um sich für das morgige Retrospektive-Meeting abzustimmen. Dann traf eine neue Nachricht von Luka Novacic im Posteingang ein – dessen Drohungen wurden allmählich auch immer lästiger. Und zu allem Überfluss hatte dann auch noch seine Schwester angerufen.

Alles in allem war es wohl höchste Zeit, hier die Zelte abzubrechen. Aus irgendeinem Grund musste er auf einmal grinsen – und spürte sofort, wie seine Sicherheit zurückkehrte: Nein, es würde nichts mehr dazwischen kommen! Nur noch ein paar Tage und dann wartete ein neues Leben auf ihn. Ob er noch kurz bei Karin vorbeischauen sollte? Besser war wohl, wenn er vorher anrief, schließlich liebte sie solche Überraschungsbesuche nicht.

Er griff gerade nach seinem Handy, als es plötzlich vibrierte. Das muss Gedankenübertragung sein, dachte Steiner erfreut und drückte auf die Annahmetaste.

»Hallo, mein Schatz«, flüsterte er zärtlich.

»Ich bin’s«, antwortete eine männliche Stimme, die ihm nur allzu bekannt war. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können, den Anruf blindlings anzunehmen?

»Was willst du?«, fragte er schroff.

»Das weißt du genau.«

Einige Sekunden verstrichen, in denen Steiner fieberhaft überlegte, was er tun sollte. Wahrscheinlich war es das Beste, auf Zeit zu spielen.

»Natürlich, wir sollten uns treffen«, versuchte er seine Taktik gleich in die Tat umzusetzen. »Wie sieht es denn nächste Woche bei dir aus, zum Beispiel am …«

»Wo bist du?«, unterbrach ihn der Mann am anderen Ende der Leitung.

»Äh, ich sitze immer noch im Büro, ich muss noch dringend …«

»Ich komme«, beschied ihm die Stimme in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Dienstag, 7:29

Ein agiler Coach nimmt Fahrt auf

Bislang war das echt nicht sein Tag. Zuerst hatte Nikolas Gauss ewig gebraucht, um aus den Federn zu kommen. Dann funktionierte das Warmwasser wieder einmal nicht, sodass er sich mit einer Katzenwäsche begnügen musste. Und zu guter Letzt hatte ihm sein Kühlschrank nur gähnende Leere serviert: Die Essiggurken und eine angebrochene Dose Sardinen, die sich noch darin befanden, erschienen ihm nicht wirklich frühstückstauglich. Wie sollte es auch anders sein, schließlich war er gestern wieder so spät aus der Firma gekommen, dass die Geschäfte bereits geschlossen hatten. Das war ärgerlich. Noch viel mehr ärgerte ihn jedoch, dass er gestern Abend zu müde für die Vorbereitung auf das heutige Meeting gewesen war.

In Wahrheit hatte der ganze Ärger eine lange Vorgeschichte. Immerhin wusste Gauss seit mehreren Wochen, dass heute das erste Retrospektive-Meeting zu ihrem teamübergreifenden Kanban-Board anstand. Im Grunde war dafür alles vorbereitet gewesen: Die wichtigsten Arbeitszusammenhänge waren für alle gut sichtbar auf dem Board dargestellt und der Informationsfluss zwischen den Teams und ihren jeweiligen Vertretern funktionierte bereits gut. Statt langwierige Statusmeetings abzuhalten, konzentrierte man sich nunmehr auf das Wesentliche. Deswegen hatte man bereits viele der Probleme lösen können, die früher so oft unter den Teppich gekehrt wurden.

Aus Gauss’ Sicht war alles für die angekündigte Retrospektive bereit. Es war höchste Zeit für eine gemeinsame Reflexion. Zurückschauen, Einsichten gewinnen, nächste Verbesserungsschritte festlegen – das war das, was er für sich den Dreisprung der Retrospektive nannte. Wenn ihm eine gute Moderation gelang, würde ihnen dieses Meeting zweifellos einen neuen Entwicklungsschub geben. Zum einen würde es der gesamten Kanban-Initiative, also der Einführung von visuellem Arbeitsmanagement in allen Bereichen, den Rücken stärken; zum anderen würde es das unternehmensweite Lernen fördern, das natürlich um einiges aufwendiger war als die Reflexion auf Teamebene. Deswegen hatte sich Gauss ja auch ausreichend Zeit für die Ausarbeitung des Moderationsplans reserviert.

Doch dann ließ er sich dazu hinreißen, seine Vorbereitungsarbeit immer weiter aufzuschieben. Natürlich hatte man als agiler Coach in einem dynamischen Umfeld viel zu tun. Das war ja auch ein guter Gradmesser für den Wert der eigenen Arbeit, wenn es viele Anfragen um Unterstützung gab. Trotzdem hätte es ihm nicht passieren dürfen, dass er immer alles andere wichtiger nahm als seine eigene Reflexionszeit. Bis er schließlich mit seinem Anspruch auf eine professionelle Vorbereitung am gestrigen Abend gelandet war. Wo er prompt, inmitten seiner Unterlagen, auf dem Sofa einschlief.

Wo war nur sein Sinn für Prioritäten geblieben? Fokus war doch ein zentrales Element des agilen Vorgehens? Oder hatte er sich bloß die ganze Zeit etwas vorgemacht? Schließlich redete er zwar ständig von der notwendigen Einschränkung paralleler Arbeiten, selbst hielt er sich aber kaum daran. War er nicht seit eh und je geradezu zwanghaft darauf programmiert, möglichst viele Bälle gleichzeitig zu jonglieren?

Während sich Gauss ein Glas Wasser einschenkte, schaute er aus dem Fenster. Freud verkündete das Museum, das genau gegenüber seiner Küche lag. Unvermutet fiel ihm der alte Witz wieder ein, der zu seinem Fensterblick passte, wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge: Neurotiker bauen Luftschlösser, Psychotiker wohnen darin und Psychiater kassieren die Miete. In welche Kategorie er wohl selbst fiel?

Grundsätzlich wohnte Gauss gerne in der Berggasse. Seine Wohnung lag quasi mitten im Stadtzentrum. Mit dem Fahrrad brauchte er keine fünf Minuten zum Stephansplatz. Und zum Donaukanal oder in den Augarten war es ebenfalls nur ein Katzensprung. Gauss genoss die Nähe zu dem historischen Ort, zu dem so viele Menschen aus der ganzen Welt pilgerten. Allerdings hatte er schon öfters das Gefühl gehabt, dass der Ahnherr der Psychoanalyse Gauss’ gute Vorsätze regelrecht sabotierte. Konnte ihm das Unbewusste, dessen Erforschung hier wurzelte, nicht wenigstens einmal zu Hilfe kommen? Idealerweise jetzt sofort?

Doch solche Wunschträume erfüllten sich bekanntlich nur im Märchen. In der echten Welt war es gleich halb acht und es gab noch nicht den kleinsten Baustein von jenem ausgeklügelten Moderationsplan, den er sich vorgenommen hatte. Dann musste er also einmal mehr auf sein Improvisationstalent vertrauen – und auf einen dieser kreativen Schübe, die er beim Fahrradfahren immer wieder erlebte. Hastig stopfte er seine Unterlagen in die Tasche, schlüpfte in seine Jacke und nahm sein Bike von der Wand.

Nach exakt 9 Minuten und 43 Sekunden traf er am Hannoveraner Markt ein. Er blickte noch einmal auf die Stoppuhr auf seinem Handy. Unter zehn Minuten: Das war zweifellos eine neue Rekordzeit! Im nächsten Augenblick sprang die Ampel auf Grün und er stemmte sich wieder in die Pedale. Vor der nächsten Kreuzung blickte Gauss kurz über die Schulter, streckte seinen Arm aus und bog in voller Fahrt in die Jägerstraße. Kaum, dass er sich in den Fließverkehr eingefädelt hatte, tauchte bereits die wuchtige Brigittakirche vor ihm auf. Dahinter konnte er bereits die Fassade der SafeIT erkennen. Bei Schönwetter spiegelte sich um diese Zeit immer die Morgensonne im obersten Stockwerk.

Er ließ die Kirche hinter sich, nahm die letzte Rechtskurve und rollte auf das Gebäude zu. Wenig später war sein Fahrrad mit seinem verrosteten Fahrradschloss abgeschlossen, das ihm nach wie vor Probleme machte. Heute aber ließ es sich problemlos öffnen und schließen. Mit wenigen Schritten hatte er das Firmenportal erreicht. »Morgen!«, rief er Monika Watzinger zu, die heute am Empfang saß. Im Vorüberlaufen hob er noch kurz die Hand zur Schläfe, als wollte er salutieren. »Wunderschönen guten Morgen!«, grüßte seine Kollegin zurück und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Auf dass uns die Sonne den ganzen Tag erleuchte!«

Jetzt musste auch Gauss lächeln. »Dein Wort in Petrus Ohr«, entgegnete er, bevor er mit neuem Elan die Treppe hinauf eilte. Zwei Stufen auf einmal nehmend, spürte er, wie sich seine Laune mit jedem Schritt besserte. Als er im dritten Stock angekommen war, atmete er auf. Er blickte auf das Landschaftsfoto, das einen hier willkommen hieß und bei dem er jedes Mal an Sommerurlaub denken musste. Irgendwo im Süden, ging ihm durch den Kopf: vielleicht Italien oder Spanien oder doch eher Kroatien? Egal. Jetzt ging es nicht um Urlaub, sondern um die Ideen, die ihm auf der Herfahrt gekommen waren. Er brannte darauf, diese zu Papier zu bringen.

Als er das Großraumbüro betrat, war es mucksmäuschenstill. Kein Wunder, schließlich war die Firma um diese Zeit noch ziemlich ausgestorben. Gauss genoss diese Ruhe, die dann ab 8 Uhr 30 nach und nach jener chaotischen Betriebsamkeit wich, bei der er schon oft an einen Ameisenhaufen denken musste. Deswegen war er in den letzten Jahren zum echten Frühschichtler geworden: Zwischen sechs und acht war mittlerweile seine produktivste Zeit. Obwohl er heute deutlich später dran war als üblich, wollte er jede freie Minute nutzen, die ihm noch blieb, bevor es hier so richtig losging.

Auf dem Weg zum Materialschrank hielt Gauss überrascht inne. Er war ja doch nicht allein! In der hinteren Ecke des Großraumbüros sah er jemand sitzen, noch dazu direkt neben dem Kanban-Board, das sie zur teamübergreifenden Koordination verwendeten. Er riskierte einen zweiten Blick: War das etwa Paul Steiner? Konnte das wirklich sein? Schließlich galt Paul Steiner als ausgesprochener Nachtarbeiter, der oft lange blieb, aber so gut wie nie vor 9 Uhr ins Büro kam.

Noch erstaunlicher war allerdings, dass sein Kollege das Kanban-Board konzentriert zu betrachten schien. Bis jetzt war er dem visuellen Arbeitsmanagement nämlich sehr skeptisch gegenübergestanden. Änderte sich das gerade? Hatte er, gewissermaßen über Nacht, den Nutzen der Visualisierung entdeckt? Als er gestern Abend noch einmal mit ihm gesprochen hatte, klang das allerdings noch ganz anders.

Oder bereitete Steiner bloß seinen nächsten Coup vor? Überlegte er, wie er das agile Vorgehen noch besser ausbremsen konnte? Vielleicht sollte Gauss einfach zu ihm hingehen und ihn das direkt fragen. Doch der bloße Gedanke daran rief heftigen Widerwillen in ihm hervor. Immerhin waren die letzten Begegnungen mit Steiner allesamt unangenehm verlaufen. Und für verklemmten Smalltalk hatte er weder Zeit noch Lust.

So warf Gauss seinem Kollegen nur einen schnellen Gruß zu. Er wunderte sich noch kurz, dass Steiner überhaupt nicht darauf reagierte. Andererseits passte das durchaus in dessen Verhaltensmuster: Ignoranz allerorten. Oder war Steiner etwa vor dem Board eingeschlafen? Egal. So würde er wenigstens ungestört arbeiten können.

Gauss nahm den Moderationskoffer aus dem Schrank, ging zu einem der Steharbeitsplätze und fuhr den Laptop hoch. Kurze Zeit später war der Raum wieder von einer geradezu friedlichen Stille erfüllt. Nur das leise Klappern der Tastatur war zu hören, während seine Finger über die Buchstaben tanzten.

Zwischendurch blickte Gauss noch einmal in Richtung seines Kollegen. Einen Augenblick lang schien es ihm nämlich, als hätte ihm Steiner zugewunken. Er stellte seinen Blick scharf, konnte aber keinerlei Bewegung erkennen. Weder hatte sich Steiner zu ihm umgedreht noch schien er seine Sitzposition verändert zu haben. Litt Gauss bereits an Halluzinationen? Oder spielte ihm bloß sein schlechtes Gewissen einen Streich? Immerhin hatte er sich fest vorgenommen, die Situation mit Steiner vor der Retrospektive zu klären. Doch die Klärung hatte er ebenso aufgeschoben wie seine Vorbereitung – bis es zumindest für erstere zu spät war.

Kein Wunder, dass das persönliche Gespräch, zu dem er sich gestern Abend durchrang, nichts gebracht hatte. Dafür verlief die Auseinandersetzung mit Steiner schon viel zu lange nach dem Muster Und täglich grüßt das Murmeltier: immer dieselben Vorwürfe, dieselben Rechtfertigungen, dieselben Emotionen. Bill Murray ließ grüßen!

Der Klärungsanspruch blieb freilich. Als agiler Coach war er nun einmal dafür verantwortlich, dass die Probleme nicht zugedeckt wurden. Und nach all den fruchtlosen Versuchen, die Spannungen bilateral zu klären, gemeinsam mit Kollegen zu thematisieren oder mithilfe einer externen Mediation zu lösen, führte wohl kein Weg mehr an einer Eskalation vorbei. Gauss musste zugeben, dass sich das ein bisschen nach Niederlage anfühlte. Im Sinne des Selbstorganisationsprinzips hätte er das lieber ohne Hilfe der Geschäftsführung gelöst. Andererseits wollte er damit ja keinen Richterspruch erwirken, sondern sich mit Heidrun und Ferdinand beraten. In Bezug auf Paul Steiner war er mit seinem eigenen Latein am Ende, das konnte er sich mittlerweile eingestehen.

Genau genommen war nichts daran auszusetzen, dass er sich in dieser Situation Unterstützung holte. Vielmehr entsprach sein Vorgehen genau jenen neuen Formen von Führung und Management, die die SafeIT propagierte. Erst im letzten unternehmensweiten Meeting hatte Heidrun Glaser betont, dass die konstruktive Teamarbeit und die Arbeitszufriedenheit jedes Einzelnen zwei unverzichtbare Erfolgsfaktoren seien, und versichert, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder alles dafür tun wolle, um die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Oder war das am Ende des Tages doch nur Managementrhetorik? Bloß heiße Luft, wenn es hart auf hart kam? Immerhin war Steiner dem Unternehmen seit über 20 Jahren in ganz besonderer Weise verbunden.

Mal sehen, wie es heute lief, riss sich Gauss aus seinem trüben Gedankenfluss. Vielleicht passierte ja doch ein Wunder und Paul Steiner machte gerade seine große Läuterung vor dem Kanban-Board durch!

Vorerst ging es aber ausschließlich darum, das Retrospektive-Meeting zu gestalten. Wie so oft gelang es ihm auch dieses Mal, alles auszublenden, was ihn davon ablenkte. Keine unerledigten Aufgaben mehr, die ihn beschäftigten, kein schlechtes Gewissen, keine ungeklärten Konflikte, deren Brennpunkt nach wie vor auf der anderen Seite des Raums saß. Gauss liebte dieses Gefühl, ganz in seiner Arbeit zu versinken.

Dann waren seine Vorbereitungen endlich abgeschlossen. Er blickte auf die Uhr. Konnte es wirklich sein, dass er fast 40 Minuten vor sich hin gearbeitet hatte? Egal. Wichtig war nur, dass er sich nun bereit für die Retrospektive fühlte, fokussiert und kraftvoll. Gauss streckte seinen Rücken durch und setzte sich in Bewegung.

In der einen Hand trug er den Moderationskoffer, während er mit der anderen das Flipchart in Richtung des Kanban-Boards zog. Auf halbem Weg nahm er noch schnell den Ausdruck seiner Notizen aus dem Drucker. Von ihm aus konnte es losgehen. Er war neugierig, wann die anderen Kollegen eintreffen würden. Hoffentlich nicht zu spät – so wie das in letzter Zeit wieder häufiger passiert war.

»Hola Nikolas«, hörte er schon im nächsten Moment eine vertraute Stimme in seinem Rücken. Noch bevor er sich umgedreht hatte, wusste Gauss, dass es sich um Eleanore Ortiz handelte. Der dunkle, stets ein wenig rauchige Klang ihrer Stimme war unverkennbar.

»Guten Morgen, Ele! Du kommst ja wie gerufen«, begrüßte er sie lächelnd. »Leider bist du heute nur die Zweite!«, sagte er in Anspielung an den Pünktlichkeitswettbewerb, den sie kürzlich wieder gestartet hatten. »Paul ist nämlich schon da.«

Ortiz folgte dem in Richtung Kanban-Board gestreckten Arm von Gauss und nickte. »Schade, dass mir die heutige Belohnungsschokolade entgeht«, entgegnete sie grinsend und leckte sich demonstrativ über die Lippen. »Aber dass ich einmal von Paul geschlagen werde, hätte ich im Traum nicht gedacht.«

Lachend zog Gauss das Flipchart weiter. Kurz bevor er an dem kleinen Ablagetisch links vom Board angekommen war, grüßte er erneut: »Guten Morgen, Paul. Na, gut geschlafen?«

Plötzlich schrie Gauss auf: »Nein!«

»Was ist denn los?«, rief Ortiz erschrocken, bevor sie auf ihren erstarrten Kollegen zulief.

»Das gibt’s doch nicht«, stammelte Gauss und deutete nach links. Nun sah auch Ortiz den Grund für die Reaktion ihres Kollegen. Vor ihnen saß Paul Steiner und starrte mit leicht geöffnetem Mund auf das Kanban-Board – als ob er gerade fragen wollte, wer ihm diese Wunde auf der Stirn verpasst hatte, aus der sich ein dünner Blutfaden über sein leichenblasses Gesicht zog.

Dienstag, 8:13

Familie Nemecek verschläft

»Was denn?«, murmelte Chefinspektor Nemecek, als ihn jemand am Arm rüttelte. Rief da jemand nach ihm? Oder gehörte die Stimme noch zu seinem Traum?

»Papa, wir haben verschlafen!«, gab ihm Sophie eine gar nicht traumhafte Antwort, die sie mit einem weiteren Armrütteln unterstrich.

»Mist!«, entfuhr es Nemecek, als er auf seine Armbanduhr blickte. »Schläft Lea noch?«, fragte er seine jüngere Tochter, während er sich aus dem Bett schwang. »Die habe ich geweckt, bevor ich zu dir gekommen bin.«

Sophies vorwurfsvoller Ton war nicht zu überhören. Es war ja auch wirklich zu blöd: Warum mussten sie gleich alle drei verschlafen? So lange waren sie doch gestern gar nicht zusammengesessen. Oder doch? »Papa!«, riss ihn Sophie aus seiner kleinen Ursachenforschung. »Wir müssen!«

»Leise!«, flüsterte Nemecek und legte dabei seinen Zeigefinger auf den Mund. »Sonst wecken wir Mama auf. Kannst du schon mal Wasser aufsetzen? Ich komme sofort.«

Während Sophie murrend aus dem Schlafzimmer schlich, fuhr sich Nemecek mehrmals mit beiden Händen über den Kopf. Das passierte natürlich ausgerechnet an Bettinas freiem Tag, an dem er für die Kinder verantwortlich war!

Er griff nach seiner Hose. Wenigstens war er gestern noch geistesgegenwärtig genug gewesen, sich frische Sachen zurecht zu legen. Die waren doch frisch, oder?

Nachdem er die Schlafzimmertür geschlossen, kurz die leere Küche inspiziert und den von Sophie vergessenen Wasserkocher aufgesetzt hatte, beschloss er, noch kurz nach Lea zu sehen. Wer weiß, ob sie wirklich schon munter ist, dachte er, als er nach einem kurzen Klopfen die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

»Du hast verschlafen!«, informierte ihn seine ältere Tochter, ohne sich von ihrem Schminkspiegel abzuwenden.

»Danke, das weiß ich bereits.«

»Ich möchte trotzdem etwas frühstücken. Ich hab’ einen Bärenhunger!«

»Ich auch!«, echote Sophie aus dem Badezimmer.

»Was darf es denn sein?«, bemühte sich Nemecek, seine väterliche Fehlleistung wieder gut zu machen.

»Haben wir Eier und Schinken?«, wollte Lea wissen, während er von links die Bestellung ihrer Schwester vernahm: »Früchte, Joghurt, Müsli, Kakao.«

»Your wish is my command«, verkündete er mit einer gespielten Verbeugung, was die Schminkexpertin mit einer weiteren Ermahnung quittierte: »Papa! Wir sind eh schon spät dran!«

Seufzend machte sich Nemecek auf den Weg in die Küche. Dieser Tag fing ja echt gut an! Wenigstens hatte er gestern noch eingekauft, wie ihm ein Blick in den Kühlschrank bestätigte. Er nahm die nötigen Lebensmittel aus den Fächern, schaltete den Herd an und machte sich an die Zubereitung.

Ein paar Minuten später traf Sophie in der Küche ein und setzte sich an den noch leeren Tisch. »Wann ist das Frühstück fertig?«, grummelte sie, während ihre Finger über das Smartphone huschten.

»In einer Minute«, versicherte Nemecek, schob die brutzelnden Eier von der Herdplatte und griff nach dem Joghurt. »Kommt Lea auch schon?«

»Papa«, rügte ihn seine jüngere Tochter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Wie oft denn noch? Ich bin nicht Leas Kindermädchen!«

»Ich weiß, war ja nur eine Frage!«, beschwichtigte er und servierte Sophies Frühstück. Verständlich, dass Sophie ungehalten war. Oder verhielt er sich einmal mehr zu nachsichtig? Sollte er sie nicht wenigstens zu einem anderen Ton anhalten? Die Frage war bloß: Wie? Es waren immerhin Kinder und keine Maschinen, die man nach Belieben umprogrammieren konnte.

»Wie wär’s, wenn du dein Handy wenigstens beim Essen zur Seite legst?«, schlug er Sophies Mittelscheitel vor. »Ich muss noch schnell meinen Freundinnen Bescheid geben, dass ich zu spät komme«, nuschelte diese mit müsliverstopftem Mund. Bevor Nemecek etwas entgegnen konnte, traf Lea ein. Schwungvoll wuchtete sie ihre Tasche auf den Tisch, dass es nur so knallte.

»Psst! Willst du unbedingt Mama aufwecken?«, zischte Nemecek verärgert.

»Ist mein Frühstück fertig?«, fragte Lea unbeeindruckt und schlug ihr Französisch-Buch auf.

»Avec plaisir!«, mobilisierte Nemecek seine eingerosteten Sprachkenntnisse und stellte den Teller vor seine Tochter.

»Merci«, murmelte diese und stutzte sogleich. »Äh, haben wir keine Tomaten?«

»Du hast keine Tomaten bestellt!«

»Aber ich nehme immer Tomaten zu Ham & Eggs!«

»Das stimmt, Papa!«, assistierte Sophie und erklärte damit jede weitere Diskussion für überflüssig. Bevor Nemecek zu einer Antwort ansetzen konnte, läutete sein Telefon.

»Handy weg beim Essen!«, beschieden ihm seine beiden Töchter im Chor.

»Beeilt euch lieber!«, winkte er ab, ging ins Wohnzimmer und drückte auf die grüne Taste. Nina Obermayr, verriet ihm das Display.

»Der frühe Wurm hat einen Vogel«, begrüßte ihn seine Kollegin. »Du hast die Morgenbesprechung versäumt«, konstatierte sie, während sie auf irgendetwas herumkaute. Nemecek stellte sich einen grünen Apfel vor. Oder ein paar Nüsse. Auf alle Fälle etwas Knackiges. »Unser Chef tobt. Er hat schon mehrmals versucht, dich zu erreichen. Ihr habt offenbar verschlafen?«

Nemecek nahm das Telefon vom Ohr und öffnete seine Anrufliste. »Kappacher (4)«, las er. Sein Vorgesetzter hatte also mehrmals angerufen und offenbar auch zwei Sprachnachrichten hinterlassen. Andererseits: Warum hatte er die Morgenbesprechung, die seit dem letzten Managementseminar seines Chefs plötzlich Daily hieß, bloß auf 8 Uhr angesetzt? Da konnte doch kein normaler Mensch denken!

»Egal«, wischte Obermayr jede weitere Überlegung aus der Leitung. »Wir haben ohnehin Besseres zu tun als eilfertig zu apportieren und abstruse Marschbefehle entgegenzunehmen. Wir haben nämlich einen Mord. Und stell dir vor: ausgerechnet bei der SafeIT.«

»Okay.« Nemecek dehnte das Wort so stark, dass es sich wie ein Gähnen anhörte. »Wohin genau soll ich kommen?«

»Der Herr ist wohl noch ein wenig müde?«, lachte Obermayr. »Sag bloß, du kennst die SafeIT nicht?!«

»SafeIT?«, dachte Nemecek laut nach. »SafeIT? Das habe ich doch schon mal irgendwo gehört!«

»Das hoffe ich doch – zumindest wenn du weiter als jemand gelten willst, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht. Die haben doch sowohl mit ihrem neuen Bürogebäude als auch mit ihrer innovativen Organisationsform für Furore gesorgt. Klingelt’s jetzt bei dir?«

»Diese Sicherheitstypen? Die einen Teil der Festung am Brigittaplatz übernommen haben?«

»Genau die«, bestätigte Obermayr mit einem lauten Schmatzen. »Direkt neben dem alten Amtshaus, gegenüber der Kirche.«

»Ich war zwar noch nie dort«, begann Nemecek sein Gedächtnis zu aktivieren. »Aber ich glaube unser Oberst ist mit dem Firmenchef befreundet, oder?«

»Soweit ich weiß, ist er nur mit dem alten Glaser befreundet«, schränkte Obermayr ein, während sie ungestört weiterschmatzte. Ob sie sich wohl zwischendurch über die Lippen leckte? Oder gar ihre Finger abschleckte? »Die Firma wird aber seit über drei Jahren von seinen beiden Kindern geleitet: Heidrun und Ferdinand Junior.«

»Was du wieder alles weißt!«

»Morgenstund’ hat Internet im Mund«, erklärte Obermayr. »Und weißt du, was ich noch weiß?«

»Willst du mich in aller Herrgottsfrüh’ schon zum Rätselkönig machen?«, stöhnte Nemecek. Dann rieb er sich mit dem Handballen über die Stirn, als könnte er damit seine grauen Zellen mobilisieren.

»Ich weiß, dass wir uns in 20 Minuten am Tatort treffen«, beschied ihm seine Kollegin. »Ich warte vor dem Eingang auf dich.«

»Ja, das kann ich schaffen«, meinte Nemecek, nachdem er den Anfahrtsweg überschlagen hatte. 15 Minuten mit dem Fahrrad, schätzte er. Aber Obermayr hatte wohl schon aufgelegt.

»Na, neuer Fall?«, fragte Sophie durch die Zahnbürste hindurch, mit der sie jetzt durch die Küche spazierte. Ihre leere Müslischüssel und die Kakaotasse befanden sich noch auf dem Küchentisch. Hatte er sich nicht erst letzte Woche darüber beklagt, dass seine Töchter immer alles stehen und liegen ließen? Und eine neue Familienregel eingefordert?

»Ja, und ihr beeilt euch jetzt bitte! Wenigstens zur zweiten Stunde solltet ihr in der Schule sein.«

»Papa, chill mal ein bisschen«, sagte Lea und schob sich eine Gabel mit Ei in den Mund. »Wir haben das voll im Griff.«

»Kinder!«, ging es Nemecek noch durch den Kopf, als er sich seinen Fahrradschlüssel angelte und aus der Tür trat.

Dienstag, 9:09

Tatort SafeIT

»Wann lässt du endlich deine Bremsen überholen?«, empfing ihn Nina Obermayr mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck. »Die kreischen ja höllisch«, fügte sie mit einer seltsamen Geste hinzu, die wohl Ohrenschmerzen ausdrücken sollte.

»Was haben wir?«, ignorierte Nemecek die kollegiale Beschwerde.

»Das Opfer ist ein gewisser Paul Steiner. 45 Jahre alt. Vertriebsexperte hier in der SafeIT.«

»Gerda ist schon vor Ort?«, deutete Nemecek auf den alten Mercedes der Gerichtsmedizinerin.

»Du weißt doch, dass die ein früher Wurm ist«, setzte Obermayr ihr morgendliches Wortspiel fort. »Und einen Vogel hat die sowieso.«

Nemecek schüttelte den Kopf. Nicht schon wieder! Erst in ihrem letzten Fall waren Gerda Probisch und Nina Obermayr heftig aneinander geraten. Zuerst hatte die Grande Dame der Gerichtsmedizin seine Kollegin nach allen Regeln der Kunst auflaufen lassen – so wie sie das mit allen tat, die sie als Jungspunde ansah. Nemecek wusste, dass das zum Stil der alten Dame gehörte, die weithin als fachliche Koryphäe, aber ebenso als Diva galt. Doch Obermayr pfiff auf deren Ruf und revanchierte sich mit ausgesuchten Gemeinheiten. Wenn das gleich wieder so anfing, konnte es echt heiter werden. Vielleicht sollte er dem auf der Stelle einen Riegel vorschieben? Fragte sich nur, wie genau er das bewerkstelligen sollte: einmal den Vorgesetzten heraushängen lassen? Eine offizielle Dienstanweisung geben? Oder es doch wieder mit gut zureden versuchen? An die Vernunft aller Beteiligten appellieren? Noch bevor Nemecek zu einem klaren Entschluss gekommen war, war seine Kollegin bereits hinter der gläsernen Eingangstür verschwunden.

»Willkommen im Reich der neuen Unternehmerstars«, fügte sie mit einer einladenden Handbewegung hinzu, als auch Nemecek im Eingangsbereich angekommen war. »Nicht schlecht«, staunte er. Schon die Fassade des Gebäudes war beeindruckend gewesen: ein massiver Ziegelbau mit drei regulären Stockwerken und einem Dachgeschoss, das aus einer einzigen Glasfront zu bestehen schien. Doch auch das Innenleben hatte es in sich: Allein wie sich die Vorhalle kathedralenartig nach oben öffnete, sorgte für Aufsehen. Die Rückwand der Halle hatte man mit Efeu bepflanzt und so beleuchtet, dass der ganze Raum in einem sanften Grün erstrahlte. Auf der rechten Seite erhoben sich breite Stufen, die mit einem hellgrünen Teppich bespannt waren. Die Stufen verbanden sich allerdings zu keiner normalen Treppe. Sie waren vielmehr leicht schräg zueinander versetzt und führten direkt in die Wand. Offensichtlich dienten sie als Sitzgelegenheiten. Ob es wohl Zufall war, dass die Konstruktion an ein Amphitheater erinnerte? Am Fuß der Stufen standen eine dunkelgrüne Sitzgruppe sowie eine Reihe grauer Hocker, die wie abgerundete Felsen aussahen. Der Empfangsbereich selbst, auf den Obermayr nun geradewegs zusteuerte, war in dunklem Holz gehalten.

»Guten Morgen!«, vernahm Nemecek eine Frauenstimme, als seine müden Augen gerade an einer imposanten Espressomaschine hängen geblieben waren. »Guten Morgen!«, grüßte Nemecek zurück, während er mit seiner Koffeinsucht kämpfte. Ob es wohl möglich war, hier einfach einen Kaffee zu bestellen?

»Sie müssen die Herrschaften von der Mordkommission sein«, erklärte die Mittvierzigerin. Ihr Gesicht war so bleich, dass der verwischte Lidschatten wie ein Schnitt aussah. »Ist das nicht schrecklich?«, sagte die Frau und legte die linke Hand aufs Herz. »Ich kann es einfach nicht glauben!«

»Chefinspektor Nemecek, Bezirksinspektorin Obermayr«, übernahm seine Kollegin das Begrüßungsritual. »Und Sie sind?«

»Oh, Entschuldigung! Ich bin noch ganz durcheinander«, stammelte die sichtlich mitgenommene Rezeptionistin und streckte die Hand aus. »Monika Watzinger mein Name. Ich bin heute für den Empfang unserer Gäste verantwortlich.«

»Nur heute?«, fragte Nemecek verwundert, während er Watzingers kräftige Hand schüttelte. »Wie dürfen wir das verstehen?«

»Ach so, ja, das ist wahrscheinlich etwas ungewöhnlich. Wir haben in unserer Firma kürzlich das Rotationsprinzip für Mitarbeiter eingeführt. Wir im Frontdesk-Team haben uns auf einen wöchentlichen Wechsel der Zuständigkeiten geeinigt und das funktioniert super. Vor allem, weil wir uns an den rezeptionsfreien Tagen besser auf die anstehenden Organisationsaufgaben im Hintergrund konzentrieren können.« Nemecek versuchte das Gehörte nachzuvollziehen. Das war doch dasselbe Prinzip, von dem ihm unlängst Bettina erzählt hatte. Jobrotation, hieß das wohl auf Neudeutsch.

»Aber Sie sind ja nicht gekommen, um unser Unternehmen kennenzulernen«, fügte Watzinger entschuldigend hinzu. Dann öffnete sie das Zugangsportal. »Ich bringe Sie noch schnell in den dritten Stock. Ihre Kollegen sind schon vor Ort.«

»Das ist nicht nötig«, meinte Obermayr freundlich. »Wir finden schon von alleine zum Tatort.«

»Ja, Tatort. So heißt das jetzt«, murmelte Watzinger betroffen, bevor sie sich wieder hinter ihre Theke zurückzog. Auf dem Weg zum Fahrstuhl zeigte Obermayr nach rechts. »Komm, lass uns die Treppe nehmen.«

»Alles ziemlich spektakulär hier«, kommentierte Nemecek, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Allein die großformatigen Fotografien, die ein eigentlich langweiliges Treppenhaus mit ungewöhnlichen Motiven in kräftigen Farben belebten, waren sehenswert. Aber auch der Rest der Raumausstattung beeindruckte. Im ersten Stockwerk hatte er eine offene Küche erspäht, dazu mehrere Tischreihen und Stühle. Das zweite Stockwerk schien wiederum in verschiedene Besprechungsbereiche unterteilt zu sein, die jedoch eher Wohnzimmer- als Büroatmosphäre verströmten. Zumindest auf den ersten Blick sah er verschiedenfarbige Sofas, mehrere Glastische und eine Stehlampe, die Nemecek verblüffend an die in seiner eigenen Wohnung erinnerte.

Am Treppenabsatz zum dritten Stockwerk befand sich eine Sitzgruppe, die komplett aus Quadern in unterschiedlichsten Grautönen bestand. Nemecek hätte gerne ausprobiert, ob diese Quader tatsächlich so hart wie die Betonklötze waren, an die sie ihn erinnerten. An der Seitenwand befand sich eine wabenartige Glaskonstruktion, aus der verschiedene Moose ragten. Allerdings waren nicht alle Waben bepflanzt, sodass sich insgesamt ein eigenwilliges Muster ergab, das Nemecek an den Umriss eines Schiffs erinnerte. Ob das Absicht war?

Das Großraumbüro selbst wirkte riesig und kam ohne Zwischenwände aus. Sicher 200 Quadratmeter, schätzte Nemecek, während er auf die dunklen Sofas mit den hohen Lehnen blickte, die hier anscheinend als Raumteiler dienten. Vor den hohen Fenstern waren jede Menge Stehtische zu sehen. Erst am Ende des Raumes schien es einige klassische Schreibtische zu geben. Sah so die Zukunft des Arbeitens aus?

»Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich«, grinste ihn Obermayr an, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Nicht schlecht, oder?«

»Ich frage mich gerade, wie sich so ein Umfeld auf unsere eigene Arbeit auswirken würde? Ich denke, das wäre eine ganz andere Polizeiarbeit.«

Obermayr legte den Kopf zur Seite, als ob sie Wasser im Ohr hätte. »Und das, was wir hier sehen, ist ja nur die Oberfläche der Organisation«, sagte sie und ließ ihren Kopf langsam von links nach rechts kippen, bevor sie ihn über den Nacken in seine Ausgangsposition zurück kreisen ließ. »Du wirst noch viel mehr staunen, wenn du auch die Hintergründe kennst.«

»Wann warst du eigentlich hier? Und vor allem, warum?«, wollte Nemecek wissen, während er das Bild zu seiner Rechten zu identifizieren versuchte. Die Großaufnahme einer Erdbeere? Ein aufgerautes Stück Metall? Eine seltene Pflanze?

»Tja, wer mit einer Architektin liiert ist, ist eindeutig im Vorteil«, bemerkte Obermayr lakonisch. »Marie war Mitglied des Designteams, das für das Raumkonzept und die Bürogestaltung der SafeIT verantwortlich war. Ihr Team wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.«

Nemecek nickte. Zumindest das mit dem österreichischen Staatspreis hatte er mitbekommen, schließlich war er ja auch bei der Feier gewesen, die Marie Rosinger nach der Preisverleihung veranstaltet hatte. Nemecek war sich sicher, dass sie dort sogar eine kurze Rede gehalten und einige Dinge zu ihrer Arbeit erklärt hatte. Leider hatte er keinen blassen Schimmer mehr, was genau das war. Ob er womöglich wirklich schon unter Alzheimer litt, wie ihm seine Kinder gerne unterstellten?

»Aber man muss nicht unbedingt Beziehungen haben, um Genaueres über die SafeIT zu erfahren«, riss ihn Obermayr aus seinen Gedanken. »Immerhin haben fast alle Zeitungen über das besondere Organisationskonzept berichtet«, erklärte sie und breitete die Arme aus. Mit kreisenden Handbewegungen fuhr sie fort. »Im Internet findet man in der Zwischenzeit einige Artikel und Videos dazu. Und seit Anfang des Jahres lädt die SafeIT einmal pro Monat zu einer öffentlichen Führung ein. Das Interesse ist riesig.«

»Kein schlechtes Marketingkonzept«, kommentierte Nemecek, als es vor ihnen laut wurde.

»Kommt, macht mal’n Abjang!«, hörte er Sven Kampinski schwadronieren. »Aba dalli!«

»Hallo Sven«, begrüßte Obermayr den großgewachsenen Kriminaltechniker. »Wieder mal Probleme?«

»Imma ditselbe Heckmeck!«, schnaubte der Angesprochene in seinem schönsten Berlinerisch. Wie so oft zupfte er dabei an seiner langen Nase herum, aber das schien keine beruhigende Wirkung zu haben. »Dit is’n Tatort, nicht ’ne Fußgängerzone.«

»Tja«, setzte Nemecek gerade an, um etwas Beschwichtigendes von sich zu geben, aber Kampinski war bereits in voller Fahrt: »Ick krieg gleich ‘n Föhn! Großraumbüro, ’ne Armee von Leuten, dit janze Papier an dit Wände und dann noch dit Rollflächen!«

»Gott schütze uns vor Regen, Hagel, Wind und Berlinern, die im Ausland sind«, zitierte Obermayr ihren Standardspruch zu Kampinski. Nemecek winkte ab. Sie wussten ja, dass der Chef der Kriminaltechnik zum Dramatischen neigte. Dennoch folgte er dessen Hinweis auf die Rollflächen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

Tatsächlich standen an vielen Stellen mobile Wände herum, auf denen verschiedene Zeilen, Spalten und jede Menge bunter Karten zu sehen waren. Vor der größten dieser Wände, ganz am Ende des Raumes, entdeckte er nun endlich Gerda Probisch.

Wie immer war die Gerichtsmedizinerin mit einem weißen Mantel bekleidet, in diesem Moment war aber nur dessen Rückenteil sichtbar. Nemecek trat nach vorne, um den Anlass für Probischs Verbeugung zu erkennen.

»Hallo Gerda«, grüßte Nemecek schon von Weitem.

»Na, da schau her!«, gab die Gerichtsmedizinerin in ihrem klassischen Schönbrunnerisch zurück. »Die werten Kollegen geben uns auch einmal die Ehre!« Ächzend richtete sie sich auf.

»Also, was wissen wir?«, drängte Obermayr, der offenkundig nicht nach Geplänkel war.

»Nun, ausgehend von der Körper- und Raumtemperatur ist der Mann seit etwa zehn Stunden tot«, verfiel Probisch sogleich in ihren eigenwilligen Medizinerinnenton. Ob das von den vielen Diktaten kam, mit denen sie zuerst ihr kleines Aufnahmegerät und hernach ihren Assistenten quälte? »Keine offensichtlichen Kampfspuren. Er muss wohl überrascht worden sein.«

»Und die Todesursache?«, insistierte Obermayr. Aus irgendeinem Grund schien sie das Gefühl zu haben, dass Probisch gegenüber Druck angesagt war – obwohl sie längst wissen sollte, dass sie damit das Gegenteil bewirkte: Sie bekamen dann nämlich nicht mehr, sondern weniger Information geliefert. Und obendrein dauerte es dann auch länger.

»Sieht ganz nach Schussverletzung aus«, deutete die Gerichtsmedizinerin auf das Gesicht des Toten. »Ihr seht ja das Loch!«

Beinahe im Gleichschritt gingen Nemecek und Obermayr um die Gerichtsmedizinerin herum, um das Opfer genauer in Augenschein zu nehmen. Sofort fiel Nemecek die punktförmige Wunde an der Stirn auf, die kaum größer als ein Stecknadelkopf war. Sie lag etwa zwei Zentimeter über den Augenbrauen des Toten, fast genau in der Mitte. Wie eine Miniaturvariante jenes religiösen Mals, das die verheirateten Inderinnen auf der Stirn trugen. Wie hieß dieses rote Zeichen doch gleich? Irgendetwas mit B: Banda? Bundu? Bindi? Die viel wichtigere Frage war natürlich, was eine solche Wunde verursachte. Hatte jemand eine Nadel im Kopf des Opfers versenkt?

»Das ist aber eine seltsame Verletzung«, hing Obermayr offenbar denselben Überlegungen nach.

»Gell?« Probisch beugte sich wieder nach vorne. »Minimale Perforation, keine Verfärbungen, glatte Wundränder, extrem schmaler Einschusskanal, kaum Blutfluss.« Sie richtete sich wieder auf, ließ ihren Blick eine Weile auf Obermayr ruhen, enthielt sich aber jedes Kommentars.

»Welche Waffe hinterlässt solche Wunden?«, fragte Nemecek.

»So wie das aussieht, würde ich auf einen Pfeil tippen.«

»Einen Pfeil?«

»Von einem dieser modernen Bögen«, bestätigte Probisch. »Oder einer Armbrust.«

»Einer Armbrust?«, wiederholte Nemecek aufs Neue und kam sich allmählich ziemlich blöd vor. Wer bitte verwendete heutzutage noch eine Armbrust? War das nicht mit Wilhelm Tell ausgestorben?

»Genaueres kann ich euch aber erst sagen, wenn ich ihn mir gründlicher ang’schaut hab.«

»Und was ist das in seinem Schoß?«, lenkte Obermayr ihre Aufmerksamkeit vom Gesicht auf den Körper des Toten. Erst jetzt fiel Nemecek die grüne Karte auf, die zwischen den Oberschenkeln des Toten lag. Seltsam, dass er das bislang völlig übersehen hatte. Dabei hob sich das kräftige Grün scharf von der dunklen Hose des Opfers ab.

»Da simma ausnahmsweis mal überfragt«, sagte Probisch zerknirscht. Ob das daher rührte, dass es für sie total ungewöhnlich war, einmal etwas nicht zu wissen?

»Sieht aus, als würde das zu der Tafel da vorne gehören«, spekulierte Obermayr. »Zumindest haben die Karten darauf dieselbe Farbe.« Nemecek folgte ihrem Blick: An der Wand vor dem Toten war eine mindestens fünf Meter breite Fläche mit Papier und Klebestreifen übersät. Neben den grünen Karten, die der am Körper des Toten glichen, gab es auch gelbe und weiße sowie kleinere rote, die in einem schrägen Winkel auf den größeren Karten angebracht waren. Auf jeder Karte standen bestimmte Informationen: Worte, aber auch einzelne Buchstaben und Zahlen, die in verschiedene Kästchen eingetragen waren. Dazu gab es auf jeder weißen Karte zumindest einen Farbpunkt, manchmal auch zwei. Die ganze Wand war von dünnen schwarzen Linien zerteilt, die dem dort anscheinend aufgezeichneten System etwas Rasterhaftes verliehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Hilfesuchend sah sich Nemecek um und entdeckte ein Plakat, das auf der rechten Seite des Boards an der Wand hing. Unser Koordinationsboard stand dort zu lesen. Jemand hatte diese Überschrift im selben Rot ausgemalt wie die quadratischen Punkte, mit denen die darunter liegenden Sätze aufgelistet waren. Stop starting, start finishing, las Nemecek weiter, Fokus auf das Beenden von Aufgaben, Wert für den Kunden im Zentrum, Manage work not people, parallele Tätigkeiten limitieren, Abhängigkeiten reduzieren.

Nemecek schüttelte den Kopf. Was für ein sonderbares Sammelsurium von Begriffen, ganz abgesehen von der Mischung von Deutsch und Englisch. »Was ist das?«, fragte er in die Runde, während er mit dem rechten Arm durch die Luft ruderte, als könnte er dadurch wieder Oberwasser gewinnen. Jetzt schüttelte auch Probisch den Kopf. Plötzlich streckte Obermayr ihre Hand in die Höhe wie eine Musterschülerin, die nun unbedingt an die Reihe kommen wollte. Nemecek ertappte sich dabei, wie er ihr lehrermäßig zunickte.

»Soweit ich weiß«, sagte seine Kollegin, »ist das ein sogenanntes Kanban-Board.« Nemecek spürte, wie sich seine Augenbrauen hoben. »Was ist das?«, wiederholte er begriffsstutzig.

»Ein sogenanntes Kanban-Board«, wiederholte Obermayr. »Damit wird Arbeit dargestellt«, führte sie weiter aus, »und dessen Management vereinfacht.«

Nemecek nickte, obwohl er Obermayr nicht wirklich verstanden hatte. Arbeit wird dargestellt? Und Management erleichtert? Keine Ahnung, was damit genau gemeint war. Die entscheidende Frage war allerdings, was dieses Kanban mit ihrem Toten zu tun hatte. Oder war er nur zufällig hier aufgefunden worden? Doch warum lag dann eine dieser Karten in seinem Schoß?

»Alles in allem ein attraktiver Mann«, brachte sie Probisch wieder vom Board zum Opfer zurück. Nemecek spürte, wie seine automatische Gesichtserkennung ansprang: breites Kinn, eine gerade Nase, kräftige Brauen, volles, an den Schläfen leicht angegrautes Haar, ein gepflegter Dreitagebart, registrierte er.

»Ein Mann, der Wert auf sein Äußeres gelegt hat«, konstatierte Obermayr. »Der hätte ohne Weiteres eine Karriere als Fotomodell machen können.«

»Vienna’s Next Topmodel«, pointierte Probisch, die immer noch bei ihnen stand. Nemecek musste schmunzeln, da Probischs Vergleich ihn an eine der Lieblingssendungen seiner Töchter erinnerte. Er überlegte, an welchem Wochentag diese ausgestrahlt wurde: Mittwoch? Oder Donnerstag? Auf alle Fälle hatte Lea an diesem Tag immer das Wohnzimmer für sich beansprucht, meistens zusammen mit Sophie, manchmal sogar mit einer mehr oder weniger großen Gruppe an Freundinnen. GNTM-Party hatten seine Mädels den Abend immer genannt. Bettina und er waren dann höflich, aber bestimmt aus der Wohnung komplimentiert worden. »Ihr wolltet doch ohnehin öfter miteinander essen gehen. Heute wäre die ideale Gelegenheit dafür!«, lautete ihr Standardargument.

»Seine Stirn ist nahezu faltenfrei«, holte ihn Obermayr aus seiner Familienin die gegenwärtige Mordgeschichte zurück. Nemecek seufzte. Er war wieder einmal völlig vom Thema abgeglitten. Es fiel ihm nach wie vor extrem schwer, sich zu konzentrieren. Er brauchte dringend sein Koffein.

»Und von seinen Sorgen ist er nun auch befreit«, fügte Probisch hinzu, als wäre das die ideale Gelegenheit, um wieder einmal das Klischee von der zynischen Pathologin aufleben zu lassen. Nemecek presste die Lippen aufeinander. Das half ihnen alles nicht weiter, war er überzeugt. Doch was würde ihnen weiterhelfen?

»Also ich brauche jetzt mal einen anständigen Espresso«, verkündete er kurzerhand und setzte sich sogleich in Richtung Treppenhaus in Bewegung. In den nächsten fünfzehn Minuten würde er endlich das versäumte Morgenritual nachholen, einen guten Platz an der Cafébar suchen und dort in aller Ruhe nochmals in den Tag starten.

Dienstag, 10:17

Von Kaffeepausen, Untersuchungen und Zeugen

Das war definitiv die beste Zeit des bisherigen Tages. Die Espressomaschine löste ein, was ihr Anblick versprochen hatte: beste Arabica-Bohnen mit ausreichend Druck und der richtigen Wassertemperatur exquisit verarbeitet. Nemecek fand einen guten Platz an der Theke und fühlte sich sogleich an sein Lieblingskaffeehaus in der Florianigasse erinnert. Endlich ein anständiger Kaffee! Und endlich Zeit für seine Notizen! Daumenkino, fiel ihm ein, als er das schmale Notizbuch durchblätterte. Dann hatte er die erste leere Seite gefunden, drückte den Falz hinunter und griff zu seinem Stift. Tatort Kanban, schrieb er. Der neue Fall war nun offiziell eröffnet.

Nemecek dachte nach. Am Anfang einer Ermittlung war stets besondere Wachsamkeit angesagt. Was waren bislang die auffälligsten Elemente gewesen? SafeIT, notierte er, Paul Steiner, Schusswunde, Kanban. Ihm fiel auf, dass er die einzelnen Buchstaben eher malte, als dass er flüssig schrieb. Er fügte eine grobe Skizze des Großraumbüros hinzu, in dem sie den Toten gefunden hatten: das lange Rechteck, die Fensterseite mit Doppelstrichen, die Stehtische als kleine Kreise, die Sitzgruppen und die Schreibtische als kleinere Rechtecke, schließlich die mobilen Tafeln und das große Whiteboard, vor dem sie den Toten gefunden hatten.

Mit jedem Strich gewann Nemecek an Klarheit. Einmal mehr spürte er, wie sehr er seine Kritzeleien brauchte: um ins Denken zu kommen; um sich in Ruhe zu sortieren; um sich einen Überblick zu verschaffen; last but not least, um seine nächsten Schritte zu klären.

Leider war die Zeit des Innehaltens schnell wieder vorbei – und die des Genusses sowieso. Als er in den dritten Stock zurückkam, sah er Kampinski, Obermayr und ihren Assistenten Manninger angeregt diskutieren.

»Was habt ihr denn schon über den Toten herausgefunden?«, wandte sich Nemecek ohne eine weitere Erklärung an Manninger.

»Pau-Pau-Paul St-Steiner, si-sieben-und-und-vier-zi-zig, ledig, k-keine Kinder, k-keine Vor-stra-strafen, Sie-Siever-verin-inger Hauptstraße zw-zwölf«, trug der Angesprochene die Basisdaten aus dem Polizeicomputer vor. Dann trat er einen Schritt zur Seite, als ob er jemand den Vortritt lassen wollte. Obermayr wartete nicht lange auf eine Extraeinladung. »Der Typ scheint keine Angehörigen zu haben«, fügte sie hinzu, »bis auf eine jüngere Schwester, die in Währing lebt.«

»U-u-und eine-ne Le-lebens-g-g-gefährt-tin«, ergänzte Manninger. »An-g-g-geblich g-g-gab es d-da je-jem-mand Neuen. Da s-sind wir d-d-dran.«

»Verstehe«, sagte Nemecek. »Dann sollten wir zumindest mal die Schwester schleunigst kontaktieren. Wie heißt die?«

»Syl-Sylvie St-st-steiner«, berichtete Manninger, während er auf seinem Smartphone herumdrückte. »Le-Ledig, kin-kin-der-lo-los, n-nicht v-vor-b-bestraft. Gre-g-gor-M-mendel-Str-straße 50.« Dann blickte er wieder auf und wirbelte mit der Hand durch die Luft. »D-dat-ten auf dei-nem H-h-handy.«

»Danke, René«, sagte Nemecek und drehte sich zur Seite. Er wollte sich wieder zu den anderen Kollegen gesellen, doch Manninger hielt ihn zurück. »D-d-da g-gibt’s noch w-was.« Nemecek blickte überrascht auf. »Ei-ein Gegerichts-v-ver-fa-fahren weg-gen ei-ner un-ge-ge-recht-f-fertig-t-ten Kün-di-digung«, berichtete Manninger und streckte seinen linken Zeigefinger aus. Gleich darauf ließ er den Mittelfinger folgen: »U-und ein-ne An-an-z-zeige weg-gen sex-xuel-ler Be-beläst-tig-gung.«

»Ach«, kommentierte Nemecek und kam sich dabei ziemlich blöd vor. Er rettete sich in eine naheliegende Frage: »Wen hat er denn belästigt?«

»Ein-ne ge-gewisse Mi-le-n-na Da-dic.«

»Und das ist wer?«

Manninger zuckte mit den Achseln.

»Okay, das werden wir schon noch herausfinden«, sagte Nemecek, den es nun noch dringender zu seinen anderen Kollegen zog. Umso mehr, als er seine neuesten Erkenntnisse gleich mit Obermayr teilen wollte.

»Danke nochmals, René.«

»B-bit-te«, sagte der Angesprochene, bevor er sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurückzog.

»Was würden wir nur ohne dich tun, Sven?«, hörte er Obermayr gerade sagen, als Nemecek zu der kleinen Gruppe dazustieß.

Kampinski schien weder das Lob noch den ironischen Unterton zu registrieren. »Dit is ’n Ding«, setzte er mit gerunzelter Stirn fort, »ick hab nix jefunden. Weder hier noch an seinem Arbeitsplatz.«

»Komisch«, teilte Obermayr Kampinskis Stirnrunzeln. »Das hat wohl der Täter mitgehen lassen.«

»Oder die Täterin«, ergänzte Nemecek automatisch und verscheuchte sogleich den Gedanken an das selbstgefällige Fotomodell aus der Castingshow, deren Namen ihm partout nicht einfallen wollte. Wenn das keine saubere Verdrängungsleistung war! Oder war es doch wieder nur ein weiteres Zeichen seiner fortschreitenden Vergesslichkeit?

»Steiners Rufdaten sind jejessen«, informierte Kampinski. »Morgen früh sollte ick schon mehr über dit Kontakte unseres Opfers wissen.«

»Gut«, fühlte sich Nemecek zu einer positiven Reaktion bemüßigt. Immerhin war Kampinski nicht nur als Meister seines Fachs, sondern auch als ausgesprochener Narzisst bekannt, der viel Wert auf Anerkennung legte.

»Und sein …«, setzte Nemecek an, worauf Kampinski blitzschnell die Hand hob. »… Laptop hamma noch nich jefunden«, schloss er den Satz ab.

»Ich hoffe, ihr könnt die Rufdaten gleich auswerten«, setzte Obermayr nach. »Das letzte Mal hat sich das Ganze ja ziemlich hingezogen.« Kampinski starrte sie an, als entdeckte er gerade einen ekligen Hautausschlag auf ihrem Gesicht.

»Hör bloß uff mit dit Jeseire!« Er betonte jedes einzelne Wort. »Wir tun, wat wir können. Gleich kannste knicken. Zwei bis drei Tagen schätz ick.«

»Zwei bis drei Tage?!«, mischte sich nun auch Nemecek ein.

»Ick setz dit Prios nicht. Wir wissen ja, wer der Macher ist von dit Janze«, erklärte der Kriminaltechniker missmutig. »Safety First is jetzt dit Devise. Wien darf nüscht Chicago werden. Dafür dürfen wir bei jedem Autodieb dit große Besteck auffahren.«

Nemecek verdrehte die Augen. Natürlich hatte er schon von der Kampagne gehört, mit der das Präsidium sein Image aufpolieren wollte. Volksnah sollte sich die Polizei zeigen, den Bürger schützen, den Verbrechern das Handwerk legen. So stand es zumindest in der Zeitung zu lesen, die an allen U-Bahnstationen gratis verteilt wurde. »Damit Wien seinem Ruf als die lebenswerteste Stadt der Welt auch in Zukunft gerecht wird«, hatte auch Kappacher am Ende seiner letzten Pressekonferenz dick aufgetragen. Warum man dafür die Kontrolle von Fahrradfahrern verstärken musste oder gar eine berittene Polizei brauchte, war Nemecek indes schleierhaft. Zu allem Überfluss band die medial ausgeschlachtete Aktion scharf