Tatort Wald - Claus-Peter Lieckfeld - E-Book

Tatort Wald E-Book

Claus-Peter Lieckfeld

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Beschreibung

Naturnaher Mischwald ist wichtig. Denn er wird zum Beispiel mitentscheiden, wie wir und nachfolgende Generationen mit den immer häufigeren Hochwassern, Lawinen oder Orkanen fertig werden. Vor allem großer Wildbestand mindert die Wasserspeicherkraft der Wälder und verursacht durch Verbiss an jungen Bäumen ein Waldsterben von unten. Georg Meister kämpft seit Jahrzehnten gegen eine bislang übermächtige Jagdlobby und politische Seilschaften. Angesichts von Klimawandel und gefluteten Städten - Jahrhundertfluten alle drei Jahre!-wird offenkundig, wie wichtig die Wasserspeicherkraft naturnaher Wälder ist. Doch diese notwendigen Wälder wachsen nicht nach, weil es die hocheffektive Lobby einer winzigen Minderheit - der "waidgerechten Jäger" - schafft, ihre Belange durchzusetzen. Ein krasser Verstoß gegen die vielbeschworene Generationengerechtigkeit! Statt Wald vor Wild gilt vielerorts Wild vor Wald. Aus dem scheuen Reh ist längst ein Massentier geworden und der Wald zu einem artenarmen Holzacker verkommen. Der Förster Georg Meister kämpft seit über 50 Jahren mutig und konsequent gegen diese Fehlentwicklung. In seinem Revier hat er beispielhaft gezeigt, wie naturnahe Wälder nachwachsen können - und machte sich dadurch viele Feinde.

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Seitenzahl: 370

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Ebook Edition

Claus-Peter Lieckfeld

TATORT WALD

Georg Meister und sein Kampf für unsere Wälder

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www.westendverlag.de

Dies ist die zweite, komplett überarbeitete Neuauflage des Buches. Die Inhalte in diesem Buch sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und dessen Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-013-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2012

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Alle Fotos im Bildteil: Georg Meister; letztes Foto: Paul Grafwallner

Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Prolog: Warum der Wald wieder wichtig wird

Forst und Jagd: »The German problem«

Ein Gast sieht mehr

Waidmannslust von Gottes Gnaden

1.  Im Wald wächst ein Jäger (1929-1945)

Die Jagd ruft

Eine fatale Liaison

Jagd – mit der Muttermilch eingesogen

Meisters jagdliche Lehrjahre

Schüsse in Deutschland

Trophäenkult

Götterdämmerung

2.  Lernen für den Lebenstraum (1945-1953)

Jagdlobby besiegt Waldlobby

Wer den (Wild)Schaden hat, spottet jeder Beschreibung

Karriereleiter mit hohen Sprossen

Mutter Natur weiß es besser

3.  Vom Hegejäger zum Waldheger (1953–1965)

Beim Jagen drückt man ein Auge zu

Ein Traum gerät ins Schlingern

Das Bild von Jagd bekommt Risse

Hoch hinaus, endlich Hochgebirge

Blick zurück nach vorn

Gegenwind von oben – eine Episode

Harte Arbeit für andere

Strafversetzt nach oben

4.  Kassandra bleibt unbeliebt (1966–1978)

Die Nachhaltigkeit der Ausreden

Nationalpark – eine Idee im Zerreisstest

Ja, mach nur einen Plan …

Zurück an die Basis

Bitte recht freundlich!

Der Weihnachts-Stern und die Zeitenwende im Wald

Tauziehen im Schatten des Watzmann

Ein Mann wird zur Zielscheibe

Laudatio auf einen Kärrner

5.  Leiter des Forstamts Bad Reichenhall – eine ganz besondere Herausforderung (1978–1994)

Die Koalition der Zufriedenen

Es ist zum Verzweifeln

»Da muss man ja Mitleid haben!«

»Waldsterben« – es rauscht im deutschen Blätterwald

Lawinen, Hochwasser und Dürre

Die Lage des Waldes

Der Schock des Trophäenjagdverzichts

Verpasste Chancen

Der Wald mag dahinsiechen, das Dogma muss leben

Die Politik reagiert

Verbände kämpfen für funktionsgerechte Wälder

Jagdtrophäen mit Gold aufgewogen

Die Weißwand klärt die Fronten

Der eine strahlt, der andere zahlt

Die Waldbesucher sind schuld

Bergmischwälder für die Enkel

Die Jugend motivieren

Vom (Ver)Schweigen im Walde

Worte sind Zwerge, Taten sind Riesen

6.  »Die Tannen können wir auf ewige Zeiten vergessen!« (1994–2006)

Weltmeister im Verstecken – eine Erfolgsstory

Trophäenjagd verhindert naturnahe Wälder

Klüger als der liebe Gott

Routineschäden

Störfaktor Mensch

»Sparwälder« als Folge überhöhter Wildbestände

Ein Nationalpark als Zentrum der Trophäenjagd

Ohne Lernbereitschaft gibt es keinen Wandel

Wie (un)bezahlbar ist Hochwasserschutz?

Gibt es kurzfristigen Hochwasserschutz?

Humus – schwarzes Gold

Keine klaren Ziele – keine Zukunft

Weiterhin prima Klima für die Jagd?

7.  Es gibt nichts Gutes, außer man tut es (2007 bis heute)

Epilog: Was können wir tun in Zeiten des Klimawandels?

Anmerkungen

Glossar

Grafiken

Literaturempfehlungen

Vorwort

Der Wald gilt als Inbegriff für Beständigkeit und langfristiges Wirtschaften. Er ist Trinkwasserfilter, Hochwasserspeicher, Erholungsraum, grüne Lunge und in gebirgigen Gegenden auch noch Schutzwald gegen Lawinen und Hangrutschungen. In fachlichen Diskussionen wird all das unter »Wohlfahrtswirkungen« des Waldes zusammengefasst. Und in Deutschland wurde für den Wald bereits vor Jahrhunderten die Idee der Nachhaltigkeit entwickelt.

Doch nur Teilbereiche dieser Idee wurden umgesetzt, und auch im Wald hatten kurzfristige Erfolge wie der Verkauf wertvoller Hölzer oder das Jagdvergnügen einen höheren Stellenwert als langfristige Ziele wie die Schaffung naturnaher Mischwälder, die in Zeiten des Klimawandels dringend angesagt sind. Jahrhunderthochwasser und Jahrhundertorkane im Dreijahrestakt stoßen uns geradezu auf die Frage: Welche Wälder sind zukunftstauglich? Welche Wälder können die lebensrettenden Schwämme sein, die Starkregen zwischenspeichern, so dass sie nicht als Flutwellen verheerende Schäden anrichten. Welche Wälder können die häufigeren Stürme oder Hitzeperioden ohne allzu große Schäden ertragen?

Monokulturen aus Fichten – sehr schlechte Wasserspeicher übrigens – sind vielfach heute schon potentielle Baumfriedhöfe nach vermehrtem Borkenkäferfraß. Naturnahe Mischwälder mit ihrer ganzen Artenvielfalt können sich am besten auf den Klimawandel einstellen. Sie sind die Wälder der Zukunft. Und sie wachsen sogar von selbst, wenn alle ihre Arten aufwachsen dürften.

Forstmänner mit Blick für eine umfassende Nachhaltigkeit sind unter den Förstern eher die Ausnahme und waren oft auch heftigen persönlichen Angriffen ausgesetzt. Georg Meister, der sich sein Leben lang für naturnahe Mischwälder eingesetzt hat, ist eine solche Ausnahme. Er hat diese zukunftsfähigen Wälder nicht nur propagiert, sondern gegen erbitterten Widerstand auch aufwachsen lassen. Und indem Georg Meister nichts anderes tat, als die hochoffiziellen forstpolitischen Ziele umzusetzen, geriet er voll in die »Schusslinie« der Jagd- und Forstbürokratie. Nicht zuletzt hat Georg Meister das »Waldwesen« als eine wichtige Grundlage der europäischen Kultur erkannt und in zahlreichen Publikationen und Vorträgen in die Gesellschaft getragen.

Ich durfte seinen Kampf für naturnahe Wälder und für den Ausbau größerer Naturschutzgebiete zu »biologischen Bildungsstätten« vierzig Jahre lang begleiten und auch unterstützen. Georg Meister hat sich nach frühen jagdlichen Lehrjahren ständig weitergebildet. Er hat von Waldbauern gelernt, von forstlichen Waldbaumeistern, Betriebswirtschaftlern, engagierten Naturschützern und von der Natur. Und so ist sein Lebensweg zu einem Vorbild für »nachhaltige Entwicklung« im Wald geworden. Gerade in Zeiten des Klimawandels werden solche Vorbilder einer lebenslangen Weiterbildung zu einer Überlebensfrage – für uns und für die nachfolgenden Generationen. Damit »nachhaltige Entwicklung« und »Generationengerechtigkeit« nicht nur Schlagworte bleiben und möglichst viele Menschen sich für diese zukunftsfähigen Wälder einsetzen, wünsche ich diesem Buch eine breite Leserschaft.

Hubert Weinzierl

Präsident des Deutschen Naturschutzringes

Vorsitzender der Bundesstiftung Umwelt

Prolog: Warum der Wald wieder wichtig wird

»Klimavertrag kommt – aber erst 2020« resümiert die Süddeutsche Zeitung am 12. Dezember 2011 die Ergebnisse der UN-Klimakonferenz von Durban in Südafrika. Diese Titelzeile bringt auf den Punkt, wie relativ Erfolge selbst dann sein können, wenn es buchstäblich ums Ganze geht: nämlich um die Frage, ob wir – beziehungsweise die, die nach uns kommen – noch »lebbare« Verhältnisse vorfinden werden oder eher nicht. Durban endete nicht in Fiasko und Resignation, wie die seinerzeit medial gehypte Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009. Die Staatengemeinschaft verlängerte in Südafrika immerhin das Kyoto-Protokoll, das 2012 ausgelaufen wäre. Die neue Laufzeit soll 2013 beginnen. Ob Kyoto II dann bis 2017 oder 2020 gelten wird, ist genauso unbestimmt wie die genauen Ziele und Grenzfestlegungen. Russland, Japan und Kanada erklärten prompt, sie werden nicht mit von der Partie sein. USA und China waren schon bei Kyoto I nicht dabei. Das kann man sicherlich nur durch fest zusammengebissene Zähne einen Erfolg für die Atmosphäre nennen.

Etwas mehr Hoffnung hinterlässt die zweite Großbaustelle von Durban: Gegen heftigen Widerstand von Indien, aber auch von der USA und China, gelang es – wie berichtet wird, in letzter Sekunde –, ein rechtsverbindliches Beschlussprotokoll zu fixieren: Bis 2015 soll ein »echtes weltweites Bündnis gegen die Erderwärmung« (Süddeutsche Zeitung vom 12. Dezember 2011) erarbeitet und 2020 in Kraft gesetzt werden, das Emissionsobergrenzen verbindlich festlegt.

Konferenzteilnehmer Norbert Röttgen, Bundesumweltminister, sieht darin ein »Fundament (…) für ein internationales Klimaschutzabkommen (…), das erstmalig für alle gilt«. Und alle heißt wirklich alle, da die Totalblockade von Großemittenten wie USA und China aufgelöst wurde. Beide Großmächte hatten bisher jedwede verbindlichen Treibhausgasemissionsgrenzen für sich abgelehnt. Wie schlupflochfrei schlussendlich Regelwerke und bindende Obergrenzen ausgestaltet werden, blieb in Durban offen. »Das ist ein trauriger Morgen«, kommentierte ein Konferenzteilnehmer aus Bangladesch denn auch die Ergebnisse. Für sein Land, das schon heute akut vom Meeresanstieg und hoch auflaufenden Fluten bedroht ist, kommt eine Trendwende in fernerer Zukunft zu spät. Und Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, nannte die Beschlüsse in Anspielung auf die EU-Finanzkrise (die Durban fast völlig aus den Nachrichtensendungen verdrängt hatte) »einen löchrigen Rettungsschirm fürs Klima«. Eines der größeren Löcher wurde in den Fazitkommentaren der Presse nur knapp vermerkt: Die Vorstöße einiger Nationen, mit Geldmitteleinsatz dafür zu sorgen, dass große Waldgebiete – bitter notwendige CO2-Senken – nicht weiter abgeholzt werden, führten zu buchstäblich nichts.

Manch einer, der einige tausend Kilometer – sagen wir aus dem Berliner Umweltbundesamt – angeflogen kam, wird zuvor oder unterwegs in »alten« Akten gelesen haben, die vor fünf, sechs Jahren die Öffentlichkeit alarmierten, deren Botschaft aber im Zeichen der globalen Finanzkrise nur noch schwer durchdringt. »Anpassung an den Klimawandel wird immer wichtiger«, hatte etwa das Umweltbundesamt zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Meteorologie schon im April 2006 festgestellt. Und weiter: »Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen für die Menschheit. Klimaänderungen und deren Auswirkungen sind bereits heute spürbar – auch in Deutschland, wie der Blick auf die vergangenen hundert Jahre zeigt: Die Jahresmitteltemperatur stieg um 0,8 Grad Celsius, in den Alpen sogar mit 1,5 Grad Celsius um fast das Doppelte. Extrem warme Jahreszeiten – vor allem extrem heiße Sommer – traten immer häufiger auf. (…) Mehr Starkniederschläge im Westen Deutschlands, häufigere heiße und trockene Sommer sowie heftigere Stürme richteten in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten großen wirtschaftlichen Schaden an. (…) Besonders betroffen waren Forst-, Land- und Wasserwirtschaft. (…) Allein in den vergangenen zehn Jahren beliefen sich die Schäden durch die großen Hochwasser (…) auf rund 13 Milliarden Euro. Hitze und Dürre verursachten etwa eine Milliarde Euro Schaden. Durch die Stürme (…) entstanden Kosten von insgesamt etwa 2,5 Milliarden Euro. (…) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie können wir uns an diesen Klimawandel anpassen, um Menschenleben zu schützen und wirtschaftliche Schäden so gering wie möglich zu halten?«1

Wer wissen will, was noch geht, macht sich sinnvollerweise auch kundig, was nicht mehr geht. Im Wald zum Beispiel: Der Klimaforscher Professor Dr. Wolfgang Seiler vom Forschungszentrum Karlsruhe glaubt, dass die Fichten zum Beispiel im Frankenwald und Fichtelgebirge schon in einigen Jahrzehnten keine Chance mehr haben.2 Durch wärmere und niederschlagsärmere Sommer wird der Bodenwassergehalt stark absinken. Die Fichten sind dann so geschwächt, dass sie eine leichte Beute von Borkenkäfern oder anderen »Feinden« werden.

Es ist auch eine Frage der Verantwortung für kommende Generationen, ob wir diese Fakten zur Kenntnis nehmen und Konsequenzen daraus ziehen oder das Prinzip »Nach uns die Sintflut« walten lassen. Mit Klimawandel und Generationengerechtigkeit (wir sorgen für die Wälder unserer Enkel) wird auch der Wald wieder ein Thema, das mit dem »Waldsterben« zunächst gestorben schien.

Ein Drittel Deutschlands ist waldbedeckt. Diese Fläche wird ganz erheblich mitentscheiden, wie viel von kommenden Starkregen »gepuffert« werden kann oder auf ruinös kurzem Weg in Bäche und Flüsse schwappt. Aber was kommende Hochfluten an Oder, Elbe, Donau, Rhein und diversen kleineren Flüssen und Bächen anrichten, hängt nicht nur pauschal davon ab, auf wie viel waldige »Puffer- und Schwammfläche« Schnee und Regen fallen. Die Qualität der (Wald-)Flächen und besonders des Waldbodens ist mitentscheidend.

Es gibt mäßig gute und es gibt Hochleistungspuffer, es gibt schlappe und hoch elastische Schwämme. Und nur die besten werden künftig gut genug sein. Während das Skript dieses Buches überarbeitet wird (Dezember 2011), legen TV-Redakteure letzte Hand an ihre Jahresrückblicke, und man darf sicher sein, dass die spätherbstlichen Hochwasserkatastrophen an den nördlichen Mittelmeerküsten und schlimmere in Ostasien ins Bild gerückt werden. Ein Narr, wer da meinte, das beträfe uns nicht! Für Städte wie Passau, Magdeburg und Köln, aber auch für zahllose Siedlungen in den Alpen ist es buchstäblich eine Frage auf Leben und Tod, wie gut die Wälder im Einzugsbereich der Wasserläufe »arbeiten«. Deren Leistungsfähigkeit wird ganz erheblich mitentscheiden, ob eine Flutwoge die Siedlungen trifft oder ein langsam an- und wieder abschwellender Pegel.

Man weiß inzwischen recht gut, welche Art von Wäldern den Katastrophenschutz-Job am besten macht. Es sind exakt jene, die offiziell und von Staats wegen gewollt sind, die in allen Gesetzen und Verordnungen beschlossen werden, die als Hauptziel in jeder Präambel forstfachlicher Leitlinien festgeklopft sind, Wälder, die Hochglanzbroschüren zieren. Die Rede ist von naturnah durchmischten Wäldern, die sich ohne ständige Nachpflanzaktionen von selbst verjüngen können.

Für diese Wälder spricht noch einiges mehr. Nicht nur sogenannte »Starkniederschläge«, auch die Windgeschwindigkeiten werden nach allem, was sich seriös prognostizieren lässt, zunehmen. Dabei geht es nicht so sehr um das »Wie oft?«, sondern mehr und dringlicher um das »Wie sehr?«. Es wird künftig – womöglich – sogar weniger stürmen als bisher, aber deutlich heftiger, nämlich »um etwa zehn Prozent könnte die Windstärke zunehmen«, resümiert der Spiegel (2011/47) die aktuellen Prognosen, und ein Orkan, der zehn Prozent über dem berüchtigten »Lothar« (zweiter Weihnachtstag 1999) läge, würde die Schäden nicht etwa um ein Zehntel erhöhen, sondern verdreifachen.

Es wird bis zum Jahr 2030 global gesehen um etwa ein Grad wärmer werden. Daran können wir jetzt schon nichts mehr ändern. Ob es bis zum Jahr 2100 um zwei oder um vier Grad wärmer sein wird, hängt von der Klimaschutzpolitik der nächsten Jahrzehnte ab.

Die Fichtenmonokulturen, die an vielen Standorten zwischen Nordsee und Alpen stehen, wird es doppelt erwischen: Zum einen begünstigen Wärme und geringere Niederschläge im Sommer Fichtenfeinde wie Borkenkäfer oder Fichtenblattwespe. Zum anderen sind diese naturwidrigen Stangenwälder besonders anfällig gegen starken Winddruck. Die Orkane der letzten Jahre wüteten in den Holzäckern weit heftiger als in gestuften, relativ naturnahen, artenreichen Mischwäldern.

In dieser Situation raten Waldexperten nachdrücklich dazu, der Waldnatur das Heft in die Hand zu geben: Sie wird sich aus dem breiten Spektrum natürlich aufwachsender Bäume und anderer Waldpflanzen diejenigen heraussuchen, die mit den neuen klimatischen Verhältnissen am besten fertig werden. Diese Wälder muss man nicht erfinden, die finden sich in unvollständigen Resten noch überall in Deutschland. Hier haben sich alte Bäume erhalten wie zum Beispiel Elsbeeren, Eichen, Ahorne oder Tannen und manche Sträucher oder krautige Pflanzen wie zum Beispiel Schneeball, Waldweidenröschen, Türkenbund oder Hasenlattich, die in vielen Wäldern fast nicht mehr aufwachsen können.

Fast alle wollen solche naturnahen Wälder mit ihrer standorttypischen Bodenvegetation: die Naturschützer, kluge Forstökonomen, Hochwasserschutzexperten, die Erholungsindustrie und im Grunde auch die Politiker, die auf das Gemeinwohl verpflichtet sind. Wunschwälder mit einem Wort.

Forst und Jagd: »The German problem«

Und genau hier beginnt eine der unglaublichsten und zugleich unbekannteren Geschichten der letzten hundert Jahre.

Diese – zumindest dem Lippenbekenntnis nach – von allen gewollten Wälder wachsen nicht auf. Sie wurden behindert und in schlimmer Konsequenz großflächig verhindert. Im Wesentlichen von einer winzigen Minderheit, die sich gegen eine 99,6-Prozent-Mehrheit durchsetzen konnte und noch immer kann. Diese Geschichte gilt es zu erzählen, die Geschichte eines der größten Lobbyerfolge aller Zeiten.

Aber wir könnten dieses Waldbuch auch mit einem Fanfarenstoß beginnen. Oder mit einem kleinen Jubelchoral in eigener Sache: Wir Deutschsprachigen lieben unseren Wald. Unsere schönsten Märchen wurzeln dort. Und die wundervollen Waldbeschreibungen unserer Dichter lassen die Augen feucht werden: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben« und »… über allen Wipfeln ist Ruh«, »… der Wald steht schwarz und schweiget …«. Im Wald lebt Bambi und wächst der Pfifferling, glitzert der Tau in der Morgensonne und röhrt der Hirsch, der Stolze, in die Herbstnacht.

Und deutsche Förster haben die Nachhaltigkeit erfunden, heißt es, also das Prinzip, niemals mehr Bäume zu schlagen als nachwachsen. Dafür sind sie schon von Friedrich Schiller gelobt worden und später weltberühmt geworden, die deutschen Förster. Ein Traumberuf!

Die andere Geschichte ist nicht ganz so pastellfarbig lindgrün, dafür aber ungleich spannender. Eigentlich ein »Tatort«-Krimi mit vielen Beteiligten, sehr vielen Alibis und Dolchstoßlegenden. Eine Skandalgeschichte, die allein dadurch noch etwas skandalöser wird, dass sie andauert. Und sie ist bisher immer nur in Ausschnitten erzählt worden. Vielleicht weil die meisten Zeitgenossen den Wald für keine passende Kulisse halten, wenn es um Verschleierung geht, um massive Eingriffe in fremdes Eigentum oder um Verschleuderung öffentlicher Gelder?

Wenn wir versuchen, diese Geschichte zu erzählen – wir, das sind ein Journalist, der sich seit über zwanzig Jahren fragt, warum die Nutznießer des Skandals ihre Enttarnung bisher fast mühelos überstehen konnten, und ein Forstmann, der handelnde Person in dieser Geschichte war und noch ist –, dann müssen wir uns auf einen Anfang einigen. Einiges spricht dafür, im Spätsommer 1935 anzusetzen.

Ein Gast sieht mehr

Im Spätsommer und Herbst 1935 bereisten sechs US-amerikanische Forstexperten Deutschland. Sie hatten von »Dauerwald« und »Nachhaltigkeit« gelesen – Dingen, für die es auch in der englischsprachigen Fachliteratur nur diese beiden deutschen Begriffe gab. Diese Worte – genauer: die Frage nach ihrer Entsprechung in der Wirklichkeit – hatten vor allem einen aus der sechsköpfigen Expertengruppe angezogen, den damals 48-jährigen Aldo Leopold, den einzigen aus der forstfachlichen Reisegruppe, der den United States Forest Service3 quittiert hatte und sich seit einigen Jahren in einer völlig neuen Disziplin einen Namen gemacht hatte, dem »Wildlife Management«. Dafür gab es 1935 (und gibt es noch heute) kein genau entsprechendes deutsches Wort; es handelte sich um ein Fach, das sich künftig ebenso mit dem Namen Aldo Leopold verbinden sollte wie Evolution mit Charles Darwin oder, in Deutschland, Tierleben mit Brehm.

Nachhaltigkeit im Forstwesen – diese Maxime hatte einen geografischen Ort: Wie jemand, der dem Wort »Freiheit« hinterher forscht, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht in die USA gefahren wäre, so fuhr nach Deutschland, wer sich für Nachhaltigkeit im Wald interessierte. In Deutschland war dieses Prinzip erstmals erdacht und teilweise auch umgesetzt worden.

Wie kam es dazu?

Die Erklärung erfordert einen kleinen Aufgalopp durch die Geschichte. Die Vorgeschichte, warum und wie Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft zum Thema werden konnte, hat zwei Überschriften: Not und politische Willkür.

Im Mittelalter hörte der »freie Wald« schrittweise auf, frei zu sein. Wo sich nach der Völkerwanderung und vor der Verfestigung von Zentralgewalten die Dörfler noch frei mit Holz versorgen und ihr Vieh ungehindert in den Wald treiben konnten, beanspruchten König, Adel und Kirche peu à peu und immer rigider sogenannte Bannwälder für ein »königliches Vergnügen«. Dazu schreibt Landforstmeister Werner Roßmäßler: »Um dem Jagdvergnügen möglichst ungehemmt frönen zu können, war die Erhaltung der ausgedehnten Waldungen Voraussetzung. Die ersten Rodungsverbote, deren ältestes vom Abt des Klosters Lorsch etwa um das Jahr 1100 erlassen war, beruhten zweifellos nicht auf der Sorge um die Holznot, sondern vor der Schmälerung der Jagdgebiete.«4 Das begehrte Wild war in den riesigen Laubwäldern selten. Die Berufsjäger waren dafür verantwortlich, es gleichwohl zu finden und eine erfolgreiche und höfisch gerechte Jagd durchzuführen.

Im späten Mittelalter waren zwei Drittel des Waldes, der Mitteleuropa noch zur Zeitenwende in weiten Bereichen beinahe flächendeckend überwölbt hatte, gerodet für Ackerbau und Viehzucht. Die Bauern waren auf die Nutzung des übriggebliebenen Waldes angewiesen, auf Holz als Energiequelle und Baumaterial, auf den Waldboden als Viehweide und Nahrungsquelle. Aber immer größere Waldteile wurden von den Landesfürsten mit einem Bann belegt. Das bedeutete: Rodungs-, Jagd- und Nutzungsverbot fürs Volk, damit die Herrschaften dort ihrem »königlichen Vergnügen« nachgehen konnten. Den Bauern blieben immer kleinere Waldanteile. Und immer öfter mussten sie erbärmlich frieren, ihre Not wuchs.

Aber Not macht bisweilen erfinderisch: Irgendwo kam ein Dorfschulze (Frühform eines Gemeindevorstehers) auf die Idee, die kleinen, fürs Volk zugänglich gebliebenen Wälder planmäßig zu nutzen; er ließ sie in gleichmäßig bemessene Jahresschläge einteilen. Daraus entwickelte sich vor etwa 700 Jahren die Nutzungsform des »Niederwaldes«1 oder des »Mittelwaldes«2.

Nur diese organisierte Selbstbeschränkung konnte sicherstellen, dass auch die Enkel noch in der Lage waren, ausreichend Holz zu schlagen. Durchzusetzen vermochte das nur ein Dorfschulze, der über ausreichend Autorität verfügte. Diese »Gemeindewald-Bevollmächtigten« wachten über die Disziplin. Wer gegen sie verstieß, verstieß gegen die Generationengerechtigkeit, beraubte Kinder und Enkelkinder.

Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen über diese frühe Form umsichtiger Waldnutzung, und man weiß auch nicht, wo diese Idee erstmals entstand und wie sie sich ausbreitete. Sicher ist: Die Sorge um den Wald bewirkte Sorgfalt und Vorausschau.

Die Herrschenden hatten andere Sorgen: Waldbesitzende Landesfürsten zum Beispiel bangten um ihren Wohlstand; Holz, das man in Riesenmengen, etwa zur Salzgewinnung, verheizte, wurde nach langjähriger ungeregelter Nutzung knapp.

Im 17. und 18. Jahrhundert schließlich formulierten Verwaltungsbeamte das, was als »nachhaltige Holznutzung« bekannt wurde – ein Prinzip, das einige Jahrzehnte später von Förstern aufgegriffen und als »Nachhaltigkeit« gelehrt wurde. Die Förster wurden aus den Berufsjägern rekrutiert und in neu gegründeten Försterschulen weitergebildet.

Von solchen und anderen Pionieren – von Nachhaltigkeit zum einen und deutschem Baumpflanzerfleiß zum anderen – hatte Leopold gelesen. Er wanderte drei Monate durch deutsche Forste und tauchte tief in Fachbibliotheken ein. Was er bei den Wanderungen im Land seiner Vorväter sah, erschütterte ihn zutiefst: Stangenforste so weit das Auge reichte – von ein paar rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Sollte das die ganze hochgelobte deutsche Forstwirtschaft sein? Und wenn ja, wie hatte es dazu kommen können? In der Forstlehranstalt Tharandt (Sachsen) suchte und fand er historische Spuren. Er entdeckte auch die historische Gegenprobe zu seiner Wild-Wald-These.

»Der Dreißigjährige Krieg«, schrieb er in seinem berühmten Aufsatz »Deer and Dauerwald in Germany«, »dezimierte das Wild (…). Die Wälder füllten sich mit Gesetzlosen, Fahnenflüchtigen, vertriebenen Bauern, die sich alle nach Essbarem umsahen. Außerdem (…) kam es zur Rückkehr von Bären und Wölfen«, den natürlichen Feinden der Pflanzenfresser. Die Wildbestände wurden niedriger, naturnäher. Jetzt blieben genug Schösslinge, um eine neue Waldgeneration zu begründen: Naturverjüngung nennt der Fachmann die Fähigkeit des Waldes, sich selbst in seiner ganzen Vielfalt am Leben zu halten.

Der Gast aus den USA erkannte, dass die Reh- und Rotwildbestände* vielfach stark angewachsen und besonders schädlich für die Wälder waren. Aus seltenen Waldtieren waren vielerorts Massentiere geworden. Das hatte mehrere Gründe. Ein nicht unwesentlicher: Die natürlichen Feinde, Luchs und Wolf, waren als Beutekonkurrenten ausgerottet worden. Räuberausrottung und Fütterung von Hirschen und Rehen hatten schwerwiegende Konsequenzen für die Wälder. Die großen Pflanzenfresser Reh und Hirsch vermehrten sich ungeahnt schnell.

Aber das freute die feudalen Jäger; sie wollten ja viel Wild, auch wenn es den Bauern die Äcker kahl- und den Wald gnadenlos zusammenfraß. Das Recht des Adels, auf fremdem Grund und Boden zu jagen, wurde 1848 mit Deutschlands nur angedeuteter Bürgerlichen Revolution abgeschafft. Aber das Problem blieb. Denn ein neureiches Bürgertum wollte nun in seinen Jagdrevieren Reichtum in Form von (wirtschaftlich wertlosen) Jagdtrophäen zur Schau stellen. Geistiger Vater einer neuen Form der Jagd – der Hegejagd – war der Förster Carl Emil Diezel. Er jagte ab 1815 in wildreichen Staatsjagden Unterfrankens. Sein Buch Erfahrungen auf dem Gebiete der Niederjagd ist erstmals 1849 erschienen und hat 1983 die 23. Auflage erlebt. Er gehörte zu jenen Förstern, die Tiere und Pflanzen in nützliche und schädliche einteilen und die Natur nach ihrem Willen gestalten wollen. Das wird besonders an seiner Einstellung zum Reh und zum Fuchs deutlich.

Zum Reh meint er: »Es handle sich um eine diesem Thiergeschlecht zu haltende – Leichenrede.« Wie das? Diezel hat die tatsächliche Zahl der Rehe und deren Vermehrungsfreudigkeit völlig unterschätzt. Er begründete damit die notorische bis heute fortwirkende Unterschätzung der realen Rehbestände, er ist der geistige Ahnherr all jener, die noch heute immer aufs Neue Befürchtungen von einer kurz bevorstehenden »Ausrottung des Wildes« in die Welt setzen.

Zum Fuchs schreibt er: »Von jeher war ich ein abgesagter Feind jener Erzräuber (…), denn sein Blick verrät Heimtücke, Bosheit, Mordbegierde und Verschlagenheit zugleich. (…) Der Oekonom im weiteren Sinne des Wortes, folglich auch der Forstmann, sieht in dem Fuchse nur den Vertilger einer weit schädlicheren Thierart, nämlich der Mäuse, und betrachtet ihn daher als ein äußerst nützliches Geschöpf. (…) Aus einem ganz anderen Gesichtspunkte betrachtet ihn dagegen der Jäger, der (…) kein Mittel zu dessen Vertilgung für unerlaubt hält. (…) Es ist nämlich ein (…) entscheidender Vortheil, wenn man den jungen Hunden schon in der ersten Zeit (…) die Freude verschaffen kann, die schweißige Fährte eines lahmgeschossenen Fuchses zu verfolgen und ihn gemeinschaftlich abzuwürgen.«

Die Hegejagd übernahm Entwicklungen aus der Viehzucht, vor allem Fütterung und Zuchtauswahl. So ließen sich in wenigen Jahren die begehrten Trophäen produzieren. Das setzte aber einen ständigen Kampf gegen die Natur (zum Beispiel gegen Beutegreifer) voraus. Zu dieser »waidgerechten Hegejagd« gehören einige Dogmen, die sich in den letzten 140 Jahren immer weiterentwickelt haben. Um 1870 lauteten sie:

  Wir können das Wild in unseren Jagdrevieren annähernd genau zählen.

  Wir müssen unser Wild füttern.

  Wir müssen unser Wild vor Feinden schützen.

  Wir müssen den Zuchtwert unseres Wildes durch gezielte Auslese verbessern.

All diese Dogmen kollidieren mit der Ökologie des Wildes oder des Waldes (dazu später ausführlich). Für ihre waidgerechte Hegejagd pachteten immer mehr zu Geld gekommene Bürgerliche so manche ehemalige »Bauernjagd«*. Diese Nachfolger der Adelsjäger wollten aber nicht nur pirschen, sondern auch ein wenig prunken; die Rolle eines »Jagdherrn« eignete sich dazu vorzüglich.

Und der neue Grünadel samt benachbartem oder mitjagendem Förster wollte sich abheben von den gewöhnlichen »Fleischjägern«, die in erster Linie für den Kochtopf schossen. So wurden eigentlich wertlose Körperteile wie Gehörne, Federn oder Zähne (die Hauer genannten Eckzähne des männlichen Wildschweins) zu Trophäen, zu Orden. Sie waren Belege, dass man selbst kein »Bauern- oder Fleischjäger« war. Trophäen wurden zu Emblemen einer neuen Form der Jagd, der waidgerechten Hegejagd. Der waidgerechte Jäger wollte (und will) in möglichst großen Wildbeständen per Wahlabschuss die Guten von den »Minderwertigen« trennen und fütternd viel mehr Wild »hegen«, als der Wald ganzjährig durch natürliche Wildnahrung unterhalten kann.

Aber auch im späten 19. Jahrhundert gab es einzelne unbefangene Beobachter. So schrieb ein Jäger im Jahre 1896, dass »in stark bejagten Revieren stärkere Böcke vorkämen als in gut gehegten«. Doch solche Stimmen wurden immer seltener. Kaiser Wilhem II. wurde Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zum Patron der Hegejagd, die in ihrer Zielorientierung stets Trophäenjagd war. Wilhelms säuberlich protokollierte Jagdzeiten und Beutestrecken lösen ungläubiges Staunen aus: Wie viel Zeit kann dem eifrigen Nimrod* überhaupt zum Regieren geblieben sein? Der Kaiser ließ besonders starken »gefallenen« Trophäenhirschen Denkmäler in den Wald stellen und posierte gern mit Beute. Im Jahr 1895 übernahm er die Schirmherrschaft der ersten deutschen Trophäenschau. Damit war ein Sockel der waidgerechten Hegejagd offiziell eingeweiht: Die Jagdtrophäen müssen jährlich zur Schau gestellt werden, um die »Hegeleistung« vorzuführen.

Das war ein wichtiger Etappensieg für all die, denen künftig die Gleichsetzung von Jagd und Trophäen-(Hege-)Jagd ein Anliegen war.

Waidmannslust von Gottes Gnaden

In einer Festschrift zu seinem 25. Thronjubiläum (»Heil, Kaiser, Dir!«) heißt es, SM, Seine Majestät, habe geruht, in drei Jahren 75 000 Stück Wild zu erlegen. Etliche davon in der Schorfheide bei Berlin, dem späteren Lieblings- und Exklusivrevier von Hermann Göring.

Womit wir wieder in den Dreißigern und bei Aldo Leopolds Deutschlanderfahrung sind. Er sah 1935 im Reich »Kiefern in Reih und Glied den Berghang hinaufmarschieren, um sich am Kamm zu treffen«. Aber er schaute auch nach unten und war erschüttert über die versauerte, lebensfeindliche Nadelstreu in Kiefern- und Fichtenmonokulturen und den Verlust der süßen Bodenpflanzen, womit besonders zartblättrige Pflanzen wie zum Beispiel Hasenlattich, Waldweidenröschen, Türkenbund oder Schneeball gemeint sind. Leopold sah eben nicht nur den finanziellen Ertrag; ihn interessierte der Wald als Gesamtlebensraum; Wald begann für ihn nicht erst mit Stämmen in Augenhöhe. Eine Sichtweise, wie sie einzelne deutsche Forstwissenschaftler und Förster schon ab 1880 entwickelt hatten, die sich aber gegen die Jagdtrophäenzüchter und Zinseszinsrechner (Wald nur als Kapitalanlage) nicht durchsetzen konnten.

Leopold hatte dieses Defizit fast seherisch bemerkt: »Die deutsche Erfahrung ist eine offene Warnung, dass forestry wohl oder übel mehr öffentliches Interesse umschließt als nur den Nachschub von Stämmen; dieses Interesse kann verletzt oder unterstützt werden durch die Förster.«

Leopold bemerkte zu der unseligen Kombination naturferner Jagd und Forstwirtschaft: »Man kann nicht durch deutsche Wälder reisen, ohne durch die Tatsache überwältigt zu werden, dass künstliches ›game management‹ [Leopold meinte die deutsche Wildhege] und eine artifizielle Forstwirtschaft sich gegenseitig zerstören.« Und »die Deutschen haben, durch künstliche Anpflanzung, den Großteil ihrer Wälder, die einmal überwiegend aus Mischwald bestanden, in reine Fichten- und Kiefernforste verwandelt. In solchen Wäldern gibt es kaum oder gar kein Futter für Wild, nur auf frischen Kahlschlägen, wo etwas aufwächst. Dort entsteht enormer Fraßdruck auf die Pflanzendecke, was in der Tendenz nicht nur die Holzproduktion eliminiert, sondern auch den verdaulichen Aufwuchs: alle Büsche und Kräuter, die Wild und Vögel brauchen – ja sogar die gesetzten Fichtenschösslinge. Um den Schaden abzuwenden, zäunt man ein, was abermals die Tragfähigkeit [für die verbliebenen nicht gezäunten Gebiete] einschränkt. Um den Hungertod des Wildes abzuwenden, wird gefüttert, dadurch unterhält man ganz erhebliche Stückzahlen.«5

Leopold stellte auch die entscheidende Frage: »Warum duldet man solche Zustände?« Seine Antwort: Die Förster [»forest officers«] wollen ihr Privatvergnügen (ihre Jagdprivilegien) nicht zugunsten des Gemeinwohls [»public good«] beschneiden lassen.

Damit waren die Hauptursachen der Wald- und Wildproblematik eindeutig und bis heute gültig beschrieben. So klar konnte das vor bald achtzig Jahren wohl nur ein kenntnisreicher Beobachter formulieren, der nicht in die Machtverhältnisse einer Diktatur eingebunden war.

Schon in den Dreißigern gab es eine gut funktionierende Interessenvertretung der waidgerechten Hegejagd, einen Schulterschluss zwischen hochrangigen Politikern (allen voran Hermann Göring), waidgerechten Jägern sowie den meisten Förstern. Das waren zwar weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Aber es war – und ist – die erfolgreichste Lobby im Freizeitbereich.

Das Jagdförstererbe überschattete auch den Lebensweg eines Mannes, der bei Inkrafttreten des Reichsjagdgesetzes im Jahre 1934 knapp fünf Jahre alt war und dem wir durch dieses Buch folgen werden.

1 Begriffe, die im Glossar erklärt werden, sind bei ihrer ersten Nennung mit einem Sternchen 2 versehen.

1.  Im Wald wächst ein Jäger (1929 - 1945)

Rund sechs Jahre bevor der große Naturforscher Aldo Leopold Deutschland bereiste, kam ein anderer Waldmann zur Welt.

Hochsommeranfang 1929. Die Zeit der Fahnenstangenwälder und der Hitlerdiktatur hatte noch nicht begonnen. Nur wenige Hellsichtige sahen bereits Vorzeichen kommender Düsternis. Die Weimarer Republik war schon angeschlagen, aber sie lag noch nicht in ihren letzten Zügen, als am 30. Juni 1929 am Südrand des Truppenübungsplatzes Königsbrück eine Fahne aufgezogen wurde. Eine weißblaue bayerische. Mitten in Sachsen. Ein paar Dutzend Kilometer nordöstlich von Dresden.

Gehisst hatte sie Ludwig Meister, Förster der örtlichen Heeresforstverwaltung, anlässlich der Geburt seines ersten Sohnes Georg. Es lag ein wenig Stolz in der Veranstaltung. Seht her, ihr Leute: Bayern behauptet sich auch in der Fremde – Naturverjüngung fernab der bayerischen Heimat.

Da stand er nun, Revierförster Ludwig Meister, grünuniformiert, schussbereit und mit einem Fuß auf der Karriereleiter, die für Forstbeamte damals üblicherweise auch die Sprossen von Hochsitzleitern hatte. Schlecht hatten es die Meisters, seit 1928 verheiratet, wahrlich nicht erwischt. Eine Festeinstellung in Zeiten grassierender Arbeitslosigkeit – im Jahr 1929 lag sie durchschnittlich bei fast 1,9 Millionen.

Auf dem Waldgelände der übenden Reichswehreinheiten tätig zu sein bedeutete Baumernte und Baumpflanzaktionen als alltägliche Pflicht. Die Kür aber war das Schöne, das edle Wild, das für allfällige Jagdgäste vorrätig gehalten werden musste: ranghohe Offiziere und Vorgesetzte.

Sohn Georg wuchs in eine Tier- und Waldidylle hinein. Gerade zweijährig und knapp in der Lage, ein paar 100 Meter geradeaus zu laufen, tauchte er erstmals in der Landschaft unter, die ihn lebenslang gefangen halten sollte: im Wald.

Alle Aufmerksamkeit im Forsthaus war kurzzeitig auf Mutter Maria gerichtet, der eine Frühgeburt drohte – Gott sei Dank nur drohte. Keiner achtete auf Georg. Und der war plötzlich wie vom Waldboden verschluckt. Erst ängstliche, dann panische Blicke huschten über den Bach vorm Haus: Hatte Georg am Vortag nicht unentwegt ins Wasser geschaut und versucht, fliegende Mosaikjungfern und andere Prachtlibellen zu greifen?

Lautes Rufen und intensive Suche brachten nichts. Vater Ludwig sprang ohne zu zögern in den Bach, dort wo der sein Wasser unter einen Verhau aus Erlenwurzeln und angeschwemmtem Gestrüpp drängte: Wie wenn der kleine Körper durch den Wasserdruck hier …

Und während er noch unter das Schwemmholz fasste, flüchtete eine Wasseramsel, die dort ihr Nest hatte. Ein Vogel, … ein Vogel!!! Da war doch was … gestern … Vater Meister sprang an Land und brach durch die Kiefernschonung, die an den Forstgarten grenzte. Auf der anderen Seite öffnete sich die Dickung* zu einer kleinen, vergrasten Lichtung, in der vereinzelte alte Obstbäume standen, letzte lebende Zeugen einer Waldtagelöhnerhütte, deren Grundmauern im Dornengerank und Moos versunken waren.

Georg lag unter einem Kirschbaum und beobachtete, wie junge Kernbeißer im Nest gefüttert wurden. Wo er lag, hatte Vater Meister seinen Zweijährigen tags zuvor auf dem Arm gehalten und ihm das Nest gezeigt.

Georg Meister, dem die Geschichte in späteren Jahren häufig erzählt wurde, merkt dazu an: »Ich konnte mich offenbar schon in sehr früher Kindheit im Wald orientieren, konnte etwas wiederfinden. Und ich war mit zwei offenbar schon in der Lage, etwas, das mich faszinierte, zwei Stunden lang ohne Unterbrechung zu beobachten.«

Die Jagd ruft

Zwei Jahre später, Juli 1933, begegnete Georg der Tierart, die ihn später in Jägerkreisen berühmt machen sollte: einem Reh, einem Kitz*, von Mutter Maria flaschengefüttert. Das auf Menschen geprägte Tier prägte Georg. Und er bemerkte schon mit vier, dass es etwas anderes ist, ob sich Jagdhund Golo an ihn drängte oder ein Wildtier. Kreatürliche Nähe ist ein Geschenk, das von weiter her kommt als aus dem Hundezwinger. Schwer zu beschreiben, nur zu erleben.

Und noch im selben Jahr, im September, lag so ein Liebtier blutig vor ihm im Gras, nachdem es zuvor ohrenbetäubend geknallt hatte. »Weißt du, Georgele«, hatte Ludwig Meister seinem käsebleichen Sohn gesagt: »Das war ein schlechter Vererber, der muss weg!« Das hatte Georg damals nicht verstanden, aber der Vater musste es ja wissen, er war das große Vorbild.

Der Bock bekam einen Zweig ins Maul gesteckt, einen Zweig, der Bruch* hieß. Und als dem Reh der Bauch aufgeschlitzt wurde, durfte ein tapferer Vierjähriger ein Bein festhalten, während er auf das dampfende Gedärm starrte, das ihm entgegenquoll.

In einem Alter, in dem Kinder noch die heile Tierwelt aus Bilderbüchern aufnehmen, gab es für Georg schon die Tatsache, dass Tiere im Wald so ganz Knall auf Fall tot umfallen. Und dass es gut, richtig und ehrenvoll ist, dieses Totumfallen. Gut, richtig und ehrenvoll, wenn es sich mit all dem Drumherum richtig trifft. Und wenn man richtig trifft.

Es kam ein Tag im Leben des Fünfjährigen, an dem dieses »Treffen« seine Weihe bekam. An einem Nachmittag im April 1934 – Ludwig Meister war mittlerweile endlich wieder nach Bayern an das Heeresforstamt Grafenwöhr versetzt – stand der Vorgesetzte des Vaters in der Tür und ließ sich den Birkhahn zeigen, den Ludwig Meister tags zuvor geschossen hatte. Aber noch bevor der erlegte Hahn begutachtet wurde, legte Vater Ludwig seinem Sohn die Hand aufs Haar und sagte: »Herr Forstmeister, mein Sohn hat mir gestern waidgerecht den Bruch überreicht!«

Der Forstmeister hob die Augenbrauen und sagte: »Georgele, willst du auch mal ein Förster werden?«

»Ja.«

»Hast du denn auch schon ein Gewehr?«

Georg rannte davon und holte sein Stöpselgewehr.

»Ja, schau! Triffst du denn auch damit?«

Georg griff sich eine Scheibe, baute sie auf, atmete tief, wie es ihn sein Vater gelehrt hatte, und schoss. Der Stöpsel flog dreimal exakt ins Zentrum.

Daraufhin verlangte der Forstmeister nach Papier und Tinte und schrieb:

Jugendjagdschein

Hiermit stelle ich für Georg Meister,

Geboren am 30. Juni 1929,

Sohn des Revierförsters Ludwig Meister,

nach bestandener Schießprüfung

einen Jugendjagdschein aus.

Heeresforstamt Grafenwöhr, den 16. April 1934

Eine fatale Liaison

Während ein Fünfjähriger in einer Art symbolischer Jugendweihe auf den Wildwechsel geführt wird (nicht auf den Holz-Weg, wie man bei einem Förstersohn hätte vermuten können), geschieht in Deutschland gerade etwas mit der Jagd. Und zugleich mit der Forstwirtschaft. Die nämlich sollte von nun an zum Dienstleister der Jagd werden. Zum lodengrünen Erfüllungsgehilfen – nicht (!) expressis verbis, aber de facto.

Eine fatale Liaison, begrüßt von viel Jagdhornschall und weihevollen Reden, ein Bund, dessen Ehe-Urkunde das Deutsche Reichsjagdgesetz von 1934 (RJG) ist. Der Artverderber (minderwertiges Wild) musste ausgemerzt werden, erbgesundes Wild galt es heranzuhegen; Raubzeug*, Habicht, Sperber, Rohrweihe, Wiesel, Erbfeinde jedes waidgerechten Jägers, gehörten »ausgemerzt«, und der hegende Jäger entschied von der »Kanzel« – ein verräterisches Wort für Hochsitz –, wen es trifft und wer überleben darf.

All das war nicht wirklich neu und stand so oder ähnlich schon in den Jagdzeitschriften der Kaiserzeit. Aber es passte, verbal ein wenig eingebräunt, prima zum Zucht- und Rassegedanken der neuen Staatsideologie; und so wurde es in diversen Vorworten und zahllosen Feierreden hymnisch verkündet: eine »nationalsozialistische Tat … aus ganz neuem Geist«, schrieb 1941 der NSDAP-Parteibiograf Erich Gritzbach.

Das Reichsjagdgesetz brachte neben den alten Glaubenssätzen der Hegejagd (siehe Seite 21) auch neue Dogmen und Bestimmungen:

  Wir müssen Jäger, die unsere Glaubenssätze anzweifeln, über ein »Ehrengericht« aus dem Kreis der Jäger ausschließen.

  Der Wildschaden im Wald ist nur gering. Und er wird nur für wenige »Hauptholzarten« ersetzt. Alle anderen Baumarten müssen vom Waldbesitzer besonders geschützt werden (etwa durch Einzäunung), wenn er sie aufwachsen lassen will.

  Die »edlen« Wildarten (Rehe, Hirsche, Gämsen) dürfen nur nach genau geplanten und kontrollierten Abschussplänen bejagt werden.

  Um die zahlreichen gesetzlichen Vorgaben zu kontrollieren, muss eine umfangreiche Jagdbürokratie aufgebaut werden.

Der sechseinhalbjährige Georg Meister schaut im Januar 1936 in Tanzfleck bei Amberg aus dem Klassenfenster in dichtes Schneetreiben. Wetter für den Fuchs, hatte der Vater gesagt. Also genaugenommen kein Wetter für den Fuchs, sondern gegen ihn. Fuchsjagdwetter halt.

Im Rechnen waren einige Schüler besser als Georg. Aber das würde sich bald ändern. Der Lehrer hatte den Vater einbestellt, und der Vater hatte gesagt: »Ist recht, Herr Lehrer! Problem erkannt, ich weiß, wo der Georg zu packen ist!«

Dann hatte der Vater ihn in sein Büro geholt und sehr ernst geschaut: »Du willst doch auch mal Förster werden, Georg?«

»Ja.«

»Ein Förster muss gut lesen, rechnen und schreiben können. Das weißt du?«

»… ja, … Ich weiß.«

»Na, dann haben wir uns ja verstanden!«

Wenig später daheim, nach dem gemeinsamen Mittagessen, kam endlich das Zauberwort: »Fuchswetter, Georg! Im Bau im Saurangen stecken Füchse fest. Nach dem Essen will ich sie mit dem Hund sprengen. Oder ausgraben. Mal sehen, wie’s geht. Wenn du deine Schulaufgaben fertig hast …«

Georg durfte den Spaten tragen. Der Spaten ist bei Fuchswetter fast so wichtig wie das Gewehr. Aber nicht ganz so wichtig wie Loni, der Bauhund. Georg trug den Spaten geschultert; in der Klasse hing ein Bild vom Reichsarbeitsdienst: Wohl an die hundert größere Jungen oder junge Männer, die mit geschultertem Spaten gleichmäßig in einer Reihe und in eine Richtung gingen. Spaten wie Gewehre.

Unterwegs ging der Vater bei den Waldarbeitern vorbei. »Der Fuchsbau im Saurangen ist befahren. Vermutlich eine Liebesgesellschaft. Will jemand mitgehen und beim Graben helfen, falls die Loni sie nicht raustreiben kann?«

Beide wollten. Na klar wollten sie. Die Füchse holten doch ihre Hühner und Gänse! Der Haumeister Götz nahm dem Sechseinhalbjährigen den Spaten ab: »Georgele, der ist doch noch zu groß für dich!«

Am Bau kontrollierte Vater Meister die Spuren. »Die Füchse stecken im Bau!«, stellte er fest und machte eine Handbewegung, mit der alle außer Schussweite zurückbeordert wurden. Dann stellte er sich selbst so auf, dass er alle Röhren* im Blick hatte. Loni fuhr in den Bau, Schnee stob auf. Fuchswetterschnee!

Es dauerte ein paar Minuten, dann sauste ein Fuchs aus einer der Röhren, ein roter Strich, mehr nicht. Vater Meister zog mit dem Gewehr mit, es knallte, und der Fuchs rollte im Schnee. Loni kam aus dem Bau, verschluckte sich kurz an ihrem eigenen Gebell, packte den Fuchs und schüttelte ihn kräftig.

Der Vater lobte: »Brav, Loni, brav!«

Loni verschwand sofort wieder in der Fuchsburg, der zweite Fuchs wollte offenbar nicht springen.

Gut so, dachte Georg, nun wird es spannend, und tatsächlich sagte der Vater das, was gesagt werden musste, das war so sicher wie bei einem Schulgedicht, wenn man den Reim schon kennt, der in der nächsten Zeile kommt: »Loni liegt vor und gibt Laut. Ich höre sie ganz leise. Etwa da!«

Die beiden Waldarbeiter knieten sich hin, kratzten den Schnee zur Seite und horchten mit dem Ohr am Boden, dann rückten sie ein Stück vor, kratzten erneut, lauschten.

»Da drunter hör ich die Loni«, sagte Götz, der ältere der beiden Waldarbeiter schließlich, »willst du auch mal hören, Georg?«

Georg zögerte, als befürchtete er, der Fuchs könne entwischen, während er tief zur Erde gebeugt, ein Ohr am kalten Gras, gerade nichts sehen konnte. Aber dann lauschte er doch. »Ich höre die Loni auch.«

»Dann müssen wir graben, Männer!«

Mit dem Spaten zeichnete Götz, so wie er es schon Dutzende Male zuvor gemacht hatte, ein Viereck in den Schnee, begann erst zu hacken und dann zu graben. Der Walter begann an der anderen Seite des Vierecks.

Zuarbeiter Walter löste ihn ab, aber schon bald übernahm wieder Götz: Hier ging es schließlich um hochverantwortliche Tätigkeit. Zwischendurch horchte Götz immer wieder. Als sie etwa eineinhalb Meter tief vorgedrungen waren, sagte er: »Da, jetzt hör ich schon den Fuchs keckern*!«

Vater Meister hatte alles im Blick: »Vorsichtig jetzt, Männer, dass ihr mir die Loni nicht verletzt! … Moment, stopp! Da vorn, das ist ja schon die Lunte* vom Fuchs!«

Vater Meister gab dem Sechsjährigen den Drilling*: »Der ist gesichert, Georg, halt ihn gut fest!«

Dann stieg er in die Grube, zog seinen Revolver und nickte Haumeister Götz zu, der auf das stumme Kommando hin die letzte dünne Erdschicht abhob. Der Rücken des Fuchses und die hintere Hälfte seines Kopfes waren zu sehen; aus dem Erdreich stieg heißer Atem von Fuchs und Hund. Es krachte. Götz zog den toten Fuchs heraus. »Genickschuss, Herr Förster!« Der Hühnerdieb war tot. Georg Meister erinnert sich ein Menschenleben später:

»Füchse gehörten für mich damals und noch Jahre später vor allem eines: totgeschossen. Schon sechs Jahre später habe ich bei einer Treibjagd Hasen ›unbeschossen‹ laufen lassen, wenn Hoffnung bestand, dass noch ein Fuchs kommt. Aber irgendwann habe ich mich gefragt: Muss man Füchse wirklich so verteufeln?

Auf Füchse wird aus praktisch jeder Entfernung und noch fast bei Dunkelheit geschossen. Das ist waidgerecht, weil es dem Schutz des Niederwildes*, der Hasen, Rebhühner, Fasanen dient. Es gilt als ein schlimmer Verstoß gegen die Waidgerechtigkeit*, Kitzen die Mutter wegzuschießen. Selbstverständlich! Aber genauso selbstverständlich wurde viele Jahrzehnte auf Füchse geschossen, von denen man annehmen konnte, dass sie im Bau Welpen haben, die man so dem Hungertod überantwortete. Kein Verstoß gegen Waidgerechtigkeit! Man muss sich genau überlegen, ob man von Ethik oder von Waidgerechtigkeit spricht. Es hat einige Jahre gedauert, bis mir das klar wurde.«

Jagd – mit der Muttermilch eingesogen

Das Leben des Grundschülers Georg Meister teilte sich in zwei Hälften, die Muss-Seite mit Schlaf, Schule, Schulaufgaben, Mahlzeiten und das eigentliche Leben: im Wald. Glückliche Tage waren die, an denen das Herüberwechseln von der ersten in die zweite Hälfte glatt und schnell gelang. Weniger glückliche die, an denen man nicht mit in den Wald hinaus durfte.

Vater Ludwig war für Georg ein Wald- und Wildgott, seine Geschichten das Evangelium. Besonders die Geschichten aus den frühen wilden Nachkriegsjahren, gleich nach dem Ersten Weltkrieg, als Vater Ludwig Meister in Thüringen drei Wilderer festnahm, die gleich wieder freikamen.

Es war bekannt, dass der Kampf gegen Wilderer gefährlich war, deshalb auch hatte Großvater Meister seinem Sohn und Jungförster seinen alten Kriegsrevolver zugesteckt. Dem Vater war von Waldarbeitern mitgeteilt worden, wo sich besonders viele Schlingen im Wald befanden. Schlingen – der achtjährige Jagdschüler Georg Meister glühte vor Zorn, wenn sein Vater nur das Wort erwähnte –, Schlingen, in denen sich Rehe und Hirsche langsam zu Tode würgten. Und es war der Vater, nicht irgendein Held aus den Schulbüchern, nein, es war sein Vater, der mit dem Fahrrad zur Rettung ausgerückt war.

Plötzlich traf ihn ein fürchterlicher Schlag am Arm, so dass er vom Rad stürzte. Ein Schuss hatte den Schaft seines umgehängten Gewehres zerfetzt. Am Boden liegend erkannte er eine Gestalt, die sich aus der nahen Dickung löste und mit vorgehaltenem Gewehr auf ihn zukam.

Ludwig Meister spürte seinen rechten Arm nicht mehr, der Wilderer hatte sein Gewehr umgedreht und holte zum tödlichen Schlag mit dem Kolben aus. Offenbar war er wild entschlossen, Munition zu sparen.

Da gelang es Vater Ludwig, mit der Linken den Revolver zu ziehen und den Wilderer mit vier Schüssen in die Flucht zu treiben. Die anschließende einarmige Fahrradfahrt zum Dorfarzt wurde zum Wettrennen mit dem Tod, denn der heftige Blutverlust zog dem Vater von Minute zu Minute dichteren Nebel über die Augen. In seinen letzten wachen Sekunden vor der tiefen Ohnmacht konnte er noch die Amputation des rechten Armes verhindern, die der fronterfahrende Dorfarzt für nötig hielt. »Gott sei Dank, denn einarmig hätte ich kein Förster bleiben können«, pflegte Vater Ludwig diese Geschichte zu beschließen. Und »kein Förster« hätte geheißen: kein lebenswertes Leben.

In kaum einem anderen Genre sind Gut und Böse so klar aufgestellt wie in Jäger-Wilderer-Geschichten. Der Held trägt Lodengrün, der Schurke meist mindere Lumpen.

»Nichts«, so Georg Meister, »rechtfertigt oder relativiert den versuchten Mord an meinem Vater, aber ich habe später vielfach und anders über die Ursachen der Wilderei nachgedacht.«

Die jagende Landbevölkerung wurde in einem Jahrhunderte währenden Prozess vom Adel aus dem Wald vertrieben. Ihre als solche beschimpfte »Fleischjagd«, mit der die Dorfbewohner ihren Hunger stillen wollten – für die »edle« Passion fehlte ihnen der Sinn und die Zeit –, wurde mit drakonischen Strafen verfolgt. Selbst dann, wenn das Wild der Fürsten die Äcker plünderte, war ein Abwehrschuss nichts als »Wilderei«. Notwehr gab es nicht.