Taunusgier - Osvin Nöller - E-Book

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Osvin Nöller

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Beschreibung

"Wir sind dem Laster verfallen, das der Menschheit am meisten zu schaffen macht: der HABGIER!" Die frühere Polizistin Melanie Gramberg schlägt sich als Privatdetektivin in Hamburg durch und fühlt sich für den Tod ihres Lebenspartners verantwortlich. Nicht zuletzt des Geldes wegen nimmt sie den Auftrag an, Jan Wolter zu suchen, der im Taunus verschwunden ist. Sie beginnt ihre Ermittlungen in einer Altstadtkneipe in Bad Homburg, mit deren Wirtin der Verschwundene liiert war. Im Silbernen Bein trifft sie auf einige skurrile Menschen, nicht zuletzt die Besitzerin selbst. Warum setzt ein stadtbekannter Architekt alles daran, das Gebäude zu kaufen und was verbindet ihn mit einem Alt-Hippie-Paar, das sich um betuchte Senioren kümmert? Welche Rolle spielt ein obdachloser Graf, dem man eine dunkle Vergangenheit nachsagt? Als Melanie Jan Wolter findet und fast zeitgleich ein Stammgast der Wirtschaft tot im Schlosspark liegt, wird ihr bald klar, dass sie längst ins Visier eines skrupellosen Gegners geraten ist!

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„Wir sind dem Laster verfallen, das der Menschheit am meisten zu schaffen macht: der HABGIER!“

Die frühere Polizistin Melanie Gramberg schlägt sich als Privatdetektivin in Hamburg durch und fühlt sich für den Tod ihres Lebenspartners verantwortlich. Nicht zuletzt des Geldes wegen nimmt sie den Auftrag an, Jan Wolter zu suchen, der im Taunus verschwunden ist.

Sie beginnt ihre Ermittlungen in einer Altstadtkneipe in Bad Homburg, mit deren Wirtin der Verschwundene liiert war. Im Silbernen Bein trifft sie auf einige skurrile Menschen, nicht zuletzt die Besitzerin selbst. Warum setzt ein stadtbekannter Architekt alles daran, das Gebäude zu kaufen und was verbindet ihn mit einem Alt-Hippie-Paar, das sich um betuchte Senioren kümmert? Welche Rolle spielt ein obdachloser Graf, dem man eine dunkle Vergangenheit nachsagt?

Als Melanie Jan Wolter findet und fast zeitgleich ein Stammgast der Wirtschaft tot im Schlosspark liegt, wird ihr bald klar, dass sie längst ins Visier eines skrupellosen Gegners geraten ist!

Inhaltsverzeichnis

14. April

Ein Jahr zuvor

15. April

18. April

19. April

21. April

22. April

27. April

28. April

29. April

30. April

2. Mai

3. Mai

4. Mai

5. Mai

6. Mai

7. Mai

9. Mai

10. Mai

12. Mai

13. Mai

14. Mai

16. Mai

17. Mai

18. Mai

26. Mai

29. Mai

2. Juni

8. Juni

Dank

Der Autor

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2019 Osvin Nöller · [email protected]

Lektorat: Ursula Hahnenberg · www.buechermacherei.de

Satz & Layout/E-Book: Gabi Schmid· www.buechermacherei.de

Covergestaltung: smartline werbeagentur · www. smartline.info

Fotos/Grafiken: Fotostudio Hawlitzki · www.fotostudio-hawlitzki.de; #40879994, #43442311, #83127590, #179270296, #256200474 | AdobeStock; #266276900 – Urheber: Laura Сrazy; #181321614 – Urheber: sehbaer_nrw | Fotolia

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition.de

1. Auflage

978-3-7497-0485-9 (Paperback)

978-3-7497-0486-6 (Hardcover)

978-3-7497-0487-3 (e-Book)

14. April

­Melanie trat aufs Bremspedal, wich im letzten Moment einem links auftauchenden Stadtbus aus, um sofort wieder Vollgas zu geben. Der Audi A6 schoss mit einem Satz voran, die Tachonadel zitterte zwischen achtzig und hundert Stundenkilometern. Der Lärm des Sondersignals tötete jedes Bedürfnis, ein Gespräch zu führen.

Die Knöchel ihrer Hände, die das Lenkrad umklammerten, grenzten sich weiß von der übrigen Haut ab. Sie begann, die Einsatzfahrt trotz des zunehmenden Straßenverkehrs und der nass schimmernden Fahrbahndecke zu genießen. Dennoch fluchte sie ab und zu, wenn ein Fahrer das dunkle Zivilfahrzeug zu spät bemerkte oder schlichtweg ignorierte. Lenken, bremsen, den Fuß erneut aufs Gaspedal pressen, die Routine ließ sie wie ferngesteuert handeln.

In ein paar Minuten würden sie den Einsatzort erreichen. Ihr Blick wanderte zum Rückspiegel. Die Kollegen Holger Liebig und Fred Spiegel hielten die oberhalb der Türen angebrachten Haltegriffe fest und wirkten völlig gelassen. Sie hatten ihre Sturmhauben übergezogen, Helme und vier Maschinenpistolen lagen neben ihnen. Auf dem Beifahrersitz saß Erik, ­Melanies Partner und Lebensgefährte. Seine Finger flogen über das Display des Smartphones, die Haube steckte im Schutzhelm, den er zwischen den Füßen eingeklemmt hatte.

­Melanie durchfuhr es wie bei einem Stromstoß, als der Wagen in einer langen Linkskurve ausbrach. Sie ging kurz vom Gas, tippte das Bremspedal an, lenkte gegen und beschleunigte erneut. Der Audi schleuderte, fand aber zurück in die Spur.

„Scheiße!“ Eriks Stimme. „Mein Handy liegt im Fußraum! Kannst du nicht anständig fahren?“, zischte er ihr zu, öffnete den Sicherheitsgurt und tauchte ab.

Sie amüsierte sich. Erik hing mit dem Kopf abwärts, Rumpf und Beine befanden sich irgendwo zwischen Fußmatte und Seitenfenster. Die plötzlich auftauchende Bewegung vor dem Wagen ahnte ­Melanie mehr, als sie sie erkannte. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wie gelähmt. Auf dem Bürgersteig tanzte ein Mädchen mit Kopfhörern auf den Ohren in Richtung eines Zebrastreifens, der wenige Meter vor ihnen über die Straße führte. Die Erstarrung löste sich schlagartig, ­Melanie stieg mit ihrem gesamten Gewicht aufs Bremspedal, lenkte gleichzeitig blitzartig gegen die Laufrichtung der Kleinen. Das erschrockene, kindliche Gesicht verschwamm und verwandelte sich in Eriks, der ­Melanie anlächelte. Nein, er schien sie zu verhöhnen!

***

­Melanies Herz raste, der Schlafanzug klebte am Körper, als sie langsam aus dem Bett kroch. Sie griff nach einem Umhang, den sie am Abend auf den Stuhl gelegt hatte, als habe sie den Traum erwartet. Der Digitalwecker auf dem Nachttisch zeigte 2:13 Uhr. Sie schlurfte in die Küche, öffnete die Kühlschranktür und nahm sich eine Flasche Almdudler. Es war die Vorletzte, sie musste daran denken, das Fach aufzufüllen. Sie entfernte den Deckel mit dem am Kühlschrank befestigten Flaschenöffner und trank die Kräuterlimonade in einem Zug aus.

Ihre Gedanken rotierten wie in einem Karussell. Immer wieder tauchten Fetzen der Traumszene auf. Wie sehr hatte sie gehofft, die Albträume hinter sich gelassen zu haben. Dr. Randke hatte ihr bei der abschließenden Sitzung vor ziemlich genau drei Monaten doch Hoffnung gemacht! Leider hatte er sich wohl geirrt. Das ganze Elend war zurück.

Erik und sie hatten heiraten wollen. Der Termin hatte bereits festgestanden. Es hätte einer ihrer letzten gemeinsamen Einsätze sein sollen, da er in ein anderes Team versetzt werden sollte. Als Ehepaar wäre eine dermaßen enge Zusammenarbeit unmöglich gewesen. Sie seufzte und schlurfte ins Wohnzimmer, dessen Möbel vom Stil her völlig unterschiedlich waren, aber dennoch zusammenpassten. ­Melanie nahm den Laptop und einen schmalen Schnellhefter vom Schreibtisch und trug beides auf den winzigen Balkon, den ein Strandkorb fast ausfüllte. Die umliegenden Häuser im Hamburger Schanzenviertel lagen wie ausgestorben vor ihr, nur eine getigerte Katze schlich auf der Straße umher.

­Melanie ließ sich in den Korb fallen, legte die nackten Füße aufs Balkongeländer und öffnete den Computer auf ihrem Schoß. Sie fröstelte einen Moment, doch die für April deutlich zu milde Nachtluft hielt sie im Schlafanzug und mit dem Umhang problemlos aus. Die Datei mit dem angefangenen Abschlussbericht zu ihrem letzten Auftrag erschien auf dem Bildschirm. Es ging um eine Beobachtung, die sie für einen Ehemann durchgeführt hatte, der vermutete, dass seine Frau ihm untreu war. Die werte Dame vergnügte sich tatsächlich regelmäßig mit einem Arbeitskollegen.

Sie überflog ihre Notizen und las sich den bisherigen Bericht durch. Dann überarbeitete sie einen Abschnitt und korrigierte ein paar Schreibfehler, bevor sie ihre Finger über die Tastatur tanzen ließ und den Text fertig schrieb. Die letzten Zeilen fielen ihr zunehmend schwer, ihre Augen drohten zuzufallen und sie musste sich zwingen, zu Ende zu schreiben. Schließlich schaltete sie den PC aus und schlief sofort ein.

***

„Verflucht!“, entfuhr es ihr, als Sonnenstrahlen sie weckten. 8:44 Uhr! Eigentlich war es nicht schlimm, verschlafen zu haben, sie hatte keine Termine und ihre Wohnung lag direkt unter ihrem Büro. Dennoch schoss sie hoch und konnte gerade noch verhindern, dass der Computer in hohem Bogen über das Geländer flog. Der Tag fing ja prima an!

Nach einer Kurzdusche verzichtete sie wie fast immer auf ­Make-up und schlüpfte in ihre Lieblingsjeans und eine Bluse. Den Kaffee stürzte sie im Stehen hinunter und bereute dies, als der Gaumen schmerzhaft zu bitzeln begann. Sie hasste es, wenn der Tag hektisch startete, und ärgerte sich vor allem, weil es an dem blöden Traum lag.

Endlich schnappte sie sich Laptop und Schnellhefter, glitt in ihre braunen, abgewetzten Sneakers und zog beim Verlassen der Wohnung die Tür ins Schloss. Sie stieg die Holztreppe hoch und stutzte, als sie den Treppenabsatz vor ihrem Büro erreichte. Auf den Stufen zur oberen Etage saß ein ihr unbekannter Mann, der aufsprang.

„Guten Morgen, Frau Gramberg, nehme ich an.“

Wer denn sonst? Er wartete schließlich vor dem Eingang mit der Aufschrift Detektei ­Melanie Gramberg.

Sie musterte ihn. „Moin, mit wem habe ich das Vergnügen?“ Er war in etwa so groß wie sie selbst, Mitte vierzig, wirkte gepflegt und trug das gewellte, blonde Haar kurz geschnitten. Seinen Anzug gab es sicherlich nicht von der Stange.

„Pascal Wolter.“ Er hielt ihr die Hand entgegen, die sie zögernd ergriff. Sein Händedruck war fest und angenehm.

­Melanie schloss die Bürotür auf und schaltete die Beleuchtung an. „Folgen Sie mir bitte.“

Sie ging geradeaus auf eine Glastür zu, die sie aufstieß. Mit einer Handbewegung bedeutete sie dem Besucher, einzutreten. Sie zeigte auf eine Sitzgruppe mit vier Holzstühlen, die sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte.

Wolters Blick schweifte durch den Raum. Seine Mimik sprach Bände.

­Melanie deutete auf einen Sekretär und den zwei Meter breiten Schreibtisch. „Die Möbel sind Erbstücke meiner Großeltern. Bisschen renovierungsbedürftig, dafür antik und von ideellem Wert.“ Warum rechtfertigte sie sich für ihre Einrichtung?

Wolter nickte wie gedankenverloren. Sein Blick blieb an einem weißen Ikea-Regal mit unzähligen Ordnern und Büchern hängen. Er runzelte kurz die Stirn und setzte sich.

„Kaffee, Tee, Wasser?“ Sie überlegte, ob er auf sie sympathisch wirkte.

„Nein, danke.“ Er sah sie an und lächelte. „Ich habe Sie mir älter vorgestellt.“

„Aha.“ Der Kerl bewarb sich unverblümt um das Prädikat eines aufgeblasenen Fatzkes.

„Weshalb?“ ­Melanie legte den Laptop auf die Arbeitsplatte, den Hefter daneben und nahm ihm gegenüber Platz.

„Nur so, dachte, Sie wären eher um die fünfzig. Man hat Sie mir als besonders erfahren beschrieben.“ Er stockte, als würde ihm in diesem Augenblick bewusst, wie unhöflich er sich verhielt. „Sorry, wollte nicht ungehobelt wirken“, schob er hastig nach.

Zu spät, Bürschchen, schoss es ­Melanie durch den Kopf.

„Ich benötige Ihre Hilfe.“ Wolter öffnete sein Jackett und entnahm der Innentasche eine schmale Mappe, die er vor ihr ablegte und glattstrich. „Sie sollen meinen Bruder finden. Es muss ihm etwas passiert sein!“ Er deutete auf die Unterlagen. „Hier drin sind Informationen, die Ihnen einen Überblick geben können.“ Er griff in die Außentasche der Jacke und holte einen dicken Umschlag heraus. „Reichen 10.000 Euro als Vorschuss?“

Ein eiskalter Schauer überlief ­Melanie. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Der Typ musste spinnen! „Sachte! Wie kommen Sie darauf, dass ihm was zugestoßen sein könnte? Wieso gehen Sie nicht zur Polizei?“

„Da war ich. Die glauben, er hält sich irgendwo bei bester Gesundheit auf. Aber Jan würde nie einfach abhauen. Gewöhnlich ruft er unsere Mutter mindestens zweimal pro Woche an. Wir haben seit drei Monaten nichts mehr von ihm gehört. Seine Freundin behauptet, er sei abgehauen, ohne ein Wort zu sagen.“

„Aha. Von wo aus hat er sich zuletzt gemeldet? Wo lebt er?“ Einerseits schien ihr Besucher besorgt, andererseits irritierte sie irgendetwas an dessen Auftreten.

„Er wohnte in Bad Homburg. Das ist eine Kurstadt im Taunus.“

Sie nickte. „Ich kenne die Stadt. Ich habe mal ein Seminar in Frankfurt besucht und da übernachtet.“ Warum erzählte sie ihm das? Sie seufzte. „Herr Wolter, es tut mir leid, ich kann Ihren Auftrag nicht annehmen.“

Er erstarrte und die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

„Ich bearbeite nur Fälle in Hamburg und Umgebung. Das Rhein-Main-Gebiet ist entschieden zu weit entfernt.“

„Hören Sie bitte, Sie müssen ihn suchen!“ Sein plötzliches Flehen war eine zusätzliche Facette, die den diffusen Auftritt immer rätselhafter erscheinen ließ. „Ist der Vorschuss zu niedrig? Sagen Sie mir Ihre Konditionen! Helfen Sie mir!“

­Melanie überlegte. Das Geld reizte sie kolossal, da die Startmonate in der Selbstständigkeit alles andere als üppig verlaufen waren.

Ihr Besucher schien ihr Zögern zu bemerken. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag.“ Er legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Denken Sie darüber nach und rufen Sie mich bis morgen Abend an. Ich möchte betonen, dass ich Sie unbedingt engagieren will! Wolfgang Schuldt hat gesagt, dass Sie die Beste für diesen Job sind!“ Er stand auf.

Ein erneuter Schauer überlief sie. Ausgerechnet Schuldt! „Woher kennen Sie ihn?“

„Er ist der Lebensgefährte meiner Mutter.“ An der Bürotür blieb er stehen. „Ich erwarte Ihren Anruf. Einen schönen Tag noch!“

Mit schnellen Schritten verließ Pascal Wolter das Büro.

Ein Jahr zuvor

„Vergiss es! Ich nehme die Kündigung nicht an!“ Polizeidirektor Wolfgang Schuldt schob den Brief, den ­Melanie auf den Tisch gelegt hatte, zurück. Er deutete auf das Holster mit der Walther PPK, den Polizeiausweis und die Metallmarke, die daneben lagen.

„Nimm deinen Kram und geh zum Team. Sie erwarten ihre Leiterin bereits sehnsüchtig!“

Sie wunderte sich, wie beherrscht sie blieb, obwohl es in ihr brodelte wie in einem Topf mit kochendem Wasser. „Wolfgang, du verstehst mich anscheinend nicht! Das hier ist kein Jux! Es ist vorbei! Ich kann das nicht mehr. Nicht nachdem, was passiert ist! Mir stehen zweiundvierzig Tage Urlaub und der Ausgleich unzähliger Überstunden zu. Heute ist mein letzter Tag!“ Sie gab sich Mühe, ihn anzufunkeln.

Die Blitze schienen anzukommen. „Mel, mir ist klar, dass du eine schwere Zeit hinter dir hast. Mir liegt aber eine blitzsaubere Dienstfähigkeitsbescheinigung vor, ausdrücklich für die Verwendung beim mobilen Einsatzkommando sowie als Führungskraft. Ich habe mir den Bericht zigmal durchgelesen. Er ist absolut perfekt! Nicht der kleinste Makel. Dr. Randke schwärmt geradezu von dir!“ Er machte eine kurze Pause. „Wir brauchen dich!“

„Danke, das ehrt mich! Ist in der Realität dummerweise nicht so, wie es aussieht. Ich hab immerhin den Tod des Mannes verursacht, mit dem ich ein gemeinsames Leben verbringen wollte. Zudem hätte ich beinahe ein Kind totgefahren, weil ich unachtsam war. Ich habe die Regeln verletzt und dafür die schreckliche Quittung bekommen. Außerdem leide ich nach wie vor unter Albträumen.“ Sie holte Luft. „Okay, nicht mehr jede Nacht, sondern, wenn ich Glück hab, nur ein- bis zweimal im Monat. Was für ein Wahnsinnserfolg! Wolfgang, der Dienst im MEK ist keine Option! Ich wäre eine unberechenbare Gefahr für sämtliche Kollegen, die Vertrauen zu mir haben! Ein anderer Job kommt auch nicht in Frage. Da würde ich unglücklich werden. Versteh das doch.“ Sie erhob sich. „So, genug der Rede, akzeptiere die Kündigung. Ich geh zur Mannschaft und informiere sie.“ Es war, als sei eine unerträgliche Last von ihr abgefallen.

In Schuldts Miene spiegelte sich mit einem Mal Entsetzen. „Es ist dir tatsächlich ernst damit. Ist das dein letztes Wort?“ Er sprang auf. „Du bist die Beste, die wir haben! Gehst immer voraus, zögerst nie. Warum gibst du auf? Das kann ich nicht glauben! Das Disziplinarverfahren wurde niedergeschlagen und die Klage von Eriks Eltern gegen dich abgewiesen. Du bist erst vierunddreißig und hast eine blendende Karriere vor dir. Weshalb willst du das alles wegschmeißen?“

„Das nennt man Vernunft, Wolfgang. Ich habe die Pflicht, euch, genauso wie mich, zu schützen.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Es würde mir viel bedeuten, wenn du bei meinem Abschiedsumtrunk dabei wärst!“

15. April

„Er hat deinen Namen von Schuldt?“ Fred Spiegel massierte den schwarzen Flaum auf seinem fast kahlen Schädel.

„Behauptete er. Wird schon stimmen. Warum sollte er das erfinden?“ ­Melanie sah sich um und atmete tief ein. Sie trank zwar keinen Alkohol, mochte aber den malzigen Geruch, der durch den Gastraum waberte.

Das Brauhaus Joh. Albrecht füllte sich allmählich, immer mehr Gäste passierten die Brücke über den angrenzenden Fleet und hielten auf den Eingang zu. Sie lächelte ihren Ex-Kollegen an. „Bevor ich es vergesse: Danke, dass du dir spontan Zeit genommen hast.“

„Wenn eine charmante Frau mich zum Mittagessen einlädt, lehne ich selten ab.“ Zwei dunkle Augen strahlten sie voller Wärme an.

­Melanie wurde bewusst, dass er den letzten Kontakt zu ihrem früheren Umfeld darstellte, auch wenn sie sich nur alle paar Monate sahen. Irgendwie wurde es um sie immer einsamer, zumal sie selbst die bestehenden Freundschaften seit dem Unglück kaum pflegte.

„Passt zu Schuldt“, unterbrach er ihr Grübeln. „Er spricht nach wie vor von dir wie von einer Heiligen und nervt uns mit Lobgesängen über deine Fähigkeiten.“ Fred lachte. „Warum willst du den Auftrag nicht annehmen?“

­Melanie zuckte mit den Schultern. „Habe bei dem Ganzen ein Störgefühl. Welcher seriöse Mensch schleppt Unsummen an Geld mit sich herum und bietet einer Privatdetektivin, die er vorher nie gesehen hat, einen derartigen Vorschuss an? Da ist was faul!“ Sie trank einen Schluck von der Kräuterlimonade.

Der Exkollege schüttelte sich theatralisch. „Gießt du die schreckliche Brühe immer noch literweise in dich rein?“ Unverhohlen musterte er sie. „Mir ist es schleierhaft, wie du dabei diese sensationelle Figur hältst.“

„Fleißig Sport treiben, mein Lieber. Jeden Tag Schwimmen und dreimal die Woche Krafttraining.“ Sie nippte erneut am Glas und blickte Fred direkt an. „Jetzt lenk nicht ab. Was sagst du zu dem Typ?“

„Ich gebe zu, das Ganze klingt ein wenig ungewöhnlich. Falls Schuldt ihn tatsächlich schickt, ist er allerdings vermutlich in Ordnung.“ Er zögerte. „Wenn es deine Nerven beruhigt, kann ich ja in den Computer schauen, ob es etwas zu den Brüdern gibt.“ Er schob sich ein Stück Brezel in den Mund.

­Melanie formte die Lippen zu einem angedeuteten Kuss. „Danke! Du bist ein Schatz!“ Insgeheim hatte sie gehofft, dass er ihr diesen Gefallen anbieten würde, und zauberte einen Zettel mit den Kontaktdaten aus ihrer Jackentasche.

Der Polizist nickte. „Schön, dass Madame das endlich bemerken! Ich besitze weit mehr Qualitäten, als du denkst. Du müsstest sie nur kennenlernen wollen.“ Er zwinkerte ihr zu.

­Melanie lachte und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Psst!“ Sie trank den Rest ihrer Limonade aus und stellte sich einen Augenblick vor, mit ihm zusammen zu sein. Sie mochte Fred und hätte sich in einem anderen Leben, vor allem unter besseren Umständen, vielleicht in ihn verliebt. Er war allerdings Erik so unglaublich ähnlich. Wäre er nicht eine billige Ersatzlösung?

Sie verdrängte die Gedanken und wandte sich ihm erneut zu. „Es gibt noch einen Grund“, erklärte sie. „Ich verspüre keinerlei Lust, wer weiß wie lange in einer langweiligen Kurstadt zu verbringen.“

„Warum? Wird doch prima bezahlt. Wäre eine nette Abwechslung für dich. Du musst das nur mit deinen sonstigen Klienten vereinbaren können.“

­Melanie seufzte. „Sind gerade keine am Start. Den letzten Auftrag habe ich gestern abgerechnet.“

Er breitete seine Hände aus. „Na also, worauf wartest du?“

Ihr Smartphone klingelte. Nach einem schnellen Blick auf das Display drückte sie den Anruf weg.

„Nichts Wichtiges?“, erkundigte sich der Freund. „Geh ruhig dran.“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Schwester. Die kommt wieder.“ Wie auf Kommando läutete ihr Telefon erneut. ­Melanie stieß den Atem aus und nahm das Gespräch an.

„Anja, es passt im Moment nicht. Ich ruf dich …“

Die Anruferin unterbrach sie. „Mel, Vater hatte einen Schlaganfall und liegt auf der Intensivstation im Mathilden-Hospital. Sieht übel aus. Ich glaube, du solltest kommen!“

***

Obwohl das Foyer weit und luftig war, waberte ein Geruch aus Krankheit und Desinfektion, durch die Halle. ­Melanie sah sich um und knetete ihre Hände, bis sie in einer Sitzecke Anja entdeckte, die aufsprang. Die kalkweiße Gesichtsfarbe bildete einen scharfen Kontrast zu ihren geröteten Augen.

„Super, dass du da bist“, begrüßte sie ­Melanie. „War mir unschlüssig, ob du ihn überhaupt sehen willst.“ Sie zögerte. „Nach dem, was zwischen euch war.“

­Melanie verzog das Gesicht. „Mach dir keinen Kopf. Er bleibt ja unser Vater. Obwohl er das mir gegenüber in den letzten Jahren kaum gezeigt hat.“ Ihr Körper straffte sich. „Sag, wie schlimm ist es?“

„Ziemlich! Ich habe ihn heute im Bett gefunden. Er ist auf einer Seite gelähmt und außerstande zu sprechen. Bin nicht sicher, ob er alles wahrnimmt. Die Ärzte haben mir wenig Hoffnung gemacht. Vermutlich hab ich ihn zu spät entdeckt.“

Anja schluchzte, worauf ­Melanie sie in den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. Unwillkürlich wurde sie wieder zu der Beschützerin, die sie früher oft gewesen war.

Sie fuhren mit dem Lift zur Intensivstation. Anja lief zielstrebig voraus, um schließlich vor einer Tür zu stoppen.

„Mel, du darfst nicht erschrecken. Er sieht aus wie der Leibhaftige persönlich und sein Gesicht ist völlig verzerrt.“ Sie klopfte, öffnete die Tür und ließ ­Melanie den Vortritt.

Ulrich Gramberg lag in einem Einzelzimmer. Glücklicherweise hatte Anja sie gewarnt, denn von dem einst charismatischen Hanseaten war rein äußerlich nichts mehr übrig. Dort lag ein todgeweihtes Häufchen Elend mit aschfahler Haut, das an einen Tropf angeschlossen war und dessen letzte Lebenszeichen von rhythmisch blinkenden Geräten begleitet wurden. Zum Glück hatte man den akustischen Überwachungston abgeschaltet.

­Melanies Kloß im Hals, der sich beim Betreten der Klinik gebildet hatte, schien ihr allmählich die Kehle zuzudrücken.

Seine schielenden Pupillen orientierten sich in ihre Richtung. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass sein Pulsschlag sich rasant beschleunigte und die Anzeige bei 135 Schlägen einpendelte. Gramberg versuchte, zu sprechen, was in ein paar gurgelnden Geräuschen mündete.

„Papa, ich bin es. Mel.“

Der Herzschlag näherte sich der Marke von 150. Anja war im Hintergrund geblieben, während ­Melanie einen Stuhl nahm und sich neben das Bett setzte. Vorsichtig ergriff sie die rechte Hand ihres Vaters und streichelte sie. Er beobachtete sie, wobei sein Puls unverändert galoppierte. Sie drehte den Kopf. „Würdest du uns einen Augenblick allein lassen?“

Anjas Blick fixierte ­Melanie. „Hältst du das für eine gute Idee?“

„Bitte!“

Anja verzog das Gesicht, wandte sich jedoch ab und verließ den Raum. ­Melanie blickte ihrem Vater direkt in die Augen. „Es tut mir sehr leid. Das hast du nicht verdient.“ Sie überlegte kurz, ob es richtig war, sich mit ihm auszusprechen. Es konnte eigentlich keine Aussprache geben, trotzdem war es ihr wichtig, denn möglicherweise bedeutete das heutige Treffen den endgültigen Abschied. Sie gab sich einen Ruck.

„Es ist für mich furchtbar traurig, dich unter diesen Umständen wiederzusehen. Ich möchte dir etwas sagen, was ich zu lange mit mir herumschleppe.“ Der Pulsschlag erhöhte sich auf 160.

Sie zögerte und strich dem Vater zärtlich über den Kopf. „Wir haben beide Fehler gemacht und ich bin mir sicher, es wäre nicht zu unserem Zerwürfnis gekommen, wenn wir Sturköpfe anständig miteinander gesprochen hätten.“

Sie hielt inne und holte tief Luft. „Dir muss früh klar gewesen sein, dass ich nie Jura studieren und die Anwaltspraxis übernehmen würde. Ich bin nicht geeignet für Gerichtssäle und ellenlange Schriftsätze. Ich wollte schon immer zur Polizei gehen. Dort konnte ich etwas Sinnvolles tun und gleichzeitig meine Grenzen austesten. Leider hat Eriks Tod alles zerstört. Mindestens so schlimm empfinde ich, dass du mit mir gebrochen hast, weil ich den Dienst quittiert habe und ich in deinen Augen eine Versagerin bin. Den Kontakt zu mir abzubrechen und mich letztes Jahr bei Mutters Beerdigung zu schneiden, hat mir teuflisch wehgetan.“

Sie schluckte mehrmals. „Papa, ich kann nicht mehr Polizistin sein. Die Schuld, die ich an dem Unglück habe, verhindert das! … Deshalb bin ich ausgeschieden.“ ­Melanie lächelte, als sich der Herzschlag ihres Vaters leicht beruhigte. „Denk bitte darüber nach.“

Der Kloß in ihrem Hals löste sich wie von Zauberhand auf. „Ich liebe dich sehr!“

Seine Pupillen glitzerten, er drückte ihre Hand spürbar. Als der Versuch zu sprechen erneut kläglich scheiterte, liefen ihm dicke Tränen die Wangen entlang. Er schien ihr einen liebevollen Blick zuzuwerfen.

Sie stand auf, beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn und hielt ihn eine Weile fest. Mit jeder Sekunde entspannte er sich weiter.

„Danke“, flüsterte sie, nickte ihm zu und verließ den Raum. Es wurde ihr bewusst, dass sie gerade endgültig Abschied genommen hatte. Sie trauerte und weinte, obwohl sie es unsagbar erleichterte, endlich die Möglichkeit gehabt zu haben, ihre Gefühle ihm gegenüber zu erklären. Sie war ihrem Vater so nahe gewesen wie vielleicht seit ihrer Kindheit nicht mehr.

***

Anja wartete in einer Sitzgruppe am Ende des Gangs. Sie runzelte die Stirn. „Wie ist es gelaufen? Was hast du ihm gesagt?“

­Melanie überlegte kurz, wie sie es ausdrücken sollte, entschied sich schließlich für den direkten Weg. „Was notwendig war und ich glaube, er hat es verstanden.“

„Mel, du darfst nicht so streng mit ihm sein.“

„Kleines, Vater ist ein störrischer Egoist!“, entgegnete ­Melanie mit ruhiger Stimme. „Für ihn zählen nur Juristen. Meine Polizeikarriere hat er als einen Job zweiter Klasse angesehen, den ich zu allem Überfluss versemmelt habe.“

„Hör endlich mit dem Selbstmitleid auf. Du wurdest von den Anschuldigungen freigesprochen. Hätte sich Erik angeschnallt, würde er leben wie du und deine Kollegen!“

„Lassen wir das.“ ­Melanie zögerte. „Wir werden Papa verlieren.“

„Ich weiß“, flüsterte die Schwester. Sie atmete tief ein und presste die Luft aus den Lungen.

­Melanie fasste in diesem Moment einen Entschluss. „Kleines, ich bin immer für dich da, das weißt du. Ausgerechnet jetzt muss ich für einen Auftrag ins Rhein-Main-Gebiet und habe dort eine Weile zu tun. Aber du kannst mich jederzeit erreichen. Ich bin dann in wenigen Stunden zurück!“

***

­Melanie saß kurz vor Mitternacht in ihrem Strandkorb. Sie knöpfte die Strickjacke zu und wickelte die Beine in eine Wolldecke. Die Stille fühlte sich unwirklich an. Wie war es möglich, dass all die Menschen in den benachbarten Häusern keinerlei Geräusche verursachten? Sie befürchtete beinahe, das Rascheln der Seiten auf ihrem Schoß sei im ganzen Block zu hören. Plötzlich zuckte sie zusammen, als das Handy neben ihr zu brummen begann.

„Hi Mel, störe ich? Schläfst du schon?“

Dann wäre ich ja wohl kaum beim ersten Klingelton drangegangen, dachte sie. „Hallo Fred, nein, alles geschmeidig.“

„Ich wollte Bescheid sagen, dass nichts Negatives zu den Brüdern im Computer zu finden ist.“ Bei ihr stellte sich Enttäuschung ein. „Wie ich gehört habe, hast du den Auftrag angenommen!“

­Melanie stutzte. „Woher weißt du das?“

„Jetzt bist du baff, was? Du wirst nicht erraten, wer vorhin bei mir war.“

Ein Schauer überlief sie. „Mach's nicht so spannend. Wird nicht der regierende Bürgermeister gewesen sein.“

Fred lachte. „Fast! Schuldt höchstpersönlich hat sich die Ehre gegeben.“

„Aha?“

„Er wusste, dass du den Fall übernimmst, und forderte von mir äußerste Verschwiegenheit. Außerdem fabulierte er ziemlich wirr, es könne sein, dass du mich in einer bestimmten Sache, die mit einer verschwundenen Person in Hessen zusammenhänge, kontaktierst.“

­Melanie legte die Stirn in Falten. „Hört sich schräg an. Was hast du erwidert?“

„Ich hab mich dumm gestellt, was mir bekanntlich nicht schwerfällt.“ Er lachte erneut. „Es kommt noch besser. Unser strenger Hüter der Dienstvorschriften hat mich angewiesen, dich zu unterstützen und ihn gleichzeitig auf dem Laufenden zu halten!“

Was hatte das zu bedeuten? Warum wollte ihr früherer Vorgesetzter über ihre Ermittlungen informiert werden? Und Fred quasi aufzufordern, gegen Vorschriften zu verstoßen, schlug dem Fass den Boden aus. Was steckte hinter all dem?

„Hallo Mel, bist du noch da? Erzähl mal, was hat dieser Typ gesagt?“

Sie berichtete ihm hastig von ihrem Anruf bei Wolter. „Er brachte die Kohle tatsächlich vorbei. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm versprach, eine ordnungsgemäße Rechnung auszustellen und Belege für sämtliche Ausgaben vorzulegen. Ich wette, das Geld ist dunkelschwarz!“

Fred prustete. „Köstlich. Pass auf, ein bisschen was konnte ich über die Brüder recherchieren. Dein Auftraggeber ist als Makler für hochpreisige Immobilien vor allem im norddeutschen Raum bekannt. Ausschließlich Buden im siebenstelligen Bereich. Dabei kann man leicht Schwarzgeld sammeln, meine Liebe. Der Bruder ist freier Übersetzer und Dolmetscher, der in der Welt herumzukommen scheint, sofern man seiner Webseite Glauben schenken darf. Kein Wunder, dass die hessischen Kollegen wenig Lust hatten, der Vermisstenanzeige nachzugehen. Würde mich nicht überraschen, wenn er freiwillig weitergezogen ist und vergessen hat, sich bei Mutti abzumelden.“

­Melanie machte sich Notizen. „Wir werden sehen. Das hilft mir auf jeden Fall sehr. Danke dir.“

„Da nicht für. Immer wieder gerne.“

Sie legte auf und nahm den Bad Homburger Stadtplan. Schnell fand sie die Neue Mauerstraße, in der sich, und damit mitten in der Altstadt, die Gaststätte Zum Silbernen Bein befand. Ein verrückter Name! Welche Bedeutung er wohl besaß?

***

Das Telefon klingelte.

„Guten Abend.“

„Hi, du rufst schon wieder mit einer fremden Nummer an.“

„Klar. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es wichtig ist, die Telefonnummern regelmäßig zu wechseln. Pass auf. In eurer Umgebung taucht demnächst eine Privatdetektivin auf. Sie heißt ­Melanie Gramberg und soll Jan suchen. Du musst sie im Auge behalten!“

„Aha, warum? Wir haben mit Jans Verschwinden nichts zu tun.“

„Das will ich für euch hoffen. Dennoch ist es ratsam, aufzupassen. Die ist clever. Nicht, dass sie bei ihren Recherchen vom Weg abkommt und bei unseren Geschäften landet. Sie wird die Ermittlungen bestimmt im Silbernen Bein beginnen.“

„Okay, verstehe. Wie sieht sie aus?“

„Mitte dreißig, circa einen Meter fünfundsiebzig groß, grüne Augen, drahtig, schwarzer Bubikopf. Sei einfach vorsichtig. Und behalte das für dich. Je weniger Bescheid wissen, umso besser.“

„Glaubst du, sie kommt uns in die Quere?“

„Hoffentlich nicht. Ich beobachte ihre Schritte von hier aus. Wir tauschen uns regelmäßig aus. Wie läuft es mit dem neuen Kunden? Wie hieß er doch gleich?“

„­Rosenthal. Schleppend. Einerseits möchte er, andererseits will er ­Sabrina Eskir nicht allein lassen.“

„Ihr solltet das Mädel loswerden.“

„Tolle Idee! Und wie?“

Die Stimme lachte fies. „Sei kreativ! Ich melde mich.“

Die Leitung war tot.

18. April

­Melanie traf am frühen Nachmittag in Bad Homburg ein. Mit dem Taxi fuhr sie vom Bahnhof aus in die Elisabethenstraße, in der sich das Hotel Homburger Haus befand.

Sie zahlte, stieg aus und betrachtete das Gebäude. Es stammte aus der Gründerzeit, Elemente der Moderne vermischten sich mit dem Ursprung. ­Melanie nickte anerkennend und trat durch die Eingangstür, wo sie überrascht stehenblieb. Der Fliesenboden im Schachbrettmuster war ein echter Hingucker.

Sie checkte bei einem freundlichen Angestellten ein, ließ sich einen Stadtplan geben und stieg eine schwarze Holztreppe hinauf in das erste Stockwerk.

Das Zimmer dominierte ein Boxspringbett. Ihr neues Domizil mit der auf alt getrimmten Einrichtung, zu der die langen, grellroten Vorhänge passten, gefiel ihr sofort.

Hier lässt es sich aushalten, dachte sie, packte den Koffer aus und schloss Wolters Unterlagen in das im Kleiderschrank eingebaute Schließfach ein.

Trotz der kühlen Temperaturen klebte die Bluse an ihrem Oberkörper und ihre Lider wurden schwer. Zeit für eine Dusche, obwohl der Gedanke, sich einfach aufs Bett zu legen und eine Weile zu dösen, ebenfalls lockte. Sie widerstand dem Reiz, zog sich aus und stellte sich unter die Brause, deren Wasserstrahl sie so heiß einstellte, bis ihre Haut zu kribbeln begann. Endlich fühlte sie sich wieder einigermaßen frisch und unternehmungslustig.

Sie hatte bisher keine Idee, wie sie vorgehen sollte. Aus den Unterlagen kannte sie nur die Adresse, an der Jan Wolter bis zu seinem Verschwinden gelebt hatte. Das Haus mitten in der Altstadt gehörte einer ­Sabrina Eskir, die im Erdgeschoss eine Gaststätte betrieb, soviel hatte sie von Pascal Wolter erfahren. Die Wirtin war mit dem Verschwundenen liiert gewesen.

­Melanie nahm sich vor, zunächst das Umfeld zu sondieren. Was lag näher als ein unverbindlicher Kneipenbesuch?

Sie schlenderte durch die Elisabethenstraße bis zur ­Obergasse, folgte dann der Rind'sche-Stift-Straße zu einem Platz, der sich An der Weed nannte.

­Melanie schmunzelte. Was der wohl bedeutete? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, entdeckte sie das Gaststättenschild Zum silbernen Bein. Sie schaute auf ihr Smartphone und stellte fest, dass das Wirtshaus seit zwei Minuten geöffnet haben musste.

In ihrem Magen entstand ein leichter Druck, als sie die Neue Mauerstraße überquerte und auf den Eingang zu schlenderte. Sie ließ den Blick über das Gebäude schweifen. Es handelte sich um ein dreigeschossiges, weiß verputztes Doppelhaus. Wie alt mochte es sein? Schwer zu sagen, allerdings wirkte es top renoviert.

***

„Guten Tag“, grüßte ­Melanie den einzigen anderen Gast mit einem Lächeln und ging zu einem Tisch auf der anderen Seite der Gaststube, an dem sie Platz nahm. Der Mann um die Vierzig trug die schulterlangen, blonden Haare in der Mitte gescheitelt. Das dunkelblaue T-Shirt und die Jeans hatten bessere Tage gesehen, auch die schwarzen Lederstiefel wirkten verschlissen. Zwei Narben auf der Stirn und an der rechten Wange zierten sein zerfurchtes Gesicht. Die Bizepse betonten eine durchtrainierte Figur.

Er grinste ­Melanie an und nippte an einem Bier. „Hi,“ kam der Gruß mit tiefer Stimme zurück.

Sie sah sich um. Zehn derbe Holztische mit hellbraunen Tischplatten, mit jeweils vier bis sechs dunkelbraunen Holzstühle, verteilten sich im Gastraum. Dazu ein runder Stammtisch, wie der Tischaufsteller verriet, an dem zwölf Personen sitzen konnten.

Die Wände waren im unteren Drittel mit dunklem Holz vertäfelt, über dem Regale angebracht waren. Neben verschiedenen Bierkrügen standen hellgraue bauchige Keramikkrüge unterschiedlicher Größe mit blauer Musterung, deren Verwendungszweck sich ­Melanie nicht erschloss. Fotos mit Szenen aus der Gaststätte hingen zwischen den Gegenständen. An der Längsseite gegenüber dem Eingang befand sich der ebenfalls holzverkleidete Tresen, rechts davon ein Gang, der zu den Toiletten führte. Aus dieser Umgebung war Jan Wolter verschwunden.

Ein Schrei riss ­Melanie aus ihren Gedanken. „­Sabrina, Kundschaft!“

Fast augenblicklich erschien aus einer Tür in der Nähe der Theke eine Frau in ­Melanies Alter. Die feuerroten Haare, die ihr beinahe bis zum Po reichten, ließen das Gesicht schmal wirken. Sie trug ein violettes, knielanges Wollkleid und Chucks.

­Melanie erkannte ­Sabrina Eskir, deren Bild sie in den Unterlagen gesehen hatte. Das also war Jan Wolters Lebensgefährtin.

„Hallo.“ Die Wirtin blickte ­Melanie freundlich an und gab ihr eine Getränkekarte. „Was darf es sein? An Speisen haben wir das, was dort auf der Tafel steht“, erklärte sie und zeigte auf eine Schiefertafel.

­Melanie überflog die Angebote. „Ich hätte gern einen Wurstsalat.“ Sie zögerte. „Haben Sie Kräuterlimonade?“

­Sabrina verzog das Gesicht. „Kräuterlimonade?“ Es schien beinahe, als wollte ­Melanie etwas Unanständiges bestellen. Plötzlich huschte ein Lächeln über ­Sabrinas Miene. „Ach ja, ich kann Ihnen eine Bionade Kräuter bringen. Ist das ok?“

„Perfekt!“ Geht doch. Kein Almdudler, aber immerhin. ­Sabrina verschwand hinter dem Tresen.

Die Eingangstür öffnete sich und ein Mann um die zwanzig mit kurzen, blonden Haaren betrat den Gastraum. Er trug einen Anzug ohne Krawatte. Die Pausbacken passten zum leicht korpulenten Körperbau, der wegen seiner geringen Größe massig wirkte. Sein Blick erschien ­Melanie grimmig. Er steuerte auf die Theke zu. Überraschenderweise klang die Stimme, gemessen an der Erscheinung, beinahe piepsig.

„Ein Bier und ein Schmalzbrot.“

Die Wirtin schaute den Neuankömmling ohne erkennbare Regung an. „Herr Schneider, Sie wissen, dass Sie hier nichts bekommen! Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie bei mir Hausverbot haben?“ Sie öffnete die Bionade-Flasche.

Das Gesicht des Jünglings verfärbte sich. „Jetzt hör mir mal zu, du Schlampe.“ Seine Worte überschlugen sich. „Ich bin ein deutscher Bürger und verlange, dass du mich anständig bedienst!“

„Wenn Sie nicht auf der Stelle mein Lokal verlassen, rufe ich die Polizei.“ ­Sabrina nahm das Telefon.

Blitzartig beugte sich der Typ vor und packte das Handgelenk der Frau. „Untersteh dich! Ich will ein Bier und ein Schmalzbrot“, zischte er.

Der Mann am Tisch erhob sich. Nach wenigen Schritten stand er neben dem Unruhestifter, den er deutlich überragte.

„Lass sie einfach los“, forderte er den Blonden leise auf. „Du hast gehört, was sie gesagt hat. Du bist hier unerwünscht. Mach 'nen Abgang!“

Schneider wandte sich ihm zu. Sein Kopf schien platzen zu wollen, am Hals pochte eine dicke Ader. Er ließ die Wirtin los. „Was fällt dir ein, mir zu drohen?“ Er ging dabei einen Schritt zurück. „Früher wären solche wie du ins Arbeitslager gekommen!“ Die barsch klingenden Worte passten nicht zu den zuckenden Mundwinkeln.

Der Langhaarige lächelte. „Gut gebrüllt, Junge! Wir hatten alle unseren Spaß, aber jetzt ist die Show vorbei. Entweder, du gehst freiwillig oder ich helfe dir.“ Er näherte sich dem Blonden, der weiter zurückwich. Plötzlich drehte sich der Jüngling um und eilte aus der Gaststube. „Das wird euch leidtun!“

­Sabrina rieb sich das Handgelenk. „Danke, Olli, willst du noch ein Bier?“

***

­Melanie erhob sich und schlenderte in Richtung Toilette. Am Tresen vorbei erreichte sie eine Steintreppe, die sie langsam hinabstieg und dabei überlegte, ob sie die Wirtin auf den Vorfall ansprechen sollte. Schließlich entschied sie sich dagegen, da sie möglichst wenig auffallen wollte. Am Ende der Treppe stand sie vor zwei gegenüberliegenden Stahltüren. Ein Stück weiter sah sie die Eingänge zu den Örtlichkeiten und eine Tür mit der Aufschrift Privat.

­Melanie blieb vor den Eisentüren stehen und horchte nach oben. Geschirr klapperte. Automatisch drückte sie die Klinke der rechten Tür runter und war erstaunt, sie unverschlossen vorzufinden. Ihr Körper spannte sich, als sie den Raum betrat und die Tür hinter sich heranzog, jedoch angelehnt ließ. Sie fand einen Lichtschalter, sofort wurde es hell. Dieser Kellerraum war vielleicht zehn Quadratmeter groß. Links an der Wand stand ein Metallregal, auf dessen Fachböden Kästen und Schachteln lagen, die mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt waren.

­Melanie runzelte die Stirn, als sie auf den Fußboden sah. Die blanken Rollen des Gestells passten nicht zu dem ansonsten vergammelten Drumherum. Auch der Boden sah frisch geputzt aus.

Plötzlich entdeckte sie eine weitere, durch das Regal fast vollständig verdeckte, massive Tür. Vorsichtig ging sie darauf zu. Sie würde es nicht hören können, wenn jemand die Treppe hinunterkam. Kurz entschlossen drehte sie sich um und verschloss die Tür zum Treppenhaus.

Über dem verborgenen Eingang stand Schutzraum für 250 ­Menschen. Diese Stahltür stammte auf keinen Fall aus der Zeit des zweiten Weltkriegs, so glänzend und sauber, wie sie aussah, zudem wirkte das Schloss modern.

­Melanie machte mit ihrem Smartphone ein paar Fotos. Ein flaues Gefühl im Magen ermahnte sie, dass es Zeit wurde, zu gehen. Sie hielt sich schon ziemlich lange hier unten auf und vermutlich würde die Wirtin bald nach ihr sehen kommen. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit. Als sie niemanden sah, huschte sie schnell aus dem Raum. Sie blieb stehen und lauschte. Nur Geschirrklappern im Erdgeschoss. Hastig lief ­Melanie zur Toilette.

Als sie wieder in die Gaststube kam, war der Langhaarige verschwunden und sein Tisch abgeräumt. An ihrem Platz stand der Wurstsalat, den sie in kürzester Zeit vertilgte. ­Sabrina lächelte ihr zu. Sie wirkte völlig entspannt.

„Möchten Sie noch etwas trinken?

­Melanie sah auf die Uhr. „Danke, nein. Machen Sie mir bitte die Rechnung.“

19. April

„Timo, ich bin es leid. Wir brauchen das Doppelhaus in der Neuen Mauergasse und zwar gestern!“ Frank ­Schüttler schob sich im Ledersessel nach vorne. „Wie ist der aktuelle Stand?“

Timo Rall kannte die Ungeduld des Chefs seit vielen Jahren. Immer, wenn der Abschluss eines Immobiliengeschäfts bevorstand, wurde der Architekt nervös. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis er aufsprang und seine zwei Meter durch das Büro tigern ließ. Dann gab es folgende Möglichkeiten: Entweder grinste er plötzlich und sagte: „Komm, lass uns einen Kaffee trinken.“ Oder er kündigte Timo fristlos, weil er unfähig sei. Timo hatte aufgehört zu zählen, wie oft er schon rausgeflogen war. Es war einerlei, denn Frank erschien spätestens eine Stunde danach, entschuldigte sich und erklärte ihn zum besten Mitarbeiter, den er je beschäftigt hatte. Was blieb ihm auch übrig? Er war der Assistent, der ­Schüttler den Rücken freihielt und alle Aufträge ohne Murren erledigte, selbst diejenigen, die sonst niemand ausführen wollte.

Heute war die Situation jedoch anders. Der Startpunkt ihres Projektes war abhängig von dem Anwesen mit der Gaststätte und obwohl der Kauf in den Sternen stand, war ­Schüttler am Morgen im Rathaus gewesen. Er hatte mit dem Bauamtsleiter die geplante Neubebauung des Areals besprochen. Dabei hatte er so getan, als müsse er nur noch auf die Grundbucheintragungen warten, um mit dem Abriss der Gebäude zu beginnen. Timo war gespannt, wie der heutige Auftritt seines Chefs sich entwickeln würde.

„Unverändert. ­Rosenthal, dem die linke Hälfte gehört, wäre möglicherweise bereit, zu verkaufen. Er scheint sich nach einem Altersruhesitz umzusehen. Das Blöde ist, dass er das Haus nur aufgeben will, wenn die Eskir ihres ebenfalls veräußert. Die verehrte Frau Wirtin ist leider hart wie Kruppstahl. Sie lehnt jede Verhandlung ab.“ Wie er den Job hasste! Er wusste genau, was jetzt kommen würde.

„Na, dem Juden werden wir sicher helfen können. Da gibt es doch die Seniorenbetreuung. Red mal mit denen, damit die ihm ein Angebot erstellen.“ ­Schüttlers Stimme klang noch immer angespannt.

„Hab längst mit der Klettke gesprochen. Sie bearbeitet ihn, er ist aber erst 52. Er privatisiert.“

­Schüttlers Miene verdunkelte sich. Der nächste Ausbruch bahnte sich an. „Dann klemm dich dahinter!“, schrie er unvermittelt los. „Reden allein bringt nichts!“ Feine Tropfen Spucke flogen über den Tisch, weshalb Timo einen Schritt zurücktrat. „Der Eskir musst du die Lust vermiesen, dort zu wohnen. Mach ihr das Leben zur Hölle! Lass dir endlich was einfallen! Wie oft muss ich dir das noch sagen?“ Er sprang auf und ging im Büro auf und ab. Seine Stimme wurde leiser, er flüsterte beinahe. „Timo, falls du mit der Aufgabe überfordert bist, suche ich mir jemanden, der das kann.“

Aha, jetzt war es soweit! ­Schüttler blieb direkt vor Timo stehen, der ihn unbeeindruckt ansah und sich aufreizend langsam durch den roten Vollbart strich. Diesmal wich er nicht zurück, auch wenn er acht Zentimeter kleiner als sein Chef war und zu ihm aufsehen musste. Es entwickelte sich ein Blickduell.

Timo entfernte einen imaginären Fussel vom Leinenjackett und verengte die Augen. „Frank, es reicht mir. Lass mich in Ruhe arbeiten! Ich werde alles daransetzen, die Grundstücke an Land zu ziehen. Alles!“ Er funkelte ­Schüttler an. „Hör endlich auf, unsinnigen Druck aufzubauen, und die Welt durcheinanderzubringen!“ Er drehte sich um und schlenderte betont lässig zur Tür. Er öffnete sie und verließ den Raum.

„Du bist gefeuert! Endgültig! Ich mach dich fertig!“, klang es hinter ihm her.

Timo lachte.

***

­Melanie saß beim Frühstück und las die Nachrichten in ihrem Smart­phone. Sie fühlte sich nach einer traumlosen Nacht ausgeruht und gehörte zu den letzten Frühstücksgästen, bevor das Buffet abgeräumt wurde.

Sie dachte an ihren Besuch im Silbernen Bein. Im Nachhinein kam es ihr albern vor, das Risiko eingegangen zu sein, den Keller der Wirtschaft zu untersuchen. Dennoch sagte der Bauch ihr, dass es spannend sein könnte, hinter diese verborgene Tür zu schauen. Deshalb schrieb sie eine neue Notiz in ihr Handy: Schutzraum Kneipe: Warum wird ein genutzter Zugang versteckt?

Die Pöbeleien des jungen Mannes, Schneider hieß er, gingen ihr durch den Kopf und sie musste zugeben, dass das Eingreifen des Langhaarigen durchaus Stil gehabt hatte. Er schien nicht nur ein interessanter Typ, sondern auch Stammgast im Lokal zu sein. Ihn sollte sie im Auge behalten.

Sie trank den Kaffee aus und überprüfte ihre Mails. Abgesehen von ein paar Werbebotschaften gab es eine Nachricht, in der sich der Kollege meldete, an den sie Klienten während ihrer Abwesenheit verwies. Er hatte eine Anfrage und wollte wissen, ob sie den Auftrag zu übernehmen gedenke. Sie lehnte ab und wünschte dem Detektiv viel Erfolg.

Schnell schrieb sie Pascal Wolter eine Botschaft, in der sie mitteilte, dass sie sich in Bad Homburg befand und in den nächsten Tagen melden würde, falls es Neuigkeiten gäbe. Zunächst war es jedoch wichtig, ein Schwimmbad zu finden und bestenfalls ein Fitnessstudio dazu. Es war jetzt bereits der zweite Tag ohne den gewohnten Sport und das ging gar nicht. Außerdem vermisste sie ihren geliebten Strandkorb. Sie musste unbedingt eine gemütliche Ecke finden, die ihr als Ersatz für ihr Refugium dienen konnte.

Nachdem sie an der Rezeption gefragt hatte, packte sie ihre Badesachen ein und spazierte bei angenehmen Temperaturen und strahlendem Sonnenschein durch den Kurpark zum Seedammbad.

Das Außenbecken hatte leider noch nicht geöffnet, aber ­Melanie genoss es dennoch, die kürzeren Bahnen im Innenbereich mit kräftigen Zügen zu durchpflügen, bis sie nach 2.000 Metern kurzatmig aus dem Wasser stieg.

Als sie später das Bad verließ, verspürte sie Tatendrang, obwohl sie keine Idee hatte, wie sie etwas über Jan Wolter und sein Verschwinden in Erfahrung bringen sollte, ohne sich zu outen.

Am Thermalbad entlang spazierte sie zurück in den Park und betrat die Brunnenallee im Kurpark.

Beinahe hätte sie die Männer übersehen, die auf einer Mauer vor einem Trinkbrunnen saßen. ­Melanie schaltete die Musik aus, trennte das Kabel der Kopfhörer von ihrem Smartphone und verstaute alles in ihrer Sporttasche. Langsam schritt sie an der Szene vorbei und blieb an einem Baum stehen, von dem aus sie einen günstigen Blick auf das Geschehen bekam.

Schneider saß neben einem Typen um die vierzig. Der trug ein schwarzes Sakko zu einer gleichfarbigen Jeans und redete auf sein Gegenüber ein, der ihm gespannt zuzuhören schien.

Was der Mann wohl von dem rabiaten Jüngling wollte?

Sie ärgerte sich, dass sie ihre Kamera nicht mitgenommen hatte, um aus der Entfernung ein paar Aufnahmen machen zu können.

Der Ältere hatte die Ansprache beendet und drehte sich um. Er ging den Weg entlang zur Brunnenallee, der unweit von ­Melanies Standort endete. Schnell sprang sie zu einer Parkbank und ­setzte sich keine Sekunde zu früh. Der Rothaarige mit dem kurz geschnittenen Vollbart schlenderte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

***

„Wie ist es gelaufen?“ Frank ­Schüttler lehnte sich im Bürosessel zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

„Ist alles auf dem Weg, wie ich es gesagt habe.“ Timo stand vor dem Schreibtisch. Der Disput und die Kündigung vom Vormittag schienen vergessen. Der Architekt wirkte bestens gelaunt. Die gewellten Haare lagen genauso akkurat wie am Vormittag und Timo fragte sich wieder einmal, wie viel Zeit er wohl für das perfekte Styling benötigte. „Es gibt doch noch etwas. Wir wurden beobachtet.“

­Schüttler setzte sich aufrecht hin und nahm einen Füllfederhalter, mit dem er spielte. „Wieso? Von wem?“

„Wenn ich das wüsste. Eine Frau, so Mitte dreißig, hat sich von der Brunnenallee aus für uns interessiert und dabei vermutlich Fotos mit dem Smartphone geschossen. Schneider hat sie zuerst bemerkt, worauf ich anschließend an ihr vorbeigegangen bin. Ich kenn die nicht.“

„War es vielleicht diese Journalistenschnepfe vom Taunusblick, die uns letztens mit ihren Fragen und Recherchen auf den Nerv ging? Wie hieß die gleich?“ ­Schüttler zündete sich eine Zigarette an, stand auf und öffnete das Fenster.

„Du meinst Nadine Gissel. Nein, die sieht anders aus. Ich glaube nicht, dass die Tussi im Park eine Reporterin war. Schon allein, wie sie mir später gefolgt ist. Ich hatte fast den Eindruck, sie sei eine Polizistin.“

Der Chef zog die Stirn in Falten. „Red keinen Scheiß. Sie hat dich wirklich verfolgt? Bist du dir sicher?“

„Ja, ganz bestimmt. Ich hab sie bis zur Kurhausgarage geführt und dort abgehängt. Ich behaupte ja nicht, dass sie von der Polizei war. Schien mir nur so. Manchmal habe ich sie unterwegs nicht gesehen und plötzlich tauchte sie vor mir wieder auf. Machte sie ziemlich professionell.“

„Das gefällt mir nicht. Schnüffeleien sind das Letzte, was wir brauchen.“

Timo winkte ab. „Frank, das ist mir eh klar. Ich sage dir das nur, damit du in den nächsten Tagen aufpasst.“ Er beschrieb ­Melanie in wenigen Worten. „Sei einfach vorsichtig.“

***

­Melanie betrat das Silberne Bein, wo ihr nicht nur ein ordentlicher Geräuschpegel, sondern zudem alkoholgeschwängerte Luft entgegenschlug. An einer Seite des Lokals hatte man die Tische zusammengerückt, an denen eine Gruppe jüngerer Leute feierte. Gegenüber, in der Nähe des Tresens saß ein Gast um die fünfzig, der ein paar Kilogramm zu viel mit sich herumschleppte. Die kurzen schwarzen Haare hatten längst Raum für die Verbreiterung seiner Stirn gemacht. Der Bartschatten sollte dies vielleicht kaschieren.

Er lächelte ­Melanie an, die unschlüssig in der Wirtsstube stehen blieb. Schließlich nahm sie am Nachbartisch des Mannes Platz und nickte ihm zu.

„Na, eine Bionade Kräuter?“

­Melanie zuckte zusammen. ­Sabrina musste aus einer seitlichen Tür gekommen sein, die ­Melanie bisher nicht wahrgenommen hatte.

„Ja, gerne.“

Der Tischnachbar beugte sich ein wenig herüber. „Sie hab ich hier noch nie gesehen. Sind Sie das erste Mal da?“, rief er laut genug, um den Lärm der Feier zu übertönen.

Interessant, wie einfach es hier war, Kontakt zu bekommen!

„Beinahe, ich war gestern hier“, entgegnete sie.

­Sabrina stellte die Limonade und ein Glas vor ­Melanie.

Er klopfte auf seinen Bauch und lachte. „Da war ich im Fitnessstudio. Man muss ja was machen.“

­Melanie wurde es zu blöd, sich auf die Entfernung hin zu unterhalten. Sie stand auf und ging hinüber.

„Darf ich hier Platz nehmen? Ist mir zu anstrengend, so zu schreien.“ Sie zeigte in Richtung der Gruppe. „Die Gesellschaft ist ziemlich ausgelassen.“

Er deutete auf einen Stuhl. „Gern. Hier ist es immer gleich sehr laut, sobald mehr als fünf Gäste quatschen. Ich heiße Ralf ­Rosenthal. Ich wohne nebenan.“

„­Melanie Gramberg. Bin hier auf Urlaub.“ Sie setzte sich.

Sie plauderten ein bisschen über Bad Homburg. ­Rosenthal verkündete stolz, von Geburt an im Nachbarhaus zu leben. Die ganze Nachbarschaft sei alteingesessen, auch wenn in den vergangenen Jahren ein paar Auswärtige zugezogen seien.

­Melanie unterbrach ihn. „Sagen Sie mal, woher kommt eigentlich der merkwürdige Name des Gasthauses?“

­Rosenthal grinste. „Das ist schnell erzählt. Landgraf ­Friedrich II, der das Landgrafenschloss bauen ließ, verlor 1659 bei einer Schlacht sein Bein. Deshalb hat man ihm eine Prothese angefertigt, die nicht nur mit Federn besetzt war, sondern sogar silberne Scharniere besaß. Sie können das Original im Schloss besichtigen.“

„Aha, was es alles gibt!“ ­Melanie nahm einen Schluck Limonade.

Die Eingangstür öffnete sich und ein Mann betrat den Raum. Er war vom Alter her schwer zu schätzen. Sie vermutete, dass er zumindest deutlich über sechzig Jahre alt war. Sein schlohweißes Haar und der dazu passende dichte Vollbart wirkten verfilzt, jedoch nicht wirklich ungepflegt, wohingegen seine Kleidung abgewetzt und schmuddelig aussah. Er trug einen verschmutzten Rucksack auf dem Rücken, grüßte die Anwesenden freundlich und ging direkt zur Theke. ­Sabrina schien ihn erwartet zu haben und führte ihn zur Kellertreppe, wo die beiden verschwanden.

­Rosenthal las anscheinend die Fragezeichen auf ­Melanies Stirn. „Er heißt ­Siegfried Graf zu Biebenau und ist tatsächlich adlig. Er lebt auf der Straße, man munkelt, er sei früher Staatsanwalt gewesen. Er selbst spricht nicht darüber. Einmal die Woche erscheint er hier, um unten zu duschen, wo immer saubere Anziehsachen auf ihn warten. ­Sabrina wäscht die Klamotten bis zum nächsten Mal, schneidet ihm jeden Monat die Haare und stutzt ihm den Bart. Ist so was wie ihre soziale Tat.“

­Melanie schüttelte den Kopf. „Unglaublich! Wie kommt das?“

„Weiß ich nicht!“, behauptete ­Rosenthal.

Sie hatte den Verdacht, dass er mehr wusste, als er preisgab.

„Eines Tages war er da. Anfangs dachten alle, da liefe was zwischen den beiden. Das ist Quatsch, obwohl ­Sabrina nicht wirklich Glück mit den Männern hat.“