Taunusschuld - Osvin Nöller - E-Book

Taunusschuld E-Book

Osvin Nöller

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Beschreibung

Jede Schuld ist zu begleichen! Die eine früher, die andere später. Die Privatdetektivin und frühere LKA-Beamtin Melanie Gramberg wird Zeugin eines misslungenen Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft, doch der Täter entkommt. Als der Juwelier kurz darauf getötet wird, deuten alle Spuren darauf hin, dass der flüchtige Täter auch der Mörder ist. Melanie wird von der Mutter des Verdächtigen beauftragt, nach Entlastungsindizien zu suchen. Da sie ebenfalls an der Schuld des jungen Mannes zweifelt, nimmt sie den Auftrag an, obwohl sie derzeit Mails eines Unbekannten erhält, der ihre Schwester bedroht, die nach einem Attentat seit Monaten im Wachkoma liegt. Mit ihrem väterlichen Freund, dem ehemaligen Oberstaatsanwalt Siegfried Graf zu Biebenau, ermittelt Melanie im Umfeld der Juwelierfamilie und findet heraus, dass der Getötete nicht nur gefälschte Diamanten verkaufte, sondern sich auch im kriminellen Rotlichtmilieu bewegte. Als eine weitere Person aus seinem Umfeld auf grausame Weise stirbt, ahnt Melanie, dass die Morde nichts mit dem Raubüberfall zu tun haben und das Motiv in der fernen Vergangenheit liegen muss. Der Regionalkrimi spielt schwerpunktmäßig in Bad Homburg und im Taunus.

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Seitenzahl: 403

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über das Buch:

Jede Schuld ist zu begleichen! Die eine früher, die andere später.

Die Privatdetektivin und frühere LKA-Beamtin Melanie Gramberg wird Zeugin eines misslungenen Raubüberfalls auf ein Juweliergeschäft, doch der Täter entkommt. Als der Juwelier kurz darauf getötet wird, deuten alle Spuren darauf hin, dass der flüchtige Täter auch der Mörder ist.

Melanie wird von der Mutter des Verdächtigen beauftragt, nach Entlastungsindizien zu suchen. Da sie ebenfalls an der Schuld des jungen Mannes zweifelt, nimmt sie den Auftrag an, obwohl sie derzeit Mails eines Unbekannten erhält, der ihre Schwester bedroht, die nach einem Attentat seit Monaten im Wachkoma liegt.

Mit ihrem väterlichen Freund, dem ehemaligen Oberstaatsanwalt Siegfried Graf zu Biebenau, ermittelt Melanie im Umfeld der Juwelierfamilie und findet heraus, dass der Getötete nicht nur gefälschte Diamanten verkaufte, sondern sich auch im kriminellen Rotlichtmilieu bewegte.

Als eine weitere Person aus seinem Umfeld auf grausame Weise stirbt, ahnt Melanie, dass die Morde nichts mit dem Raubüberfall zu tun haben und das Motiv in der fernen Vergangenheit liegen muss.

Der Regionalkrimi spielt schwerpunktmäßig in Bad Homburg und im Taunus.

Inhaltsverzeichnis

14. November

15. November

16. November

17. November

18. November

19. November

20. November

21. November

22. November

23. November

24. November

25. November

27. November

28. November

29. November

30. November

1. Dezember

2. Dezember

4. Dezember

5. Dezember

6. Dezember

7. Dezember

8. Dezember

9. Dezember

11. Dezember

Dank

Der Autor

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheber­rechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­verfilmungen und die Einspeicherung und Ver­arbei­tung in elektronischen Systemen.

© 2020 Osvin Nöller · [email protected]

Lektorat: Ursula Hahnenberg · www.buechermacherei.de

Satz & Layout/E-Book: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de

Covergestaltung: smartline werbeagentur · www. smartline.info

Fotos/Grafiken: Fotostudio Hawlitzki · www.fotostudio-hawlitzki.de; #301459511, #88079615, #37484934, #212578396, #56512716, #52200506, #81126151, #238597879 | AdobeStock

Druck und Vertrieb: tredition GmbH, Halenreie 40-44,22359 Hamburg · www.tredition.de

1. Auflage

978-3-347-10050-3 (Paperback)

978-3-347-10051-0 (Hardcover)

978-3-347-10052-7 (e-Book)

14. November

­­Melanie hetzte über den Schulberg, eilte an der Auslage des Dessous-Geschäfts vorbei in die Bad Homburger Fußgängerzone und erreichte den Marktplatz. Nasskalte Luft schlug ihr entgegen, sie zog den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Kinn hoch. Der Abgasgeruch der Zulieferfahrzeuge setzte sich im feinen Nebel fest.

Weshalb musste die Batterie ihrer Armbanduhr den Geist ausgerechnet an einem Tag aufgeben, an dem man keinen Hund vor die Tür gejagt hätte ? ­Melanie ärgerte sich darüber, dass sie sich ohne Uhr verloren fühlte.

Wie am Markttag üblich waren mehr Menschen als sonst auf den Beinen, sie belagerten zum großen Teil die Verkaufsstände. Allerdings ging es heute besonders hektisch zu, als ob die Besucher der Witterung möglichst schnell entkommen wollten.

Ihr Ziel lag am Kurhausvorplatz direkt neben dem alten Postamt: das kleine Juweliergeschäft ­Jühlich. Sie verzog ihr Gesicht beim Blick durch die Schaufensterscheibe. Der Juwelier und zwei Angestellte bedienten Kunden. Eine Frau wartete. Das konnte dauern.

­Melanie überlegte einen Moment, ob sie zunächst zu ihrem Lieblingsmetzger gehen sollte, um Wurstaufschnitt zu holen. Dafür müsste sie aber zurück zum Marktplatz laufen und dort mit Sicherheit ebenfalls eine Weile warten. Mit einem leisen Stöhnen betrat sie also das Juweliergeschäft.

In der Hitze des Ladens kribbelte ihr Gesicht sofort, schnell öffnete sie den Reißverschluss der Jacke. Der Parfümgeruch im Verkaufsraum tat das Übrige, um ihre Laune in den Keller zu treiben.

Wie es schien, stand ein Kunde kurz vor dem Bezahlvorgang, während eine Frau sich offenkundig nicht zu entscheiden vermochte. Sie bat gerade die Mitarbeiterin mit lauter Stimme, eine weitere Schublade mit Schmuckstücken zu holen. ­Jühlich passte einer anderen Kundin ein mit roten Edelsteinen besetztes Armband an, das in ­Melanies Augen ausgesprochen kitschig wirkte.

Sie schlenderte in den hinteren Teil des Ladens, betrachtete in einer Vitrine Chronometer in einer Preislage, die sie sich vermutlich niemals leisten würde.

Die Ladenglocke meldete sich, ein kalter Luftzug durchzog den Raum. Melanie drehte sich um und sofort erwachte in ihr die ehemalige Polizistin. Sie befand sich in höchster Alarmbereitschaft.

Der schlanke, beinahe dürre Mann war mit geschätztem einen Meter neunzig einen halben Kopf größer als sie selbst. Bekleidet mit einem grauen Parka, abgewetzten Jeans, Boots und dünnen Handschuhen. Was sie jedoch in den Kampfmodus versetzte, war nicht nur die schwarze Strumpfmaske, sondern auch die Schusswaffe, die er in der linken Hand hielt, während die rechte einen Stoffbeutel umklammerte.

­Melanie überlegte, ob sie ihn mit einem Sprung erreichen und einem gezielten Kickboxtritt ausschalten konnte, verwarf den Gedanken allerdings so schnell, wie er gekommen war. Er stand zu weit entfernt, die Gefahr, dass der Angriff misslang und er schießen würde, war zu groß. Er blieb stumm, ließ den Blick durch den Raum schweifen, stockte plötzlich, begann zu zittern, wirkte mit einem Mal unschlüssig. Schließlich richtete er die Waffe auf ­Jühlich. Warum stellte er keine Forderungen ?

Die wartende Kundin schrie schrill auf, als sie den Mann sah. Eine Angestellte presste sich die Hand vor den Mund, stöhnte auf und sackte zu Boden. Der Juwelier hob den Kopf, zögerte kurz und öffnete dann zu ­Melanies Überraschung eine Schublade. Er würde doch wohl in dieser Situation nicht den Alarmknopf betätigen ? Die andere Mitarbeiterin duckte sich blitzschnell hinter die Ladentheke.

Der Mann trat einen Schritt vorwärts und fuchtelte nun mit der Waffe in Richtung einer im rückwärtigen Bereich befindlichen Tür. Dabei übersah er einen im Gang abgestellten Einkaufstrolley. Er strauchelte, hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Ein lauter Knall krachte schmerzhaft in ­Melanies Ohren, die Geräusche um sie herum waren plötzlich gedämpft.

Beinahe gleichzeitig griff sich ­Jühlich an die Brust und sank zu Boden.

Der Täter stand einen Augenblick unschlüssig im Raum, drehte sich schließlich um und rannte hinaus. ­Melanie sah, dass er sich draußen den Strumpf vom Kopf zog, bevor er zwischen den Marktständen verschwand. Sie speicherte routinemäßig braune mittellange Haareab. Was sollte sie tun ? Nach dem Juwelier sehen oder den Typen verfolgen ?

Eine der Frauen nahm ihr die Entscheidung ab, als sie den Kunden neben ihr anfuhr: „Rufen Sie sofort einen Rettungswagen ! Ich bin Ärztin.“

***

­Melanie rannte durch die Verkaufsstände. Nirgends eine Spur des Flüchtigen. Sie lief an der Fensterfront des Kur- und Kongresszentrums entlang und warf einen Blick ins Bistro Bel Air. Nichts !

Das um diese Zeit fast menschenleere Kurhausfoyer bot unzählige Möglichkeiten, um zu verschwinden. Die Treppe hinauf zu den Konferenzräumen und dem Kurtheater oder ins untere Stockwerk, von dort aus hinaus in den Park. Vielleicht doch in den Gang zur Garage oder durch die Ladenpassage auf die Louisenstraße, oder, oder …

Sie spurtete ins Untergeschoss, gab die Verfolgung aber bald frustriert auf, weil sie keinen Erfolg versprach.

Langsam stieg sie nach oben und ging über den Kurhausvorplatz zum Laden zurück. Das Blaulicht des Notarztwagens spiegelte sich zuckend in der Fensterscheibe des Juweliergeschäfts, während ein Rettungswagen von der Thomasstraße her mit ohrenbetäubendem Lärm einbog und am Straßenrand stoppte.

Fast gleichzeitig trafen zwei Polizeifahrzeuge ein, aus denen vier Schutzpolizisten sprangen. Drei begannen, den Bürgersteig mit Flatterband weiträumig abzusperren, um die stetig wachsende Menschentraube zurückzudrängen. Ein Beamter betrat mit den Sanitätern den Laden.

­Melanie näherte sich einem der Polizisten, der ihr entgegensah und die Hände hob. „Stopp, junge Frau, hier dürfen Sie nicht durch. Das ist ein Tatort !“

Schlaues Kerlchen. „Mein Name ist ­Gramberg, ich war Zeugin des Überfalls. Bin dem Täter gefolgt. Er ist mir jedoch leider entkommen.“

Er schaute sie misstrauisch an. „So, so, Sie haben den Täter verfolgt. Können Sie sich ausweisen ?“

Sie langte in die Innentasche ihrer Jacke. Mist ! Ihr Personalausweis steckte noch in der Lederjacke, die sie am Vortag getragen hatte.

„Nein, ich habe gerade keine Papiere dabei.“

„Dann bleiben Sie hier stehen !“, beschied ihr der Ordnungshüter in herrischem Ton und positionierte sich vor sie. Sie ballte die Fäuste, verkniff sich jedoch eine Bemerkung.

Ein dunkler Audi A 6 bog um die Ecke und hielt in der Nähe. Aus dem Fahrzeug stieg ein schlaksiger Mann, Mitte dreißig, mit kurzen braunen Haaren, außerdem ein um einige Jahre älterer, dafür deutlich kleinerer Typ mit schwarzer, schulterlanger Haarpracht. Sie kamen auf ­Melanie zu.

Der Jüngere grinste. „Hallo Mel, was machst du denn hier ?“, begrüßte Kriminaloberkommissar ­Sandro ­Kimmerle sie.

Der Langhaarige hob die Augenbrauen. „Guten Morgen, Frau ­Gramberg, da denkst du an nichts Böses und schon triffst du eine Privatdetektivin am Tatort. Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie hier zufällig vorbeigekommen sind.“ Kriminalhauptkommissar ­Martin ­Schubert sah sie erwartungsvoll an. Dem Schutzpolizisten standen hundert Fragezeichen auf der Stirn.

Sie schmunzelte. Wie locker ­Schubert ihr gegenüber in den wenigen Monaten seit ihrer ersten Begegnung geworden war. Lag es daran, dass sie damals die Bad Homburger Kripo in einem verzwickten Fall maßgeblich unterstützt hatte ? Mit ­Sandro war daraus sogar eine lose Freundschaft entstanden.

Sie berichtete kurz, was passiert war, und beschrieb den Täter.

­Schubert sah sie an. „Eine Walther P 99 also. Da sind Sie sich vermutlich sicher, oder ?“

Sie nickte. „Hatte in Hamburg zum Schluss so eine als Dienstwaffe. Die erkenne ich sofort.“

­Sandro wandte sich an den immer noch irritierten uniformierten Kollegen. „Sie haben die Beschreibung mitbekommen ? Geben Sie mal schleunigst die Fahndung raus.“

„Alles klar“, entgegnete der Angesprochene hastig und lief zu einem Streifenwagen.

Der Kriminalhauptkommissar hielt das Flatterband hoch. „Dann wollen wir mal.“ Er zeigte zum Eingang. „Ladies first !“

Ein blauer Opel Insignia bremste und parkte neben dem Audi. Heraus kletterte ein Pärchen, beide Mitte zwanzig. ­Melanie erkannte Sarah Schwenke und Felix ­Hummer, die zum Ermittlerteam gehörten, und grüßte sie mit einem Kopfnicken. Falls sie überrascht waren, ­Melanie hier anzutreffen, ließen sie es sich zumindest nicht anmerken. ­Schubert gab ihnen die Anweisung, die anderen Zeugen zu befragen.

­Jühlich schien bewusstlos zu sein, als er auf eine Trage gehoben wurde. Der Notarzt legte ihm eine Infusionsflasche auf die Brust, sah dabei kurz auf den Monitor des daneben liegenden EKG-Geräts. Zwei Sanitäter fuhren den Verletzten hinaus.

Die zuvor kollabierte Angestellte hatte sich anscheinend etwas erholt. Sie saß mit einem Glas Wasser in der Hand leichenblass auf einem Stuhl, während die zweite Mitarbeiterin ihnen entgegenkam.

„Ich heiße Maike Erler“, stellte sie sich vor.

­Schubert nannte die Namen des Teams und ließ sich den Überfall von ihr schildern. Die Aussage deckte sich inhaltlich mit ­Melanies, war allerdings nicht ganz so präzise.

„Sie sagten, Herr ­Jühlich öffnete eine Schublade“, hakte ­Sandro nach. „Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen ? Wenn ich Sie recht verstanden habe, gab der Täter keine Befehle. Was ist denn dort drin ?“

„Nur der Schlüssel für das Büro“, erklärte Erler. „Es ist immer abgeschlossen, weil sich da ein Tresor und die wertvollsten Schmuckstücke befinden. Gerade gestern erst sind neue Diamanten eingetroffen.“

­Melanie überlegte. Der Typ hatte zwar erkennbar mit der Waffe auf die hintere Tür gezeigt, aber nichts gesagt. Warum hatte der Juwelier, quasi in vorauseilendem Gehorsam, dort aufschließen wollen ?

­Schubert runzelte ebenfalls die Stirn.

„Öffnen Sie bitte den Raum“, bat ­Sandro die Angestellte.

­Hummer gesellte sich zu ihnen. „Die Angaben der Zeugen des Überfalls sind mager“, erklärte er.

Die Mitarbeiterin holte den Schlüssel aus der Schublade und ging voraus.

Es handelte sich um eine Kombination aus Büro und Tresorraum. Dominiert wurde alles von einem deckenhohen Panzerschrank, dessen Tür angelehnt war. Außerdem war an der linken Wand eine Arbeitsplatte befestigt, auf der unterschiedliche Schmuckstücke lagen. Ergänzt wurde die Einrichtung durch einen Schreibtisch, einen Büroschrank und ein Regal, auf dem Ordner und einige Fotos standen.

­Schubert drehte sich langsam im Kreis, er schien dabei jede Einzelheit aufzusaugen. „Sind die Diamanten im Safe ? Dürfen wir die einmal sehen ?“

Erler zögerte. Schließlich ging sie auf den Tresor zu und zog die schwere Tür weiter auf. In verschiedenen Fächern lagen rote Ledermäppchen, deren Anzahl ­Melanie auf dreißig bis vierzig schätzte.

­Schubert ergriff ein Mäppchen und öffnete es. Ein kleiner Edelstein funkelte darin. Unter ihm steckte eine mit Stempel und Unterschrift versehene Urkunde.

Er wandte sich der Mitarbeiterin zu. „Wie viel ist so einer wert ?“

Sie nahm ihm die Mappe aus der Hand und blickte auf das Zertifikat. Es war, als spräche sie zu sich selbst. „Ein in Tropfenform geschliffener Diamant von der Reinheit fl, was so viel wie absolut lupenrein bedeutet. Klassifizierung D, demnach hochfein weiß. Ein Karat.“ Sie ging zu dem auf dem Schreibtisch stehenden Computer und machte ein paar Eingaben. „Der Stein wird derzeit auf rund 20.000 Euro taxiert.“

­Schubert riss die Augen auf und zeigte auf den Panzerschrank. „Die anderen dort sind genauso wertvoll ?“

Erler nickte. „Vermutlich, müsste man jetzt aber einzeln nachsehen.“

In ­Melanies Magen entwickelte sich ein flaues Gefühl. In diesem Raum lagerte ein Vermögen, das dem Täter in die Hände gefallen wäre, hätte er sich nicht so dilettantisch verhalten.

***

­Melanie schloss am frühen Nachmittag den Hintereingang zur Gaststätte Zum Silbernen Bein auf. Auch wenn die Wirtschaft noch geschlossen war, hielten sich Katja und Siggi bestimmt dort auf.

Sie blieb im Treppenhaus stehen, als die Anspannung der letzten Stunden von ihr ein wenig abfiel und sich ihre Gedanken verselbständigten. Es war schön, die beiden als Freunde zu haben. Der Oberstaatsanwalt a. D. und die angeheiratete Nichte seiner Schwester, eine nun sesshaft gewordene Weltenbummlerin, waren die einzigen Hinterbliebenen einer Familie mit einer bedrückenden Vergangenheit. ­Melanie hatte sie im Verlauf von Ermittlungen kennengelernt, als sie in die Familiengeschichte eintauchen und schreckliche Geheimnisse aufdecken musste. Die gemeinsamen Erlebnisse hatten sie überraschenderweise regelrecht zusammengeschweißt.

­Melanie war Katja unendlich dankbar, dass sie ihr das Angebot gemacht hatte, eine leerstehende Wohnung im angrenzenden Haus zu beziehen und dort ihre Privatdetektei einzurichten. So bekam sie die Chance, mit Hamburg, der Stadt, in der sie so viel Leid und Frust erlebt hatte, abzuschließen. Sie hatte endlich ein Zuhause, in dem sie sich wohl fühlte. Zum ersten Mal seit Jahren. Sie seufzte und betrat den Gastraum.

Siggi strahlte sie an. „Mel, schön, dich zu sehen.“ Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Hi. Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist.“

Er verengte die dunklen Augen zu schmalen Schlitzen und zupfte den schlohweißen Vollbart, der ihm zusammen mit den gepflegten wallenden Haaren, das charismatische Aussehen eines Grandseigneurs verlieh.

Mit einer Kopfbewegung deutete er auf einen der derben Holztische. „Lass uns hinsetzen und warten, bis Katja aus dem Keller kommt. Sie müsste gleich da sein.“

Sein Verhalten zeigte ihr, wie gut er sie kannte und dass er längst bemerkt hatte, wie stark sie etwas beschäftigen musste. War das noch der Siegfried Graf zu Biebenau, den sie während seines selbstgewählten Obdachlosendaseins kennengelernt hatte ? Ihm war der Sprung zurück in die Zivilisation perfekt gelungen. Er genoss die neue Rolle als Teilhaber der Gaststätte sichtlich. In wenigen Wochen wurde er einundsechzig, kaum zu glauben. Er war für sie eine Art väterlicher Freund geworden, mit dem sie über alles sprechen konnte. Er sah in ihr vielleicht so etwas wie eine Tochter, zumal er seine vor rund sechzehn Jahren auf tragische Weise verloren hatte.

„Aha, wir haben Besuch“, holte sie Katja aus ihren Gedanken. Sie stellte eine Flasche Almdudler und ein Glas auf den Tisch. „Was gibt es Neues in der unfreundlichen Welt ?“

­Melanie bedankte sich für das Getränk und berichtete mit hastigen Worten von dem Überfall und der Begegnung mit ­Schubert und ­Sandro. Die Wirtsleute hörten konzentriert zu. Katja spielte mit ihrem Nasenpiercing und drehte dann eine Strähne ihrer langen schwarzen Haare um einen Finger. „Ich habe davon in Facebook gelesen. Da warst du dabei ? Krass.“

„Hab ich mir nicht ausgesucht“, entgegnete ­Melanie grinsend. Sie wurde wieder ernst. „Irgendetwas hat da übrigens nicht gestimmt !“

Siggi kratzte sich am Kopf. „Wie kommst du darauf ? Meinst du was Konkretes oder spricht gerade dein Bauch ?“

„Überleg mal: Da erscheint ein dilettantischer Typ ausgerechnet einen Tag, nachdem Diamanten im Wert von zig Tausenden geliefert werden. Er spricht keinen Ton, worauf der Juwelier nichts Besseres zu tun hat, als nach dem Schlüssel zu dem Raum zu greifen, in dem sich die Klunker befinden. Das passt doch hinten und vorne nicht ! Warum wartet er nicht ab, was der Täter von ihm fordert, und lässt ihn vielleicht nur die Vitrinen im Verkaufsraum ausräumen ?“

„Weil er da schon eine Kugel in der Brust hatte ?“, gab Katja zu bedenken.

­Melanie schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, wenn der Schuss nicht gefallen wäre, hätte ­Jühlich das Büro ohne Aufforderung aufgeschlossen und die Steine freiwillig herausgerückt.“

Siggi verschränkte die Hände im Nacken. „Glaubst du, er wollte den Juwelier erschießen ?“

„Nein“, erklärte sie bestimmt. „Der Typ war völlig überfordert und ist über den Einkaufswagen gestolpert, wodurch sich der Schuss gelöst hat. Das war so nicht geplant. Außerdem war im Laden irgendetwas anders, als er es erwartet hat. Er ist kurz nach dem Betreten des Ladens mit einem Mal total abgedreht.“ Sie nahm einen Schluck von der Kräuterlimonade.

„Wird ein Junkie auf Dope gewesen sein“, warf Katja ein.

­Melanie schüttelte erneut den Kopf. „Das denke ich nicht. Ich wette, ­Jühlich wusste, dass der Überfall stattfinden würde, und wollte dem Täter die Steine geben ! Wenn ihr mich fragt, war das ein geplanter Versicherungsbetrug. Versicherungssumme kassieren und gleichzeitig die Diamanten verkaufen ! Nur die Kugel kam unverhofft dazwischen !“

Siggis Blick verriet ihr, dass er noch nicht überzeugt war. „Bisschen viel Aufwand, findest du nicht ? Ein fingierter Einbruch wäre viel einfacher gewesen. Hast du deine Gedanken der Kripo mitgeteilt ?“

„Dazu war keine Zeit. Ich bin morgen wegen meiner Aussage im Präsidium. Bin gespannt, was die Herrschaften herausgefunden haben.“

Er lachte. „Was für ein Glück, dass ­Schubert und ­Kimmerle ermitteln. Übertreib es aber nicht damit, den beiden auf den Nerv zu gehen.“

­Melanie verzog das Gesicht.

Er wechselte plötzlich das Thema. „Sag mal, wie geht es deiner Schwester ? Hattest du nicht gestern den Termin mit dem Arzt im Pflegeheim ?“

„Unverändert. Dr. Voigt kann sich nach wie vor nicht erklären, warum Anja im Wachkoma liegt, obwohl ihr Gehirn anscheinend tadellos arbeitet. Das einzig Neue ist, dass sie von einem anderen Pfleger betreut wird, der vor ein paar Tagen im Heim begonnen hat. Er scheint nett und kompetent zu sein.“

Katja legte die Hand auf ­Melanies Arm. „Wenigstens etwas. Gibt es denn eine realistische Chance, dass sie aufwacht ?“

­Melanie zuckte mit den Schultern. „Der Arzt sagt, Hoffnung gäbe es immer, allerdings wird es mit jedem Tag, der vergeht, schwieriger. Das hat er zwar nicht direkt gesagt, ist mir aber klar.“

„Du musst daran glauben !“, beschwor Katja sie eindringlich.

„Wenn es so einfach wäre ! Das Attentat geschah am 17. Mai. Das sind jetzt sechs Monate.“

Ihr Smartphone meldete eine eingehende Nachricht. Sie schaltete das Display an, registrierte eine unbekannte Rufnummer und las. Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren.

***

Im Verkaufsraum des Juweliergeschäfts wimmelte es von Mitarbeitern der Kriminaltechnik in weißen Overalls. ­Martin ­Schubert hatte die beim Überfall anwesenden Personen mit der Aufforderung entlassen, am darauffolgenden Tag in die Polizeidirektion in der Saalburgstraße zu kommen, um eine schriftliche Aussage zu machen. Die Mitarbeiterin, die den Schwächeanfall erlitten hatte, war mit einem Rettungswagen in die Hochtaunus-Kliniken gebracht worden. Einzig Maike Erler war geblieben.

„Sagen Sie, gab es heute irgendetwas Besonderes ?“, erkundigte sich ­Martin, während er am Schreibtisch im Büro lehnte. Neben ihm stand ­Sandro. „Es ist wichtig. Lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie.“ Er schätzte die Angestellte auf Ende dreißig.

Sie wirkte ruhig und schien nachzudenken. „Nicht wirklich. Vielleicht war ein bisschen viel los.“

„Verhielt sich Herr ­Jühlich anders als sonst ?“ Ihm ging ­Melanie Grambergs Schilderung des Tathergangs nicht aus dem Kopf.

„Nein, er war wie immer. Außer, dass er ziemlich sauer war, weil ­Simone zur Arbeit erschienen ist. Sie hat eine Grippe und ist noch krankgeschrieben.“

„Sie sprechen von Ihrer Kollegin ­Simone ­Dörling ? Wie muss ich mir sauer vorstellen ?“, bohrte ­Martin weiter.

Erler nickte. „Na, er hat sie angeblafft und wollte sie heimschicken. Es gab ein regelrechtes Wortgefecht. Das kenne ich bei denen gar nicht.“

„Wie meinen Sie das ?“

„Nun ja, wie soll ich es ausdrücken ?“ Sie wurde rot. „­Simone hat hier eine besondere Stellung.“

­Martin verschränkte die Arme und stellte sich auf, wodurch er mit ihr auf Augenhöhe kam. „Nun lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen !“, forderte er streng. „Haben die beiden was miteinander ? Ist es das ?“

Sie trat einen Schritt zurück. „Das … das weiß ich nicht. Zumindest hatten sie mal eine Affäre. Von mir haben Sie das aber nicht !“ Ihre Augen begannen zu glänzen. „­Simone hat halt Narrenfreiheit. Er widerspricht ihr so gut wie nie.“ Jetzt liefen die ersten Tränen die Wangen hinunter.

Wie er das hasste ! Weinende Frauen. Er bemühte sich, freundlich zu klingen. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht einschüchtern. Es ist nur so, wir müssen uns ein möglichst umfassendes Bild machen. Wir sind bestimmt gleich fertig. Ist sicher alles ein bisschen viel für Sie. Gibt es eigentlich eine Ehefrau ?“

Erler schnäuzte in ein Papiertaschentuch und nickte. „Ich habe versucht, sie zu anzurufen, konnte sie aber nicht erreichen.“

„Kein Problem, das übernehmen wir.“

Ein lauter Knall ließ ­Martin zusammenzucken und herumfahren.

Felix ­Hummer bückte sich nach einem auf dem Boden liegenden Bilderrahmen. „Sorry, ist mir runtergefallen“, stammelte er, als er wieder hochkam.

­Martin ging hinüber und nahm ihm das Foto aus der Hand. „Hast Glück gehabt, dass der Rahmen noch ganz ist.“ Er pfiff durch die Zähne. „Na, das ist ja ein schnuckeliges Geschoss. Bisschen spezielle Farbgestaltung, sonst jedoch ein Traum.“ Das älter wirkende Bild zeigte einen knallgelben Sportwagen mit grünen Seitenstreifen. Neben dem Fahrzeug strahlte ein Mann in einem Overall in die Kamera.

­Sandro gesellte sich zu ihnen. „Was ist an dem so besonders ?“

­Martin rollte mit den Augen. „Die Frage kann nur von dir kommen. Das ist ein Lotus Europa S 1 ! Von dem gab es weltweit maximal 300 Exemplare“, dozierte er.

Er ging zu Maike Erler und hielt ihr die Aufnahme entgegen. „Ist das Herr ­Jühlich ?“

„Ja, in deutlich jüngeren Jahren.“

„Wissen Sie, ob er das gute Stück noch besitzt ?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Kenne den Wagen nur von dem Foto.“

Er stellte den Rahmen zurück in das Regal und wandte sich an die Kollegen. „Wir packen hier alles ein, auch die geschäftlichen Ordner.“ Er zeigte zum Schreibtisch. „Und den Computer.“

Erler räusperte sich. „Dürfen Sie das überhaupt ? So ohne richterlichen Beschluss ?“

­Martin ging einen Schritt auf sie zu. „Das dürfen wir, denn irgendetwas kommt mir an dem Überfall unlogisch vor und damit ist Gefahr in Verzug ! Den Beschluss reichen wir nach.“

15. November

­Melanie kam es beim Aufwachen vor, als habe sie in der Nacht ein Bulldozer überrollt. War schon eine verrückte Idee gewesen, sich am Abend in eine dicke Wolldecke zu wickeln und sich mit einem heißen Kakao in ihren geliebten Strandkorb im Hinterhof zu setzen. Das war aber nun mal der Ort, an dem sie am besten nachdenken konnte.

Dann waren ihre Gedanken um die Mail gekreist, die sich eindeutig auf Anja bezog. Stammte die Nachricht von einem Stalker? Wer wollte sie in Angst versetzen? Die Medien hatten damals über den Fall und das Attentat berichtet, doch das war jetzt einige Monate her. Wen interessierte das noch?

Gegen Mitternacht hatte sie der einsetzende Regen ins Haus vertrieben. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt. Irgendwann hatten ihr die Grübeleien einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen beschert. Eine Szene war ihr präsent: Anja und sie standen eng umschlungen vor dem Wrack eines Autos, aus dessen Fenster sie die matten Augen ihres verstorbenen Lebenspartners Erik anglotzten. ­Melanies ehemaliger Kollege Fred, der beim Attentat auf Anja gestorben war, kletterte ins Fahrzeug und grinste hämisch. Plötzlich löste sich die Kiste in die Einzelteile auf, zerstob wie eine Wasserlache, in die ein starker Luftstrahl gehalten wurde. Aus dem Nichts war Pascal ­Wolter aufgetaucht und hatte mit riesigen Pranken nach ihr gegriffen.

Sie schaute auf ihr Handy. Es wurde Zeit für eine ausgiebige Dusche.

Wenig später stand sie nackt bis auf den Slip vor dem Spiegel des Schlafzimmerschranks. Ihr ohnehin blasser Teint wirkte heute fahl und bildete einen noch härteren Kontrast zum kurzgeschnittenen schwarzen Haar. Ansonsten war sie mit ihrer sportlichen Figur zufrieden. Das tägliche Fitnessprogramm zahlte sich aus.

Sie seufzte und ging in die Küche, wo sie einen Kaffee aus der Maschine laufen ließ. Warum machte sie sich ausgerechnet nach dieser Nacht Gedanken über ihr Aussehen? Ihr muskulöser Körper gab ihr in Verbindung mit ihren eins siebenundsiebzig ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Sie war mit vielen Männern schon rein anatomisch auf Augenhöhe. Sie erinnerte sich an eine Bemerkung ihrer Schwester, sie solle darauf achten, nicht zu dominant und maskulin zu wirken. Wie egal ihr das war. Mit Eriks Tod waren jegliche Gedanken an eine Partnerschaft verschwunden.

Mit dem Namen ihres ehemaligen Lebensgefährten bahnte sich der Albtraum erneut den Weg in ihr Hirn. Er, Anja und Fred, drei sehr wichtige Menschen in ihrem Leben, für deren Schicksal sie sich immer noch mitverantwortlich fühlte. Dazu der Mörder ­Wolter, den sie vielleicht doch besser hätte erschießen sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee, stellte die leere Tasse in die Spülmaschine und schlurfte ins Bad. Unter dem dampfenden Strahl der Dusche rieb sie sich die Haut wie eine Besessene, bis die letzten Spuren des Traums weggespült wurden.

­Melanie betrat um 9:05 Uhr das Polizeipräsidium und wandte sich dem mit einer Glasscheibe geschützten Empfangsschalter zu.

„Guten Morgen, Mel“, tönte es von der Seite. ­Sandro ­Kimmerle schoss aus einem seitlichen Gang kommend strahlend auf sie zu. „Herzlich willkommen in unserer bescheidenen Hütte. Komm, ich nehme dich mit.“

„Moin“, erwiderte sie kraftlos.

Er sprach kurz mit dem Kollegen am Empfang und ließ sich einen Besucherausweis aushändigen, den er ihr gab. Sie liefen einen langen Gang entlang.

„Sorry, wenn ich das so direkt sage, aber du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.“

Sehr charmant, fuhr es ihr durch den Kopf. Schnell erzählte sie ihm von der ominösen Nachricht und ihren Stunden im Strandkorb.

„Na toll“, entgegnete er. „Hast du einen Verdacht, wer dahintersteckt?“

­Melanie zuckte mit den Schultern. „Ich habe die halbe Nacht nachgedacht und bin immer wieder auf Pascal ­Wolter gekommen.“

­Sandro hob die Augenbrauen. „Der sitzt doch gut behütet in Hamburg im Knast. Wie sollte der das bewerkstelligt haben?“

„Es gibt auch dort Wege. Dir muss ich doch nicht erklären, was alles möglich ist.“ Sie seufzte. „Ich weiß es aber nicht.“

„Jetzt lass uns mit den Kollegen über den Überfall sprechen und danach kümmern wir uns um diesen Mist. ­Martin wartet bereits.“

­Schubert begrüßte sie zusammen mit Sarah Schwenke und Felix ­Hummer in einem Büro.

Sie war nicht nur ein bisschen erstaunt, die komplette Mannschaft vorzufinden, sondern auch, dass die Vernehmung nicht wie üblich in einem Besprechungsraum durchgeführt wurde.

­Schubert schien ihre Gedanken zu erraten. „Wir haben uns gedacht, wenn wir schon das Glück haben, Sie als Zeugin zu haben, könnten wir Ihre Aussage aufnehmen und danach den gesamten Ablauf mit Ihnen anhand der Aufnahmen aus der Überwachungskamera anschauen.“

­Melanie schmunzelte und zog sich die Daunenjacke aus. „Gerne.“

Sie orientierte sich bei ihrer Schilderung strikt an den gemachten Beobachtungen und verzichtete auf eigene Interpretationen. Sie beobachtete Sarah, die sie bisher erst einmal getroffen hatte. Die junge Kriminalkommissarin stellte die richtigen Zwischenfragen. ­Schubert und ­Sandro hielten sich zurück. Dagegen wirkte der etwas ältere Felix ­Hummer auf ­Melanie ein wenig nervös und fahrig. Sein blutleerer Teint passte ihrer Meinung nach zu diesem Eindruck.

Schließlich las sie ihre Aussage durch und unterschrieb sie.

­Sandro hatte in der Zwischenzeit einen Computerbildschirm herumgedreht, worauf sich die Anwesenden mit ihren Stühlen vor dem Rechner versammelten. Er bearbeitete die Tastatur, nach einer Weile erschien ein klares Bild vom Verkaufsraum des Juweliergeschäfts. Dann startete er den Film, der unmittelbar vor dem Eintreten des Täters einsetzte.

Die Qualität der Aufnahmen war erstklassig. ­Melanie bemerkte belustigt, wie ungeduldig sie gewesen war. Im Video ging sie zur Uhrenvitrine und kehrte dem Eingang den Rücken zu. Der Mann betrat den Laden forsch, sie drehte sich zu ihm um. Plötzlich hielt er inne, wirkte unschlüssig. Eine Mitarbeiterin, die hinter einem Verkaufstisch saß, sah auf, schien zu erschrecken und sackte zu Boden.

„Stopp“, rief ­Melanie, worauf ­Sandro die Computermaus betätigte.

Das Team schaute sie gespannt an.

„Lass das doch bitte noch einmal bis zu der Stelle zurücklaufen, an der er erscheint, und zeige uns die Sequenz bis hierhin in Zeitlupe, falls das möglich ist. Dann achtet mal auf seine Bewegung und das Verhalten der Verkäuferin links.“

­Sandro kam ihrer Aufforderung nach. Als die Szene beendet war, hielt er die Aufnahme erneut an.

­Schubert kratzte sich am Kopf. „Ich sehe den Film zum ersten Mal. Was ist Ihnen genau aufgefallen? Da ist eine Angestellte, die Schockanzeichen zeigt, und ein Täter, der übernervös agiert.“

­Melanie nickte. „Stimmt soweit. Allerdings betritt der Mann sehr bestimmt und kontrolliert den Laden. Er schaut sich um und in dem Augenblick, als er diese Frau wahrnimmt, geht eine Veränderung in ihm vor. Er erscheint mir mit einem Mal beinahe panisch, man könnte den Eindruck bekommen, dass er sogar überlegt, den Überfall abzubrechen. Gleichzeitig sieht ihn die Frau, erschrickt fast zu Tode und verabschiedet sich unter den Tisch. Jetzt wäre doch der Moment gekommen, um Forderungen zu stellen. Stattdessen bleibt er stumm und wedelt nur mit der Waffe herum. Warum verhält er sich dermaßen atypisch?“

„Ich glaube, ich weiß, worauf du hinauswillst“, meldete sich ­Sandro zu Wort. „Es sieht so aus, als ob der Typ überrascht war, genau diese Mitarbeiterin anzutreffen. Ist es das, was du meinst?“

Sarah Schwenke schlug die Hand vor die Stirn. „Die beiden kennen sich! Und der Täter scheint zu hoffen, dass sie ihn nicht erkennt. Deshalb bleibt er stumm.“

„Bingo“, bestätigte ­Melanie zufrieden. Längst hatte sie ihr Jagdinstinkt im Griff.

­Schubert riss die Augen auf. „Zeig das noch einmal!“

Am Ende der Filmsequenz schlug er auf den Tisch. „Sauber, ihr habt vermutlich recht!“

Sarah grinste. „Sie heißt ­Simone ­Dörling und sollte an dem Morgen nicht bei der Arbeit sein, da sie eigentlich krankgeschrieben war. Das passt hundertprozentig!“

­Sandro startete den Film erneut. Sie schauten ihn weiter an, bis zu dem Punkt, an dem der Täter das Geschäft fluchtartig verließ.

„Ich wage eine weitere Behauptung“, begann ­Melanie. „­Jühlich erwartet den Überfall. Aus diesem Grund holt er den Schlüssel ohne Aufforderung aus der Schublade. Ich wette, es handelt sich um einen geplanten Versicherungsbetrug. Alles ist aus dem Ruder gelaufen, weil die Tatsache, dass ­Dörling unerwartet anwesend war, den Typen aus der Bahn geworfen hat.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Ich hatte recht, dachte ­Melanie zufrieden.

­Sandro sah ­Schubert an. „Auch das ergibt Sinn. Deswegen war der Juwelier morgens außer sich, als die ­Dörling erschien. Vermutlich befürchtete er, sie könnte den Täter erkennen.“

­Schubert schaute nachdenklich zum Fenster. „Ein interessanter Ansatz. Dem gehen wir nach.“

Die Tür öffnete sich. Sebastian ­Wolrich, der Leiter der Polizeidirektion, betrat den Raum gemeinsam mit einem großgewachsenen Mann.

„Hallo zusammen“, grüßte er, als sein Blick auf ­Melanie fiel. Er ging direkt auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Schön, Sie zu sehen. Ich hörte davon, dass Sie das Pech hatten, beim Überfall dabei zu sein.“

Sie stand, wie auch alle anderen, auf und erwiderte den Gruß.

„Ich möchte euch Heiko ­Pränger vorstellen.“ ­Wolrich schaute zum plötzlich verbissen wirkenden ­Schubert. „Du kennst ja Heiko noch aus seiner Zeit bei uns.“

Der Hauptkommissar nickte verkniffen.

„Er arbeitet heute im Bundeskriminalamt in Wiesbaden in der Abteilung Schwere und organisierte Kriminalität.“ Der Leiter wedelte mit einem Blatt Papier. „Er hat euch etwas mitzuteilen.“

­Pränger zeigte auf ­Melanie und drehte sich zu ­Wolrich um. „Hier vor einer Zivilperson?“

Wenn der Typ mit den kurzen braunen Haaren und dem Dreitagebart nicht schon vorher unsympathisch rübergekommen wäre, hätte er es spätestens jetzt geschafft. Er strahlte Überheblichkeit aus, dass er aber unverblümt mit dem ausgestreckten Finger auf sie gezeigt hatte, war das i-Tüpfelchen für ihre Bewertung. Leider kannte sie solche Beamten aus ihrem früheren Berufsleben nur zu gut. Vielleicht besaß sie deshalb eine spezielle Schublade für sie, in der ­Pränger gerade verschwunden war.

Umso mehr freute sie ­Wolrichs Reaktion. „Du kannst offen vor Frau ­Gramberg sprechen. Sie ist eine ehemalige LKA-Kollegin aus Hamburg und war während des Überfalls zufällig am Tatort. Wir haben seit einem Fall, bei dem sie uns vor ein paar Monaten sehr geholfen hat, so was wie ein kollegiales Verhältnis zu ihr. Sie versteht es, mit vertraulichen Informationen umzugehen.“

­Melanies Gesicht wurde bei so viel öffentlicher Wertschätzung warm.

­Pränger grinste sie breit an. „Eine Ehemalige also. Ihr arbeitet auch mit allen Tricks.“

Am liebsten hätte sie ihm spätestens jetzt eine gelangt. „Also Leute, wie Basti bereits ausgeführt hat, kümmere ich mich um die großen und vor allem internationalen Fälle. Dabei haben wir einen Diamantenschmugglerring in der Beobachtung, der von Antwerpen aus quasi in ganz Europa aktiv ist. Eine Person, die wir in diesem Zusammenhang auf dem Radar haben, ist Dirk ­Jühlich. Genau der ­Jühlich, der gestern überfallen und angeschossen wurde. Ich darf das eigentlich gar nicht verraten, halte es aber für wichtig, damit ihr unsere Entscheidung versteht und gehe davon aus, dass es hier im Raum bleibt.“

­Melanie ahnte, was jetzt kommen würde, und glaubte neben sich die geflüsterten Worte „Du Arsch“ zu hören. Sie schielte zu ­Schubert, der aussah, als wäre er kurz vor dem Platzen.

„Wir glauben nicht, dass der versuchte Raubüberfall etwas mit dem Schmuggel zu tun hat. Deshalb habe ich die Verfügung mitgebracht.“ Er zeigte auf ­Wolrichs Zettel. „Dass ihr ab sofort ausschließlich nach eurem Täter sucht und euch aus allem, was nach Diamanten aussieht, heraushaltet. Ich werde die Diamantenlieferung, die vorgestern angekommen ist, beschlagnahmen. Falls ihr den Eindruck haben solltet, doch an unseren Zuständigkeitsbereich zu stoßen, meldet ihr euch sofort und ausschließlich bei mir persönlich, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Die Betonung liegt auf sofort!“ Er legte eine Visitenkarte auf den Tisch. „Ich hoffe, wir arbeiten reibungslos zusammen.“

­Schubert holte hörbar Luft. „Darf ich etwas dazu sagen?“

„Jetzt nicht“, entgegnete ­Wolrich. „Komm nachher in mein Büro. Ich glaube, die Anweisung aus Wiesbaden ist eindeutig. Frohes Schaffen noch.“ Er rauschte mit dem Gast aus dem Raum.

***

„Der Typ hatte einen Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das BKA die Ermittlungen einschränkt?“ Siggi fuhr sich durchs Haar und lehnte sich auf dem Besucherstuhl vor ­Melanies Schreibtisch in der Detektei zurück.

­Melanie zuckte mit den Schultern. „­Wolrich hat das Papier zumindest akzeptiert.“ Sie grinste. „Du hättest ­Schubert sehen sollen. Der stand kurz vor der Explosion. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass er und dieser ­Pränger damals nicht die besten Freunde waren.“

Er verschränkte die Arme. „Ist etwas ungewöhnlich. Der Diamantenschmuggel liegt zunächst einmal nicht im natürlichen Zuständigkeitsbereich des Bundeskriminalamtes, wenn dann eher beim LKA. Also muss etwas Besonderes an dem Fall sein, wenn ein Staatsanwalt die Ermittlungen nach Wiesbaden verlagert. Zudem müssen die Herrschaften sehr schnell von dem Überfall erfahren und dann blitzartig einen Staatsanwalt gefunden haben, der ihnen die Beschlüsse zur Verlagerung und der Beschlagnahmung der Diamanten unterschrieben hat. Das alles in den paar Stunden. Sehr, sehr ungewöhnlich! Zumal die Beschlagnahme unter dem richterlichen Vorbehalt steht. Ich wüsste zu gern, was da dahintersteckt.“

­Melanie überlegte. „Glaubst du, da ist was faul?“

„So weit will ich im Moment nicht gehen. ­Wolrich wird das geprüft haben. Ich bin aufgrund meiner eigenen Erfahrungen halt nur überrascht. Ich habe solche Anordnungen zu meiner Zeit nur in absoluten Ausnahmefällen getroffen. Da mussten die Ermittler mit sehr überzeugenden Argumenten kommen. Muss aber zugeben, dass das mehr als fünfzehn Jahre zurückliegt. Was haben sie zu deiner anonymen Nachricht gesagt?“

­Melanie verzog das Gesicht. Sie erzählte, dass ­Sandro mit ihr bei einem Kripobeamten war, der die Anzeige mit kaum erkennbarem Elan aufgenommen habe. „Ich glaube nicht, dass der sich ein Bein ausreißen wird“, schloss sie den Bericht ab und stand auf. „Sei mir nicht böse, aber ich will mich in der Wohnung noch kurz frisch machen und zu Anja nach Oberursel fahren.“

Er erhob sich ebenfalls. „Kein Problem. Bis bald.“

­Melanie fuhr ihren Laptop runter, schaltete die Kaffeemaschine und die Lampen aus. Schließlich verließ sie die Detektei und schloss die Eingangstür ab. Langsam und in Gedanken versunken stieg sie die Treppe hoch. Ihr ging ­Pränger nicht aus dem Kopf. Einmal abgesehen davon, dass sie ihn für einen Kotzbrocken hielt, gaben ihr Siggis Worte zu denken. Was wurde hier gespielt? Es war natürlich nicht ihre Baustelle. Damit hatten sich ­Schubert und ­Sandro herumzuschlagen, aber dennoch hätte sie zu gern gewusst, wie die Sache sich entwickelte. Vielleicht war es mal wieder an der Zeit, sich auf einen Kaffee zu treffen.

Sie betrat den Flur ihrer Wohnung, hängte ihre Strickjacke auf einen Bügel an die Garderobe, schlüpfte aus den Sneakers und schob diese unter ein Schuhregal. Auf Strümpfen lief sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank, um eine Flasche Almdudler herauszunehmen. Den Deckel entfernte sie mit dem an der Kühlschranktür befestigten Öffner.

Ihr nächster Weg führte sie ins Wohnzimmer, in dem die Möbelstücke völlig verschieden waren, aber trotzdem zusammenpassten. Erbstücke und Teile vom Flohmarkt ergänzten sich in ihren Augen prima, hier fühlte sie sich wohl.

Sie ließ sich aufs braune Stoffsofa fallen und stutzte, als sie das Kontrolllicht ihres privaten Laptops entdeckte. Er befand sich im Standby-Modus, obwohl sie davon überzeugt war, ihn am gestrigen Abend ausgeschaltet auf dem Couchtisch zurückgelassen zu haben. ­Melanies Haut kribbelte plötzlich, ein sicheres Zeichen der einsetzenden Alarmbereitschaft.

Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Sie öffnete ihr Postfach und las einige unbedeutende Mails, um anschließend das Notebook auszuschalten.

Das Gefühl, dass jemand in der Wohnung gewesen sein könnte oder sogar noch anwesend war, wollte nicht verschwinden. Sie horchte. Bis auf das Surren der Zeitschaltuhr, an die eine Stehlampe angeschlossen war, herrschte totale Stille.

Sie schlich zurück in den Flur und schob die angelehnte Schlafzimmertür vorsichtig auf. Alles war wie immer. Dennoch stieß sie die Tür bis zum Anschlag auf, um sicherzugehen, dass sich dahinter niemand versteckte. Auch im Bad und dem anderen Zimmer gab es keinerlei Hinweise, dass sich hier eine Person aufgehalten hatte. Allmählich löste sich die Anspannung.

In diesem Moment hörte sie das Signal einer eingehenden Mitteilung auf ihrem Smartphone. Sie hatte es im Wohnzimmer auf dem Couchtisch zurückgelassen.

Die Nummer des Absenders verursachte bei ihr sofort Gänsehaut.

***

Pascal ­Wolter saß in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Winterhude in seiner Zelle, tippte die Worte „Es geht los“in ein Smartphone und schaltete es aus. Schnell steckte er es in die Hosentasche. Er nahm das Tablet vom Tisch und verstaute es unter dem Anstaltshemd im Hosenbund.

Die Gedanken umkreisten eine Person: ­Melanie ­Gramberg! Die Frau, die dafür verantwortlich war, dass er vermutlich nie wieder frei sein würde. Alles, was ihm blieb, war der Versuch, das Leben im Gefängnis so angenehm wie möglich zu gestalten. Glücklicherweise war ihm das bisher gelungen, auch wenn ihn das sehr viel Geld kostete.

Rachegelüste hatten sich bei ihm eingebrannt, schrien unentwegt danach, endlich befriedigt zu werden. Sein Plan war perfekt, da war er sich sicher. Er würde die ­Gramberg zunächst quälen, bis sie den Verstand verlor, um sie am Ende auszulöschen. Die Vorkehrungen waren getroffen, der Startschuss gegeben. Seine Helfer standen bereit. Wahrscheinlich brachte ihm das Vergnügen eine zusätzliche Strafe ein. Das war ihm egal, was sollte ihm schon passieren? Mehr als lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung war nicht möglich! Es war ihm klar, dass das Urteil im demnächst anstehenden Prozess nur so lauten konnte.

Es klopfte, der Riegel der Zellentür wurde zurückgeschoben. Zwei Justizbeamte betraten die Zelle.

„Es geht los. Ihr Anwalt erwartet Sie im Besucherraum.“ Der Ältere hielt ihm Handschellen entgegen.

Unaufgefordert hob ­Wolter die Hände nach vorne, um sich fesseln zu lassen. Normalerweise hätte man ihn durchsucht. Diese Prozedur hatte er längst mit überzeugenden Argumenten abgeschafft und dafür gesorgt, dass in solchen Fällen stets dieselben Wachhabenden erschienen.

Sie waren im Besucherraum allein mit einem Justizangestellten, ein Umstand, der ihnen sehr recht war. Zumal der Beamte die ganze Zeit mit seinem Handy spielte.

­Wolter schob das Smartphone und das Tablet rasch über den Tisch. Rechtsanwalt Jakob ­Hengstler ließ die Gegenstände in seiner Aktentasche verschwinden.

„Verwahren Sie die gut. Ich kann sie bis auf Weiteres nicht gebrauchen. Vermutlich wird meine Zelle in den nächsten Tagen auseinandergenommen, sie sollte dann sauber sein. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich wieder an die Außenwelt angebunden werden möchte.“

­Hengstler nickte. „Ich möchte noch einmal betonen, dass das Risiko, aufzufliegen, praktisch bei hundert Prozent liegt. Außerdem wird man schnell merken, dass alles gefälscht ist. Die ­Gramberg wird das Schauspiel schnell beenden!“

­Wolter grinste. „Mag sein. Sie wird aber ein paar heftige Tage haben. Außerdem bleibt immer was hängen.“ Er schaute kurz zum Aufpasser, der ihnen gerade den Rücken zukehrte. „Es wird der Anfang vom Ende der Schlampe sein“, flüsterte er.

Der Besucher hob die Augenbrauen. „Wie meinen Sie das?“

­Wolter lachte. „So, wie ich es sage, aber Sie müssen nicht alles wissen, sondern nur das umsetzen, was ich in Auftrag gebe!“

***

„Herr ­Jühlich, zum letzten Mal“, Dr. Kaufmanns Stimme klang genervt, „ich halte es in meiner Funktion als Chefarzt dieser Klinik für brandgefährlich, wenn Sie das Krankenhaus in Ihrem Zustand verlassen. Eine Infektion oder eine plötzlich auftretende innere Blutung können Sie in akute Lebensgefahr bringen!“

Der Juwelier verzog das Gesicht und griff nach den Armlehnen des Rollstuhls. Es war der dritte Versuch, ihn davon abzuhalten, sich selbst zu entlassen. Natürlich wusste er, welches Risiko er einging. Es musste jedoch sein, denn er hatte noch einiges zu erledigen, bevor ihn die Polizei befragen würde. Bisher hatten die Ärzte eine Vernehmung untersagt. Das würde sich jetzt ändern.

Es war praktisch alles schiefgegangen, deshalb ging es nunmehr um Schadensbegrenzung. Zunächst galt es, ungestört Kontakt nach Antwerpen aufzunehmen.

„Das habe ich ihm auch gesagt, Herr Doktor“, mischte sich ­Michaela ein. „Er ist und bleibt ein Sturkopf! Dirk, willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?“

Es reichte ihm, er hob die Stimme. „Nein! Ich habe mich entschieden. Mein Geschäft wurde überfallen und ich muss mich darum kümmern.“ Er stieß seine Frau an. „Los jetzt, wir fahren.“

„Dann wünsche ich Ihnen baldige Genesung. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Der Arzt blickte an ihm vorbei und gab ­Michaela mit einem kurzen Kopfnicken die Hand.

„Danke, Herr Doktor, es tut mir leid.“ Sie packte die Griffe des Rollstuhls und schob ihren Mann in Richtung Aufzug.

Dirk war es ganz recht, dass sie sauer war und nicht sprach. So konnte er ungestört nachdenken. Es war ein Fehler gewesen, den Jungen mit dem Überfall zu beauftragen. Wo hielt der sich überhaupt auf? Er musste ihn unbedingt finden, bevor das der Polizei gelang.

Die kalte Abendluft riss ihn aus den Grübeleien. ­Michaela schob ihn an den ersten Storchenparkplätzen vorbei. Eine interessante Idee, Parkplätze für werdende Eltern in der Nähe des Haupteingangs zu reservieren. Plötzlich stoppte ­Michaela.

„Mist, meine Jacke liegt noch auf der Station. Warte hier, ich bin gleich zurück.“ Sie drehte sich um und lief davon.

Was sollte das jetzt? „Kannst du mich nicht wenigstens vorher zum Auto bringen?“, rief er ihr nach, die Antwort bestand aus einer abweisenden Handbewegung. Sie eilte unverdrossen weiter.

Blöde Kuh, schoss es ihm durch den Kopf. Sobald er sich abgeseilt hatte, wäre das Kapitel endlich erledigt. Er hatte lange genug gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Sie käme nicht im Traum darauf, wie sehr er sie verarscht hatte.

Auf dem Kiesweg hinter ihm knirschte es in kürzeren Abständen. Das Geräusch kam schnell näher. Gerade, als er im Begriff war, sich umzudrehen, drückte sich kaltes Metall in sein Genick.

16. November

­Martin ­Schubert heftete die Tatortfotos an eine breite Pinnwand. Er dachte nach.

Nicht das Geringste hatte darauf hingedeutet, ­Jühlich könne in Gefahr sein. Demnach hatte es keinen Grund gegeben, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Natürlich legten verschiedene Medien bei ihrer Berichterstattung den Finger in diese vermeintliche Wunde. Ihn ließ das kalt. In den vergangenen Jahren hatte er sich ein dickes Fell zugelegt.

Er betrachtete das Foto mit dem tot im Rollstuhl sitzenden Juwelier. Es wirkte wie eine Hinrichtung. Das passte zu einer Zeugenaussage, dass ein groß gewachsener Mann über den Hölderlinpfad auf sein Opfer zugeeilt war. Er habe ihm einen Gegenstand in den Nacken gehalten und sei auf demselben Weg verschwunden. Der Zeuge vermochte leider nur eine sehr unzureichende Täterbeschreibung abzugeben. Er erinnerte sich einzig an eine ins Gesicht gezogene Kapuze.

­Sandro betrat mit zwei Tassen und einem unter die Achsel geklemmten Schnellhefter den Raum.

Er stellte einen Kaffee auf den Schreibtisch. „Guten Morgen. Dachte mir, du könntest etwas Koffein vertragen.“

„Danke dir.“ ­Martin zeigte auf den Ordner. „Gibt es etwas Neues?“

„Ja, der Bericht des Rechtsmediziners liegt bereits vor. ­Jühlich wurde durch einen Genickschuss getötet. Es handelt sich um ein Hohlspitzgeschoss vom Kaliber 9 mm. Die Kriminaltechnik hat die Kugel in der Nähe des Springbrunnens gefunden. Interessant ist, dass sein Körper mit unzähligen Hämatomen übersät war.“

­Martin stutzte. „Wurde er geschlagen?“

­Sandro nickte und reichte dem Kollegen ein Bild. „Sieht so aus. Der Rechtsmediziner geht davon aus, dass er regelrecht zusammengeschlagen wurde. Allerdings nur am Oberkörper, dort aber systematisch. Das Gesicht zeigt keine Spuren. Das Ganze geschah laut dem Bericht schon vor sieben bis zehn Tagen.“

­Martin heftete das Foto an die Wand und ging zum Schreibtisch, wo er einen großen Schluck aus der Kaffeetasse nahm. „Interessant. Erst verprügelt, dann angeschossen und schließlich getötet. Schon heftig. Passt die gestrige Kugel zum Überfall?“

­Sandro setzte sich auf seinen Stuhl. „Das klärt gerade die Ballistik.“

„Was ist mit Frau ­Jühlich? Konnte sie zwischenzeitlich vernommen werden?“

­Sandro lehnte sich zurück. „Ja, der Arzt hat Sarah am späten Abend zu ihr gelassen. Die Frau scheint ziemlich fertig gewesen zu sein. Sie hat wohl ihren Mann in der Nähe der Storchenparkplätze kurz geparkt, weil sie ihre Jacke in der Klinik vergessen hatte. Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie zur Tatzeit im Krankenhaus war.“

­Martin überlegte. „Der Täter wusste genau, wann ­Jühlich entlassen wurde. Wir müssen klären, wer diese Info hatte.“

­Sandro ließ die Mappe auf den Tisch fallen. „Sind wir dran. Felix kümmert sich darum. Außerdem sucht die Kriminaltechnik auf dem Parkplatz am Tierfriedhof nach Spuren, dort, wo der Hölderlinpfad in einen Landwirtschaftsweg mündet.“

­Martin zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Leicht genervt hob er den Hörer ab.

„Hallo, eine Frau ­Dörling ist für euch da“, teilte der Kollege am Informationsschalter mit. „Ich habe sie in den Vernehmungsraum 1 gesetzt.“ Die Angestellte aus dem Juweliergeschäft hatte er total vergessen. „Prima, danke.“

Er legte auf und wandte sich wieder an ­Sandro. „Die ­Dörling ist da. Dann wollen wir ihr mal auf den Zahn fühlen. Vielleicht verrät sie uns ja, wer den Überfall begangen hat …“ Er hielt kurz inne. „… und vielleicht unser Todesschütze ist.“

Die Tür flog auf. Sarah Schwenke und Felix ­Hummer schossen ins Zimmer.

„Wir wissen, wer den Laden überfallen hat“, sprudelte sie los. „Die ­Gramberg hatte recht. ­Simone ­Dörling kennt den Täter!“

„Außerdem haben wir die Tatwaffe vom Tötungsdelikt“, meldete sich Felix.

­Martin runzelte die Stirn. Er hasste Hektik. „Guten Morgen erst einmal und dann eins nach dem anderen! Sarah, du zuerst.“

Sie errötete. „Morgen. Also, wir haben doch die Strumpfmaske mit einer DNA-Spur in einem Mülleimer im Kurhaus gefunden. Diese konnte zugeordnet werden. Sie gehört zu Nico ­Dörling, der wegen Drogenhandel registriert ist und deswegen verurteilt wurde.“ Sie schwieg eine Sekunde. „Er ist der Sohn der Angestellten ­Simone ­Dörling!“, schob sie mit triumphalem Tonfall nach.

­Martin sprang auf. „Super! Dann wollen wir die Dame fragen, was sie dazu zu sagen hat.“ Er sah Felix an. „Was ist mit der Tatwaffe?“

„Vor wenigen Minuten erschien unten ein merkwürdiger Kauz und hat eine Walther P 99 auf den Tresen des Infoschalters gelegt. Er hat die Waffe angeblich auf dem Grab seiner Bella gefunden.“

­Martin kniff die Augen zusammen. „Seiner was?“

„Na, seiner Hündin. Die liegt auf dem Tierfriedhof am Krankenhaus und auf dem Grab …“

„Okay, habe ich verstanden“, unterbrach ihn der Hauptkommissar. „Wir teilen uns jetzt auf. Felix und ich vernehmen die ­Dörling.“ Er sah ­Sandro an. „Du und Sarah nehmt euch den Tierfreund vor. Los geht’s!“

***

„Möchtest du noch einen Kaffee?“ Siggi setzte sich zu ­Melanie an den Stammtisch im Silbernen Bein.

„Nein, danke, mein Herz bubbert jetzt schon wie verrückt.“ Sie steckte das letzte Stück ihres Brötchens in den Mund. Als er sie am Morgen angerufen und zum Frühstück eingeladen hatte, war sie vor allem dankbar gewesen, nicht allein sein zu müssen.

„Was willst du wegen der neuen Drohmail unternehmen?“

Sie verzog das Gesicht. „Weiß ich noch nicht. Ich überlege, zu ­Wolrich zu gehen. Mit dem kann ich ganz gut. Vielleicht nimmt der das ernst.“

Siggi schaute sie direkt an. „Soll ich mitkommen?“