4,99 €
Ein von den Toten auferstandener Journalist, ein Prepperdorf, ein Stalker – alles zusammen führt zu Todesangst. In einer Tiefgarage sieht Georg Herzog zufällig einen alten Bekannten – aber der ist doch 2004 beim Tsunami in Thailand gestorben? Georg weiß genau, was er gesehen hat und beauftragt die Privatdetektivin Melanie Gramberg nachzuforschen. Melanie kommt dem Vermissten auf die Spur, doch dann verschwindet der unter mysteriösen Umständen und Melanie ist nicht die Einzige, die nach ihm sucht. Unter seinen Verfolgern sind auch ein Unternehmer aus Bayern und eine Gruppe Prepper, die ein Feriendorf im Taunus bewirtschaften. Melanie hat den Verdacht, dass es um etwas viel Größeres als nur einen verschwundenen Urlauber geht, doch die neue Staatsanwältin scheint ihr zu misstrauen, sie sogar zu verdächtigen. Und dann taucht auch noch ein Stalker auf, der Melanie und ihre Familie bedroht! Melanies Ermittlungen werden zu einem Wettlauf mit der Zeit. Der Kriminalroman spielt in Bad Homburg und dem Taunus.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus der Melanie-Gramberg-Reihe sind bisher erschienen:
Taunusgier (2019)
Taunusschuld (2020)
Taunuskinder (2021)
Taunuswahn (2022)
Taunusleid (2024)
Einzelwerke des Autors:
Verfluchtes Taunusblut (2018)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Osvin Nöller, Jakob-Lengfelder Str. 24a, 61352 Bad Homburg.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
© 2025 Osvin Nöller · [email protected]
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: Osvin Nöller, Jakob-Lengfelder Str. 24a, 61352 Bad Homburg, [email protected]
Lektorat: Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de
Satz u. Layout / E-Book: Gabi Schmid · buechermacherei.de
Covergestaltung: smartline werbeagentur · smartline.info
Fotos / Grafiken: Fotostudio Hawlitzki · fotostudio-hawlitzki.de; #976850811, #748733666 | AdobeStock
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg
1. Auflage
Softcover 978-3-384-58939-2
Hardcover 978-3-384-58940-8
E-Book 978-3-384-58941-5
Georg Herzog schüttelte den Kopf. Was für eine vertane Zeit. Er betrat das Parkhaus in den Bad Homburger Louisenarkaden. Die nasskalte Luft kroch unter das Jackett. Sein Blick glitt über die voll besetzten Parkreihen.
Er atmete tief durch. Als Schatzmeister des Kulturvereins Hochtaunus pflegte er einen guten Kontakt zu den Größen des Landkreises, wie beispielsweise dem Kämmerer, den er gerade zum Mittagessen getroffen hatte. So hatte er den Termin wie stets perfekt vorbereitet. Akribisch hatte er die Finanzsituation des Vereins aufbereitet, auch die Mietunterlagen der Vereinsräume. Schließlich galt es, die Granden des Kreises davon zu überzeugen, den jährlichen Zuschuss um wenigstens zehn Prozent zu erhöhen und bei der Suche nach moderneren Räumlichkeiten zu unterstützen. Selbstverständlich hatte er das Thema bei der Terminabsprache mit der Assistentin des Kämmerers genannt, insbesondere die deutlich formulierte Zielsetzung. Genauigkeit und die Ziele unverblümt beim Namen zu nennen, gehörten seit jeher zu Georgs Stärken.
Der Kämmerer hatte sich dennoch überrascht gezeigt und das Essen als normale Kontaktpflege betrachtet. Letztlich entschuldigte er sich im Namen der Mitarbeiterin für das angebliche Versäumnis, die Informationen nicht weitergegeben zu haben. Natürlich verstünde er die Anliegen, könne jedoch wegen der prekären Finanzsituation wenig Hoffnung machen, schon gar keine Zusage aussprechen. Auf die Vermietungslage in den Kommunen habe man ohnehin keinen Einfluss. Die kreiseigenen Objekte kämen nicht in Betracht. Er würde aber gerne die vorbereiteten Unterlagen mitnehmen. Bla, bla, bla.
Angespannte Finanzlage. Georg stieß hörbar den Atem aus, sodass ihn eine entgegenkommende Frau irritiert ansah.
Für jeden Unfug hatte der Kreis Geld. Das alte Krankenhausgelände in Bad Homburg war seit Jahren ungenutzt. Ein Verkauf hätte die Finanzen sicher verbessert, doch scheiterte das immer wieder, weil man sich über die zukünftige Nutzung nicht einig wurde. Er schlug sich vor die Stirn. Zur Krönung hatte sich der Kämmerer mit dem Hinweis auf einen wichtigen Termin verabschiedet und ihn das Mittagessen bezahlen lassen. Georgs Halsschlagader pulsierte beim Gedanken an diese Unverfrorenheit. Er wich zwei Autos aus, die das Parkhaus verließen, und erreichte die Abzweigung der Fahrbahn.
Sein roter Jaguar XJ 12 Sovereign, Baujahr 1989, stand vier Parkplätze weiter. Bei diesem Anblick verflog sein Ärger ein wenig.
Dann stutzte er. Der Mann, der in der nächsten Reihe auf einen älteren VW Passat zuging, kam ihm bekannt vor. Er sah ihn zwar nur im Profil, der wiegende Gang und das Feuermal am Hals erinnerte ihn allerdings an einen ehemaligen Freund.
Er bewegte sich ein paar Schritte in dessen Richtung. „Markus?“, rief er laut.
Der Angesprochene zuckte zusammen, sah kurz auf und schien zu erschrecken. Oder bildete sich Georg das nur ein? In jedem Fall beeilte sich der Ankömmling jetzt, in sein Auto zu steigen. Er startete den Motor und schoss aus der Lücke. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen auf Georg zu. Dieser rettete sich im letzten Moment mit einem Sprung zur Seite.
Mit heftig klopfendem Herzen schaute er stirnrunzelnd hinterher und strich sich über die streichholzkurzen grauen Haare. Er hegte keinen Zweifel und dennoch war es unmöglich: Er hatte Markus Haller gesehen, doch der war seit 2004 tot.
***
Gegen Mittag räumte Melanie Gramberg die Spülmaschine in ihrer Wohnung aus, die in der Bad Homburger Neue Mauerstraße lag. Schon der Blick aus dem Fenster in den tristen Innenhof ließ sie frösteln.
Sie dachte an die recht turbulente und nervenaufreibende Zeit, die hinter ihr lag: die Suche nach der fünfzehnjährigen Leonie, die Melanie aus den Fängen eines Psychopathen befreit und vor drei Wochen zu ihrem leiblichen Vater nach Umbrien gebracht hatte. Dort würde das Mädchen zurück in ein unbeschwertes Leben finden, davon war Melanie überzeugt. Ihr väterlicher Freund, Siegfried Graf zu Biebenau, hatte sie bei der einwöchigen Reise begleitet.
Siggi führte die Gastwirtschaft Zum Silbernen Bein im Nachbarhaus und hatte seinen Teil zum Angriff auf ihr Nervenkostüm beigetragen, wenn auch unfreiwillig. Zum Glück hatte er den Hodenkrebs besiegt. Wenn sie, wie gerade, keinen Auftrag hatte, unterstützte sie ihn in der Wirtschaft, wurde es doch immer schwerer, geeignete Aushilfen zu finden.
Die Beziehung zu Melanies Lebensgefährten Philipp Bauscher hatte sich ausgesprochen positiv entwickelt: Er wohnte nun bei ihr, was sich immer noch ein bisschen fremd anfühlte, obwohl sie die gemeinsame Zeit genoss. Lächelnd stellte sie den letzten Teller in den Schrank und lief zur Wohnungstür. Es galt, die Detektei im Erdgeschoss zu reinigen, keine Arbeit, die sie mochte.
Es klingelte an der Haustür. Würde ein neuer Mandant sie vor der lästigen Hausarbeit retten?
Sie verzog das Gesicht, als das Bild der Kamera am Hauseingang im Display der Gegensprechanlage erschien. Vor der Tür stand ein junger Schornsteinfeger. Sie öffnete die Tür und ging dem Mann im Treppenhaus entgegen.
„Guten Tag, ich komme zur angekündigten Überprüfung der Rauchmelder.“
Melanie runzelte die Stirn. „Welche Ankündigung?“
Er lächelte. „Ich hatte Ihnen die Tage eine Benachrichtigung in den Briefkasten geworfen. Dauert nicht lange.“
Die musste zwischen Werbung und Wochenzeitung verlorengegangen sein. „Kann mich nicht erinnern, aber egal. Wo wollen Sie anfangen?“
„Ganz oben. Haben Sie eine Trittleiter?“
Sie holte die gewünschte Leiter aus der Abstellkammer in ihrer Wohnung und begleitete ihn ins Dachgeschoss-Apartment, in dem Philipps Tochter Emily an den Wochenenden übernachtete. Emily absolvierte ein duales Studium beim Landeskriminalamt in Wiesbaden zur Ausbildung für den gehobenen Polizeidienst.
Der Schornsteinfeger schraubte die vorhandenen Melder auf und unterzog sie anscheinend einer Prüfung. Melanie hatte keine Ahnung, was er da tat.
„So“, verkündete er schließlich. „Dann geht es weiter in den ersten Stock.“
Als der Mann im Wohnzimmer den Rauchmelder abschraubte, klingelte es erneut. Was war denn heute los? Sie eilte zur Gegensprechanlage. Vor der Haustür stand eine Frau mit einem großen Blumenstrauß.
Was war das, bitte? Melanie betätigte den Türöffner.
„Guten Tag, den Strauß soll ich hier für eine Frau Gramberg abgeben.“
„Das bin ich.“ Melanie nahm die in Papier eingewickelten Blumen. Sie zog die Stirn kraus. „Da ist keine Absenderkarte.“
Die Blumenfrau nickte. „Es gab keine. Einen schönen Tag noch.“
Melanie lief nachdenklich in die Küche und hörte den Schornsteinfeger im Schlafzimmer. Sie entfernte das Einschlagpapier und schüttelte den Kopf. Siebenunddreißig rote Baccara-Rosen, für jedes ihrer Lebensjahre eine. Ihr Geburtstag war im August. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Philipp den Verstand verloren?
Sie nahm eine Vase aus dem Wohnzimmerschrank und stellte die Rosen hinein. Anschließend holte sie ihr Smartphone vom Küchentisch und tippte:
Lieber Schatz, ganz herzlichen Dank für die herrlichen Blumen. Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe mich total gefreut. M.
Melanie schickte den Text auf die Reise. Sie war schon an der Küchentür, um nach dem Schornsteinfeger zu sehen, als ihr Handy eine eingehende Nachricht meldete.
Welche Blumen? Ich habe dir keine geschickt. Philipp
***
Celina Berg schob ihr Fahrrad unter die Pergola vor dem Zweifamilienhaus in der Königsteiner Wiesenstraße, in dem sie in der ersten Etage wohnte. Das weißverputzte Gebäude war zweistöckig, zu ihrer Dreizimmerwohnung gehörte ein breiter Balkon mit Holzgeländer. Vor dem Haus gab es eine große Terrasse mit besagter Pergola, an die an der einen Seite eine Garage angebaut war und die im hinteren Teil als Abstellraum genutzt wurde.
Sie war zufrieden. Ihr Jurastudium neigte sich dem Ende zu und sie würde es äußerst erfolgreich abschließen. Noch ein Praktikumssemester, dann die Prüfungen in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres. Sie hatte eine echte Chance auf ein Prädikatsexamen, das ihr alle Möglichkeiten offenhalten würde.
Sie stellte das Rad direkt vor Georg Herzogs Wohnzimmerfenster, wobei sie den sicheren Rüffel des Vermieters einkalkulierte. Er war der Meinung, dass das Rad in den Schuppen im Garten gehörte.
Celina schmunzelte. Georg Herzog war ein Freund ihres Vaters. Ohne die Freundschaft hätte sie wohl kaum diese Wohnung bekommen. Nun gut, sie lag für ein Studium in Frankfurt nicht besonders verkehrsgünstig. Sie musste mit dem Fahrrad zum nahen Bahnhof gelangen. Von dort fuhr sie mit der Regionalbahn und der U-Bahn zur Uni. Insgesamt rund eine Stunde Zeitaufwand. Unterkünfte mit kürzerer Anfahrt waren unerschwinglich, außerdem hatte ihr Erzeuger nun mal mit Herzog dieses Mietverhältnis besprochen.
Herzog war speziell, was bestimmt seinem beruflichen Hintergrund geschuldet war. Er war ebenfalls Jurist und hatte als Innenrevisor in Versicherungen gearbeitet. Vor dem Ruhestand war er Bereichsleiter einer der größten deutschen Versicherungsgesellschaften gewesen. Ein Mann der Prinzipien, denen er alles unterordnete. Korrekt, penibel und sicher anstrengend. Auf der anderen Seite war er zuverlässig, ein Handschlag zählte bei ihm noch etwas. Ihr Vater hatte angedeutet, dass man ihn vor acht Jahren mit einundsechzig in den Vorruhestand verabschiedet hatte, „weil er nicht mehr in die Zeit passte“.
Celina wäre beinahe kurz nach dem Einzug vor dreieinhalb Jahren wieder ausgezogen, weil sie ihm einfach nichts recht machen konnte. Dann hatte sie sich entschieden, die Situation als Herausforderung anzunehmen und das Verhältnis zu ihm quasi als studienbegleitenden Praxistest für den Umgang mit schwierigen Menschen anzusehen. Es war ihr sogar gelungen, kleine Verhaltensänderungen bei ihrem Vermieter zu bewirken. Seither hatte sich das Zusammenleben deutlich entspannt, auch wenn sie sich immer mal wieder aneinander rieben.
Ein satter Motorklang kam näher. Sie mochte den Jaguar, der gerade in die Garage fuhr.
Einige Sekunden später kam Herzog auf sie zu. Wie immer sah er wie aus dem Ei gepellt aus. Wer außer ihm trug bei diesem Schmuddelwetter nur ein Jackett und keinen Mantel? Er sah auf den Boden. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er war blass.
„Hallo Georg, ist etwas passiert? Geht es Ihnen nicht gut?“
Er erschrak und blieb vor ihr stehen. Anscheinend hatte er sie erst jetzt wahrgenommen. „Guten Tag, Celina.“ Er stutzte. „Was haben Sie schon wieder mit Ihren Haaren gemacht?“
Sie grinste. „Ich war vorhin beim Friseur. Die lila Farbe hat mich genervt. Rosa ist im Winter viel schöner.“ Sie fuhr sich durch die schulterlangen Locken.
Georg zeigte überraschenderweise keine weitere Reaktion, sondern starrte nur vor sich hin.
„Sagen Sie schon“, versuchte sie es erneut, „sind Sie einem Geist begegnet?“
Er riss die Augen auf. „Woher wissen Sie das?“ Schnell berichtete er von seiner Begegnung mit dem totgeglaubten Bekannten. „Er war 2004 zur Zeit des Tsunamis in Thailand und ist dabei umgekommen. Die Behörden fanden seine Papiere, sodass er ein gutes Jahr später offiziell für tot erklärt wurde. Ich kenne ihn aus meiner Zeit in Berlin. Dort hat er auch seine Frau kennengelernt und geheiratet. Sie stammt ursprünglich aus Rostock-Warnemünde, wohin sie nach seinem Tod auch wieder gezogen ist.“ Er schwieg einen Moment gedankenversunken. „Er konnte übrigens unglaublich gut malen.“ Erneut eine kurze Pause. „Ich bin dann nach Frankfurt gegangen.“
Celinas Gedanken fuhren Karussell. „Und Sie sind sicher, dass es dieser Markus war? Kann es nicht einfach jemand gewesen sein, der ihm ähnlich sah? Sie haben ihn ja schon ewig nicht mehr gesehen.“
„Er war es, kein Zweifel“, erwiderte er ruhig, ohne aufzusehen. „Sein Pinguingang und das Feuermal am Hals sind in dieser Kombination sicher einmalig. Außerdem stimmte auch sonst alles: Er trägt das Haar noch genauso wirr wie damals. Und er hat sofort reagiert, als ich ihn gerufen habe.“
Celina überlegte. Sie wollte ihm glauben, obwohl sie ein wenig skeptisch war. „Was haben Sie jetzt vor?“
„Ich weiß nicht.“ Eine solche Antwort passte wirklich nicht zu ihm. „Das Einzige, was ich habe, ist das Kennzeichen seines Autos.“
„Na, das ist doch ein Anfang. Her damit. Man kann beim Bundeskraftfahrtamt bei berechtigtem Interesse eine Halterabfrage machen. Dann haben wir einen Namen und können weitersehen.“ Sie bemerkte das wir und ihre stetig wachsende Neugier an dieser skurrilen Story.
„Welches berechtigte Interesse soll ich haben?“
„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Mir fällt was ein.“ Sie rechnete mit einer sofortigen Diskussion über Lügen und moralisches Verhalten. Ihr war klar, dass er recht hatte, denn sie würde eine Geschichte erfinden müssen. Zu ihrer grenzenlosen Verwunderung gab er kein Widerwort, stattdessen holte er einen Zettel aus der Jacketttasche und gab ihn ihr.
Sein Blick wanderte zu ihrem Rad. Er ging zum Hauseingang. Dort drehte er sich um und lächelte. „Danke. Übrigens, das Fahrrad gehört in den Schuppen.“
***
Im Silbernen Bein kurz vor 17 Uhr.
„Und, wer hat dir jetzt die Rosen geschickt?“ Siggi sah Melanie erwartungsvoll an.
Sie lehnte sich gegen die Bar. Ihr fiel erneut auf, wie viel ihr väterlicher Freund durch seine Krankheit abgenommen hatte. Das hagere Gesicht mit der breiten Nase wurde zwar durch den schlohweißen Vollbart und die gleichfarbigen wallenden Haare ein wenig kaschiert, die Kleidung hätte allerdings sicher eine Größe kleiner sein können. Dennoch war er ein stattlicher Mann und hatte etwas von einem Grand Seigneur.
„Wenn ich das wüsste. Philipp war es angeblich nicht. Wer sollte mir sonst rote Rosen schenken? Noch dazu ohne Absender. Ich hatte später drei merkwürdige Anrufe mit unterdrückter Nummer. Es meldete sich niemand, obwohl die Verbindung zustande kam. Es war nur Atmen in der Leitung zu hören.“
Siggi kraulte sich den Bart. „Nicht, dass du dir einen Stalker angelacht hast. Behalte mal deine Umgebung ein bisschen im Auge.“
Sie nickte. „Hat dich der Schornsteinfeger eigentlich aus dem Bett geklingelt?“
Er hob die Augenbrauen. „Welcher Schornsteinfeger?“
Sie erzählte von der Rauchmelder-Prüfung am Morgen. „Wahrscheinlich hast du noch so fest geschlafen, dass du das Klingeln nicht gehört hast“, schloss sie ihre Ausführungen.
„Das kann nicht sein“, widersprach er. „Ich bin seit 7 Uhr wach, war auf dem Großmarkt und habe dann im Büro gesessen, um die Buchhaltung vorzubereiten. Da hätte ich gehört, wenn jemand an der Tür geklingelt hätte. Wer weiß, was für einen Tourplan der Mensch hat.“
Melanie rümpfte die Nase. Das gefiel ihr nicht. Erst der Typ, der sich angeblich angemeldet hatte und anscheinend nur bei ihr gewesen war. Nun die anonymen Blumen und die Anrufe.
Sie richtete sich auf und versuchte, ihrer Stimme Unbekümmertheit zu geben. „Mein Lieber, wir müssen aufschließen. Die Arbeit ruft.“ Sie eilte durch die Gastwirtschaft zum Eingang.
Im Polizeipräsidium Bad Homburg band sich Kriminalhauptkommissar Martin Schubert kurz vor 9 Uhr die schulterlangen schwarzen Haare zu einem Zopf. Ihm war klar, dass sein ausgesprochen legeres Äußeres nicht zu einem vierundvierzigjährigen Teamleiter der Kriminalpolizei passte. Er trug regelmäßig Jeans und T-Shirts, dazu Sportschuhe oder knöchelhohe Cowboystiefel. Sein rechtes Handgelenk zierten seit einigen Monaten Freundschaftsbänder.
Obwohl sich niemand an seiner Erscheinung störte, ordnete er für seinen Termin beim Leiter der Polizeidirektion, Kriminaldirektor Sebastian Wolrich, zumindest den Haarschopf. Auch, weil sich dieser bezüglich des Themas bedeckt gehalten hatte. Er wolle ihm jemanden vorstellen, hatte Sebastian nur gesagt.
„Guten Morgen, Martin“, begrüßte ihn der Chef. Er erwiderte den Gruß.
Sebastian erhob sich hinter dem Schreibtisch und gab ihm die Hand. Mit seinen knapp eins achtzig war er deutlich größer als Martin, außerdem um einiges korpulenter. Wie gewohnt trug er Anzug und Krawatte, beides kannte Martin seit Jahren. Gefühlt besaß der Chef nur drei Büroanzüge und vielleicht fünf Schlipse. Das Ganze wurde ergänzt durch Schuhe mit leichten Gebrauchsspuren. Er verkörperte das Klischee des unscheinbaren Beamten.
Martin und die Kollegen hegten den Verdacht, dass dieses Erscheinungsbild beabsichtigt war, um unterschätzt zu werden. Das wäre jedoch ein schwerer Fehler. Basti, wie Martin ihn nannte, hatte einen messerscharfen Verstand und ausgeprägtes analytisches Denkvermögen. Besonders angenehm war sein teamorientierter Führungsstil, der seinen Mitarbeitern die notwendigen Freiräume gewährte.
„Was gibt es so Dringendes?“, erkundigte sich Martin. „Du hast ja ein schönes Geheimnis aus dem Termin gemacht.“
Basti schmunzelte. „Setz dich erst einmal.“
Er folgte der Aufforderung. „Du machst es ja spannend.“
„Ist es auch.“ Der Chef räusperte sich, als suche er die richtigen Worte. „Also, es ist so“, begann er schließlich, „Oberstaatsanwalt Sailer hat mir gestern Abend mitgeteilt, dass er kurzfristig nach Nürnberg wechseln wird, um dort die Stelle des Generalstaatsanwalts anzutreten.“
Martin atmete tief durch. Das war eine unerfreuliche und überraschende Mitteilung. Sailer hatte sich mit seiner Kompetenz und Geradlinigkeit eine hervorragende Reputation bei der Kollegschaft erarbeitet. Hinzu kamen seine Fairness und eine gewisse Lockerheit.
„Puh, das ist ja ein Hammer am Morgen. Wann haut er ab?“
„Am 30. Er zieht sich aber schon zurück, um seiner Nachfolgerin die Chance zu geben, sich schnell einzuarbeiten.“
„Ganz schönes Tempo. Kennen wir die Dame?“
Basti schüttelte den Kopf. „Sie kommt aus Kassel. Eine Dr. Jennifer Dohl. Sailer hat sie mir gestern kurz vorgestellt.“
„Und, wie ist sie? Kann man mit ihr arbeiten?“
„Mach dir selbst ein Bild. Sie wird gleich hier sein.“
Daher wehte der Wind. Es hatte keine Bedeutung, dass der Chef seine Meinung verschwieg. Das passte zu ihm. Dennoch spürte Martin ein leichtes Magengrummeln.
Es klopfte und eine Frau um die vierzig in einem roten Kostüm, schwarzer Bluse und mit hochhackigen Schuhen betrat den Raum. Sie war vollschlank und der aufgetragene Lippenstift harmonierte mit der Kleidung. Ihr volles Haar war pechschwarz und kurz geschnitten.
Basti sprang auf. „Guten Morgen, Dr. Dohl, schön, dass Sie sich die Zeit nehmen. Darf ich Ihnen Kriminalhauptkommissar Schubert vorstellen. Er leitet die Mordkommission.“
Die Staatsanwältin kam auf Martin zu. Er hielt dem langen Musterungsblick stand, schaffte es sogar, ein Lächeln hervorzubringen, und streckte ihr die Hand entgegen. „Guten Morgen, sehr erfreut.“
Der Gesichtsausdruck der Dohl war undurchsichtig. „Guten Tag“, sagte sie endlich, ohne auf die Geste einzugehen. Sie wandte sich stattdessen Basti zu und reichte ihm die Hand. „Guten Morgen, Herr Wolrich.“
Martin setzte sich und gab sich Mühe, seine Körpersprache so neutral wie möglich zu halten, obwohl es ihm schwerfiel.
Dr. Dohl und Basti nahmen ebenfalls Platz. Sie sah Martin an. „Woran arbeiten Sie derzeit?“
„Wir haben keinen konkreten Fall und arbeiten die in den letzten Wochen liegengebliebenen Papiere auf. Falls nichts hereinkommt, werden wir ungeklärte Fälle überprüfen.“
Die Staatsanwältin nickte. „Wie groß ist Ihr Team?“
„Wir sind zu viert. Kriminaloberkommissar Kimmerle und zwei jüngere Kolleginnen, beide im Rang einer Kommissarin.“
Ihre Miene blieb undurchsichtig. „Herr Sailer hat von Ihrer Erfolgsquote und Ihrer Arbeitsweise geschwärmt.“
„Das freut mich“, entgegnete er unverbindlich.
„Okay.“ Sie erhob sich. „Ich möchte über hereinkommende Fälle sofort informiert werden. Und sofort heißt sofort. Ich entscheide dann, wann ich dazu komme. Ich erwarte bei einer Ermittlung jeden Tag einen schriftlichen Bericht.“
Sie schaute Basti an. „Sie können mich jederzeit auf meinem Diensthandy anrufen, wenn Sie Unterstützung benötigen. Vielen Dank, die Herren.“ Ohne einen Gruß eilte die Staatsanwältin aus dem Raum.
Martin verzog das Gesicht. „Was bitte war das jetzt? Die hat sie wohl nicht alle. Das kann ja heiter werden.“
Basti lachte. „Tja, ich befürchte, wir werden Sailer bald nachtrauern. Ich habe in Kassel mal recherchiert. Sie wurde dort die „karrieregeile Puffotter“ genannt.“
***
Am späten Vormittag verschloss Georg Herzog seinen Jaguar im Bad Homburger Stadtteil Ober-Eschbach nahe der katholischen Kirche. Er knöpfte den Trenchcoat zu.
Er war zum ersten Mal hier, hatte sich die Adresse in Google-Maps genau angesehen und von der App auf dem Smartphone herführen lassen. Sein Ziel war eine Abzweigung von der Straße An der Leimenkaut, die in einem Knick abging. Hier sollte der vermeintlich tote Markus Haller unter dem Namen Kai Gringer leben, hatte Celina herausgefunden.
Sein Schritt wurde immer langsamer, je näher er dem Haus kam, das links an einem Wendehammer lag. Die eigentliche Straße verlief geradeaus.
Es handelte sich um eine zweistöckige Doppelhaushälfte, die zartrosa gestrichen war. Zwei Stufen führten zur Eingangstür, die von einem Vordach geschützt wurde.
Was würde ihn erwarten? War der Mann vom Parkplatz wirklich sein alter Freund? Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und versuchte, die Atmung zu kontrollieren. Ein dunkelblauer Mercedes der S-Klasse mit Münchner Kennzeichen parkte auf dem Hauptweg einige Meter entfernt. Getönte Fenster verhinderten den Blick ins Wageninnere. Georg stoppte und zog die Augenbrauen hoch. Vor der Haustür stand jetzt ein bulliger Kerl mit rasiertem Schädel, mit dem man sich am besten gut stellte. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, die schwarzen Schnürschuhe glänzten. Der Kerl schien Georg mit dem Blick zu fixieren, der seinen Gang fortsetzte, um zunächst zum Nachbarhaus zu gehen.
In diesem Moment verließ ein Mann das Gebäude, den Georg ein wenig älter als sich selbst schätzte. Auch dieser hatte einen Anzug an, der jedoch deutlich edler als der des Kleiderschranks wirkte. Seine kurzgeschnittenen grauen Haare waren akkurat gekämmt. Die Brille mit den großen Gläsern und der buschige Oberlippenbart passten perfekt zu seinem runden Gesicht.
Er sprach zu dem Glatzkopf, der auf Georg zeigte und etwas entgegnete.
Der Herr lächelte und kam auf Georg zu. „Hallo, guten Tag, darf ich Sie bitte einmal kurz stören?“
Georg blieb stehen und runzelte die Stirn.
„Sind Sie von hier?“
„Wie man es nimmt. Ich komme aus der Gegend. Warum?“
„Wissen Sie zufällig, wo sich Herr Gringer befindet?“
Georg hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Der Vogel schien anzunehmen, dass sich hier alle kannten und die Terminpläne offen im Ort austauschten. „Wie kommen Sie darauf, dass ich das wissen könnte? Ist er denn nicht daheim? Sie sind doch gerade aus seinem Haus gekommen.“
Eine leichte Röte überzog das Gesicht des Mannes. „Ich dachte nur, weil mein Fahrer das Gefühl hatte, Sie seien auf dem Weg zu ihm.“ Anscheinend wurde ihm bewusst, dass diese Erklärung nicht ausreichte. „Die Haustür war nicht abgeschlossen. Ich vermutete, Herr Gringer hätte die Klingel nicht gehört. Da habe ich nachgesehen.“
Der Mann log erbärmlich schlecht, wodurch diese ganze Sache immer interessanter wurde. Georg zuckte mit den Schultern. „Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“ Er machte Anstalten, weiterzugehen.
„Ist auch nicht so wichtig“, beeilte sich der mysteriöse Besucher zu behaupten. „Er wird bestimmt bald auftauchen. War mir ein Vergnügen, Herr …?“
„Ihnen auch einen schönen Tag.“ Georg drehte sich um und lief zum Hauptweg und an der Limousine vorbei. Am Ende einer Hecke führte ein Fußweg zum nahegelegenen Feldrand. Er blieb kurz stehen und sah sich um. Die beiden eilten zu dem Münchner Mercedes. Der Glatzkopf hielt dem Älteren die hintere Tür auf und stieg auf der Fahrerseite ein. Das Fahrzeug fuhr weg.
Georg merkte sich die Nummer. Er grinste und schlenderte zur Haushälfte zurück. Die Haustür hatte einen normalen Türknauf, sodass sie sich ohne Schlüssel nicht öffnen ließ, selbst, wenn nicht abgeschlossen war. Adrenalin durchströmte den Körper, er sah sich um. Vielleicht war der Bewohner doch daheim und diese Besucher hatten ihn …
Jetzt hör bitte auf, tadelte er sich. Du siehst zu viele Kriminalfilme.
Die Straße lag verwaist vor ihm. Vorsichtig umrundete er das Haus und sah in die Fenster. Es wirkte unaufgeräumt. Er atmete tief aus, als im Erdgeschoss niemand zu sehen war. Sofort kam das mulmige Gefühl zurück. Es gab schließlich eine weitere Etage. Quatsch, warum sollten die Männer ihn auf sich aufmerksam gemacht haben, falls sie Markus was angetan hätten?
„Gude Morsche, was machste da?“ Eine rundliche Frau stand unweit des Eingangs und schaute ihn ernst an. Der hessische Akzent passte irgendwie zu ihr.
„Guten Morgen“, erwiderte er automatisch. „Ich wollte zu Herrn … Gringer. Der scheint aber nicht da zu sein.“
Sie wechselte ins Hochdeutsche, was gestelzt klang. „Na, der hat ja heute viele Fans. Erst die beiden Gelackten mit der Bonzenkarre und nun Sie. Kai ist nicht da. Ist gestern am Morgen verreist. Hat er sich verdient. Der ist ja jetzt berühmt.“ Sie sah ihn verschmitzt an.
„Wieso berühmt?“
„Na, der hat doch einen Künstlerpreis gewonnen. Der Taunusblick hat darüber berichtet. Mit großem Bild.“
Ihn überlief ein warmer Schauer. Dieser Gringer war ein Künstler. Wie Markus. „Ach, das ist an mir vorbeigegangen. Wann war denn das?“ Er verließ das Grundstück und stellte sich neben die Frau.
„Vorletztes Wochenende bei einer Ausstellung in einem Frankfurter Kunstmuseum. Am Mittwoch kam dann der Artikel.“
„Im Taunusblick?“, erkundigte er sich zur Sicherheit.
„Das sag ich doch. Was wollen Sie denn von ihm?“
Er schaute auf seine Armbanduhr. „Nichts Wichtiges. Wollte nur auf einen Sprung vorbeikommen. Muss dann auch. Hat mich gefreut. Einen schönen Tag noch.“ Er drehte sich um und eilte davon.
„Soll ich Kai etwas ausrichten, wenn ich ihn sehe?“, rief sie ihm hinterher.
Georg hob die Hand. „Nicht nötig, ich rufe ihn an.“ Er überlegte kurz. „Wissen Sie was, ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Rufen Sie mich bitte an, wenn er zurück ist. Verraten Sie ihm aber nichts. Ich will ihn überraschen.“
***
Melanie saß am Nachmittag missmutig in ihrem Arbeitszimmer und bezahlte liegengebliebene Rechnungen. Sie hatte sich endlich dazu aufgerafft, einen Stapel erledigter Papiere abzuheften.
Sie schaute aus dem Fenster. Es schneite. Nicht stark, es waren jedoch unbestritten Schneeflocken. Und das schon im November. Seitdem sie das Büro, genauso wie das ganze Haus, vor einem Jahr vollständig renoviert und neu möbliert hatte, war sie endgültig in Bad Homburg angekommen. Lächelnd strich sie über den wuchtigen Schreibtisch des Großvaters. Das dunkle Möbelstück hatte den Umbau überlebt und war ein echter Hingucker in den hell eingerichteten Räumen. Sie dachte kaum noch an Hamburg, das sie vor mehr als zwei Jahren verlassen hatte, um im Taunus zu wohnen. Hamburg, eine Stadt, in der sie bis dahin ihr gesamtes Leben verbracht hatte, das viele schöne Erinnerungen, allerdings ebenfalls schmerzliche Spuren hinterlassen hatte. Vor allem der Tod ihres damaligen Lebensgefährten Erik, der neben ihr im Einsatz beim Hamburger Landeskriminalamt gestorben war.
Lange hatte sie sich dafür die Schuld gegeben, was zu ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst geführt hatte. Das war jetzt vorbei. Sie lebte mit Philipp zusammen, einem IT-Manager, der Projekte auf der ganzen Welt leitete, aber im Moment in Darmstadt tätig war. So kam er regelmäßig heim. „Nach Hause“, wie das klang. Sie schmunzelte.
Der Umstand, dass ihre Schwester Anja ebenfalls in den Taunus gezogen war, und mit dem Kriminalbeamten Sandro Kimmerle ihr Glück gefunden hatte, rundete Melanies Zufriedenheit ab. Nicht zuletzt, weil die beiden seit vergangenem April eine kleine Ida hatten, die ein echter Sonnenschein war.
Ihr Telefon klingelte. Sie grinste. „Hallo Emily, was macht die Verbrecherjagd?“
Philipps Tochter lachte. „Hi, Mel. Hör mal, ich bin noch nicht einmal drei Monate bei der Polizei. Bisher gab es nur Theorie, dann wieder Theorie und nochmals Theorie. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Dienstvorschriften und Paragrafen. Ab 1. Dezember soll ich aber in den Außeneinsatz kommen.“
Seit Emily in Wiesbaden ein Zimmer gemietet hatte, tauchte sie hier nur sporadisch auf.
Melanie war nach wie vor wenig begeistert von Emilys Berufswahl, obwohl sie zugeben musste, dass die Polizeiarbeit zu dem Mädchen passte. Hatte diese sie doch in der Vergangenheit schon einige Male bei der Detektivarbeit unterstützt.
Melanie schmunzelte. „Erst kommen die Grundlagen, dann die Praxis. So ist das nun mal.“
„Ja, ja. Wie läuft es bei dir und Papa?“
„Gut. Wir gewöhnen uns aneinander. Hier ist alles fein.“
„Was macht die Arbeit?“
„Im Moment nichts. Hab keinen Auftrag. Ist aber nicht schlimm. Ich unterstütze Siggi im Silbernen Bein.“
„Dann hast du auch Zeit für deine sportlichen Aktivitäten. Ich habe jetzt übrigens neben dem Kickboxen mit Karate begonnen.“
Melanie schüttelte den Kopf. Sport gehörte für sie zur Grundvoraussetzung für ein glückliches Leben. So oft es ihr möglich war, absolvierte sie ein ausgedehntes Programm, das aus Joggen, Schwimmen und Kraftsport bestand. Außerdem arbeitete sie ehrenamtlich als Kickboxtrainerin. Neben dem schwarzen Gürtel in dieser Sportart besaß sie weitere in Karate und Judo. Emily schien ihr immer mehr nachzueifern.
„Mach das“, bestärkte sie Emily, „übertreibe es aber nicht.“
Das Mädchen lachte. „Keine Sorge. Sag mal, was habt ihr am Wochenende vor? Ich wollte nach Bad Homburg kommen.“
„Nichts Besonderes. Das Wetter ist ja kaum dafür geeignet, größere Aktivitäten zu planen.“
„Prima. Dann sehen wir uns morgen. Ich will mit einer Freundin ins Kino.“
Nach ein paar weiteren belanglosen Worten verabschiedeten sie sich voneinander.
Melanie schaute auf die Uhr. Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken. Das Handy klingelte erneut. Eine unbekannte Nummer.
„Detektei Gramberg. Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
Es dauerte einige Sekunden, bis sich eine Stimme meldete, die auf einen älteren Mann schließen ließ. „Herzog. Guten Tag, Frau Gramberg. Ich rufe aus Königstein an und brauche Ihre Hilfe.“
Sie öffnete automatisch den Schreibblock, der neben ihr lag und nahm einen Kugelschreiber. „Um was geht es?“
Wieder ein Zögern. „Um eine delikate Angelegenheit, die ich aber nicht am Telefon besprechen möchte. Können Sie mir einen Vertragsentwurf und Ihre Honorartabelle zumailen?“
Sie runzelte die Stirn. Was war das denn? Erlaubte sich da jemand einen Scherz mit ihr?
„Hören Sie“, antwortete sie bestimmter. „Normalerweise führe ich ein Gespräch mit meinen Mandanten über ihr Anliegen. Man beschnuppert sich und wenn beide Seiten glauben, dass die Zusammenarbeit klappen wird, redet man über das Vertragliche. Ohne zu wissen, um was es geht und wer Sie sind, möchte ich keine Unterlagen zur Verfügung stellen.“
Es vergingen erneut ein paar Sekunden. „Entschuldigen Sie bitte“, kam es aus der Leitung. „Es lag mir fern, Sie zu überrumpeln. Mein Fall ist wirklich bizarr. Sie sollen etwas herausfinden über einen Mann, der seit 2004 tot ist und dem ich am Mittwoch begegnet bin.“
Langsam vermutete sie einen Fakeanruf. Allerdings passten die ruhige dunkle Stimme und die Sprache des Anrufers nicht so recht zu dieser Annahme.
„Das klingt in der Tat speziell“, gab sie zu. „Also, wollen wir einen Termin machen?“
„Sehr gerne. Wie wäre es in einer Stunde in Ihrem Büro?“
Sie war nun perplex und wurde neugierig. „Sie vergeuden ja keine Zeit. Also gut, um 17 Uhr bei mir. Sie kennen die Adresse?“
„Ja, vielen Dank. Ich werde pünktlich sein.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde die Leitung unterbrochen.
Sie starrte auf ihr Handy. Auf den Vogel war sie gespannt.
Nachdenklich stand sie auf, um in der Küche endlich einen Kaffee zu holen. Ihr Telefon meldete sich mit einer eingehenden Nachricht. Philipps Telefonnummer wurde angezeigt.
Haben dir meine Rosen gefallen? Ich hoffe, sie bleiben lange frisch. Das ist der Anfang. Ich werde dich ab jetzt verwöhnen. Du gehörst mir.
Am Ende des Textes war das Emoji eines kleinen Teufels abgebildet.
Über ihre Arme schienen tausende Ameisen zu wuseln. Was war das? Es war eindeutig die Nummer ihres Freundes, aber diese Mitteilung stammte nie und nimmer von ihm. Das passte gar nicht. Ihr fiel der Rosenstrauß ein, der am Mittwoch gekommen war. Philipp hatte abgestritten, ihn geschickt zu haben, und sie glaubte ihm.
Ihr war natürlich klar, dass man mit ein wenig Informatikkenntnissen falsche Telefonnummern als Absender anzeigen lassen konnte. Das nutzten Betrüger, indem sie unter dem angeblichen Anschluss des Notrufs anriefen und sich als Polizisten ausgaben. Irgendwie beschlich Melanie das Gefühl, dass ihr nachgestellt wurde. Wer mochte das sein?
Sie würde es herausfinden.
***
Georg Herzog stand in Bad Homburg vor dem Doppelhaus in der Neue Mauerstraße. Im rechten Teil befand sich eine Gaststätte mit dem merkwürdigen Namen Zum Silbernen Bein. Natürlich wusste er, dass der vermutlich an die Geschichte von Landgraf Friedrich II. erinnerte, der bei einer Schlacht sein Bein verloren hatte. Dieses hatte er durch eine Beinprothese mit silbernen Scharnieren ersetzt. Georg hatte die Prothese bei einer Besichtigung des Landgrafenschlosses gesehen. Er betrat den Innenhof des linken Gebäudeteils, in dem die Detektei ihre Räumlichkeiten hatte. Um Punkt 17 Uhr klingelte er.
Nach einem kurzen Kontakt über die Gegensprechanlage surrte der Türöffner.
In der Tür der Detektei erwartete ihn eine sportliche Mittdreißigerin mit einem schwarzen Bubikopf. Sie trug Jeans und einen dünnen blaugemusterten Pullover. Dazu Sneakers. Das musste die Privatdetektivin sein. Er hatte sie sich älter vorgestellt.
„Guten Tag, Herr Herzog, kommen Sie rein.“ Sie ließ ihn an sich vorbei ins Büro treten und bedeutete ihm, in ein Besprechungszimmer zu gehen. Sie bot Getränke an, die er höflich ablehnte, worauf sie sich an einen runden Tisch setzten. Sie öffnete einen Schreibblock und schaute ihn interessiert an. „Sie haben also ein Gespenst gesehen, wenn ich Sie am Telefon richtig verstanden habe.“
„So ungefähr“, murmelte er und sah sich um. Der Raum war hell und modern eingerichtet. „Bevor ich mein Anliegen vortrage, benötige ich Informationen von Ihnen.“
Sie hob die Augenbrauen, machte aber eine einladende Handbewegung.
„Seit wann sind Sie Privatdetektivin?“
Celina hatte ihn auf die Gramberg aufmerksam gemacht. Seine Mieterin hatte wohl mitbekommen, dass sie vor Kurzem ein junges Mädchen aus den Fängen eines Perversen gerettet hatte. Daraufhin hatte er recherchiert und weitere Ermittlungserfolge gefunden, bei deren Aufklärung sie eine entscheidende Rolle hatte.
Falls sie über seine Frage überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. „Seit knapp drei Jahren. Wieso wollen Sie das wissen?“
„Ich möchte mir ein Bild machen. Schließlich muss ich Ihnen vertrauen können und zahle auch sicher einiges.“
***
Melanie runzelte die Stirn. Was war das denn für ein merkwürdiger Vogel. Er trug einen dunklen Anzug mit einer Krawatte, die irgendwann einmal modern gewesen war. Er war ungefähr so groß wie sie selbst, demnach um die eins fünfundsiebzig, und schlank. Sein grauer Bürstenhaarschnitt und das kantige Gesicht erinnerten an einen Soldaten. Beinahe war sie versucht, das Gespräch abzubrechen. Vermutlich würde es bei der Zusammenarbeit Probleme geben. Nur die Neugier ließ sie entspannt bleiben.
„Nun gut.“ Sie gab der Antwort einen möglichst gleichgültigen Tonfall.
„Was haben Sie vorher gemacht?“, führte er das Verhör fort.
„Ich war beim Landeskriminalamt Hamburg, zuletzt als Teamleiterin beim Mobilen Einsatzkommando.“
„Mit welchem Dienstgrad sind Sie ausgeschieden und warum haben Sie das Landeskriminalamt verlassen?“
Melanie atmete hörbar durch. Er sollte das ruhig mitbekommen. „Ich war Kriminalhauptkommissarin und mein Austrittsgrund geht Sie nichts an“, erklärte sie härter als beabsichtigt.
„Wurden Sie entlassen?“
Jetzt war eine rote Linie überschritten. „Hören Sie, ich weiß nicht, was das alles soll. Nein, ich habe gekündigt. Ich habe auch keine Lust mehr, Ihre Inquisition zu ertragen. Entweder Sie sagen mir jetzt, womit Sie mich beauftragen wollen, oder Sie suchen sich eine andere Detektei.“
Er starrte sie verdattert an. Schließlich versuchte er es mit einem Lächeln.
„Entschuldigen Sie bitte, Frau Gramberg. Ich bin manchmal ein wenig pedantisch, obwohl ich mir Mühe gebe, dies nicht zu sehr zu zeigen.“
Na, das gelingt dir ja prima, fuhr es Melanie durch den Kopf. Selbsterkenntnis sollte allerdings der erste Schritt zur Besserung sein.
„Okay“, lenkte sie ein, „dann erzählen Sie mal.“
„Ich hatte vor vielen Jahren einen guten Bekannten namens Markus Haller. Man könnte unser Verhältnis als lose Freundschaft bezeichnen. Zumindest in der ersten Zeit. Kennengelernt haben wir uns Anfang der 1990er-Jahre, als wir beide in Berlin gewohnt haben. Er war Journalist und ein begnadeter Maler. Ich war damals bei einer Versicherung. Unser Kontakt war regelmäßig, aber nicht besonders intensiv. Als er geheiratet hat, wurde der Abstand größer. Seine Ehefrau Dagmar und ich konnten nicht so gut miteinander. Dann kam der Dezember 2004. Markus war in Thailand. Allein. Warum Dagmar daheimgeblieben war, kann ich nicht mehr sagen. Am 26. Dezember tobte dort der verheerende Tsunami und Markus galt als verschollen. Man fand nur seine Ausweispapiere und seine Geldbörse. Schließlich wurde er Anfang 2006 für tot erklärt.“ Er hielt inne, als suche er nach Worten. „Am Mittwoch habe ich ihn in Bad Homburg im Parkhaus in den Louisenarkaden gesehen. Er wohnt im Stadtteil Ober-Eschbach unter dem Namen Kai Gringer.“ Er schob ihr einen Zettel mit der Adresse über den Tisch.
Sie betrachtete diesen nachdenklich. „Was macht Sie so sicher, dass es Ihr Bekannter war?“
„Der Mann hatte den gleichen schiefen Gang wie Markus. Außerdem hatte er ein Feuermal an derselben Stelle wie er.“
Das klang tatsächlich interessant, musste jedoch nichts bedeuten. „Wie haben Sie herausgefunden, dass der Mann Gringer heißt?“
„Über das Autokennzeichen. Meine Mieterin hat den Namen ermittelt. Keine Ahnung, wie sie das angestellt hat.“
Aha, scheint eine pfiffige Frau zu sein, dachte sie. „Okay, gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“
„Ja, in der Tat.“ Er erzählte von seinem Besuch in Ober-Eschbach.
Das hörte sich mysteriös an. Ihre Notizblockseite war bereits gut gefüllt. So langsam fand sie die Geschichte spannend.
„Sie wissen aber nicht, um wen es sich bei dem Mann handelt, der aus dem Haus kam, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nur das Kennzeichen seines Wagens. Es war ein dunkelblauer Mercedes der S-Klasse mit Münchner Nummer.“ Erneut schob er einen Zettel über den Tisch.
Melanie nahm ihn entgegen und legte ihn zu der Adresse.
„Können Sie mir etwas zu der Ehefrau sagen?“
„Nicht viel. Ich hatte seit damals keinen Kontakt zu ihr. Sie heißt Dagmar Brecht und lebt angeblich in Rostock-Warnemünde.“
Sie schrieb sich das auf. „Ich nehme den Auftrag an“, teilte sie ihm mit. „Dann lassen Sie uns zur vertraglichen Vereinbarung kommen.“ Sie nannte ihm ihre Konditionen, die er ohne Diskussion akzeptierte. „Augenblick, bitte.“ Sie stand auf und ging in ihr Büro, wo sie Vertragsformulare aus dem Schreibtisch holte. Kurz darauf hatte sie einen unterschriebenen Auftrag.
„Wie wollen Sie vorgehen?“, erkundigte er sich.
„Zunächst werde ich herausfinden, wer der Mann in dem Mercedes ist. Dann gilt es zu recherchieren, ob es vor 2004 einen echten Kai Gringer gab. Möglicherweise hat Ihr Bekannter dessen Identität angenommen.“
Herzog runzelte die Stirn. „Wie soll das gehen?“
Melanie zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen“, sagte sie unbestimmt.
***
Markus Haller drehte den USB-Stick zwischen den Fingern. Seine heile Welt der vergangenen Jahre war aus den Fugen geraten.
Seine Nachbarin hatte ihn informiert, dass er in Ober-Eschbach gesucht wurde. Das hatte seine Probleme vergrößert. Er spürte, wie sein Körper rebellierte beim Gedanken, das unscheinbare Hotelzimmer in Frankfurt zu verlassen.
Warum hatte er sich bloß auf die Teilnahme an diesem Wettbewerb eingelassen? Er hätte nie damit gerechnet, zu gewinnen und sich mit Foto auf der Titelseite des Taunusblicks wiederzufinden. Jetzt hatte ihn anscheinend nicht nur Bernhard Unger entdeckt, zu allem Überfluss war er Georg Herzog begegnet. Markus war sofort klar gewesen, dass er ihn erkannt hatte. So wie er Georg in Erinnerung hatte, würde er nicht lockerlassen und womöglich Dagmar informieren. Er konnte sich den Schreck vorstellen, wenn sie erfuhr, dass ihr totgeglaubter Gatte unter den Lebenden weilte.
Der Stick in seiner Hand war gefährlich, seine Existenz allein würde zwar nicht zu einer Strafverfolgung führen, dafür ihn möglicherweise in Lebensgefahr bringen. Er hatte keine Ahnung, wie viel diese Verbrecher wussten. Doch ihm war klar, dass sie ihn entlarvt hatten. Natürlich konnte er die Informationen an die Medien geben. Damit würde er jedoch riskieren, dass die Schweine ungestraft davonkamen und außerdem einem Menschen in die Parade fahren, der gerade sein Leben riskierte.
Egal, wie er es drehte und wendete, er musste ein zweites Mal verschwinden. Das Schwierige dabei war allerdings, dass er wieder eine neue Identität brauchte. Und diesmal würde ihm nicht das Glück in Gestalt des Tsunamis hold sein.
Woher bekam man einen Pass zum Untertauchen? Und wo ließ sich der Stick verstecken, bis es Zeit war, die Story zu veröffentlichen? War es überhaupt noch klug, das zu tun?
***
Melanie saß um 18.30 Uhr an ihrem Schreibtisch und überlegte. Sie sortierte die Informationen, die ihr Herzog gegeben hatte. Aber immer wieder schweiften ihre Gedanken zu der merkwürdigen Nachricht und den roten Rosen.
Schließlich kam ihr Marvin Tieden in den Sinn. Er hatte ihr bei den letzten Ermittlungen mit seinen begnadeten Computer- und Hackerkenntnissen entscheidend geholfen. Der Achtzehnjährige war nach dem Abitur als Student der Wirtschaftsinformatik in Frankfurt eingeschrieben.
Sie wählte seine Nummer. Beinahe mit dem ersten Klingelton meldete er sich.
„Hallo Marvin, Mel hier. Ich brauche deine Hilfe.“
„Super, um was geht’s?“
„Du müsstest mal etwas über einen Kai Gringer herausfinden.“ Sie gab ihm die Bad Homburger Adresse. „Ist angeblich ein Journalist. Keine Ahnung, ob freiberuflich tätig oder bei einer Zeitung angestellt. Außerdem interessiert mich sein Leben vor dem 26. Dezember 2004, falls es ein solches gab.“
„Moment, das hört sich schräg an. Verrätst du mir den Hintergrund?“
Sie fasste den Inhalt ihres Auftrags in wenigen Sätzen zusammen.
„Und jetzt glaubt dein Mandant, dass Gringer in Thailand gestorben ist und sein Freund dessen Identität angenommen hat, um den eigenen Tod vorzutäuschen? Welche Gründe könnten das sein? Versicherungsbetrug?“
Sie schmunzelte. Der Junge war Gold wert. „Denkbar. Das müssen wir erarbeiten.“
Er lachte. „Aye, aye, M’am. Noch etwas?“
„Klar, glaub mal nicht, dass das alles ist. Dein nächstes Ziel lautet Dagmar Brecht. Sie war Hallers Ehefrau und hat wohl ihren Mädchennamen wieder angenommen. Außerdem habe ich noch eine Münchner Autonummer. Es handelt sich um einen Mercedes. Finde heraus, wer der Halter ist und was es mit ihm auf sich hat.“
Er war eine Weile still, als mache er sich hastig Notizen. „Wie viele Wochen habe ich Zeit?“, ließ er schließlich verlauten.
Sie grinste. „Quatschkopf. Das Wochenende steht vor der Tür. Es wäre schön, am Montag was zu hören. Vielleicht können wir uns dann treffen.“
Marvin stieß den Atem aus. „Ich hab auch noch ein Privatleben. Das grenzt an Ausbeuterei.“
Sie grinste, war sie doch überzeugt, ihn längst am Haken zu haben. „Jetzt weine nicht. Habe ich mich schon mal lumpen lassen?“ Selbstverständlich bezahlte sie ihn für Recherchen.
„Weiß ich doch“, lenkte er ein. „War es das?“
„Fast. Eine Frage noch: Ist es schwer, einen Anruf mit einer falschen Telefonnummer zu versehen?“
„Du meinst, wie die Notrufnummer der Polizei bei diesen Schockanrufen?“
„Ja“, erwiderte sie, „allerdings kein Polizeinotruf, sondern eine echte Privatnummer.“
Wieder war es einen Moment still in der Leitung. „Das ist an sich ein Kinderspiel. Du hast jetzt aber nicht vor …“
„Nein“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich habe eine Nachricht von einer gefälschten Nummer erhalten. Kann man da den echten Absender ermitteln?“
Marvin atmete erneut tief aus. „Bestimmt. Habe ich aber noch nicht gemacht. Man muss herausfinden, über welchen Server die Nummer generiert wird. Muss ich mich schlaumachen.“
„Okay, habe ich verstanden. Dann lass mal. Ich warte erst einmal ab, ob es ein Einzelfall bleibt.“
***
Das Silberne Bein war wie meist am Freitagabend gut besucht. Als Melanie das Separee betrat, saßen ihre Schwester Anja und ihr Schwager Sandro schon da. Zu ihrer Überraschung hatte sich Emily zu den beiden gesellt. Ihre Reisetasche, die an der Wand stand, verriet, dass sie direkt hierhergekommen, und nicht zuvor in ihrem Zimmer gewesen war. Philipp hatte noch einen Geschäftstermin und würde erst spät kommen.
Es hatte sich die Tradition entwickelt, sich freitags in Siggis Gaststätte zu treffen. Ein Babysitter passte auf Ida auf, was Anja Gelegenheit gab, rauszukommen.
„Guten Abend, ihr Lieben“, rief Melanie vergnügt. Anja und Emily umarmten sie. Ihre Schwester war kleiner als sie und hatte weibliche Rundungen, ohne dick zu wirken. Im Gegensatz zu Melanie hatte sie schulterlanges glattes Haar.
Sie wandte sich zu Emily. „Na, hat das Verbrechen Ruhe vor dir?“
Die junge Frau grinste. „Ich habe tatsächlich das ganze Wochenende frei.“
Siggi erschien und brachte Melanie einen Almdudler. „Wer war denn der Herr, der dich heute besucht hat?“
„Überwachst du mich etwa?“, erkundigte sie sich gespielt empört.
„Quatsch, ich habe gerade die Wirtschaft aufgeschlossen. Da ist er mir aufgefallen. Er schaute auf die Uhr und eilte dann in deinen Hof.“
„Ja, er ist ein wenig speziell. Äußerst korrekt und penibel. Sein Name ist Georg Herzog.“ Sie erzählte kurz von ihrem neuen Auftrag.
„Hört sich spannend an“, meinte Sandro und trank einen Schluck aus seinem Apfelweinglas. Er war knapp eins neunzig groß und gertenschlank. Dadurch wirkte er schlaksig. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er ein paar Monate älter als Melanie. „Wie willst du vorgehen?“
„Ich habe Marvin gebeten, Informationen über diesen angeblichen Toten und seine heutige Identität zusammenzutragen.“
Sandro hob die Hände. „Ich hätte nicht fragen sollen. Dein junger Hacker ist also wieder an Bord. Lass mich raten: Du willst dich auch im Haus des angeblich Toten umsehen.“
Melanie schmunzelte. „Mal sehen.“
Siggi lachte. „Falls du mich brauchst, sag Bescheid.“
„Oh, der Oberstaatsanwalt a.D. spürt kriminelle Schwingungen.“
Siggi hatte tatsächlich einen ungewöhnlichen Lebenslauf. Mit seinen dreiundsechzig Jahren war er in einem früheren Leben nach einem Schicksalsschlag aus dem Staatsdienst ausgeschieden, hatte sein Vermögen gespendet und fünfzehn Jahre lang freiwillig auf der Straße gelebt. So hatte ihn Melanie bei ihren ersten Ermittlungen im Taunus kennengelernt. Nach seiner Rückkehr in die Zivilisation hatte sich eine enge Freundschaft entwickelt. Er war immer elektrisiert, wenn sie einen Auftrag übernahm, hinter dem eine Straftat zu stecken schien.
„Na ja“, gab er zu bedenken. „Meine Erfahrung hat dir schon ein paar Mal geholfen. Was macht dein neuer Freund?“
Sie seufzte. Dieses Thema hatte sie vermeiden wollen.
Anja runzelte die Stirn. „Welcher neue Freund?“
„Das interessiert mich jetzt aber auch“, schaltete sich Emily ein.
Na prima, das hätte ja nicht besser laufen können. „Alles halb so wild“, wiegelte Melanie ab. „Irgendein Spinner hat mir anonym rote Rosen und später eine schräge Nachricht geschickt.“
Sandro streckte die Hand aus. „Zeig mir mal die Nachricht.“
Widerwillig rief sie den Text auf und reichte ihr Handy über den Tisch.
Er gab das Telefon nach dem Lesen zurück, seine Miene wirkte angespannt. „Das hört sich nicht gut an. Warst du schon bei den Kollegen und hast Anzeige erstattet?“
Sie glaubte, sich verhört zu haben. „In welcher Welt lebst du denn? Denkst du wirklich, dass die das ernst nehmen und Ermittlungen anstellen. Stalking ist zwar inzwischen eine Straftat, aber du weißt selbst, wie viel passieren muss, damit die Polizei hier eine Handhabe hat. Außerdem steht noch gar nicht fest, ob der Typ weitermacht. Wenn es mir zu bunt wird, werde ich herausfinden, wer der Absender ist und ihm klarmachen, dass er besser aufhört, mich zu belästigen.“
Sandro verzog das Gesicht. „Oh, da ist sie wieder. Superwoman, die drei Kampfsportarten beherrscht und natürlich selbst auf sich aufpassen kann.“ Sein Gesichtsausdruck wurde weich. „Mel, bitte sei vorsichtig. Ich meine es nur gut. Wenn du weitere Nachrichten bekommst, sag mir bitte Bescheid. Ich werde dafür sorgen, dass die Kollegen dich ernst nehmen.“
„Er hat recht“, pflichtete ihm Anja bei.
„Versprochen“, lenkte Melanie schnell ein. „Jetzt aber bitte ein anderes Thema.“
***
Der Mann saß kurz vor Mitternacht vor dem Computer. Der Bildschirm war in verschiedene Bilder geteilt, sodass er beinahe die gesamte Wohnung überblickte.
Melanie Gramberg kam aus dem Bad. Sie trug nur einen Slip und betrat das Schlafzimmer, wo sie sich ins Bett legte. Zu schade, dass die Bettdecke ihren Körper verdeckte. Wo war eigentlich dieser Philipp, der bei ihr wohnte?
Sie nahm jetzt ihr Handy und tippte etwas. Musik von Ed Sheeran war zu hören. Sie schloss die Augen und schien zu lauschen.
Im Hintergrund ertönte eine Stimme. „Hallo Schatz, ich bin da. Wo bist du?“
Sie lächelte und sprang aus dem Bett. „Hier im Schlafzimmer.“
Ihr Freund erschien in der Tür und breitete die Arme aus.
Das Pärchen küsste sich innig. Na, da entwickelte sich bestimmt gleich ein anregendes Programm.
Der Mann nippte an seinem Gin Tonic und öffnete den Gürtel. Seine Hand glitt in die Unterhose.
Melanie saß um 11 Uhr in der Küche am Frühstückstisch. Sie hatten länger geschlafen als beabsichtigt. Philipp hatte sie zärtlich geweckt, wodurch es noch später geworden war.
Sie las den Taunusblick auf ihrem Tablet und summte vor sich hin.
„Na, dir scheint’s ja prima zu gehen“, meinte Philipp schmunzelnd.
Sie sah auf und lachte. „In einer so lieben Gesellschaft muss man doch glücklich sein.“ Sie griff nach seiner Hand. „Und ich bin sehr glücklich.“
Er erhob sich und beugte sich über den Tisch, um ihr einen Kuss zu geben. Es klingelte.
„Das wird Emily sein“, vermutete sie.
Tatsächlich. Sie umarmte Melanie. „Na, seid ihr Turteltäubchen jetzt endlich besuchsbereit?“
Melanie holte aus und grinste. „Sei nicht so frech. Als ob du schon länger auf wärst.“
Emilys Tonfall wurde überheblich. „Ich war schon eine Stunde joggen und habe auch gefrühstückt.“
Die Türglocke ertönte erneut. Melanie erkannte Marvin durch die Kamera der Haustüranlage. Heute war ja was los. Sie drückte auf den Öffner. Der junge Mann stürmte mit dem Laptop unter dem Arm die Treppe hoch. Er hatte braunes, wild hochtoupiertes Haar, als stamme er aus der Elvis-Zeit.
„Guten Morgen, hoffe, ich störe nicht.“
Sie gingen ins Wohnzimmer, Philipp und Emily gesellten sich zu ihnen.
„Ich habe die halbe Nacht recherchiert und Einiges herausgefunden“, verkündete der Student. „Wo soll ich anfangen?“
Melanie holte Schreibblock und Stift. „Entscheide du.“
„Dann fangen wir mit dem Münchner Mercedes an, den dein Mandant gesehen hat. Das Fahrzeug ist auf eine Unger GmbH zugelassen, die in München ihren Sitz hat. Eine Textilfabrik. Der alleinige Inhaber und Geschäftsführer heißt Bernhard Unger. Im Internet gibt es Bilder von ihm. Er lebt in München-Bogenhausen. Ich habe seine Adresse. Er ist geschieden, hat keine Kinder. Unger ist als Parteiloser kommunalpolitisch aktiv und verwaltet eine eigene Stiftung. Außerdem ist er Kunstmäzen und engagiert sich in der Künstlerszene. So hat er bereits einige seiner Kunstobjekte Museen als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Meist Gemälde.“
Sie nickte. „Das könnte die Verbindung sein. Herzog hat erwähnt, dass sein Freund ein begnadeter Maler gewesen ist. Fragt sich nur, was dieser Unternehmer in dem Haus wollte. Was hast du noch?“
Marvin lachte. „Dann kommen wir zu diesem Gringer. Also, die gute Nachricht ist, dass es vor 2004 tatsächlich einen Kai Gringer gab, der vom Alter und auch aufgrund weiterer Merkmale passen könnte. Fangen wir mal damit an, dass ein Kai Gringer 1961 in Münster geboren wurde. Ich habe eine Adresse in Köln gefunden, von der er sich Anfang 2005 ohne Angabe einer neuen Anschrift abgemeldet hat. Danach verliert sich seine Spur.“
„Wie hast du die Adresse gefunden?“, erkundigte sich Melanie.
„Ich habe tatsächlich einen Blog im Internet entdeckt. Gringer hat damals als freier Journalist gearbeitet. Auf dieser Webseite stand seine Adresse im Impressum.“
Er hatte denselben Beruf wie Haller. Konnte das ein Zufall sein? Dazu die Malerei, die ihm sogar einen Künstlerpreis eingebracht hatte. Das passte wie der Deckel auf den Kochtopf.
Emily rieb sich das Kinn. „Wenn wir mal annehmen, dass dieser Haller Gringers Identität angenommen hat, wie kommt es dann, dass es diese Webseite noch gibt? Haller hätte die Seite doch bestimmt gelöscht.“
Marvin schüttelte den Kopf. „Das Internet vergisst nichts. Außerdem braucht man Zugangsrechte als Administrator der Seite. Wenn Haller die nicht hatte, konnte er nichts löschen.“ Er drehte den Laptop so, dass sie alle das Display sahen. „Er hat, wie gesagt, als freier Journalist gearbeitet“, fuhr er fort. „Ich habe ein Foto von ihm. Finde, er sieht Haller etwas ähnlich.“ Die Anwesenden nickten. „Wichtig ist, dass Gringer tatsächlich zum Zeitpunkt des Tsunamis in Thailand war. Er hat darüber berichtet und auch Fotos gepostet. Nach dem Tsunami gibt es keinen Eintrag mehr. Das Gleiche gilt für seine Seite auf Facebook, die ich ebenfalls gefunden habe. Dort hatte er nur eine spärliche Anzahl von Kontakten.“
Melanie rieb sich das Kinn. „Super Arbeit, mein Lieber, vor allem in der kurzen Zeit. Jetzt steht für mich fest, dass mein Mandant recht hat und dieser Haller tatsächlich noch lebt. Hast du auch was zu seiner damaligen Ehefrau?“
Marvin wiegte den Kopf. „Nicht wirklich viel. Sie lebt in Warnemünde an der Ostsee. Ich habe ihre Adresse. Sie war einmal Apothekerin, arbeitet aber seit geraumer Zeit als Sachbearbeiterin in einer Versicherung. Sie ist auf der Plattform Xing unterwegs und hat dort ihren Lebenslauf ordentlich gepflegt.“
Mel runzelte die Stirn. „Interessante Karriere.“
„Ja, habe ich mir auch gedacht“, bestätigte Marvin. „Ich habe auch noch etwas zum heutigen Gringer oder soll ich sagen, zu Haller. Er taucht nicht nur in diesem Artikel im Taunusblick auf, sondern ist auch ab und zu für die Frankfurter Rundschau tätig. Ich habe ein paar Artikel von ihm gefunden, meist geht es um Kunst. Ich habe heute Morgen bei der Zeitung angerufen. War überrascht, dass ich überhaupt jemanden erreicht habe. Ich habe mich als Künstler ausgegeben und nach Gringer gefragt, da ich ihn für einen Bericht über eine geplante Vernissage anfragen wolle. Man hat mir mitgeteilt, dass er sich krankgemeldet hat und sie derzeit keinen Kontakt zu ihm haben.“ Er klappte den Laptop zu und stand auf. „So, jetzt habe ich meine Weisheiten ausgebreitet. Ich muss dann mal.“
Melanie erhob sich und brachte ihn zur Tür. „Danke, das war wirklich tolle Arbeit.“
Er strahlte. „Gern geschehen. Du weißt, wo du mich findest.“
Sie begleitete ihn zu Haustür und erschrak, als sie öffnete. Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters mit einem Kasten Almdudler. Er trug eine Jacke mit der Aufschrift Getränke Saalburg.
„Guten Morgen, Frau Gramberg, nehme ich an. Ich bringe Ihre Bestellung.“
Marvin winkte und eilte zur Straße.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Getränke bestellt. Das muss ein Irrtum sein.“
Der Getränkehändler schaute sie verwundert an. „Nein, hier steht eindeutig Ihre Adresse. Außerdem wurde die Kiste schon bezahlt. Ich habe zudem einen Umschlag für Sie. Vielleicht klärt sich dann alles auf.“ Er reichte ihr einen Briefumschlag, den sie sofort aufriss.
„Schönen Tag noch“, sagte der Lieferant und entfernte sich.
Ihr wurde siedend heiß, als sie den Text auf dem Zettel las:
Ein schönes Wochenende, mein Schatz. Hoffe, dir gefällt das kleine Geschenk. Ich weiß ja, wie sehr du die Limonade liebst. Genieße sie und denke dabei an mich. Wir werden uns bald treffen, Prinzessin. Ich bin schon ganz aufgeregt.
Das Blatt Papier war nicht der einzige Inhalt des Kuverts. Melanie hielt einen USB-Stick in der Hand.
Langsam wurde ihr Verehrer lästig. Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen.
Wenig später saß sie vor ihrem Laptop und rief die Datei auf, die auf dem Stick gespeichert war. Philipp und Emily standen hinter ihr.
Die Datei enthielt Außenaufnahmen. Sie stammten aus den letzten Tagen und waren aus einiger Entfernung aufgenommen worden, vermutlich mit einem Teleobjektiv.
Sie öffnete das nächste Foto und erstarrte. Die kleine Ida saß in ihrem Kinderwagen. Da Anja sie seit rund zwei Wochen so transportierte, war die Aufnahme ebenfalls recht neu.
Drei weitere Bilder. Eins zeigte Anja und Sandro, auf den anderen war Philipp zu sehen, wie er aus dem Innenhof ihres Hauses auf die Straße kam.
„Was ist das denn für eine Sauerei?“, empörte er sich. „Dein gesamtes Umfeld wird beobachtet. Wir müssen etwas unternehmen.“
Emily war blass. „Mel, du musst zur Polizei gehen.“
„Erst einmal muss ich herausfinden, wer dahintersteckt“, gab sie trotzig von sich. Sie zögerte. „Allerdings werde ich Sandro informieren. Vielleicht wäre es gut, wenn Anja mit Ida ein paar Tage zu seinen Eltern in den Schwarzwald fahren würde.“
Georg Herzog saß am frühen Vormittag in der Küche und legte die Finger ans Kinn. Was sollte er tun? Abwarten, was die Privatdetektivin recherchieren würde?
Melanie Gramberg imponierte ihm, schon allein wegen ihrer sportlichen Erscheinung. Dann ihr toughes und direktes Auftreten. Außerdem wirkte sie strukturiert. Trotzdem war er angespannt.
Ein Gedanke breitete sich in seinem Hirn aus. Wäre es nicht vernünftig, Dagmar darüber zu informieren, dass ihr Ehemann lebte? Schließlich würde das ihre Familiensituation total auf den Kopf stellen. Markus war 2006 für tot erklärt worden, aber das war hinfällig und sie keine Witwe mehr. Er hatte sie das letzte Mal bei Markus’ Beerdigung ohne Leiche gesehen. Hatte sie überhaupt noch die alte Telefonnummer?
Kurz entschlossen nahm er das Telefon vom Tisch und suchte die gespeicherte Nummer heraus. Nach einem winzigen Zögern drückte er den Rufknopf.
Es klingelte. Einmal, zweimal. „Brecht“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Guten Morgen, Dagmar, hier spricht Georg Herzog.“ In der Leitung blieb es eine gefühlte Ewigkeit still. „Bist du noch dran?“
Ein Räuspern. Sie klang emotionslos. „Ja, hallo, das ist ja eine Überraschung. Dass du diese Nummer noch hast.“
„Ich bin froh, dass ich dich erreiche.“ Er zögerte. „Dagmar, es gibt einen Grund, warum ich mich melde. Du musst jetzt stark sein.“
Wieder einen Moment der Stille. „Was ist passiert?“
„Wie soll ich es sagen? Ich habe Markus in Bad Homburg gesehen.“ Nun war es raus. Wie bescheuert das geklungen hatte. Er hatte nichts anderes gesagt, als dass er ihren 2004 verstorbenen Ehemann getroffen hatte.
Ihre Stimme blieb nüchtern. „Spinnst du oder willst du mich verarschen? Wenn das als Scherz gedacht war, ist der gerade völlig danebengegangen. Es ist besser, wir beenden das Gespräch.“
„Nein, warte bitte. Ich mache keine Witze. Markus nennt sich jetzt Kai Gringer und lebt in Bad Homburg. Wenn du mir deine E-Mail-Adresse nennst, sende ich dir einen Zeitungsartikel, in dem ein Bild von ihm ist. Er hat einen Künstlerpreis gewonnen. Du wirst sehen, dass ich recht habe. Bitte, es ist mir ernst.“
Erneute Stille. Er befürchtete fast, sie habe aufgelegt. Schließlich nannte sie ihm eine Adresse. Dann war die Verbindung unterbrochen.
***
Melanie stellte ihr Rad gegen 9.20 Uhr in der Straße An der Leimenkaut ab, und damit ein Stück weit entfernt von Gringers Wohnhaus. Der Himmel war leicht bewölkt, die Temperaturen lagen im einstelligen Sektor.
Langsam schlenderte sie die Straße entlang und bog in einer Linksbiegung nach rechts ab. Kurz darauf erreichte sie die gesuchte Adresse.
Das zartrosa gestrichene Haus passte zu Herzogs Beschreibung und gefiel ihr sofort. Sie schaute sich um. Es war menschenleer. Schnell betrat sie das Grundstück und eilte auf die Rückfront des Gebäudes zu, wo sie eine Tür fand. Hinter einer Hecke war ein Fußweg, hinter dem Felder angrenzten. Sie hoffte, hier möglichst unbemerkt zu bleiben. Sie holte ein Paar Latexhandschuhe und das Mäppchen mit den Einbruchswerkzeugen aus dem Rucksack.
Das Schloss leistete keinen nennenswerten Widerstand, sodass sie ins Haus gelangte, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie betrat eine kleine Küche, in der Spüle wartete Frühstücksgeschirr auf den Abwasch. Auf den Essensresten hatte sich Schimmel gebildet. Der Inhalt der Schränke erwies sich als uninteressant.
Das benachbarte Wohnzimmer wirkte ordentlicher. Auffällig waren vereinzelte, leicht geöffnete Schubladen in einem Bauernschrank. Es schien, als ob jemand etwas hastig gesucht habe. Der Inhalt bestand nur aus Tischdecken und Kerzen. Eine Schublade war sogar leer. Die Sitzgarnitur war mit einem rötlichen Stoff überzogen. Gegenüber stand auf einem Rollwagen ein großes Fernsehgerät. In einer Ecke befand sich ein Esstisch mit vier Stühlen. Im Erdgeschoss gab es ansonsten eine Toilette und einen Hauswirtschaftsraum mit einer Waschmaschine und einem Trockner. Außerdem war hier die Heizung eingebaut.
Eine gewendelte Holztreppe führte in den ersten Stock. Oben gab es das Schlafzimmer mit einem nicht gemachten Doppelbett und einem doppelflügeligen Schrank, der nur Männerkleidung enthielt. Die Schubfächer in den Nachttischschränkchen waren leer. Im angrenzenden Bad fiel ihr sofort auf, dass Wasch- und Kosmetikartikel fehlten. Der letzte Raum auf dieser Etage erwies sich als Abstellkammer für Putzzeug und einen Staubsauger.
Über eine schmale Treppe gelangte man ins ausgebaute Dachgeschoss. Dort war ein Atelier eingerichtet. Auf zwei Staffeleien warteten Ölgemälde darauf, fertiggestellt zu werden. Es handelte sich um Landschaftsbilder. Eines zeigte das Bad Homburger Schloss mit dem Weißen Turm. An den Wänden lehnten verschiedene gerahmte Gemälde auf dem Holzfußboden. Eines fiel ihr ins Auge. Sie kannte nicht viele Bilder und interessierte sich nicht sonderlich für Kunst. Aber Die Nachtwache von Rembrandt erkannte sie sofort. Es schien, als stünde eine Kopie vor ihr. Sie machte mit ihrem Smartphone eine Aufnahme.
Sie wollte bereits enttäuscht nach unten gehen, als ihr ein Stück Papier auffiel, das auf einem Stuhl lag. Sie nahm es und las:
Du hast noch bis zum 30.11., 12 Uhr, Zeit, mir mein Eigentum zu geben. Wenn du diese Chance nicht nutzt, dann schicke ich dir einen Besucher, den du nie vergessen wirst. Denn du wirst danach nie wieder malen können. Glaub mir, das willst du nicht!
Keine Anrede, kein Absender. Mit Kuli geschrieben. Es sah wie die Schrift einer älteren Person aus. Hatte Unger diese Drohung hier hinterlassen? Sie fotografierte den Zettel und ging zurück in die erste Etage.
Dort sah sie aus einem Fenster auf die angrenzende Straße. Am Rande eines Grundstücks parkte ein BMW, der schon bessere Tage gesehen hatte. In ihm saßen zwei Männer auf den Vordersitzen. Einen schätzte sie auf die Entfernung auf Anfang, Mitte zwanzig, der andere mochte ein paar Jahre älter sein. Den Fahrzeugfond konnte sie nicht einsehen.
Die beiden beobachteten zweifellos dieses Haus. Sie schoss ein Bild, wobei sie sich vergewisserte, dass das Kennzeichen lesbar war. Das Foto schickte sie an Marvin mit der Bitte, den Halter zu ermitteln.