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Wenn Größenwahn und Gier sich vereinen, ergibt das ein tödliches Gemisch In Bad Homburg verschwindet der irakische Student Eason Girak spurlos, seine Schwester Tahmineh findet kurz darauf einen Umschlag mit 20.000 Euro im Briefkasten. Sie bittet die Privatdetektivin Melanie Gramberg um Hilfe. Melanie ermittelt im Umfeld des Irakers, bis sie auf eine Verbindung zu zwei aktuellen Mordfällen stößt. Die befreundeten Ärzte Feuerschuh und Primmer, Gründer eines karitativen Vereins, der unter anderem Migranten unterstützt, wurden erschossen. Melanie glaubt nicht an einen Zufall. Als Feuerschuhs Sohn Noah Kontakt zu Melanie aufnimmt, entdeckt sie, dass der Vater nicht nur ein Doppelleben geführt hat, sondern sich auch ein völlig neuer Ermittlungsansatz ergibt. Melanie hat aber nicht viel Zeit, die Wahrheit herauszufinden, denn längst sind weitere Menschenleben in Gefahr, nicht zuletzt ihr eigenes. Der Kriminalroman spielt in Bad Homburg und im Taunus.
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus der Melanie-Gramberg-Reihe sind bisher erschienen:
Taunusgier (2019)
Taunusschuld (2020)
Taunuskinder (2021)
Einzelwerke des Autors:
Verfluchtes Taunusblut (2018)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.
© 2022 Osvin Nöller · [email protected]
Lektorat: Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de
Korrektorat: Deborat Emrath · deborah-emrath.de
Satz u. Layout/E-Book: Gabi Schmid · buechermacherei.de
Covergestaltung: smartline werbeagentur · smartline.info
Fotos/Grafiken: Fotostudio Hawlitzki · fotostudio-hawlitzki.de; buechermacherei.de; #234989655, #200548328, #4063544 | AdobeStock
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin/des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany
1. Auflage (Version 1.0)
ISBN Softcover: 978-3-347-69614-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-69615-0
ISBN E-Book: 978-3-347-69616-7
„Schachmatt.“ Holger Lorenz blies genüsslich Zigarrenrauch gen Zimmerdecke und schnippte Carsten Feuerschuhs König mit einem zufriedenen Grinsen um. Ein Gemisch aus dem herben Rauch zweier Davidoff Nicaragua Robusta und dem holzigen Geruch des offenen Kamins breitete sich in der Bibliothek aus.
Holger zog die Augenbrauen hoch. „Junge, was ist mit dir los? Du siehst aus wie das Leiden Christi, bist unkonzentriert und hast Probleme, ein Whiskyglas ruhig zu halten.“ Er kannte Carsten seit seiner Jugend, hatte vor vier Jahrzehnten mit ihm gemeinsam das Abitur bestanden. Carsten hatte Medizin studiert und sich vom einfachen Chirurgen zu einem der angesehensten Transplantationsspezialisten Europas entwickelt. Einen Weg, den Holger nicht nur privat, sondern auch als Rechtsanwalt hatte begleiten dürfen. Ihre enge Verbindung war trotz beruflicher Belastungen bis heute bestehen geblieben und der wöchentliche Schachabend in seinem Haus war ihnen heilig. Einzig Krankheiten, Urlaube oder absolut unaufschiebbare Termine konnten diese Treffen verhindern.
Carsten starrte eine Weile vor sich auf den Tisch. Schließlich sah er auf. „Ich bin krank, schwerkrank“, murmelte er. „In meinem Schädel sitzt ein inoperabler Hirntumor, den man am vergangenen Montag bei einer Routineuntersuchung entdeckt hat.“
Holger lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. „Das ist ja furchtbar. Und du hast vorher nichts gemerkt?“ Wie konnte ein dermaßen erfahrener Mediziner die Anzeichen einer so ernsten Krankheit nicht erkannt haben?
Carsten schüttelte den Kopf. „Der Tumor liegt teuflisch versteckt und hat bisher wenig Symptome verursacht. Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und andere Kleinigkeiten habe ich auf den Stress zurückgeführt. Ich hatte die vergangenen Monate viel um die Ohren.“ Er sah auf die Uhr. „Oh, schon Viertel nach sechs. Ich muss heute früher los. Hab um sieben einen wichtigen Termin mit Tobias.“ Er hielt sein Glas hoch. „Hast du noch einen Abschiedsmalt?“
Holger kannte Tobias Primmer. Er leitete zusammen mit seiner Frau Yvonne eine Klinik für plastische Chirurgie in Königstein-Falkenstein. Holger nahm die Flasche und schenkte dem Freund ein. Er war überrascht, denn Carsten trank nie einen zweiten Whisky, wenn er Auto fuhr. An diesem Freitag schien alles anders zu sein. Wie gern hätte Holger die übliche Revanche gespielt. Er atmete tief ein. „Wie lange hast du noch?“, fragte er leise.
Carsten kippte die dunkle Flüssigkeit hinunter, leckte die Lippen und erhob sich. „Nicht mehr lange. Ein paar Wochen, vielleicht weniger.“ Es klang wie ein Kommentar zum Wetter.
Holger stand ebenfalls auf. „Schön, dass du trotzdem da warst. Ich drücke dir fest die Daumen. Wir wollen schließlich noch viele Schachpartien spielen.“
Carsten grinste schief, kam auf ihn zu und umarmte ihn. „Schauen wir mal. Danke, mein Lieber, für die tolle Zeit mit dir. Du bist wahrscheinlich mein einziger richtiger Freund. Pass auf dich auf.“ Er schien es mit einem Mal eilig zu haben, löste sich und eilte in den Flur, wo er seine Barbour-Jacke anzog. Ein schnelles Winken und die Haustür fiel ins Schloss.
Holger war ihm ein Stück gefolgt, blieb wie versteinert stehen. Ihn beschlich das schmerzliche Gefühl des endgültigen Abschieds. Kopfschüttelnd ging er zurück, öffnete das Fenster und sammelte die Gläser sowie den Aschenbecher ein.
Draußen knallte es, wenige Sekunden später ein zweites Mal. Es klang wie das Explodieren von Feuerwerkskörpern. Die Leute wurden immer verrückter. Knallkörper im November!
Die Haustürglocke schrillte anhaltend. Anscheinend hielt jemand den Finger auf dem Klingelknopf. Hatte Carsten etwas vergessen? Holger hastete zum Eingang und riss die Tür auf. Vor ihm stand eine Frau mittleren Alters.
„Schnell …, schnell“, stammelte sie und zeigte zur Straße. „Rufen Sie einen Notarztwagen und die Polizei. Da vorne wurde ein Mann angeschossen.“
***
Melanie Gramberg saß am Abend im Hof ihres Wohnhauses in der Neue Mauerstraße. Eine an ihrem Strandkorb befestigte Lampe beleuchtete ihren Platz und einen Teil des Innenhofs. Der Sitzplatz war ihr Refugium, in das sie sich zurückzog, wenn sie nachdenken oder einfach ihre Ruhe haben wollte. Zu jeder Jahreszeit. Sie hatte sich in eine Wolldecke gehüllt und heißen Kakao gekocht, ein für sie ungewöhnliches Getränk. Einen ihrer geliebten Almdudler zu erhitzen, wäre ihr dann doch zu schräg vorgekommen, obwohl sie es einen Augenblick lang ernsthaft überlegt hatte. Die feuchte Luft hatte sich in unzähligen winzigen Perlen auf ihre kurzen schwarzen Haare gelegt. Lange würde sie es hier unten nicht aushalten.
Sie war mit sich zufrieden. Heute hatten die Handwerker den Umbau des Hauses beendet, das sie vor wenigen Monaten gekauft hatte. In der Wohnung im ersten Stock war eine Wand herausgebrochen und ein Zimmer mit der Küche zusammengelegt worden. So konnte sie dort einen Esstisch und vier Stühle aufstellen. Im ausgebauten Dachgeschoss gab es jetzt ein Gästezimmer mit Bad und Toilette. Auch in der Detektei im Erdgeschoss gab es Veränderungen. Sie hatte eine Wand versetzen lassen, um den Besprechungsraum zu vergrößern. Außerdem hatte Melanie die Büroräume vollständig renoviert und neu möbliert. Nur der wuchtige Schreibtisch ihres Großvaters und dessen ehemaliger Chefsessel hatten den Umbau überlebt. Alles andere hatte sie hell und gediegen eingerichtet. So wurde der schwarz gebeizte Eichenschreibtisch zum echten Hingucker.
Im Treppenhaus war das bisherige Eisen- einem Holzgeländer gewichen, das perfekt mit der abgeschliffenen Treppe harmonierte. Die Wände waren in einem zarten Pastellgrün gehalten. Im Frühjahr würde sie die Außenfassade streichen und den Innenhof neu gestalten lassen. Wie genau, wusste sie noch nicht, auf jeden Fall neu. Sie schmunzelte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, die Haushälfte von ihrem väterlichen Freund Siegfried Graf zu Biebenau zu kaufen, dem das angrenzende Gebäude gehörte, in dem er die Gaststätte Zum Silbernen Bein führte. So konnte sie ihre Ideen verwirklichen und er mit dem Kaufpreis die seit Langem notwendige Umgestaltung der Gastwirtschaft durchführen. Er war in die Wohnung in der ersten Etage gezogen, in der seine verstorbene Nichte Katja gewohnt hatte.
Melanie zuckte zusammen, als der Bewegungsmelder am Hofeingang die Beleuchtung einschaltete. Eine zierliche junge Frau mit dunklem Teint und schwarzen halblangen Haaren kam zögerlich näher. Sie trug eine Jeans und einen dicken Anorak, dazu knöchelhohe Stiefel.
„Guten Abend, Sie sind Melanie Gramberg? Die Detektivin?“ Sie sprach perfektes Deutsch mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent, der schwer zuzuordnen war.
„Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?“
Die Besucherin schien sich zu entspannen. „Ich möchte höflich fragen, ob Sie mir helfen können. Ich suche meinen Bruder.“
„Eigentlich ist mein Büro schon geschlossen …“
„Schade.“ Die Frau drehte sich um und machte Anstalten, den Hof zu verlassen.
„Warten Sie, nicht so schnell. Ich kann mir ja mal anhören, was Sie auf dem Herzen haben. Dazu sollten wir aber ins Büro gehen.“
Die kurzzeitige Enttäuschung im Gesicht der jungen Frau verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. „Danke.“
Melanie kam sich mit ihren eins sechsundsiebzig riesig vor, als sie neben der Frau zum Haus ging. Sie schloss die Haustür auf, im Besprechungsraum der Detektei setzten sie sich an den Tisch.
Melanie öffnete den Schreibblock, der dort zusammen mit einem Kugelschreiber stets griffbereit lag. „Haben Sie eigentlich auch einen Namen?“
„Oh Verzeihung. Ich heiße Girak, Tahmineh Girak.“
„Schön, Frau Girak. Jetzt geben Sie mir erst einmal Ihre Jacke, nicht, dass Sie nachher frieren.“
Gehorsam entledigte sich Tahmineh des Anoraks, den Melanie an einen Kleiderhaken hinter der Tür hängte.
„Möchten Sie etwas trinken? Wasser, einen Kaffee oder einen Tee?“
„Danke. Ich will Ihre Zeit nicht so lange in Anspruch nehmen.“
Die Frau gefiel ihr. Wie alt war sie wohl? Vielleicht Anfang zwanzig.
„Dann erzählen Sie mal, was mit Ihrem Bruder ist.“
Tahmineh holte tief Luft. „Eason ist fünfundzwanzig, drei Jahre älter als ich. Wir sind vor vier Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen und haben Asyl beantragt, das bewilligt wurde. Wir waren erst in der Flüchtlingsunterkunft in Oberursel, dann bekamen wir eine eigene Wohnung im Usinger Weg. Wir studieren beide. Eason Maschinenbau, ich Architektur.“
„Darf ich fragen, wie Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten? Und was hat Sie veranlasst, Ihr Land zu verlassen?“
„Zum einen bekommen wir eine staatliche Unterstützung, wir arbeiten aber auch. In der Gastronomie.“ Ihre Miene wurde traurig. „Mein Vater war ein hoher Beamter in Bagdad, wo wir gelebt haben. Eines Tages wurde ihm vorgeworfen, ein Spion zu sein, was nicht stimmte. Er war einem einflussreichen Kollegen, der seinen Job wollte, auf die Füße getreten. Der verbreitete Lügen und fälschte Beweise. Mein Vater …“, sie stockte einen Moment, „wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Daraufhin mussten wir fliehen, denn wir waren lästige Zeugen, die die Wahrheit kannten. Nur wollte die keiner mehr hören. Unsere Mutter lebt jetzt im Haus ihres Bruders. Er ist für sie verantwortlich.“
Melanie schluckte. „Das tut mir sehr leid.“ Eine schlimme Geschichte, die glaubhaft klang. „Entschuldigen Sie bitte, noch eine Frage. Wo haben Sie so toll Deutsch gelernt?“
Tahmineh lächelte. „Danke. Auf dem Goethe-Institut in Bagdad. Mein Bruder und ich wurden von unserem Vater dazu angehalten, neben der Schule weitere Sprachen zu lernen. Wir sprechen auch Englisch und Französisch flüssig.“
Beneidenswert. „Glückwunsch, das war eine weise Entscheidung Ihres Vaters. Was ist also mit Ihrem Bruder?“
„Eason ist spurlos verschwunden. Am Dienstag vor zwei Wochen sagte er mir, er müsse im Rahmen seines Studiums circa drei Wochen verreisen. Seine Sachen sind fast alle da, er hat abgesehen von einer kleinen Reisetasche nur seine Papiere, die Geldbörse und sein Handy dabei. Er kam mir sehr nervös vor. Ich hielt das für die Aufregung wegen des Trips. Er verließ die Wohnung und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er nimmt keine Anrufe an und meldet sich auch nicht. Ich habe an der Uni gefragt. Es gibt keine Studienreise.“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge.
„Hat er gesagt, wohin er fahren wollte?“
„Er machte daraus ein Geheimnis, hat nur gelacht und gesagt, er würde mir was Schönes mitbringen.“
„Das haben Sie so hingenommen?“
„Er ist manchmal so. Meint, ich bin zu neugierig. Irgendwann erzählt er mir dann doch alles.“
Melanie kam ein Verdacht. „Hat er sich in letzter Zeit verändert?“
Tahmineh zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Er war völlig entspannt, fast euphorisch. Meinte, er hätte bald das Geld für seinen Führerschein und ein Auto. Das konnte ich nicht glauben. Er spart zwar wie verrückt, ist aber weit davon entfernt, genug für sowas zu haben. Als ich ihn ausgelacht habe, war er beleidigt und sagte, ich würde schon sehen. Wir haben uns ein bisschen gestritten.“
„Er hat aber nicht erklärt, woher er das Geld bekommen würde.“
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Seien Sie mir nicht böse. Kann es sein, dass er in kriminelle Geschäfte verwickelt ist? Zum Beispiel in Drogengeschäfte?“
Tahmineh setzte sich auf, ihre Augen sendeten Blitze. „Nein, ganz bestimmt nicht! Eason ist absolut ehrlich. Das würde er nie tun. Wie kommen Sie darauf? Weil wir Ausländer sind? Die Polizei hat auch so blöd gefragt.“
Melanie hob hastig die Hände. „Sorry, ich musste das fragen. Das hat absolut nichts mit Ihrer Herkunft zu tun. Es erscheint mir nur merkwürdig, plötzlich ohne Erklärung eine größere Geldsumme in Aussicht zu haben.“
„Das gebe ich zu. Es kann aber nicht sein. Ich kenne meinen Bruder.“
Das haben so manche Geschwister vor dir gedacht, fuhr es Melanie durch den Kopf. „Bei der Polizei waren Sie also schon. Was haben die sonst gesagt?“
Tahminehs Miene verdunkelte sich erneut. „Nichts. Ich solle warten. Wenn er zurückkommen wolle, würde er schon wieder auftauchen. Vermutlich habe er sich abgesetzt. Als ich ihnen erzählte, dass er Geld erwartet habe, kamen sie ebenfalls mit der Drogenvermutung und behaupteten, er ist vermutlich in schlechte Kreise geraten. Sie könnten nichts unternehmen, Eason ist volljährig und Herr über seinen Wohnort, da er eine Aufenthaltsgenehmigung hat.“ Sie schnaufte. „Er würde mich nie allein lassen, schon weil er kurz vorm Studienabschluss steht und schon einen Jobvertrag in Frankfurt hat.“
Die Ex-Kollegen machten es sich ein bisschen einfach, fand Melanie, obwohl sie deren Gedanken nachvollziehen konnte. Hatte sie solche schließlich gerade selbst geäußert. Es gab jedoch Ungereimtheiten, die einen freiwilligen Abgang fraglich erscheinen ließen.
„Hat er Freunde?“
„Nein, nicht wirklich. Einige Studienkollegen, sonst niemand. Bis auf einen Mann, den wir von daheim kennen und der noch in der Flüchtlingsunterkunft in Oberursel lebt. Er ist so alt wie Eason.“
„Wie heißt dieser Freund?“
„Haias Kazem, mit z in der Mitte. Er spricht kaum Deutsch und sein Englisch ist furchtbar.“
Melanie schrieb den Namen unter ihre bisherigen Notizen. Sie schaute ihre Besucherin direkt an. „Ich habe verstanden, dass Sie nicht viel Geld besitzen, deshalb will ich ehrlich sein. Ich muss ein Honorar für meine Arbeit nehmen.“
Zu ihrer Überraschung nickte Tahmineh völlig unbeeindruckt. „Ist mir klar. Reichen 20.000 Euro?“
Melanie riss die Augen auf. „Woher haben Sie so viel Geld?“
„Das habe ich vor ein paar Tagen in unserem Briefkasten gefunden. In einem Umschlag ohne Absender.“
***
Kriminaloberkommissar Sandro Kimmerle bremste den Audi um 19:20 Uhr im Bad Homburger Pfarrbornweg unweit der Einmündung der Straße Am Krämersrain vor einem Flatterband ab, das ein uniformierter Polizist nach einem kurzen Blick anhob.
„Guten Abend“, grüßte Polizeiobermeister Grundenburg. „Der Einsatzort ist gleich links im Cabourgweg, du kannst ihn nicht verfehlen.“
Sandro verzog das Gesicht. Wie auch? Der Schein der Blaulichter der Einsatzwagen wanderte an den umliegenden Hauswänden entlang und vermischte sich mit den umherwabernden Nebelschwaden. Rechts stand ein Notarztwagen.
„Danke, ich werde ihn finden“, antwortete er ironisch. Er kannte Grundenburg aus unzähligen Einsätzen. Er war für seine historischen Abhandlungen zum jeweiligen Ort des Geschehens berüchtigt, die er zum Besten gab, egal ob man sie hören wollte oder nicht. Heute schien Sandro verschont zu bleiben. Er parkte den Audi hinter zwei Polizeiwagen und stieg aus. Hastig zog er die Kapuze seines Anoraks über den Kopf. Im einsetzenden Nieselregen kroch die kalte Abendluft sofort unter die Kleidung. Schnell ging er in die angrenzende schmale Sackgasse.
Menschen in Ganzkörperanzügen suchten im Licht von aufgestellten Strahlern die Umgebung eines weißgestrichenen Hauses ab. Der Vorgarten wurde von einer halbhohen Hecke begrenzt, die von einem niedrigen Metallzaun und dem Weg zur offenstehenden Eingangstür unterbrochen wurde.
Sandro interessierte aber der rund zehn Meter weiter auf dem Asphalt liegende und mit einer Plane abgedeckte Körper. Etwas raschelte in seinem Rücken.
„Männlich, Mitte bis Ende fünfzig, erschossen, tot.“
Sandro fuhr herum. Hinter ihm stand Martin Schubert und grinste ihn an. Der Kriminalhauptkommissar trug den obligatorischen Parka, dazu Jeans und Cowboystiefel. Das schulterlange blonde Haar hatte er zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Eine nicht ganz altersgerechte Aufmachung für einen dreiundvierzigjährigen Polizeibeamten, was in der Direktion niemand störte. Es passte irgendwie zu ihm. Sandro, der ihn mit seinen eins neunzig um beinahe zwanzig Zentimeter überragte, hatte sich noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass Martin nach einer sechsmonatigen Auszeit vor einer Woche in den Dienst zurückgekehrt war. Martin hatte während dieser Zeit in einem Kinderprojekt in südafrikanischen Townships als Volunteer gearbeitet.
„Musst du mich so erschrecken? Ich habe deinen Wagen gar nicht gesehen. Wo hast du geparkt?“
„Daheim“, kam die überraschende Antwort. „Ich wurde von einem Streifenwagen mitgenommen, der zufällig in der Nähe war. Sarah und Antonia vernehmen den Hausherrn. Der Tote hat ihn wohl unmittelbar vor der Tat besucht.“
„Könnte er der Täter sein?“
„Wohl kaum. Es gibt eine Zeugin, die einen Mann weglaufen sah. Sie konnte ihn ordentlich beschreiben. Die Fahndung läuft.“
Immerhin etwas, fand Sandro. „Haben wir Personalien?“
„Professor Dr. Carsten Feuerschuh“, kam eine Stimme aus der Richtung des Hauses. „Achtundfünfzig, verheiratet, ein Sohn, wohnhaft in Bad Homburg in der Stettiner Straße.“
Sie drehten sich um. Hartmut Klinger, der Leiter der Kriminaltechnik, reichte Martin einen Zettel.
Martin nickte und steckte das Papier in die Jackentasche. „Prima. Was weißt du sonst noch?“
„Zwei Schüsse, einer in die Brustgegend, der andere am Kopf aufgesetzt. Auf den ersten Blick ein großes Kaliber. Der Mann war vermutlich sofort tot.“
„Da wollte der Täter auf Nummer sicher gehen. Haben wir bisher weitere Spuren?“
„Nicht wirklich“, erwiderte Hartmut. „Wir beeilen uns, bevor der Regen die wenigen Spuren vernichtet.“ Er bückte sich und hob die Plane an.
Die Leiche lag auf dem Rücken. Die Augen waren geschlossen. Das Einschussloch auf der Stirn war nicht zu übersehen. Im linken Brustbereich hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Unter dem Toten war kaum Blut zu sehen. Wahrscheinlich war es in der Kleidung versickert.
Martin räusperte sich. „Lass gut sein“, meinte er, worauf Hartmut das Opfer wieder bedeckte. „Sandro, wir hören mal, was die Kolleginnen haben.“
Gemeinsam gingen sie zum Hauseingang, aus dem zwei junge Frauen kamen, die auf den ersten Blick Schwestern hätten sein können. Sarah Schwenke und Antonia Klaubner waren ungefähr gleich groß, sportlich schlank und hatten lange Haare. Im Gegensatz zu den brünetten der vierundzwanzigjährigen Sarah, waren die der ein Jahr älteren Kollegin schwarz.
„Was sagt der Hausherr?“, erkundigte sich Martin.
Antonia ergriff das Wort. „Er heißt Dr. Holger Lorenz, ist Rechtsanwalt und war ein sehr guter Freund des Toten. Sie trafen sich einmal die Woche zum Schachspiel. Dr. Feuerschuh verließ das Haus um circa 18:25 Uhr. Dr. Lorenz hat es zweimal kurz hintereinander knallen gehört und an Feuerwerkskörper gedacht. Dann hat die Zeugin geklingelt.“
Sandro sah sich um. „Wo ist sie?“
„Im Krankenhaus“, antwortete Sarah. „Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Wir konnten kurz mit ihr sprechen. Sie hat die Tat beobachtet. Ein Mann kam aus dem Pfarrbornweg. Sie hat ihn als sehr groß und bullig beschrieben. Er soll einen langen schwarzen Mantel getragen haben. Außerdem habe er ein wenig gehinkt. Der Mann hat Dr. Feuerschuh in den Rücken geschossen. Dieser stürzte und lag auf dem Bauch. Der Mann sei seelenruhig an ihn herangetreten, habe Feuerschuh umgedreht, und ihm dann in den Kopf geschossen. Danach ist er zurück zum Pfarrbornweg gelaufen. Vermutlich dort nach rechts abgebogen. Von der Zeugin hat er anscheinend keine Notiz genommen.“
Äußerst ungewöhnlich, dachte Sandro. Warum hatte der Täter sein Opfer extra umgedreht? „Da hat die Frau aber Glück gehabt. Würde sie ihn wiedererkennen?“
„Kaum. Er war mit einer Strumpfmaske maskiert und hier war es zu dem Zeitpunkt bereits dunkel.“
„Das klingt nach einer eiskalten Hinrichtung durch einen Profi“, meinte Martin.
Sein Handy klingelte. Er meldete sich und hörte dem Anrufer zu. Seine Augen verengten sich. „Scheiße! Okay, wir kommen.“ Er beendete das Gespräch. „Wir haben einen zweiten Toten. In Falkenstein. Zwei Streifenwagen sind bereits vor Ort. Die Tat ähnelt dieser hier frappierend.“
***
Ein Mann stand um 19 Uhr vor einem Opel Insignia und tippte in sein Telefon:
Das Wild ist erlegt. Erwarte die Restzahlung! Wir sehen uns wie vereinbart.
Er schickte die Nachricht zusammen mit den Fotos seiner beiden Opfer auf die Reise. Vollkommen ruhig schaltete er das Gerät aus und entnahm die SIM-Karte. Er holte eine Nagelschere aus der Manteltasche, zerschnitt die Karte und warf die Teile in den nächstgelegenen Gully. Dann stieg er ins Auto und startete den Motor. Es galt, sich zu beeilen, hier würde bald der Teufel los sein. Er passierte den Königsteiner Kreisel und fuhr in Richtung A 66. Eine halbe Stunde später erreichte er den Frankfurter Flughafen. Er gab den Leihwagen ab und ging mit seinem Koffer zu einer Toilette, in der er sich umzog. Kurz darauf bestanden der Reisepass und der Führerschein aus Fetzen. Die Kleidung, die er getragen hatte, verteilte er auf verschiedene Mülleimer in den Flughafenterminals. Schließlich mietete er sich ein Schließfach und deponierte die Waffe darin. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Nahe des Lufthansaschalters nahm er einen Pass aus der Innentasche seiner Jacke. Er würde über Wien nach Klagenfurt fliegen und dort einen Mietwagen übernehmen. Dann lagen nur noch ein paar Stunden Autofahrt und zwei kaum kontrollierte Grenzübergänge vor ihm.
***
Sandro parkte gegen 20 Uhr im Falkensteiner Reichenbachweg vor der Polizeiabsperrung und stoppte den Scheibenwischer. Sie stiegen aus und gingen auf einen uniformierten Kollegen zu, den Sandro nicht kannte. Sie zeigten ihre Dienstausweise.
„Was liegt an?“, erkundigte sich Martin.
„Der Name des Toten lautet Tobias Primmer, genauer gesagt Dr. Tobias Primmer. Ihm und seiner Frau gehört eine Klinik für plastische Chirurgie, die nicht weit von hier entfernt liegt. Er wurde direkt am Eingang seines Hauses erschossen.“ Der Polizist deutete auf das in unmittelbarer Nähe liegende Eckgrundstück. Mit seinem verschachtelten Dach wirkte das darauf stehende einstöckige Gebäude verwinkelt. „Seine Frau hat den Täter flüchten gesehen“, fuhr der Beamte fort.
„Konnte sie ihn beschreiben?“, fragte Martin.
„Groß, massige Erscheinung in einem schwarzen langen Mantel. Mehr weiß sie nicht. Sie hat ihn nur von hinten gesehen. Es hat wohl an der Tür geklingelt, der Hausherr öffnete und dann wurde sofort geschossen. Ein Kollege ist bei der Frau, das Kriseninterventionsteam ist auf dem Weg.“
„Lassen Sie mich raten“, schaltete sich Sandro ein. „Es gab zwei Schüsse, einen in die Brust und einen in die Stirn. Außerdem hinkte der Täter.“
„Woher wissen Sie das?“
„Weil derselbe Typ vor knapp zwei Stunden einen Mann in Bad Homburg auf die gleiche Art getötet hat. Danke, Kollege.“
In diesem Moment hielt Hartmut Klingers VW Bulli. Der Kriminaltechniker stieg zusammen mit drei Mitarbeitern aus, sie kamen mit ihren Koffern auf sie zu.
Gemeinsam gingen sie zur Leiche. Sie lag im Hauseingang auf dem Rücken. Unter ihr hatte sich eine Blutlache gebildet.
„Der Schuss in die Stirn ist aufgesetzt, genauso wie in Bad Homburg“ stellte Hartmut fest. „Ebenfalls ein großes Kaliber.“
„Und wieder ein Arzt“, ergänzte Sandro. „Würde mich wundern, wenn die sich nicht kannten.“
Martin nickte. „Da hat jemand was gegen Mediziner. Alles sieht nach einem Profi aus. Sandro, ruf Sarah an. Wenn die Mädels in Bad Homburg die Nachbarn abgeklappert haben, sollen sie hierherkommen.“ Er stieg mit einem Ausfallschritt über den Toten. „Mal sehen, ob wir aus der Witwe etwas herausbekommen.“
***
„Was glaubst du? Ist der Iraker abgehauen?“ Siegfried Graf zu Biebenau saß zur selben Zeit mit Melanie im Separee des Silbernen Beins, das sich in den letzten Wochen ebenso wie die restliche Wirtschaft stark verändert hatte.
Melanie hielt den Umbau für sehr gelungen. Das zuvor dunkle Holz war hellem gewichen. Siggi hatte das gesamte Mobiliar ausgetauscht, wobei er darauf geachtet hatte, das rustikale Ambiente beizubehalten. Aber alles wirkte nun freundlicher. Zudem war die Speisekarte mit Hilfe der neuen Köchin Susanne Heimer erweitert worden, ohne den regionalen Schwerpunkt zu verlieren. Susi, wie Siggi sie nannte, hatte ihn davon überzeugt, mehr vegetarische Gerichte anzubieten. Dazu gab es neben den üblichen Getränken nun eine bodenständige Weinkarte, die gut angenommen wurde. Den obligatorischen Apfelwein bezog Siggi nach wie vor von einem Bauern aus der Umgebung. Er strich sich durch die wallenden schlohweißen Haare, zu denen sein gleichfarbiger Vollbart perfekt passte. Mit der sonoren Stimme und dem kräftigen Körperbau strahlte er trotz seiner nur eins fünfundsiebzig eine natürliche Autorität aus. Das hatte ihm im lange zurückliegenden Leben als Leitender Oberstaatsanwalt sicherlich geholfen.
Melanie trank einen Schluck Almdudler. „Ich halte es für eher unwahrscheinlich. Die Geschwister scheinen sich prima zu verstehen, sind beide voll integriert. Wieso soll der Junge verschwinden und seiner Schwester gegenüber vorher keinerlei Andeutungen machen?“
Siggi zuckte die Achseln. „Manchmal gibt es Ereignisse, die den unauffälligsten Menschen austicken lassen.“
Melanie nickte. So wie bei ihm. Siggi war nach den Verlusten von Frau und Tochter aus dem Staatsdienst ausgeschieden und hatte fünfzehn Jahre freiwillig auf der Straße gelebt. Kurz vor seiner Rückkehr ins normale Leben hatte Melanie ihn bei ihrem ersten Fall im Taunus kennengelernt. Durch die gemeinsamen dramatischen Erlebnisse war eine Freundschaft entstanden. Schließlich hatte er sie ins Vertrauen gezogen und erzählt, was damals wirklich geschehen war. Seitdem seine Nichte im Frühsommer auf tragische Weise gestorben war, führte er das Silberne Bein allein. Er beschäftigte die Köchin Susanne Heimer und einige Aushilfen.
„Dann sag mir, woher die 20.000 Euro in Tahminehs Briefkasten kommen“, bohrte sie weiter.
„Wenn du mich fragst, aus einem dreckigen Geschäft. Drogen oder so was. Der Junge hat eine Menge Kohle gemacht und geteilt, weil er ein schlechtes Gewissen hat.“
Das klang logisch. Dennoch störte sie diese banale Erklärung. Vor allem, weil sie Easons Schwester sympathisch fand, und es ihr widerstrebte, sie zu enttäuschen.
„Wir werden sehen. Ich nehme mir morgen seine Sachen in der Wohnung vor. Wäre doch gelacht, wenn ich keinen Hinweis finden würde.“
Siggi grinste. „Tu das.“
Die Tür ging auf, Susi kam mit hochrotem Kopf herein. „In Bad Homburg und Königstein ist die Hölle los. Die sozialen Medien überschlagen sich. Innerhalb einer Stunde wurden zwei Ärzte erschossen. Im Netz wird behauptet, dass es sich um den Amoklauf eines Verrückten handelt. Die Hochtaunuskliniken sind angeblich abgeriegelt und Ärzte im Umkreis unter Polizeischutz gestellt.“
Melanie rollte mit den Augen. „Das ist typisch Internet. Jeder weiß was, vor allem die, die nichts wissen. Das mit dem Polizeischutz ist ganz bestimmt Schwachsinn. Ich war lange genug beim Landeskriminalamt. Das ist schon allein wegen des fehlenden Personals unmöglich.“
Er nickte. „Mel hat recht. Lass uns abwarten. Sandro wird uns sicher zu gegebener Zeit aufklären.“
Susi verzog das Gesicht. „Wenn ihr meint.“ Genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie wieder.
Melanie sah Siggi an. „Wenn das mit den Toten stimmt, klingt das allerdings interessant.“ Sie wählte Sandros Nummer ohne besondere Hoffnung, dass der Verlobte ihrer Schwester Anja drangehen würde.
Sandro stand kurz nach 10 Uhr zusammen mit Sarah vor einem weißen doppelstöckigen Bungalow mit Flachdach, dessen Außenwände aus bodentiefen Fenstern zu bestehen schienen. Ihn beschlich das zwiespältige Gefühl aus positiver Anspannung, die ein neuer Ermittlungsfall mit sich brachte, und dem Unmut, am Wochenende arbeiten zu müssen.
Sarah drückte den Klingelknopf mit der Aufschrift Feuerschuh. Ihr Besuch war angemeldet, seit Martin und Antonia der Witwe am Vorabend die Todesnachricht überbracht hatten.
Ein Mann mit gebräuntem Teint, kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und einem Oberlippenbart öffnete die Tür.
Sandro schätzte ihn auf Mitte zwanzig. „Guten Morgen“, grüßte er und hielt seinen Dienstausweis hoch, „Ich bin Kriminaloberkommissar Kimmerle.“ Er zeigte auf seine Kollegin. „Das ist Kriminalkommissarin Schwenke. Wir sind bei Frau Feuerschuh angekündigt.“
Der Mann nickte wortlos und gab die Tür frei.
„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, erkundigte sich Sandro, den das abweisende Verhalten des Türöffners störte.
„Armin Mamani“, kam die gleichgültige Antwort. „Carsten war mein Onkel.“ Er führte sie durch den Flur in ein riesiges Wohnzimmer, das mit ausschließlich weißen Möbeln eingerichtet war. Sandro empfand es als ungemütlich kühl, fast noch kälter als draußen. In einer ledernen Sitzlandschaft saßen vier Personen. Auf der Couch zwei schwarzhaarige Frauen, bei denen es sich offenkundig um Schwestern handelte. Sie waren Anfang bis Mitte vierzig, schlank und hatten eine leicht südamerikanische Anmutung.
Von einem Sessel aus blickte sie ein grauhaariger Mann mit ausdrucksloser Miene an, der ein paar Jahre älter zu sein schien. Ihm gegenüber saß ein dürrer Teenager mit einer schwarzen Lockenfrisur, der einen Besen verschluckt haben musste. Sandro wusste, dass die Ehefrau Rilana Bolivianerin war, und nahm an, dass hier deren Familie versammelt war. Der Jüngling war vermutlich der Sohn des toten Arztes.
Er wiederholte die Vorstellungsprozedur und sah zur Couch. „Frau Feuerschuh, wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen.“
Die etwas Zierlichere zuckte kurz zusammen, nickte, und schaute den Mann an, der aufstand.
„Guten Morgen“, begann er mit tiefer Stimme, wobei seine Augen funkelten. „Mein Name ist Iver Mamani, ich bin Rilanas Bruder.“ Er sprach ohne Akzent und deutete auf die zweite Frau, die ein zaghaftes Lächeln zeigte. „Meine Schwester Vania, mein Sohn Armin hat Ihnen die Tür geöffnet und der junge Herr hier ist Noah, der Sohn des Hauses. Was können wir für Sie tun?“
Sandro missfiel die gesamte Atmosphäre. Eigentlich hatte er Sarah mitgenommen, da er eine trauernde Witwe erwartet und mit weinenden Menschen Probleme hatte. Umso mehr irritierte ihn dieser gleichgültige Auftritt der Beteiligten.
„Wir möchten uns mit Frau Feuerschuh unterhalten“, entgegnete er, wobei er den Namen betonte. „Am besten zunächst allein. Zu Ihnen allen werden wir sicher auch noch kommen.“
Mamanis Miene verhärtete sich. „Wir sind eine Familie und haben keine Geheimnisse voreinander.“
Sandro machte einen halben Schritt nach vorne und stand nun zwanzig Zentimeter vor Mamani, der zwar muskulös war, ihm allerdings nur bis zur Brust reichte.
Sandros Stimme wurde scharf. „Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden. Wir entscheiden, mit wem wir sprechen und wann. Ich vermute, dass Ihnen allen daran gelegen ist, den Täter so schnell wie möglich zu finden. Das klappt am besten, wenn Sie kooperieren und wir keinen Diskussionsklub veranstalten.“
„Ich möchte, dass meine Familie dabeibleibt.“ Rilana konnte tatsächlich reden, und das, im Gegensatz zu ihrem Bruder, mit einem leichten Akzent.
Sandro seufzte. „Also okay, dann versuchen wir es. Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“
„Gestern am frühen Nachmittag. Er wollte zu Holger Lorenz. Die beiden spielen jeden Freitag Schach.“
„War er anders als sonst? War etwas ungewöhnlich?“
Die Ehefrau schüttelte den Kopf.
Er vermochte nicht zu sagen, ob das Verhalten Gleichgültigkeit widerspiegelte oder einem Schockzustand geschuldet war. „Gibt es jemanden, mit dem er Streit hatte? Wurde er bedroht?“
Wieder das Kopfschütteln.
Genervt sah er einen Moment Sarah an, die sofort verstand.
„Frau Feuerschuh“, sagte sie sehr behutsam. „Wir verstehen, wie Sie sich fühlen müssen und wollen Sie so wenig wie möglich belasten. Wir sind aber auf Ihre Mithilfe angewiesen, wenn wir denjenigen finden wollen, der Ihrem Mann das angetan hat.“
Rilana schaute die Kollegin direkt an.
„Welche Art von Arzt war Ihr Mann und wo hat er gearbeitet?“
„Er ist Chirurg und macht Organtransplantationen. Er arbeitet im Christiaan-Barnard-Klinikum in Frankfurt.“
Sandro hatte den Namen schon einmal gehört. Soweit er wusste, handelte es sich dabei um eines der namhaftesten Transplantationszentren in Deutschland.
„Hat er auch gestern dort gearbeitet?“, fragte Sarah weiter.
„Nein, er hatte in der Nacht zuvor eine Notoperation nach einem Verkehrsunfall und war erst gegen Mittag heimgekommen. Er hat sich hingelegt und ist dann zu Holger gefahren. Das Schachspiel war ihm heilig.“
„Verstehe. Kennen Sie Dr. Tobias Primmer?“
„Wir alle kennen Tobias und Holger“, mischte sich der Bruder ein. „Carsten, die beiden und ich sind die Gründer des Vereins Soziale Hilfe im Hochtaunuskreis. Sie müssen wissen, …“
„Danke, Herr Mamani“, griff Sandro ein und warf ihm einen Blick zu, von dem er hoffte, dass dieser ihn zumindest bewusstlos machen würde. Gleichzeitig speicherte er die Information ab.
Der Schwager des Toten hob die Hände und setzte sich wieder. Erst jetzt fiel Sandro auf, dass man ihnen keinen Platz angeboten hatte. Auch egal.
„Warum fragen Sie nach Tobias?“, erkundigte sich Rilana.
Die Kollegin stimmte sich mit einem kurzen Blickkontakt ab und antwortete. „Er wurde gestern Abend ebenfalls erschossen.“
Die nicht vorhandene Reaktion ließ darauf schließen, dass die Anwesenden das bereits gehört haben mussten.
Es klingelte. „Das werden die Kriminaltechniker sein“, teilte Sandro mit. „Die Kollegen müssen sich im Haus umsehen. Wir versuchen, so wenig wie möglich zu stören. Es wird nicht lange dauern.“
Sarah ging zur Haustür.
„Haben Sie dafür einen richterlichen Beschluss?“ Mamani stand wieder auf. „Ohne einen solchen sieht sich in diesem Haus niemand um!“
Sandros Geduld war am Ende, er hob die Stimme. „Jetzt reicht es. Ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass Sie kein Interesse daran haben, zu erfahren, wer Ihren Schwager getötet hat. Da fange ich langsam an, mir Gedanken zu machen, warum das so ist. Es ist absolut notwendig und üblich, dass wir uns nach dem gewaltsamen Tod eines Menschen die Wohnung ansehen. Normalerweise geht das ohne Probleme. Ich bitte Sie, jetzt zu gehen, da Sie unsere Arbeit behindern. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, Ihnen einen Platzverweis auszusprechen. Haben wir uns verstanden?“
Mamanis Gesicht verdunkelte sich. Er setzte zu einer Erwiderung an.
„Iver, dein verdammtes Machogehabe ist peinlich.“ Rilanas Schwester Vania kam um den Tisch und stellte sich direkt vor ihren gleichgroßen Bruder. „Du wirst jetzt die Polizei ihre Arbeit machen lassen oder verschwinden.“
Die Blicke der beiden verhakten sich einen langen Moment, bis Mamani hörbar ausatmete und zur Wohnzimmertür eilte. Beinahe wäre er dort in Hartmut Klinger hineingelaufen, der stirnrunzelnd beiseitetrat.
„Ups, da hat es ja jemand eilig.“
***
Melanie klingelte am frühen Nachmittag an der Haustür eines Achtfamilienhauses im Usinger Weg. Tahminehs Stimme ertönte aus der Gegensprechanlage. Die irakischen Geschwister wohnten in der vierten und obersten Etage in einer Dreizimmerwohnung, die Melanie ein bisschen zu orientalisch eingerichtet war.
„Guten Morgen. Gibt es etwas Neues?“
„Nein, leider nicht“, antwortete Melanie, worauf sich ein Schatten auf das Gesicht der Irakerin legte. „Sie müssen ein wenig Geduld haben. Ich bin gerade dabei, mir ein Bild zu machen und irgendwo einen Anhaltspunkt zu finden. Deshalb möchte ich mir Easons Zimmer ansehen.“
Tahmineh führte sie zu einem Raum am Ende des Flurs. Sie öffnete die Tür. Die Einrichtung erinnerte an ein Jugendzimmer. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch, ein kleiner Sessel und ein Couchtisch, dazu ein Regal mit einer Reihe von Büchern. Auf den ersten Blick handelte es sich um Fachliteratur in deutscher und englischer Sprache.
Melanie zeigte auf einen auf dem Tisch stehenden Laptop. „Ist der mit einem Passwort geschützt?“
„Wie man es nimmt“, kam die überraschende Antwort. „Eason verwendet überall dasselbe. E12031994. Sein Anfangsbuchstabe und sein Geburtsdatum. Ich hab ihm zigmal gesagt, dass das zu einfach ist.“
Melanie schmunzelte und startete den Computer. Sie gab den Code ein und sofort erschien die Startseite. Neben den üblichen Apps waren ein paar Spiele zu erkennen. Sie öffnete das Mailpostfach. Die Nachrichten waren eine bunte Mischung aus Deutsch und Englisch, zudem waren einige in arabischen Schriftzeichen verfasst. Sie ging die Einträge, soweit sie sie lesen konnte, durch. Es drehte sich meist um das Studium des Verschwundenen. Er tauschte sich mit einer überschaubaren Anzahl von Personen aus, deren Namen sie ins Smartphone tippte.
Sie sah Tahmineh an. „Können Sie bitte die arabischen Mails durchsehen, ob sich dort etwas Ungewöhnliches befindet?“
Die junge Frau rief die entsprechenden Texte auf. Wenig später schaute sie Melanie an. „Er hat nur mit Haias Kazem geschrieben. Sie erinnern sich? Unser Freund aus unserer Heimat, der in Oberursel lebt. Es ist das übliche Gespräch unter Freunden, ab und zu eine Verabredung, aber nichts Besonderes.“
„Von wann ist die letzte Nachricht?“
„Vom 21.Oktober. Eason schreibt Haias, dass er wegen des Studiums verreisen müsste. Haias wünschte ihm viel Spaß und freute sich darauf, ihn gesund wiederzusehen.“
Einen Tag, bevor Eason verschwand. Auch hier hatte er wegen des Reisegrunds gelogen. Was war so geheimnisvoll, dass er selbst seinen engsten Vertrauten nicht die Wahrheit gesagt hatte? Das roch immer mehr nach etwas Illegalem.
„Haben Sie mit diesem Haias gesprochen? Hat sich Ihr Bruder ihm gegenüber merkwürdig verhalten?“
„Ich habe heute Morgen noch einmal mit ihm telefoniert. Er ist genauso ratlos wie ich. Das Einzige, was ihm aufgefallen ist, war die letzte Verabschiedung der beiden. Eason habe ihn sehr lange umarmt und gesagt, er solle zu Allah beten, dass alles gut gehen würde. Haias hat dann wohl gefragt, was Eason denn vorhabe. Der hat nur geantwortet, dass er das erzählen würde, wenn alles geklappt hätte. Haias hat nicht nachgebohrt und gedacht, Eason hätte eine wichtige Prüfung.“
Melanie überlegte. Es wurde immer dubioser. Anscheinend hatte der Iraker nicht nur eine größere Geldsumme in Aussicht gehabt, sondern zudem Angst. „Kann ich mit diesem Freund sprechen?“
„Natürlich, das kann ich arrangieren. Haias spricht nur arabisch und ganz wenig Englisch. Ich kann übersetzen.“
„Gut, ich komme darauf zurück.“ Im Augenblick hatte dieses Gespräch keine Priorität, da sie aufgrund des Mailverkehrs nicht glaubte, Haias könne etwas über den Hintergrund des Verschwindens wissen. Sie zog die Schubladen des Schreibtischs auf, fand darin jedoch nichts, was ihr einen Hinweis gegeben hätte. Sie bückte sich und sah unter das Bett. Nur ein paar Staubflocken. Nun hob sie die Matratze an. Sie knetete die Kissen auf der Suche nach verborgenen Gegenständen erfolglos durch. Schließlich öffnete sie den Schrank, der nur Kleidung enthielt.
Ihr Blick fiel auf eine Wasserpfeife mit einem goldenen Fuß, die auf einem Hocker stand. Sie nahm sie hoch, es klapperte. „Ist der Ton normal?“
Tahmineh schüttelte den Kopf.
Melanie schraubte die Pfeife vom Wasserbehälter ab. Sie drehte das Gefäß um und konnte gerade noch ein Handy auffangen.
Mit einem Bauchkribbeln tippte sie das Passwort ein. Ungültig! Warum hatte Eason hier einen anderen Code festgelegt? Ihr kam ein Gedanke.
„Sagen Sie mir bitte Ihr Geburtsdatum.“
Die Schwester runzelte die Stirn. „23.7.1997.“
Melanie gab die Zahlen ein, wobei sie diesen ein T vorstellte. Das Display öffnete sich. Sie rief die Anrufliste auf. Es gab nur drei kurze Gespräche mit ein und derselben Mobilnummer. Sie drückte auf Wahlwiederholung.
***
Zur selben Zeit in einem Besprechungsraum der Polizeidirektion in der Saalburgstraße.
Das Team war vollständig versammelt, dazu Oberstaatsanwalt Norbert Sailer, der Direktionsleiter, Kriminaldirektor Sebastian Wolrich, sowie Hartmut Klinger.
Sandro schloss seinen Bericht über den Besuch im Hause Feuerschuh ab und sah Sarah an. „Ich glaube, wir sind uns einig, dass in dieser Familie eine ganze Menge nicht stimmt.“
Sie nickte. „Die Witwe wirkte, als stehe sie unter starken Beruhigungsmitteln und irgendwie apathisch. Von Trauer keine Spur. Vielleicht stand sie wirklich unter Medikamenten. Der Sohn Noah ist Schüler und erschien mir sehr gehemmt. Er ist anscheinend ein begnadeter Musiker und steht kurz vor der Aufnahmeprüfung zur Universität der Künste in Berlin.“
„Die Mamanis sind nicht minder interessant“, übernahm Sandro wieder das Wort. „Der Schwager ist, wie ich ihn vorhin schon beschrieben habe, ein arroganter Kotzbrocken. Die Einzige, die ihm Paroli bietet, ist seine Schwester Vania. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass auch zwischen den Schwestern Spannungen bestanden. Den Sohn Armin kann ich noch nicht einschätzen. Er scheint der Normalste von allen zu sein.“
„Könnte die Familie etwas mit den Morden zu tun haben?“, erkundigte sich Oberstaatsanwalt Sailer und zupfte an seinem gepflegten Kinnbart. Er war Anfang fünfzig und trug wie gewohnt einen Designeranzug ohne Krawatte. Seit ein paar Wochen rundeten dunkelrote Sportschuhe das Bild ab.
Sandro wiegte den Kopf. „Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungstaten, oft in der Familie. Das bietet sich auch hier an. Aber wie passt die Ermordung von Dr. Primmer rein? Wir lassen derzeit alle Optionen offen.“
„Was macht dieser Iver Mamani beruflich?“, fragte Sebastian Wolrich und nestelte an seiner Lesebrille. Sein gewöhnlicher Büroanzug, der nachlässig gebundene Schlips und die abgewetzten Lederschuhe verliehen dem übergewichtigen Direktionschef das Erscheinungsbild eines unscheinbaren Beamten. Sandro hatte das Gefühl, dass das beabsichtigt war, um unterschätzt zu werden. Darauf hereinzufallen war jedoch ein großer Fehler, denn Wolrich besaß einen messerscharfen Verstand und beeindruckende analytische Fähigkeiten. Am meisten allerdings schätzte Sandro seine faire Führung und die damit verbundene Selbstverantwortung des Teams.
„Er ist Eigentümer einer europaweit agierenden Spedition, die in Friedrichsdorf angesiedelt ist. Er hat sich aber aus dem Geschäft weitgehend zurückgezogen. Der Sohn führt das Unternehmen zusammen mit einem Daniel Illic. Iver privatisiert quasi und ist karitativ tätig.“
„Wie in diesem Verein, von dem du vorhin gesprochen hast. Wie heißt der doch gleich?“
„Soziale Hilfe im Hochtaunuskreis. Es handelt sich um eine Gründung von den beiden Toten sowie von Iver Mamani und Holger Lorenz, mit dem Feuerschuh vor seinem Tod Schach spielte. Da haben wir auch eine Verbindung der Opfer. Der Verein hilft sozial Schwachen in allen Lebenslagen. Es gibt eine Reihe von Ehrenamtlichen. Die Gründer sind vor allem für das Sammeln von Spenden zuständig, was ihnen anscheinend sehr gut gelingt. Sie bringen auch privates Vermögen ein. Zudem haben sie angeblich einen hervorragenden Kontakt zum Kreis und den Kommunen.“
Martin schaute in die Runde. „Wenn es keine weiteren Fragen gibt, vielleicht noch ein wenig zu den Primmers. Die beiden sind kinderlos und Betreiber einer Klinik für plastische Chirurgie in Falkenstein. Frau Primmer ist völlig fertig, steht unter ärztlicher Obhut und konnte keine brauchbaren Hinweise geben. Nur so viel, dass Feuerschuh und ihr Mann an dem Abend verabredet waren.“
Hartmut Klinger hielt einen Plastikbeutel hoch. „Hier ist Carsten Feuerschuhs Smartphone. Wir haben im Terminkalender keine Verabredung mit Primmer gefunden. Auch sonst keine Nachrichten, dass ein Termin vereinbart wurde.“
„Sie können den Termin telefonisch ausgemacht haben“ meinte Martin. „Wir sollten in jedem Fall davon ausgehen, dass der Täter Feuerschuh beobachtete oder seine Gewohnheiten kannte. Möglicherweise wusste er auch von dem geplanten Treffen in Falkenstein.“
Die Melodie Spiel mir das Lied vom Tod ertönte. Der Kriminaltechniker blickte auf das Handy in seiner Hand an und nahm das Gespräch an.
„Hallo, hier spricht Kriminalhauptkommissar Hartmut Klinger.“ Nach einer kurzen Pause weiteten sich seine Augen, er sah verständnislos in die Runde. „Frau Gramberg? Das ist ja eine Überraschung.“
***
Eine halbe Stunde später saß Melanie in der Saalburgstraße mit Martin und Sandro zusammen. Sie war sicherlich nicht weniger erschrocken gewesen als der Techniker, als die Telefonverbindung zustande gekommen war. Warum besaß Eason Girak die Telefonnummer von Carsten Feuerschuh und warum hatte er mit diesem über ein geheimes Telefon in Kontakt gestanden? Sie hatte vom rätselhaften Verschwinden des Irakers und dem Auffinden des Handys berichtet.
„War der Bruder krank?“, fragte Martin. „Könnte er bei dem Arzt in Behandlung gewesen sein?“
„Nein, ganz bestimmt nicht“, widersprach Melanie. „Laut Tahmineh war Eason topfit. Er hat regelmäßig Sport getrieben. Außerdem hätte er ihr auch sicher davon erzählt.“
„Nun ja“, kam prompt der Einwand. „Alles hat er ihr ja nicht verraten, sonst wüsste sie, wo er sich gerade befindet.“
Melanie war klar, dass das ein berechtigter Hinweis war. „Martin, es ist doch völlig unlogisch. Warum sollte der Junge mit dem Arzt über ein verstecktes Telefon kommunizieren, wenn es sich um ein Arzt-Patienten-Verhältnis handelte? Wenn ich euch recht verstanden habe, war Feuerschuh eine Koryphäe in der Transplantationsmedizin. Glaubst du wirklich, er würde einen Flüchtling behandeln und direkt mit ihm sprechen? Niemals. Wenn dem so wäre, müsste es Unterlagen in der Transplantationsklinik geben.“
„Guter Punkt“, gab Martin zu. „Wir haben in den Wohnhäusern nichts Brauchbares gefunden. Bei Feuerschuh nicht einmal einen Computer. Die Verbindungen seines Smartphones überprüfen wir. Am Montag werden wir seine Arbeitsstelle am Riedberg besuchen. Außerdem fahren wir in diese Schönheitsklinik.“
Sie wusste, dass er ihr Ermittlungsdetails verriet, die sie nicht wissen durfte. Seitdem sie dem Bad Homburger Polizeiteam ein paar Mal geholfen hatte, hatte sich ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt, nicht nur, weil Sandro mit ihrer Schwester Anja liiert war und sie noch vor Weihnachten heiraten wollten. Sie wurde selbst von Direktionsleiter Wolrich und Oberstaatsanwalt Sailer geschätzt, die beide diese ungewöhnliche „Zusammenarbeit“ tolerierten. Dabei war sicherlich hilfreich, dass Siggi mit dem Staatsanwalt eine berufliche Vergangenheit in Düsseldorf hatte und sie inzwischen befreundet waren.
Melanie schaute Sandro an. „Was macht die Ortung von Easons normalem Handy?“
„Nichts. Es ist ausgeschaltet. Wir haben die Providerdaten angefordert.“
„Seid ihr denn bei den Ermittlungen zu den Tötungsdelikten vorangekommen?“
„Nicht wirklich“, gab er zu. „Die Spurenlage ist dünn. Vermutlich auch, weil es direkt nach der ersten und während der zweiten Tat heftig geregnet hat. Aber nicht nur deshalb. Der Täter scheint sehr umsichtig vorgegangen zu sein. Es gab keine Patronenhülsen. Entweder hat er sie eingesammelt oder einen Revolver verwendet. Die Lage der Leichen zeigt, dass die Fundorte auch die Tatorte sind. Wir haben aber die Kugeln sichergestellt. Es handelt sich dabei um Kaliber .44 Magnum. Demnach um eine ordentliche Munition. Wir müssen die Obduktionsberichte abwarten.“ Er lehnte sich zurück.
Nicht viel, dachte Melanie. „Gibt es Zeugen?“
„Im Cabourgweg gab es eine Frau, die den mutmaßlichen Täter weglaufen sah und beschreiben konnte. Diese Beschreibung deckt sich mit der Aussage der Ehefrau von Dr. Primmer, die ihn ebenfalls, zumindest von hinten, gesehen hat. Die Zeugin in Bad Homburg hat die Tat beobachtet. Auffallend ist, dass der Täter wohl unglaublich ruhig gehandelt hat. Er hat den zweiten Schuss ohne besondere Eile gesetzt und auch die Flucht kam der Zeugin nicht besonders hektisch vor. In Falkenstein haben wir eine Frau, die circa fünfzig Meter vom Tatort entfernt wohnt. Sie war gerade dabei, die Rollläden runterzulassen, als sie die Schüsse hörte. Kurz darauf sei ein Mann, auf den die Täterbeschreibung passt, in einen dunklen Wagen gegenüber ihres Hauses eingestiegen und weggefahren. Leider kann sie weder sagen, um welchen Fahrzeugtyp es sich gehandelt hat, noch hat sie sich das Nummernschild gemerkt.“
Ein schwacher Anhaltspunkt, dennoch besser als nichts. „Also heißt es abwarten. Beschäftigt ihr euch jetzt mit der Suche nach Eason?“
Martin hob die Hände wie zur Abwehr. „Wir ganz sicher nicht. Wir haben aber nach der neuesten Entwicklung die zuständigen Kollegen informiert. Unser Chef hat angeordnet, dass sie das als offiziellen Vermisstenfall behandeln. Die Schwester wurde für Montag einbestellt.“
Sie nickte befriedigt. Wenigstens etwas. Das würde ihr selbst die Arbeit erleichtern.
„Mir kommt da gerade ein Gedanke“, meldete sich Sandro. „Die Opfer sind doch Mitglieder von diesem Wohltätigkeitsclub.“ Als er Melanies erstauntes Gesicht wahrnahm, erzählte er ihr kurz vom Verein Soziale Hilfe im Hochtaunuskreis. „Die Geschwister gehören doch ganz sicher zu deren Zielgruppe. Vielleicht besteht die Verbindung zwischen Girak und Feuerschuh daher.“
„Könnte zwar theoretisch sein“, gab Martin zu, „aber die Herren Gründer hatten, soweit wir bisher wissen, kaum Kontakt zu den Bedürftigen. Wer sagt überhaupt, dass Giraks Verschwinden etwas mit den Tötungsdelikten zu tun hat? Als Täter scheidet er aufgrund der Zeugenangaben schon allein wegen der Größe und Statur aus. Außerdem ist er sicher nicht der Profi, der unser Täter offenbar ist. Möglicherweise ist sein Kontakt zu Feuerschuh reiner Zufall.“
Natürlich konnte das sein. Es widerstrebte Melanie jedoch, die Fälle nicht zusammen zu betrachten. „Möglich“, meinte sie unverbindlich, „ich frage mich allerdings nach wie vor, wie ein junger Migrant eine große Geldsumme aus einem legalen Geschäft in Aussicht gehabt haben sollte. Weiter ist mir schleierhaft, woher die 20.000 Euro kommen, die Tahmineh im Briefkasten gefunden hat. Für mich scheidet Eason aus. Warum sollte er verschwinden und später das Geld einwerfen, ohne sich zu melden? Mich würde es nicht wundern, wenn es direkt oder indirekt von Feuerschuh kommen würde. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem letzten Kontakt und dem Verschwinden ist kein Zufall. Es sieht mir fast wie eine Erpressung aus. Doch womit sollte Eason den Arzt erpresst haben?“
Melanie saß am späten Vormittag in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Couchtisch stand die obligatorische Flasche Almdudler. Sie hatte das Getränk als Jugendliche bei einem Skiurlaub mit den Eltern in Österreich kennen und lieben gelernt. Es war neben Kaffee, Tee und Mineralwasser das Einzige, was sie trank. Alles andere, insbesondere Alkohol, mied sie weitgehend. Dafür trieb sie eifrig Sport. So hatte sie am Morgen ihr übliches Programm durchgezogen: Einen Jogginglauf zum drei Kilometer entfernten Seedammbad, wo sie 2 000 Meter schwamm. Anschließend joggte sie zum Fitnessstudio im Kurpark, absolvierte dort einen Zirkel an den Kraftgeräten und rannte danach nach Hause. Insgesamt war sie etwas über zwei Stunden unterwegs gewesen.
Aus den in den Ecken des Zimmers installierten Lautsprechern klangen Töne von Carlos Santana, den sie seit einiger Zeit zu einem ihrer Lieblingsmusiker erkoren hatte. Sie ließ die Veränderungen der vergangenen Monate Revue passieren und war froh, die Strapazen des Hausumbaus in Kauf genommen zu haben.
Siggi war mit der Renovierung des Silbernen Beins richtig aufgeblüht. Der befürchtete Gästeschwund war zum Glück ausgeblieben, im Gegenteil, es waren Stammgäste dazugekommen, erfreulicherweise sogar jüngere, und die Wirtschaft war gut besucht. Außerdem wurde sein Sozialprojekt, bei dem er wöchentlich Obdachlose zum kostenlosen Mittagessen, zum Duschen und Wäschewaschen einlud, extrem dankbar angenommen. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass er manche vom eigenen Leben auf der Straße her kannte. Im Frühjahr würde der Schutzkeller aus dem 2. Weltkrieg zu einem Gastgewölbe ausgebaut werden. Der Ort, in dem Melanie während ihres ersten Falls als Privatdetektivin eingesperrt worden war und aus dem Siggi sie befreit hatte.
Melanie dachte an den Aufenthalt in Dubai vor ein paar Wochen, bei dem sie ihre Beziehung zu Philipp Bauscher vertieft hatte. Er hatte versprochen, zu Anjas Hochzeit nach Deutschland zu kommen. Das von ihm geleitete IT-Projekt würde Ende Januar beendet sein. Sie war gespannt, wie es zwischen ihnen weitergehen würde. Mittlerweile hatte sie das vorsichtige Gefühl, wieder für eine Partnerschaft bereit zu sein. Das erinnerte sie an die dramatischen Erlebnisse davor. Den Tod ihres Lebenspartners Erik, der bei einer gemeinsamen Einsatzfahrt beim Mobilen Einsatzkommando in Hamburg gestorben war, hatte sie bewogen, aus dem Polizeidienst auszuscheiden. Ein harmlos klingender Auftrag hatte sie in den Taunus verschlagen, doch in der Folge war es zum Attentat auf Anja gekommen, bei dem ein früherer Polizeikollege ums Leben gekommen war. Dazu der zweite Mordversuch an ihrer Schwester, bei dem sie zum Glück aus dem monatelangen Wachkoma erwacht war. Melanie merkte zufrieden, dass sie einen immer größeren Abstand zu den Ereignissen gewann, zumal sich Anja fast vollständig von der schweren Kopfverletzung erholt hatte. Nur die Ermordung von Siggis Nichte Katja, die die Täterin vor sechs Monaten mit Melanie verwechselt hatte, belastete sie noch immer. Das würde sicher noch eine Weile andauern.
Es klingelte. Melanie ging zur Wohnungstür. Im Display der Kamera erschien Anjas Bild, die ihr zuwinkte. Sie kam die Treppe langsam hoch. Auf ihrem sonst meist fröhlichem Gesicht schien ein Schatten zu liegen.
„Guten Morgen, Mel. Hast du einen Moment?“
Das klang nicht gut.
„Klar, Kleines, für dich doch immer.“ Sie umarmten sich. Ein Außenstehender hätte kaum vermutet, dass sie Geschwister waren. Die zwei Jahre jüngere Anja war nicht nur deutlich kleiner, ihr Körper war auch weiblicher und runder, ohne dabei korpulent zu sein. Ihre langen blonden Haare, die sie zu einem Zopf geflochten hatte, bildeten einen Kontrast zu Melanies schwarzem Bubikopf. Früher hatten sie manchmal gewitzelt, eine von ihnen sei wahrscheinlich nach der Geburt vertauscht worden.
Sie gingen ins Wohnzimmer.
„Möchtest du einen Kaffee?“
Anja lehnte dankend ab und setzte sich in einen Sessel. „Ich will nicht lange bleiben. Will dich nur um einen Rat bitten.“
Melanies Atmung beschleunigte sich. Sie schaltete die Musik aus und nahm auf der Couch Platz. „Schieß los, was ist passiert?“
Die Schwester holte hörbar Luft. „Ich weiß nicht, ob ich heiraten soll.“