Taunusleid - Osvin Nöller - E-Book

Taunusleid E-Book

Osvin Nöller

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Beschreibung

Opfer bleiben oft Opfer und ziehen das Leid an. Manche werden zu Tätern, um danach ein noch größeres Leid zu erfahren. Wer kann über deren Schicksal richten? Als Privatdetektivin Melanie Gramberg damit beauftragt wird, herauszufinden, ob eine reiche Witwe auf einen Betrüger hereingefallen ist, sieht alles erst wie reine Routine aus. Doch dann verschwindet die fünfzehnjährige Tochter des vermeintlichen Betrügers und Melanies Mandant, der Sohn der Witwe, gerät ins Visier der Ermittlungen. Melanie sucht nicht nur nach Beweisen für die Unschuld ihres Mandanten, sondern auch nach dem Mädchen. Dabei verstrickt sie sich in tödliche Familiengeheimnisse. Bald befindet sich Melanie in einem Wettlauf mit dem Tod.

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Inhaltsverzeichnis

Freitag, 3. Juli, abends

Montag, 6. Juli

Dienstag, 7. Juli

Mittwoch, 8. Juli

Donnerstag, 9. Juli

Freitag, 10. Juli

Samstag, 11. Juli

Sonntag, 12. Juli

Montag, 13. Juli

Dienstag, 14. Juli

Mittwoch, 15. Juli

Donnerstag, 16. Juli

Freitag, 17. Juli

Samstag, 18. Juli

Sonntag, 19. Juli

Montag, 20. Juli

Dienstag, 21. Juli

Mittwoch, 22. Juli

Donnerstag, 23. Juli

Freitag, 24. Juli

3 Monate danach

Dank

Autor

Aus der Melanie-Gramberg-Reihe sind bisher erschienen:

Taunusgier (2019)

Taunusschuld (2020)

Taunuskinder (2021)

Taunuswahn (2022)

Einzelwerke des Autors:

Verfluchtes Taunusblut (2018)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors.

© 2024 Osvin Nöller · [email protected]

Osvin Nöller, Jakob-Lengfelder Str. 24a, 61352 Bad Homburg

Lektorat: Ursula Hahnenberg · buechermacherei.de

Satz u. Layout / E-Book: Gabi Schmid · buechermacherei.de

Covergestaltung: smartline werbeagentur · smartline.info

Fotos / Grafiken: Fotostudio Hawlitzki · fotostudio-hawlitzki.de; buechermacherei.de; #195937322, #23510429, #267240207 | AdobeStock

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg

1. Auflage

ISBN Softcover: 978-3-384-17022-4

ISBN Hardcover: 978-3-384-17023-1

ISBN EBook: 978-3-757-97770-2

Freitag, 3. Juli, abends

Leonie wischte sich die Tränen aus den Augen und las erneut:

es ist der 3. Juli es ist um die 12:00 ich schrieb ihm „wollen wir uns sehen bin hinter der Turnhalle“ nach einer Weile schrieb er „ich komme“. mein herz schlug wild Ben sah krass aus die kippe zwischen den Lippen die Muskeln unter dem shirt. wow. ich dachte jetzt wird alles wieder gut er mag mich doch. Ich umarmte ihn gab ihm einen Kuss. schmolz wegen seinem blick weg. er schob mich zur wand drückte mich gegen die wand und seinen Unterleib gegen mich er war hart. es war so ein schönes Gefühl, ich fühlte mich endlich daheim. nun führte er mich zu dem kleinen Bolzplatz es war niemand da. wir setzten uns auf eine Bank. er schob mein Bein über seins griff mich zwischen die Beine und begann mit der Hand zu reiben. ich schob die Hand weg. er versuchte den Reißverschluss von meiner Hose zu öffnen. ich schob die Hand weg. „ich will das hier nicht, wenn jemand kommt“. „na und, dann sieht der wie ich dich ficke dann weiß jeder was für eine kleine Schlampe du bist“ ich versuchte aufzuspringen er hielt mich zurück. er drückte mich mit der Hand gegen die Bank und öffnete meine Hose zog mir dann den Slip runter. ich wehrte mich schlug ihn. er lachte und öffnete seine Hose. holte seinen Schwanz raus er war hart. „los lutsch ihn“. ich schüttelte den Kopf. da schlug er mich ins Gesicht. er schob mein t-Shirt hoch beugte sich runter und biss in meine linke Brust. er saugte dran bis es blau / grün / gelb wurde. Ich schrie und versuchte ihn wegzudrücken. er lachte und wollte mir seinen Penis in den Mund schieben. ich drehte den Kopf weg. er umarmte mich und hob mich auf seinen Schoss. er wollte in mich eindringen. ich schrie „nein, nein, nein“ plötzlich stand er auf zog seine Hose hoch und sah mich wütend an. ich zog den Slip und die Hose hoch und sprang auf ein paar Schritte von ihm weg. „ich gehe jetzt“. er nickte „mach mal“. ich weinte und lief weg. er lachte ganz laut und rief „ich liebe dich“ hinter mir her. ich fühlte mich so schlecht haben 20 nein’s nicht gereicht ich dachte er kommt zu mir zurück. warum habe ich mich nicht mehr gewehrt? war das eine Vergewaltigung? heute ist in mir was zerbrochen. ich fühle mich verantwortlich weil ich mich nicht genug gewehrt habe. bin ich schuld? was soll ich tun?

Eine Träne tropfte auf das Papier, schmolz zu einem Fleck. Sie zitterte. Sollte sie Ben noch einmal zur Rede stellen? Würde das etwas bringen? Es gab viele Mädchen in der Schule, die ihm hinterherliefen. Er war so fies. Schließlich waren sie ein Paar gewesen.

Sie nahm ihr Handy, öffnete die Fotodatei und löschte alle Bilder, auf denen Ben zu sehen war. Sie steckte das Telefon in ihre Gesäßtasche und ballte die Fäuste. Ihr Gesicht wurde warm, sicher war ihr Kopf so rot wie eine reife Tomate. Sie schob das Papier unter die Schreibtischauflage. Langsam stand sie auf, ein Gedanke formte sich in ihrem Hirn, der sie erschreckte. Sie wusste nicht, ob es klappen würde. Einen Versuch war es aber wert.

Montag, 6. Juli

Um 9 Uhr erreichte Melanie Gramberg schnaufend und mit glühendem Kopf den Hof ihres Hauses in der Neue Mauerstraße in Bad Homburg. Sie ergriff das dort deponierte Handtuch und ließ sich in ihren Strandkorb fallen. Mühsam zwang sie sich, ruhig zu atmen. Sie nahm sich vor, in den kommenden Tagen ihr Morgenprogramm früher zu beginnen, in der letzten halben Stunde war es schon zu heiß geworden. Sie joggte mindestens dreimal in der Woche zum Seedammbad, schwamm 2 000 Meter. Dann lief sie zum Fitnessstudio Kur-Royal Aktiv, um einen Zirkel Krafttraining zu absolvieren und anschließend heim zu joggen. Melanie brauchte den Sport, den sie zusätzlich zu ihrer ehrenamtlichen Arbeit als Kickboxtrainerin absolvierte. Ansonsten wurde sie unleidlich, war mit sich unzufrieden.

Sie leerte die Mineralwasserflasche, die sie vor ihrem Start hier abgestellt hatte, in einem Zug zur Hälfte. Die Glückshormone versprachen ihr, dass es heute ein guter Tag werden würde. Sie lächelte.

„Entschuldigen Sie, bin ich hier richtig in der Detektei Gramberg?“

Melanie fuhr zusammen.

Ein schlanker Mann stand vor dem Strandkorb. Er trug trotz der Hitze einen akkuraten dunklen Anzug und einen hellgrauen Schlips. Die kurzen schwarzen Haare waren perfekt gekämmt, vielleicht war die dunkle Hornbrille ein bisschen zu groß für sein Gesicht. An seiner Schulter hing eine Tasche. Er lächelte sie an.

Melanie stellte die Flasche neben sich, erhob sich und warf das Handtuch in den Korb. „Guten Morgen, sorry, bin heute spät dran. Was kann ich für Sie tun?“ Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, ungefähr so alt wie sie selbst.

„Mein Name ist Christoph Böttcher. Ich habe einen Auftrag für Sie. Meine Mutter wird betrogen.“

Das wäre ja mal eine nette Abwechslung nach den letzten drei Fällen, in denen es um untreue Ehepartner ging, schoss es Melanie durch Kopf. „Geben Sie mir zehn Minuten, um mich frisch zu machen, dann bin ich ganz Ohr. Möchten Sie in meinem Büro schon einmal einen Kaffee trinken?“

Sie führte ihn ins Besprechungszimmer der Detektei im Erdgeschoss, wo sie ihm das Getränk aus der Maschine laufen ließ. „Möchten Sie etwas zu lesen? Ich kann Ihnen den Taunusboten geben.“

„Danke, ich checke so lange meine Mails. Machen Sie sich keinen Stress. Mir kommt es auf ein paar Minuten nicht an.“

Eine Viertelstunde später setzte sich Melanie in Jeans, Shirt sowie Flip-Flops zu ihrem Besucher. Sie nahm den Notizblock vom Tisch und den daneben liegenden Kugelschreiber. „Also, worum geht’s?“

Böttcher schaute sie ernst an. „Ich befürchte, meine Mutter ist auf einen Betrüger hereingefallen. Ich habe festgestellt, dass sie in den letzten Wochen mehrfach größere Summen Bargeld bei der Bank abgehoben hat.“

„Wie haben Sie das bemerkt? Verwalten Sie ihre Finanzen?“

„Nein. Aber sie ist in letzter Zeit irgendwie verändert. Am Wochenende war ich bei ihr. Da habe ich die Kontoauszüge auf ihrem Schreibtisch liegen gesehen.“ Er errötete leicht. „Ich konnte nicht widerstehen, weil ich wissen wollte, wie es um ihre Finanzen steht. Mir ist klar, ich hätte das nicht tun dürfen. Allerdings wäre ich sonst nicht auf die Abhebungen gestoßen.“

„Ist Ihre Mutter vermögend?“

„Ja, mein Vater hatte eine Rechtsanwaltskanzlei, in der sie auch gearbeitet hat. Als er im März gestorben ist, hat sie die Kanzlei geschlossen.“

Melanie nickte. „Tut mir leid, dass Sie Ihren Vater verloren haben. Wie kommen Sie darauf, dass Ihre Mutter betrogen wird?“

Böttcher runzelte die Stirn. „Was soll sie denn sonst mit dem Geld gemacht haben? Es gibt keine Anschaffungen. Wozu braucht sie so viel Bargeld? Man hört auch dauernd von Betrügereien mit Senioren. Allerdings glaube ich nicht, dass es so was ist. Eine Nachbarin, die immer alles weiß, hat mich vor ein paar Wochen abgefangen, als ich aus dem Auto gestiegen bin, und erzählt, dass Mutter Herrenbesuch empfängt. Damals habe ich darauf nichts gegeben. Jetzt denke ich anders.“

Melanie überlegte kurz. Was sollte sie mit so vagen Informationen anfangen? Verrannte sich da ein Sohn, der Angst um sein Erbe hatte? „Erzählen Sie mir ein bisschen über Ihre Mutter. Was ist sie für ein Typ? Wie ist sie mit dem Tod Ihres Vaters umgegangen?“

Böttcher rieb sich die Hände. „Was soll ich sagen? Mutter war immer schon lebenslustig. Sie hat einen großen Bekanntenkreis, schon aus der Zeit, als mein Vater noch lebte. Sie legt viel Wert auf ihr Äußeres. Sie ist jetzt Ende fünfzig, die man ihr aber nicht ansieht. Vaters Tod hat sie äußerlich gesehen gut verarbeitet, wohl auch, weil sie sich um die Beerdigung und den Nachlass kümmern musste. Sie hat die Trauer, glaube ich, mit Arbeit kompensiert. Wie es in ihr aussieht, kann ich natürlich nicht sagen. Sie hat sich aber in letzter Zeit verändert. Sie kommt mir irgendwie entspannter vor.“

Das hörte sich in der Tat nach einer Frau an, die neue Lebensfreude entdeckt hatte, möglicherweise wirklich in Gestalt eines Mannes. „Haben Sie Ihre Mutter auf die Abhebungen angesprochen?“

Böttchers Miene verdüsterte sich. „Ja, leider. Sie wurde stinksauer und pflaumte mich an, dass mich das nichts angeht und es ihr Leben sei. Wir sind im Streit auseinandergegangen.“

Sie kaute auf der Unterlippe. „Um welche Summe geht es?“

„Ich habe Abhebungen von insgesamt 50.000 Euro gefunden.“

Eine Menge. Vielleicht hatte die Witwe Freunden einen Privatkredit gegeben, obwohl die Barverfügungen dagegensprachen.

„Hören Sie, Herr Böttcher. Ich will ehrlich sein. Es ist tatsächlich nicht so selten, dass ältere Menschen von Betrügern, die ihr Vertrauen erschleichen, um Geld gebracht werden. Allerdings ist Ihre Mutter volljährig und kann mit ihrem Vermögen machen, was sie will. Wenn sie nicht selbst darauf kommt, dass sie jemand ausnimmt, ist da wenig zu machen.“

Er nickte. „Das weiß ich doch. Deswegen kann ich ja auch nicht zur Polizei gehen. Die würden mir dasselbe erzählen. Ich kann aber doch nicht zulassen, dass Mutter sich in ihr Verderben stürzt.“

Oder in deins, falls das Erbe durchgebracht ist. „Was erwarten Sie von mir?“

Er straffte sich. „Finden Sie heraus, wer der Besucher meiner Mutter ist, und ob er es sein könnte, der sie abzockt. Wenn nicht, suchen Sie bitte nach dem Empfänger des Geldes. Dann habe ich eine andere Gesprächsgrundlage, um mit Mutter zu reden.“

Melanie seufzte. „Na gut, dann geben Sie mir mal die Daten Ihrer Mutter. Außerdem ein Foto von ihr. Ich schaue mal, was ich tun kann.“

Über Böttchers Gesicht huschte ein Lächeln. Er öffnete die Tasche und entnahm ihr eine Mappe, die er auf den Tisch legte. „Hier finden Sie alles. Außerdem meine Visitenkarte mit meiner privaten Adresse und den geschäftlichen Kontaktdaten. Ich leite in Ober-Erlenbach die Bezirksdirektion einer Versicherung.“

***

Wenig später saß Melanie vor ihrem Computer. Sie hatte zunächst Informationen zu Christoph Böttchers Versicherungsbüro gesucht. Er führte es für eine der größten deutschen Versicherungsunternehmen und beschäftigte fünf Angestellte. Er wohnte in einem Zweifamilienhaus in der Spessartstraße, somit im Stadtteil Ober-Erlenbach, in dem auch sein Büro war. Sie hatte sich das Haus auf Google Earth angesehen, es stammte vermutlich aus den 1960er-Jahren und hatte einen kleinen Garten.

Melanie dachte über den Auftrag nach. Eigentlich nichts Besonderes. Es sollte nicht schwierig sein, den Verehrer der Mutter zu finden, wenn es ihn überhaupt gab. Es störte sie allerdings, dass es wieder um die Observierung einer Person ging. Um stundenlanges Warten und Beobachten der Zielperson. Bei den Temperaturen im Auto zu sitzen, war nun wirklich kein Spaß.

Egal, ihr Mandant würde ihr ein anständiges Honorar zahlen.

Sie gab die Suchbegriffe Rechtsanwalt Georg Böttcher Bad Homburg ein. Sofort bot die Suchmaschine diverse Einträge und Bilder an, auf denen ein stattlicher Mann zu sehen war, der meist Anzüge trug. Auf sie machte er einen seriösen, aber ebenso sympathischen Eindruck. Ein Rechtsbeistand, zu dem man aufgrund seiner Erscheinung vermutlich Vertrauen haben konnte. Die Ähnlichkeit zu seinem Sohn war unübersehbar.

Auf einigen Aufnahmen war die Ehefrau abgebildet, wie Melanie anhand der Fotos unschwer erkennen konnte. Sie wirkte tatsächlich lebensfroh, eine Frau, die ihren Status an der Seite eines bekannten Anwalts offenbar genoss.

In den Texteinträgen befanden sich drei Todesanzeigen, eine davon stammte aus dem Taunusboten, die anderen aus überregionalen Zeitungen. Es gab einen Nachruf des Deutschen Anwaltvereins, einen weiteren von der Industrie- und Handelskammer. Beide lobten die Kompetenz und Verdienste des Verstorbenen und bedauerten seinen frühen Tod im Alter von 64 Jahren.

Melanie sah in Böttchers Mappe. Silvia Böttcher wohnte in der Kaiser-Friedrich-Promenade unweit des Gonzenheimer Friedhofs. Die Adresse deckte sich mit der Anschrift der Anwaltskanzlei.

Sie seufzte und hoffte, dass Siggi sein Auto in den nächsten Tagen nicht brauchte. Ansonsten war sie gezwungen, einen Mietwagen zu buchen.

10:45 Uhr. Heute, am Montag, war die Gastwirtschaft Zum Silbernen Bein im Nachbarhaus geschlossen, die ihr väterlicher Freund, Siegfried Graf zu Biebenau, führte. Seine Wohnung befand sich in der Etage darüber. Um diese Zeit sollte er wach sein.

Melanie stand einige Minuten später vor dem Eingang des Hauses. Sie musste unwillkürlich schmunzeln, wie so oft, wenn sie hier war. Sie erinnerte sich, dass sie ihn vor etwas mehr als zwei Jahren in der Wirtschaft als Wohnsitzlosen kennengelernt hatte. Wie erstaunt war sie gewesen, als sie bald darauf erfuhr, dass er in einem vorherigen Leben als Leitender Oberstaatsanwalt gearbeitet und von einem Tag auf den anderen freiwillig sämtliches Vermögen aufgegeben und sich für insgesamt fünfzehn Jahre auf die Straße begeben hatte. Das alles hatte mit Schicksalsschlägen in Siggis Vergangenheit zu tun gehabt. Er hatte ihr bei ihrem ersten Fall im Taunus entscheidend geholfen. Kurz danach war er in die Zivilisation zurückgekehrt, woraufhin sie beste Freunde geworden waren.

Melanie drückte den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden summte der Türöffner, und sie stieg die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Zu ihrer Überraschung erwartete sie Susanne Heimer, die seit einigen Monaten als Köchin im Silbernen Bein angestellt war. War da was im Busch? Verdenken würde sie es ihrem väterlichen Freund nicht. Die zierliche Frau war eine durchaus adrette Erscheinung. Zudem sehr sympathisch. Sie war Anfang fünfzig und damit gut zehn Jahre jünger als er.

„Ach, du bist es“, grüßte Susi und ging vor in die Wohnung.

Siggi lag aschfahl auf der plüschigen Couch. Sein wallendes weißes Haar lag wirr um seinen Kopf.

Sie verharrte in der Zimmertür. „Guten Morgen, mein Lieber. Bist du krank?

„Hallo Mel“, kam es schwach zurück. „Setz dich.“

Melanie überlief ein eiskalter Schauer. Susi blieb stehen und lehnte sich an den rustikalen Wohnzimmerschrank.

„Nun sag schon“, forderte Melanie ihn auf. „Was ist mit dir los?“

Er schloss einen langen Augenblick die Augen und sah sie dann eine gefühlte Ewigkeit wortlos an. Sie traute sich nicht, erneut zu fragen. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

„Mel, ich muss dir was sagen. Ich war am Donnerstag bei einer Routineuntersuchung. Vorhin hat der Arzt angerufen.“ Er machte eine Pause, dann holte er tief Luft. „Ich habe Hodenkrebs.“

***

Andrea Langmann sah sich kurz vor Mittag im Zimmer ihrer Tochter Leonie um. Es hatte wie stets den Anschein, als sei ein Sturm durchgefegt. Sollte sie aufräumen? Sie wusste, wie sehr Leonie das hasste, weil sie ihr immer unterstellte, in den Sachen zu stöbern. Was in der Regel nicht stimmte.

Heute allerdings war Andrea einem Impuls gefolgt, den sie seit vergangenen Freitag verspürte. Leonie war verändert. Verschlossen. Nun gut, sie war nie die Gesprächigste, meist musste man ihr die berühmten Würmer aus der Nase ziehen. Jetzt isolierte sie sich quasi vollständig. War nicht ansprechbar, wenn sie Antworten gab, klangen die genervt und patzig. Obwohl auch das regelmäßig vorkam, wirkte es anders. Eine Mutter spürte so was.

Sie öffnete den Kleiderschrank. Gab es hier Dinge, die nicht hineingehörten? Sie hatte die größte Angst davor, dass die Kleine eines Tages Drogen nehmen könnte. Bisher gab es dafür keine Anzeichen. Andrea fiel ein Stein vom Herzen, als sie nichts fand.

In den Schreibtischschubladen herrschte das übliche Chaos. Den Laptop auf dem Schreibtisch brauchte sie nicht zu starten. Der war passwortgeschützt und Leonie würde eher jeden Sonntag in die Kirche gehen, als ihrer Mutter den Zugangscode verraten. Was auch für ihr Handy galt, das sie natürlich in der Schule dabei hatte.

Andrea sah auf den Rand der Schreibtischunterlage. Etwas lugte hervor. Es sah wie eine Papierecke aus. Sie hob die Unterlage ein wenig an. Tatsächlich: Dort lag ein Blatt, auf dem unschwer die Handschrift der Tochter zu erkennen war.

Andrea nahm es und las: Es ist der 3. Juli es ist …

Übelkeit stellte sich schlagartig ein, sie sank während des Lesens auf den Schreibtischstuhl. Ihr Herz jagte, sie spürte einen heißen Stich, hatte Mühe, den Atem zu kontrollieren. Er kam jetzt stoßweise in kurzen Schüben. Sie begann zu würgen. Bilder eroberten ihr Hirn, die sie längst verdrängt zu haben glaubte. Das Schreckliche kam zurück. Die Nächte, die Schmerzen, der Ekel an ihrem eigenen Körper.

Sie ließ das Papier auf den Schreibtisch fallen und rannte zur Toilette. Gerade rechtzeitig kniete sie vor der Schüssel und übergab sich, wie sie es seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte.

Sie verharrte einen Moment, stand auf und spülte sich den Mund aus. Vor ihr im Spiegel sah sie eine blasse mädchenhafte Frau, deren pechschwarze Ponyfrisur ungebändigt abstand. Wie in Trance nahm sie eine Bürste und ordnete die Haare.

In ihrem Schädel pochte es. Sie ballte die Fäuste und schrie sich die Seele aus dem Leib.

***

Am Abend lag Melanie auf der Couch in ihrem Wohnzimmer, ihr Kopf auf Philipp Bauschers Schoß. Er streichelte sie sanft. Sie hatte ihm von Siggis schrecklicher Krankheit berichtet.

„Und was sagt der Arzt?“

Sie holte Luft. „Nichts Konkretes. Zumindest ist Siggi hier sehr unbestimmt geblieben. Er hat irgendwas von Bestrahlungen gesagt, dann aber auch wieder über eine mögliche OP gesprochen. Es klang ziemlich wirr.“

Er nickte. „Kann ich verstehen, die Nachricht war ja wohl auch ganz frisch. Vermutlich weiß er tatsächlich noch nichts Genaues.“

Sie seufzte. Was für ein Tag. Dabei hatte sie nur Siggis Auto ausleihen wollen. Nachdem er ihr von seinem Gesundheitszustand erzählt hatte, war sie versucht gewesen, Böttchers Mandat abzulehnen. Schließlich war nicht klar, ob Siggi sie in den kommenden Tagen brauchte. Aber plötzlich hatte er sich auf dem Sofa aufgesetzt und sie gefragt, an welchen Fällen sie gerade arbeitete. Sie war so irritiert gewesen, dass sie ihm von dem neuen Auftrag berichtet hatte, und das schien ihn aufzubauen. Er lächelte auf einmal und behauptete, sich darüber zu freuen, weil er Abwechslung haben würde, und seine Sorgen ein wenig nach hinten schieben könnte. Selbst Susis missbilligender Blick und ihr Protest brachten ihn nicht aus der Ruhe. Melanie wüsste ja, wo der Schlüssel des VW Polos lag. Er brauche ihn nur am Vormittag, um in die Großmarkthalle zu fahren.

Melanie schüttelte den Kopf.

„Woran denkst du?“, riss sie Philipp aus der Erinnerung.

„Daran, wie sehr ich mich auf unseren ersten gemeinsamen Abend seit Langem gefreut habe. Tut mir leid, dass er so kaputt gemacht wurde.“

Philipp beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss, der sie erschaudern ließ.

„Dafür habe ich zur Abwechslung mal eine gute Nachricht“, verkündete er lächelnd. „Ich habe heute erfahren, dass mein neues Projekt hier im Rhein-Main-Gebiet stattfinden wird. Genauer gesagt in Darmstadt. Es wird mindestens sechs, eher neun Monate dauern.“ Er strahlte wie ein Schuljunge an Weihnachten. „So werden wir bestimmt viele schöne Abende … und Nächte zusammen haben.“

Das Kribbeln in ihrem Bauch verstärkte sich. Philipp war IT-Projektleiter bei einer großen Softwarefirma und seitdem sie sich nähergekommen waren, die meiste Zeit in mehrmonatigen Auslandseinsätzen gewesen. Sollte sich jetzt tatsächlich eine normale Beziehung entwickeln? Sie hatte seit dem Tod ihres letzten Lebensgefährten Erik, der vor knapp vier Jahren bei einem gemeinsamen Polizeieinsatz ums Leben gekommen war, ein wenig Angst, sich wieder fest zu binden. Nach wie vor fühlte sie sich für Eriks Tod verantwortlich. Sie hatte am Steuer des Einsatzfahrzeugs gesessen und den Unfall verursacht. Das war auch der Grund gewesen, warum sie aus dem Polizeidienst beim Landeskriminalamt Hamburg ausgeschieden war.

„Was denkst du?“, unterbrach Philipp sie. „Ich hatte gehofft, du freust dich.“

Melanie grinste und löste sich von ihm, stand auf und setzte sich rittlings auf seinen Schoss. Was sie spürte, ließ das Blut in ihre Lenden strömen. „Das tue ich doch, du Dummer.“ Sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen. „Sehr sogar.“

***

Tobias Langmann war mit sich zufrieden. Er hatte am Nachmittag zwei neue Aufträge für Feuerbestattungen an Land gezogen, die Bestattungsart, bei der er aufgrund seines besonderen Geschäftsmodells oft die höchste Gewinnspanne verbuchen konnte. Die beiden Witwen hatten sich unabhängig voneinander für Eichensärge entschieden, obwohl zwischenzeitlich auch preisgünstigere Materialien zugelassen waren. Er hatte aber schnell erkannt, dass die Damen betucht waren, und geschickt bei ihnen die richtigen Knöpfe gedrückt.

Er schloss die Wohnungstür auf, zog Schuhe und Strümpfe aus, und ging in die Küche. Sein säuerlicher Blick fiel auf den unbenutzten Herd. Er hatte ein fertiges Abendessen erwartet.

Wo war Andrea? Er verschränkte die Arme vor der Brust und stapfte zum Wohnzimmer.

Seine Augen verengten sich schlagartig, als er den Raum betrat. Seine Frau saß auf der Couch, vor ihr auf dem Tisch eine halbvolle Grappaflasche und ein Glas. Sie stierte vor sich hin. Ihre Pupillen wirkten blutunterlaufen, ihre sonst akkurate Frisur sah aus, als habe sie sich den Kopf nach der Dusche trockengerubbelt.

Er starrte sie an. „Was ist denn hier los? Hast du etwa die halbe Flasche Grappa gesoffen?“

Sie sah ihn an, als würde sie ihn nicht erkennen. „Leonie …“, lallte sie. „Leonie … Leonie …“

„Was ist mit Leonie?“

Sie beugte sich vor, wollte die Flasche greifen. Er war schneller, riss den Grappa an sich, bevor sie ihn erreichen konnte. „Es reicht jetzt. Also, was ist mit deiner Tochter?“

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, schien sich aber ein wenig besser im Griff zu haben. „Deine Tochter, wie das klingt“, spie sie ihm entgegen. „Du bist für sie auch verantwortlich. Hast sie schließlich adoptiert.“

Tobias setzte sich in einen Sessel. „Also, was hat sie angestellt?“

Ihre Augen weiteten sich. „Wieso angestellt, sie wurde vergewaltigt.“

Tobias’ Magen verkleinerte sich auf Walnussgröße. Hatte er sich gerade verhört? „Wie vergewaltigt? Von wem?“

„Von Ben.“

Er überlegte einen Moment. „Der Junge, mit dem sie vor ein paar Monaten kurz zusammen war?“

Andrea nickte. „Leonie hat alles aufgeschrieben. Liegt in ihrem Zimmer.“

Er stand auf und ging zur Zimmertür. Dort verharrte er und drehte sich um. „Wo ist sie überhaupt?“

„Bei ihrer Freundin Victoria. Sie ist nach der Schule mit zu ihr nach Hause gegangen. Sie wollen für eine Klausur lernen.“

***

Victoria nahm Leonie in den Arm. „Du musst zur Polizei gehen. Der Arsch gehört hinter Gitter.“ Sie war immer noch geschockt über das, was Leonie ihr vor ein paar Minuten erzählt hatte. Sie hatte schon bei ihrem Eintreffen bemerkt, dass etwas nicht stimmte, auch weil Leonie heute ohne Erklärung der Ferienarbeitsgruppe ferngeblieben war. Victoria war am Wochenende bei ihren Großeltern gewesen, sodass sie sich nicht sehen hatten können.

Leonie fuhr sich durch die langen braunen Haare und band sie mit einem Haargummi zusammen. Victoria lächelte unwillkürlich, obwohl ihr gar nicht danach war. Ein Zopf stand Leonie ausgesprochen gut, weil dadurch das kleine Gesicht mit der Stupsnase gut zur Geltung kam.

Leonie schien ihre Reaktion nicht zu bemerken. „Was soll ich bei der Polizei? Ben wird alles abstreiten. Wem werden die wohl glauben? Einem fünfzehnjährigen Mädchen aus dem Haus eines Erdmöbelbauers, der noch nicht mal ihr leiblicher Vater ist, oder dem 17-jährigen Sohn eines angesehenen Bankers? Ich mach mich doch nicht zum Opfer vor all den anderen.“

„Willst du ihn etwa damit durchkommen lassen?“

Leonies Augen wurden feucht. „Nein, das nicht, aber anzeigen ist kein Weg. Wir waren vor ein paar Monaten kurz ein Paar. Ich hab gedacht, ihm liegt noch was an mir. Er wird behaupten, ich wäre mit allem einverstanden gewesen. Dann stehe ich wie die letzte Schlampe da. Ich werde ihn anders bestrafen.“

„Und wie stellst du dir das vor?“

„Es gibt da einen verheirateten Mann, der steht auf mich. Das weiß ich. Ich war vorhin schon bei ihm und hab ihm alles erzählt. Der wird sich um Ben kümmern.“

Victoria schwirrte der Kopf. Verheirateter Mann wird sich kümmern. Was war das denn für ein Schwachsinn? Dennoch spielte sie zunächst mit. „Kenne ich deinen Verehrer?“

Leonie grinste. „Vielleicht. Wirst es als erste erfahren, wer es ist.“ Sie schaute auf die Uhr. „Oh, schon kurz nach zehn. Ich muss. Sonst macht mir meine Mutter die Hölle heiß.“

Bevor Victoria antworten konnte, griff Leonie in ihre Tasche und holte ein Buch mit einem gelben Stoffeinband hervor. Sie gab es ihr. Ein kleines Schloss verhinderte, dass man es öffnen konnte.

„Was ist das?“

„Ein Tagebuch. Darin sind schöne und schreckliche Momente beschrieben. Geheimnisse. Bewahre es bitte für mich auf. Ich will nicht, dass es meinem Stiefvater in die Hände fällt.“ Sie stutzte, ihr schien etwas eingefallen zu sein. Plötzlich sprang sie auf, umarmte Victoria, und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich hab was vergessen. Hoffe, es ist nicht schon zu spät.“

***

Tobias parkte kurz vor Mitternacht seinen Renault Espace auf dem Hof des Bestattungsunternehmens. Sein Kopf schmerzte, als schraubte sich gerade ein Korkenzieher durch den Schädel. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen.

Der Besuch in der Spielbank Bad Homburg war ein regelrechtes Fiasko gewesen. Zuerst hatte er eine annehmbare Glückssträhne gehabt und rund 3.000 Euro gewonnen. Schlagartig hatte sich das Blatt gewendet und zum Schluss waren die 10.000 Euro, die er mitgenommen hatte, futsch. Zu allem Überfluss hatte ihn ein Typ angesprochen, sich als Geschäftsführer vorgestellt und ihn aufgefordert, mal über das Thema Spielsucht nachzudenken. Man würde ihn schon länger beobachten und wolle ihn nur schützen. Es war zu einem heftigen Streit gekommen, an dessen Ende er ein vorläufiges Hausverbot bekommen hatte. Es gab noch andere Spielcasinos. Von ihm aus konnten die Kurstädter auf ihrem hohen Ross sitzen bleiben. Pah, Mutter von Monte Carlo, traditionsreichstes Spielcasino in Deutschland, bla, bla, bla.

Ein Blitz tauchte die Umgebung für Sekunden in ein gleißendes Licht. Die Schreinerei, in der sich auch der Kühlraum der Pietät befand, lag gespenstisch vor ihm. Es grollte, erste Regentropfen trafen seine Stirn. Er eilte um das Haus herum zur Kirdorfer Straße und öffnete kurz darauf die Tür zum Wohnhaus.

Hoffentlich bekam er heute Abend seine Stieftochter nicht mehr zu Gesicht. Er hatte ihren Brief, oder was das sein sollte, gelesen. Furchtbar. Mal abgesehen davon, dass er fest überzeugt war, dass das Mädchen etwas zusammenphantasiert hatte, war er insbesondere wegen des Stils und der unzähligen Schreibfehler geschockt gewesen.

Danach hatte er sich heftig mit Andrea gestritten, die natürlich auf Leonies Seite gestanden hatte. Also war er in die Spielbank gefahren, um ein bisschen zu entspannen. Mit dem unglückseligen Ausgang.

Im Wohnzimmer brannte Licht, mit der Lautstärke des Fernsehers konnte man trotz geschlossener Fenster die Nachbarschaft unterhalten. Er betrat das Zimmer. Andrea saß immer noch so da, wie er sie zurückgelassen hatte, nur die Grappa Flasche war leer.

„Bist du jetzt von allen guten Geistern verlassen?“ Er schaltete das Fernsehgerät aus.

„He, will ich schauen“, lallte sie undeutlich und versuchte, sich zu erheben. Sie fiel zurück auf das Sofa.

In Tobias kochte es, sein Schädel schien kurz davor, zu platzen. „Jetzt hörst du mir mal zu: Ich finde es absolute Oberkacke, dass du wieder zu saufen angefangen hast.“ Er hielt inne, außer einem starren Blick zeigte seine Frau keine Reaktion. „Hast du noch mal mit Leonie über den Scheiß gesprochen, den sie da verzapft hat?“

„Sie ist daheim. Wir hatten Krach. Weil ich den Text gefunden habe. Sie hat mich wüst beschimpft. Eine Fehl… eine Fehl… eine Fehlbesetzung als Mutter genannt.“

Da hatte sie ja einen geistigen Moment gehabt, fuhr es ihm durch den Kopf. „Hat sie jetzt wenigstens zugegeben, dass sie sich das ausgedacht hat?“

Andrea schaute ihn an, ihre Augen verengten sich. Plötzlich griff sie nach der Flasche und schleuderte sie in seine Richtung. Diese verfehlte ihn knapp, knallte gegen die Wand und landete auf dem Teppich. Wie durch ein Wunder blieb sie ganz.

Er sprang auf Andrea zu und verpasste ihr eine harte Ohrfeige. „Mach das nie wieder“, zischte er.

Sie fing an zu heulen, rieb sich die Wange und schrie. „Hilfe, Hilfe, Leonie, Tobias bringt mich um.“

Die Tür flog auf, Leonie stand mit hochrotem Gesicht im Zimmer. „Was ist denn hier los?“

Tobias eilte auf sie zu und packte sie am Arm.

„Aua, das tut weh, lass mich los.“ Sie versuchte, sich aus dem Griff herauszuwinden.

Er funkelte sie an. „Sieh, was du angerichtet hast. Deine Mutter säuft wieder. Pass mal auf, junge Dame. Wir beide fahren morgen um 8 Uhr zur Polizei und dort werden wir eine Anzeige machen. Mal sehen, ob du dich das traust. Wenn stimmt, was du geschrieben hast, wirst du damit ja kein Problem haben.“

Sie riss die Augen weit auf. Mit einem kurzen Ruck gelang es ihr, sich von ihm zu lösen. „Einen Scheiß werde ich.“ Sie drehte sich um und rannte die Treppe nach oben. „Ihr seid solche Vollpfosten. Alle beide.“

Der Moment der Überraschung verschaffte ihr den nötigen Vorsprung. Sie erreichte ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. „Ihr könnt mich mal.“

Er hämmerte gegen die Tür. „Mach sofort auf.“

„Du kannst mich mal. Ich bin mit dir fertig. Mach, dass du wegkommst, sonst hole ich die Polizei.“

Dienstag, 7. Juli

Tobias saß am Mittag im Büro der Pietät und war sauer, stinksauer. Der Tag war schon gelaufen. Er hatte Leonie beim Frühstück aufgefordert, ihn zum Polizeipräsidium zu begleiten. Sie hatte es verweigert. Der Streit war eskaliert, ihm war sogar die Hand ausgerutscht. Worauf sie ihm erklärt hatte, dass sie ihn anzeige, wenn er sie zwingen würde, zur Polizei zu gehen. Mit einem theaterreifen Auftritt hatte sie das Haus verlassen. Das Drama hatte seinen Lauf genommen. Andrea, die eine ziemliche Alkoholfahne ausdünstete, hatte ihn aufs Heftigste beschimpft. Sie war in das Zimmer der Tochter gerannt, hatte das Pamphlet geholt, und war mit den Worten „Ich kümmere mich jetzt selbst darum“ verschwunden.

Eine Stunde später war sie zurückgekommen und hatte mitgeteilt, dass sie in Leonies Namen und unter Verwendung deren Zeilen Ben Fahrenbruch angezeigt habe. Die zuständige Beamtin sei nett gewesen und habe gesagt, Leonie müsse in den kommenden Tagen eine Aussage machen. Andrea hatte verkündet, sie würde mit dem Mädchen sprechen und sie überzeugen. Anschließend hatte sie Tobias erklärt, dass sie sich von ihm trennen wolle.

Er hatte wie vom Donner gerührt dagestanden. Eine Trennung musste er unbedingt verhindern. Durch eine Scheidung konnten Dinge ans Licht kommen, die seine ganze Existenz gefährden würden. Das verlorene Geld vom Vorabend tat ihm noch weh, bald waren seine Reserven aufgebraucht. Vielleicht sollte er tatsächlich einmal darüber nachdenken, wie er die Spielbankbesuche zumindest reduzieren konnte.

Sein Blick fiel auf den Terminkalender. Am darauffolgenden Tag stand eine Feuerbestattung an. Dazu würden sie nach Offenbach fahren, dem nächstgelegenen Krematorium in der Region. Doch zuvor waren wichtige Vorbereitungen zu erledigen.

Er nahm das Haustelefon und wählte die Nummer der Schreinerei.

„Hallo Chef“, meldete sich Olaf Rühl. Der Angestellte war seit mehr als zehn Jahren im Unternehmen. Der Endvierziger war äußerst zuverlässig und vor allem verschwiegen. Was Tobias ein etwas höheres Gehalt kostete als in der Branche üblich.

„Hör mal. Wie sieht es bei dir gerade aus? Wir haben morgen einen Termin im Krematorium. Wir müssen unseren Gast noch umbetten.“

„Kein Problem. Können wir gleich machen. Wollte ohnehin in die Mittagspause.“

***

Melanie saß um 15 Uhr in der Bad Homburger Kaiser-Friedrich-Promenade in Siggis VW Polo. Sie hatte hier zum Glück gegen Mittag einen schattigen Parkplatz gegenüber dem Wohnhaus von Silvia Böttcher gefunden. Villa war für das Gebäude wohl der bessere Begriff. Es handelte sich um eines dieser typischen Häuser aus der Gründerzeit, für die die noble Straße bekannt war. Oft waren hier Beratungsgesellschaften, Ärzte, kleinere Unternehmen oder eben Rechtsanwälte angesiedelt. Sie war über den Standplatz froh, obwohl sie ab und zu die Seitenfenster herunterließ, um sich wenigstens vorzumachen, dass ein bisschen frische Luft ins Auto kam.

Es hatte sich bisher nichts getan. Die Frau war daheim. Das hatte Melanie mit einem Kontrollanruf mit unterdrückter Nummer getestet. Außerdem hatte sie die Mutter ihres Mandanten durch das Fernglas am Fenster gesehen.

Zur Tarnung hatte sie ein Buch dabei, in dem sie vorgab zu lesen. Hoffentlich fiel ihre Anwesenheit nicht auf. Immerhin stand die Sonne am Nachmittag günstig, sodass die Böttcher von ihrem Haus aus wahrscheinlich nicht erkennen konnte, dass jemand in dem Polo saß.

Melanie schaute in den Außenspiegel, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ein Polizeiwagen rollte langsam an ihr vorbei und stoppte so, dass sie nicht mehr ausparken konnte. Der Beifahrer stieg umständlich aus und setzte sich die Dienstmütze auf.

Melanie grinste. Polizeiobermeister Grundenburg kam auf sie zu und klopfte an die Scheibe. Sie kannte den Polizisten nur zu gut. Er hatte ihr bei einem ihrer Fälle vor ein paar Monaten mit seinem beherzten Eingreifen vermutlich das Leben gerettet, indem er einen Mörder erschossen hatte, der sie zuvor schwer verletzt hatte. Sie war mit ihm zum Dank in einem edlen Frankfurter Restaurant essen gegangen und hatte ihn ein bisschen kennengelernt. Auf der einen Seite war er sehr korrekt und dienstbeflissen, besaß jedoch überraschenderweise Humor. Außerdem war er ein wandelndes Lexikon über die Heimatgeschichte der Region, womit er die Kollegen des Öfteren beeindruckte, aber auch manchmal nervte.

„Die Frau Gramberg, wusste ich doch, dass ich die Autonummer kenne. Das ist doch das Auto vom Grafen, oder?“

„Hallo, Herr Grundenburg, schön, Sie mal wiederzusehen“, schwindelte Melanie. „Was verschafft mir die Ehre? Sie sind doch nicht zufällig vorbeigekommen, um zu plaudern.“

Sofort straffte er sich. „Genau. Uns liegt ein Hinweis vor, dass hier ein Auto mit einer Insassin steht, aus dem die umliegenden Häuser beobachtet werden. Die Beschreibung des Anrufers passt zu diesem Fahrzeug. Dem müssen wir nachgehen, es könnte ja jemand Ziele für Einbrüche ausspionieren. Was machen Sie denn hier?“

„Ich arbeite und suche ganz bestimmt nicht nach geeigneten Einbruchsobjekten. Ich observiere jemanden, mehr darf ich Ihnen natürlich nicht sagen.“

Er verzog das Gesicht. „Schon klar. Datenschutz. Wie lange werden Sie sich hier aufhalten?“

„Keine Ahnung. Eigentlich kann ich jetzt wegfahren. Nach Ihrem freundlichen Besuch bin ich verbrannt.“

Grundenburg hob die Schultern. „Tut mir leid. Aber was sollen wir machen? Dann einen schönen Tag.“ Er tippte sich kurz an die Mütze, drehte sich um und stieg wieder in den Polizeiwagen, der sofort wegfuhr.

Vermutlich hatte die Nachbarschaft den Zirkus mitbekommen. Jetzt wurde es erheblich schwieriger werden, hier erneut mit Siggis Polo aufzutauchen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine weitere Polizeistreife sie überprüfen würde. Wahrscheinlich kannte sie die Beamten dann nicht.

Sie wollte gerade den Wagen starten, als ein BMW aus der gegenüberliegenden Einfahrt fuhr und in Richtung Europakreisel in die Straße einbog. Sie schaute schnell zur Seite, denn am Steuer saß Silvia Böttcher.

Melanie wartete einen Moment, ließ sie den Motor an und folgte dem Fahrzeug. Sollte sie doch Glück haben?

***

Etwa zum selben Zeitpunkt im Polizeipräsidium Bad Homburg in der Saalburgstraße: Dienstbesprechung.

Heute hatte es Kriminaloberkommissar Sandro Kimmerle erwischt, das Team zu vertreten. In der Regel waren diese Besprechungen langweilig, es musste allerdings aus jeder Einheit jemand dabei sein. Sandros Kopf schwirrte immer noch wegen Siggis Krankheit, von der ihm seine Frau Anja am Morgen erzählt hatte. Sie hatte die schlechten Neuigkeiten von ihrer Schwester Melanie erfahren.

Der Direktionsleiter, Kriminaldirektor Sebastian Wolrich, schaute in die Runde. „Also Leute, ich kann ja verstehen, dass es bei diesen Temperaturen keinen Spaß macht, aber ein bisschen mehr Engagement wäre schon ganz nett.“

Sandro schmunzelte. Der übergewichtige Vorgesetzte trug zu einer Anzughose, die viele Jahre alt war, ein weißes Hemd mit leicht abgewetztem Kragen und einen sehr nachlässig gebundenen Schlips, der bestimmt mal modern gewesen war. Verschrammte Schuhe rundeten das Bild des unscheinbaren Beamten ab. Ganz sicher bezweckte der Chef, durch seine Erscheinung unterschätzt zu werden. Dies zu tun, wäre ein fataler Fehler, denn er besaß einen messerscharfen Verstand und hervorragende analytische Fähigkeiten. Zudem schätzte Sandro seine Führungsqualitäten.

„Ich habe eine merkwürdige Anzeige, die ich einbringen möchte“, meldete sich Luisa Manger, eine Beamtin aus dem Kriminaldauerdienst.

Wolrich forderte sie mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen.

„Heute Morgen erschien eine Andrea Langmann und zeigte an, dass ihre fünfzehnjährige Tochter Leonie von einem etwas älteren Mitschüler namens Ben Fahrenbruch vergewaltigt worden sei. Die Tat soll in der Mittagszeit des 3. Juli in der Nähe der Elisabeth-Schule verübt worden sein.“ Die Kollegin schob eine Klarsichthülle mit einem handbeschriebenen Blatt Papier in die Mitte des Tischs. Es handelte sich offenkundig um eine Kinderschrift. „Leonie hat die Tat in diesem Text bis ins Detail beschrieben, wobei nicht ganz klar ist, ob es zum vollständigen Vollzug des Geschlechtsverkehrs gekommen ist.“

„Und was ist daran jetzt merkwürdig?“, erkundigte sich Wolrich stirnrunzelnd.

„Zum einen, dass das Mädchen bei der Anzeigenerstattung nicht dabei war. Die Mutter sagte aus, sie weigere sich, eine Aussage zu machen. Sie sage, in ihrem Bericht stände alles drin. Außerdem wirkte die Mutter übernächtigt und hatte deutlichen Atemalkohol.“

Ungewöhnlich, fand Sandro und hörte nun konzentriert zu. „Was wissen wir von der Familie der Angabe gemäß Geschädigten?“

„Die Eltern betreiben in Kirdorf eine Schreinerei und ein Bestattungsunternehmen. Leonie ist die leibliche Tochter von Andrea Langmann, geborene Heckler. Der Vater ist vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die Mutter hat vor zwei Jahren Tobias Langmann geheiratet und dessen Namen angenommen. Er hat Leonie adoptiert, die jetzt ebenfalls Langmann heißt. Zu der Familie gibt es keine Einträge, es ist nichts Nachteiliges bekannt.“

Wolrich nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch. „Okay, es handelt sich demnach um die Frage der Glaubwürdigkeit.“

Luisa nickte. „Es stellt sich die Frage, ob wir den Beschuldigten einbestellen und einvernehmen sollen, oder ob es vorher einer persönlichen Aussage von Leonie bedarf. Vor allem auch, wer die Anzeige überhaupt weiterbearbeitet.“

Wolrich fuhr sich durchs Haar. Schließlich sah er Johannes Daam an, der dem Kommissariat Sexuelle Gewalttaten vorstand. Er war achtundvierzig und deutlich übergewichtig.

„Hannes, ihr übernehmt das. Schaut euch mal die Tatbeschreibung an. Dann entscheidet ihr. Vom Gefühl her würde ich zunächst darauf bestehen, das Mädchen zu sehen. Natürlich einfühlsam und am besten im Beisein eines Psychologen.“ Er wandte sich erneut an die Kollegin. „Hat die Mutter keine Beweisstücke mitgebracht? Das Mädchen war auch nicht zur ärztlichen Untersuchung nach der Tat?“

„Ärztliche Untersuchung: nein. Die Mutter hat allerdings ein paar Kleidungsstücke mitgebracht, die Leonie am besagten 3. Juli getragen haben soll. Sie sind in der Kriminaltechnik. Ich verspreche mir davon aber wenig. Die Kleider lagen seit vergangenem Freitag in einem Korb im Hause Langmann unter einem Berg anderer Wäsche. Außerdem erscheint es mir fraglich, ob sich die Mutter so exakt an die Kleidung ihrer Tochter an dem Tag erinnern kann.“

Der Chef nickte. „Wenn es sonst nichts mehr gibt …“, er schaute in die Runde, „schließe ich die Besprechung.“

***

Melanie hatte keine Mühe, dem BMW zu folgen. Es ging über die A 661 und die Eschersheimer Landstraße in die Stadtmitte von Frankfurt. Silvia Böttcher passierte das Eschenheimer Tor und bog in das Parkhaus Schillerpassage ab. Sie fand in der vierten Etage einen Parkplatz, Melanie fuhr noch einen Stock höher, parkte den Polo und beeilte sich, ins Erdgeschoss zu kommen. Da sie vermutete, dass die Frau den Lift benutzen würde, nahm sie die Treppe.

Silvia Böttcher hatte das Gebäude bereits verlassen und war links abgebogen. Rund fünfzig Meter weiter wechselte sie auf die andere Straßenseite und erreichte die oberhalb gelegene Querstraße, wo sie sich rechts hielt.

Melanie ließ ihr einen Vorsprung und hoffte, dass die Mutter ihres Mandanten nicht nur zum Shoppen in die Stadt gefahren war. Allerdings passte deren Aufmachung Melanies Meinung nach nicht zu einem Einkaufsbummel. Sie trug ein für ihr Alter ein wenig zu kurz geratenes Kleid, hochhackige Schuhe und zeigte mit ihrem Schmuck deutlich, wie betucht sie war.

Bald bestätigte sich Melanies Vermutung, die Frau betrat das Hotel Hilton City. Melanie wartete einen Moment, dann ging sie durch die Drehtür ins Foyer.

Rechter Hand lag die Rezeption, links war ein Restaurant. Im hinteren Bereich gab es gemütliche Sitzecken, in denen ebenfalls bedient wurde. Gegenüber befanden sich zwei gläserne Aufzüge, um die man herumgehen musste, um einzusteigen.

Silvia Böttcher hatte sich einen Platz in einem Loungesessel gesucht und studierte die Getränkekarte. So konnte Melanie an ihr vorbeigehen, ohne aufzufallen. Sie suchte sich etwas abseits einen Tisch, von dem sie sowohl die Frau als auch den Eingang beobachten konnte. Sie schaltete die Kamerafunktion des Handys ein und machte einige Aufnahmen.

Die Böttcher studierte die Getränkekarte und winkte einer Kellnerin. Kurz darauf bekam sie ein Glas Sekt, vielleicht sogar Champagner. Melanie hatte die Bestellung nicht verstehen können. Sie selbst trank ein Mineralwasser. Almdudler hatte sie auf der Karte nicht gefunden. Sie schaute auf die Uhr. 16:17 Uhr. Möglicherweise war sie um 16:30 Uhr verabredet.

Kurz darauf betrat ein gutaussehender Mann, schätzungsweise um die vierzig, mit braunen Haaren und einem Bartschatten das Hotel. Er trug Jeans, ein Polohemd und Sneakers. Sein Blick wanderte durch die Halle, ein strahlendes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er Silvia Böttcher entdeckte. Sie hatte ihn ebenfalls gesehen und stand mit einem Lächeln auf, nicht ohne zuvor ihr schulterlanges weißes Haar zu lockern.

Melanie hielt diese Szene auf Fotos fest. Er umarmte die Frau und hauchte ihr Küsse auf die Wangen. Sie setzten sich. Die Böttcher winkte die Kellnerin herbei und zahlte.

Dann gingen die beiden händchenhaltend zur Rezeption, wo sie eine Schlüsselkarte erhielten. Wenig später fuhren sie mit dem Fahrstuhl nach oben. Der gläserne Lift ließ erkennen, dass sie in der fünften Etage ausstiegen.

Melanie schmunzelte. Dieser Auftrag schien leichter zu sein als gedacht. Jetzt galt es nur noch, die Identität des Herrn herausfinden. Ihr kam eine Idee. Sie hatte zwar keine große Hoffnung, dass es klappen würde, aber einen Versuch war es wert. Vielleicht musste sie gar nicht auf die Rückkehr der Turteltäubchen warten.

Sie sendete die Fotos an ihren Mandanten und schrieb dazu:

Kennen Sie den Mann?

Zu ihrer Freude kam bereits Sekunden später die Antwort, die ihr viel Zeit ersparte:

Das ist Herr Langmann. Er führt eine Pietät und hat meinen Vater bestattet. Sagen Sie bloß, er ist der Betrüger. Wo ist das?

Sie hob die Augenbrauen und antwortete.

Im Hilton Hotel City in Frankfurt. Die beiden sind hier in einem Zimmer verschwunden. Nun wissen wir zunächst, wer Ihre Mutter datet. Ob er hinter ihrem Geld her ist, gilt es herauszufinden. Lassen Sie uns morgen darüber sprechen.

Der Mandant antworte mit einem Emoji, das einen nach oben gestreckten Daumen darstellte.

Jetzt studierte Melanie die Karte noch einmal in Ruhe und fand tatsächlich den von ihr so geliebten Almdudler. Die Zeit sollte reichen, einen zu trinken, bevor das Pärchen zurückkam.

***

Silvia Böttcher räkelte sich nackt im Hotelbett. Sie schielte zu Tobias, der neben ihr auf der Seite lag und sie betrachtete. Er verspürte ganz offensichtlich bereits wieder Lust.

Sie grinste. „Du siehst eine alte Frau. Was reizt dich an mir?“

Er lächelte. „Ich stehe auf reife Frauen. Vor allem auf so knackige, wie du eine bist.“

Das Kompliment rann ihr runter wie Öl, auch wenn sie nicht ganz überzeugt war, dass er es ernst meinte. Das Gespräch mit ihrem Sohn ging ihr nicht aus dem Kopf. Traf sich Tobias wirklich nur, weil er an ihr Vermögen wollte?

„Wir müssen vorsichtiger sein. Christoph hat bemerkt, dass ich jemandem Geld gebe und vermutet einen Betrüger.“

Tobias kam abrupt hoch und kniete sich vor sie. „Ist das Grund, warum wir uns heute im Hotel treffen und nicht bei dir?“

Merkwürdig, dass er gar nichts zu Christophs Verdacht sagte. „Ich möchte einfach nicht, dass es in meinem Umfeld Gerede gibt. Neben mir wohnt eine neugierige Nachbarin. Außerdem hatte ich vorhin den Verdacht, dass mich jemand beobachtet hat.“

Er runzelte die Stirn. „Wie das?“

„Heute Nachmittag stand ein Auto gegenüber meinem Haus, in dem eine Frau saß. Sie stieg nicht aus und las in einem Buch. Ein Polizeiwagen hat bei ihr angehalten. Ein Polizist hat mit ihr gesprochen, dann ist der Streifenwagen aber weitergefahren. Und ich musste sowieso los. Aber auf der Autobahn dachte ich einmal, dass ich das Auto im Rückspiegel gesehen habe.“ Sie seufzte. „Vielleicht werde ich nur paranoid.“

Silvia merkte, dass es in Tobias arbeitete. Er schien etwas sagen zu wollen, sich aber nicht zu trauen. Schließlich sah er ihr in die Augen. „Vielleicht müssen wir uns bald gar nicht mehr verstecken. Ich lasse mich wahrscheinlich scheiden und verkaufe die Pietät. Wir könnten zusammenziehen.“

Silvia überlief ein eiskalter Schauer, sie zog instinktiv die Bettdecke hoch. Sie konnte sich einiges vorstellen, dazu gehörte aber nicht, mit Tobias zusammenzuleben. Natürlich genoss sie das Gefühl, von einem Verehrer begehrt zu werden, vor allem von einem jüngeren. Der Sex mit ihm tat ihr gut. So lange hatte sie die körperliche Liebe vermisst. Aber zusammenleben? Auf keinen Fall. „Wieso willst du dich scheiden lassen?“

Auf seine Miene legte sich ein Schatten. „Weil ich dich mag. Außerdem hat meine Frau wieder zu saufen begonnen. Nach dem Tod ihres ersten Mannes war sie Alkoholikerin und hat schon einen Entzug hinter sich.“

„Verstehe. Und warum willst du das Geschäft verkaufen? Ich dachte, du willst es mit meinem Geld ausbauen.“

Er nickte. „Das mache ich auch. Dann wird der Verkaufspreis deutlich höher.“ Er setzte einen treuherzigen Dackelblick auf. „Wir könnten noch viele Jahre gemeinsam verbringen. Zusammen verreisen, es uns gut gehen lassen. Das Leben einfach genießen.“

Die innere Kälte in ihr verstärkte sich, sie begann zu zittern, was sie unter der Bettdecke verbarg. Das würde ihm so passen. Wie stellte er sich das vor? Er müsste garantiert Unterhalt zahlen. Der Erlös für die Pietät würde nicht lange reichen. Also glaubte er wohl, auf ihre Kosten ein tolles Leben zu führen. Das konnte er sich abschminken.

Sie schaute demonstrativ auf die Uhr. „Oh, es ist schon spät geworden. Lass uns ein anderes Mal in Ruhe darüber sprechen.“

***

Am Abend saßen Melanie und Siggi im Separee des Silbernen Bein. Melanie liebte die rustikale Gastwirtschaft, vor allem nach der gelungenen Renovierung im vergangenen Jahr, die die Räume freundlicher gestaltet hatte, ohne den Charakter zu verändern. Susi hatte daran einen großen Anteil.

Siggi kam ihr heute weniger kränklich vor, seine Gesichtsfarbe war zwar blass, aber nicht mehr so aschfahl wie gestern. Er wirkte entschlossener, nicht so müde.

Melanie schaute ihn direkt an. „Hör mal, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich kann vorübergehend kürzertreten und dich unterstützen, bis du wieder auf dem Damm bist.“

Er belohnte sie mit einem warmen Blick. „Danke, das weiß ich doch. Mach du aber mal dein Ding. Emily hilft jetzt erst einmal bis Anfang Oktober aus. Noah hat ebenfalls seine Hilfe angeboten.“

Die Tochter von Philipp und ihr Freund Noah hatten in diesem Jahr das Abitur bestanden. Emily war ein großer Fan von Melanie und hatte gerade, sehr zu Philipps Missfallen, die Zusage für eine Ausbildung im gehobenen Dienst bei der Polizei bekommen. Melanie war darüber genauso wenig begeistert, wusste allerdings, dass Emily von dem Vorhaben keinen Millimeter abrücken würde, abgesehen davon war sie nach Melanies Meinung total geeignet. Schließlich hatte sie bereits bei Ermittlungen geholfen und bei einem Fall vor ein paar Monaten Noah näher kennengelernt, dem sie mit ihrem Eingreifen zumindest körperlichen Schaden, vielleicht sogar Schlimmeres erspart hatte.

Noah war der Sohn eines anerkannten Transplantationsarztes, der in dubiose illegale Machenschaften verstrickt und dabei ums Leben gekommen war. Der junge Mann wollte trotz des Schocks, den er erlitten hatte, weil seine psychisch kranke Mutter ihn beinahe zum Opfer einer unrechtmäßigen Nierentransplantation gemacht hätte, Chirurg werden. Er plante, im kommenden Frühjahr einen Studienplatz in Heidelberg anzutreten, und wollte im Herbst ein Praktikum in einer amerikanischen Klinik absolvieren.

Melanie nickte. „Das ist prima, aber du weißt, wo du mich findest.“

„Klar doch. Jetzt erzähl aber erst einmal von deinem neuen Fall.“

Sie fasste den Auftrag und die bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammen.

Siggi zwinkerte. „Klingt nach leicht verdientem Geld. Glaubst du, dass dieser Bestatter die Witwe tatsächlich ausnimmt?“

Melanie zuckte mit den Schultern. „Das werden wir sehen. Ich muss mich mit dem Typen erst einmal näher befassen. Verdächtig finde ich ihn auf alle Fälle. Warum gibt er sich mit einer deutlich älteren, vor allem betuchten Witwe ab? Außerdem ist er verheiratet.

---ENDE DER LESEPROBE---