Teardrop - Lauren Kate - E-Book

Teardrop E-Book

Lauren Kate

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Beschreibung

Der großartige Auftakt zu Lauren Kates neuer Serie

»Vergieße nie eine einzige Träne!« Dieses Versprechen musste Eureka ihrer Mutter geben und siebzehn Jahre lang hat sie sich daran gehalten. Selbst als ihre Mutter bei einem Autounfall starb. Doch dann trifft sie Ander, einen attraktiven und äußerst mysteriösen Jungen. Er bringt sie so durcheinander, dass sie eine Träne vergießt – und Ander fängt sie mit seiner Fingerspitze auf. Auch er scheint zu wissen, dass Eureka nicht weinen darf. Doch was ist ihr großes Geheimnis? Warum wissen alle anderen davon, nur sie nicht? Und warum verhält sich ihr bester Freund, Brooks, plötzlich so aggressiv ihr gegenüber? Waren sie nicht kurz davor, ein Paar zu werden? Wem kann Eureka noch vertrauen?

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Seitenzahl: 557

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Lauren Kate

Teardrop

Aus dem Englischen von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

©2013 by Lauren Kate

Published by Arrangement with Lauren Kate Morphew

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem

Titel »Teardrop« bei Delacorte Press,

an imprint of Random House Children’s Books, New York

©2014 für die deutschsprachige Ausgabe by

cbt Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück, 30287 Garbsen.

Aus dem Englischen von Michaela Link

Lektorat: Carola Henke

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung einer Illustration von©Carolin Liepins

MG · Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-12440-3V003

www.cbt-buecher.de

Für Matilda

Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.

ANTOINEDESAINT-EXUPÉRY,

»Der kleine Prinz«

Prolog

Vorgeschichte

D as war die Ausgangslage:

Ein bernsteinfarbener Sonnenuntergang. Dunst, der zum verblassenden Blau des Himmels aufstieg. Ein einsamer Wagen, der sich Richtung Flughafen Miami zur Seven Mile Bridge hinaufquälte, für einen Flug, der nicht erreicht werden sollte. Eine anormale Welle, die sich aus dem Meer östlich der Keys erhob und sich zu einem Monster auswuchs, über das sich die Ozeanografen in den Abendnachrichten verwirrt zeigen würden. Der Verkehr am Brückenkopf durch Bauarbeiter angehalten, die die Straße vorübergehend gesperrt hatten.

Und er: der Junge, der in einem gestohlenen Fischerboot hundert Meter westlich der Brücke vor Anker lag. Sein Blick ruhte auf dem letzten Wagen, der die Brücke überqueren durfte. Er war seit einer Stunde hier, würde nur noch Sekunden warten, um zu beobachten – nein, um die kommende Tragödie zu überwachen, um sicherzustellen, dass diesmal nichts schiefging.

Die Männer, die so taten, als seien sie Bauarbeiter, nannten sich Saathüter. Der Junge in dem Boot war ebenfalls ein Saathüter, der jüngste in der Familie. Der Wagen auf der Brücke war ein champagnerfarbener 1988er Chrysler K mit zweihunderttausend Kilometern auf dem Tacho und einem Rückspiegel, der von Klebeband zusammengehalten wurde. Die Fahrerin war Archäologin, rothaarig, und sie war Mutter. Die Beifahrerin war ihre Tochter, eine Siebzehnjährige aus New Iberia, Louisiana, und auf sie hatten es die Saathüter abgesehen. Mädchen und Mutter würden binnen Minuten tot sein … falls der Junge es nicht vermasselte.

Sein Name war Ander. Er schwitzte.

Er war in das Mädchen im Wagen verliebt. Also hatte Ander hier und jetzt, in der milden Luft eines Spätfrühlingstags in Florida, mit blauen und weißen Reihern in der Luft und ruhigem Wasser überall um ihn herum die Wahl, seine Verpflichtung seiner Familie gegenüber zu erfüllen oder …

Nein.

Die Wahl war einfacher:

Die Welt retten oder das Mädchen.

Der Wagen passierte das erste Meilenschild von sieben auf der langen Brücke in die Stadt Marathon auf einer der mittleren Inseln der Florida Keys. Die Welle der Saathüter war auf Meile vier gerichtet, gleich hinter der Mitte der Brücke. Alles, von einem leichten Absinken der Temperatur über die Windgeschwindigkeit bis hin zur Beschaffenheit des Meeresbodens, konnte die Dynamik der Welle verändern. Die Saathüter mussten bereit sein, sich anzupassen. Sie konnten eine Welle aus dem Meer erschaffen mithilfe eines vorsintflutlichen Windhauchs und das Ungetüm dann einen präzisen Ort überrollen lassen, wie eine Nadel, die auf einem Plattenteller höllische Musik entfesselt. Sie konnten damit sogar durchkommen. Niemand konnte ein Verbrechen verfolgen, von dem er nicht wusste, dass es begangen worden war.

Das Erschaffen von Wellen war ein Element der Macht, Zephyrs Macht, die die Saathüter verfeinert hatten. Es war keine Herrschaft über das Wasser, sondern eine Fähigkeit, den Wind zu manipulieren, dessen Strömungen eine mächtige Kraft auf dem Meer waren. Ander war dazu erzogen worden, Zephyr als göttlichem Wesen zu huldigen, obwohl dessen Herkunft im Ungewissen lag: Er war in einer Zeit und an einem Ort geboren worden, von denen die Ältesten der Saathüter nicht mehr sprachen.

Monatelang hatten sie von nichts anderem geredet als ihrer Gewissheit, dass der richtige Wind über dem richtigen Wasser mächtig genug sein würde, um das richtige Mädchen zu töten.

Das Tempolimit lag bei sechzig Stundenkilometern. Der Chrysler fuhr hundert. Ander wischte sich den Schweiß von der Stirn.

In dem Wagen glomm bläuliches Licht. Ander, der in seinem Boot stand, konnte ihre Gesichter nicht sehen. Er konnte nur zwei Haarschöpfe erkennen, dunkel vor den Kopfstützen. Er stellte sich vor, dass das Mädchen telefonierte, einer Freundin eine SMS über ihre Ferien mit ihrer Mutter schickte, sich mit der sommersprossigen Nachbarin verabredete oder mit diesem Jungen, mit dem sie viel Zeit verbrachte und den Ander nicht ausstehen konnte.

Die ganze Woche hatte er sie beobachtet, wie sie am Strand immer in demselben abgegriffenen Taschenbuch las, Der alte Mann und das Meer. Er hatte beobachtet, wie sie die Seiten mit der verhaltenen Aggression einer zu Tode Gelangweilten umgeblättert hatte. Sie würde im Herbst in die Oberstufe kommen. Er wusste, dass sie sich für drei Leistungskurse eingeschrieben hatte; er hatte einmal in einem Gang drüben im Lebensmittelladen gestanden und durch das Müsliregal hindurch gelauscht, während sie mit ihrem Vater darüber gesprochen hatte. Er wusste, wie sehr ihr vor der Differenzialrechnung graute.

Ander ging nicht zur Schule. Er studierte das Mädchen. Die Saathüter zwangen ihn dazu, sie zu stalken. Inzwischen war er Experte.

Sie liebte Pekannüsse und klare Nächte, in denen sie die Sterne sehen konnte. Sie hatte eine schreckliche Haltung am Esstisch, aber wenn sie lief, schien sie zu fliegen. Sie zupfte sich die Augenbrauen mit einer strassbesetzten Pinzette; jedes Jahr verkleidete sie sich mit dem alten Kleopatrakostüm ihrer Mutter. Sie kippte über all ihre Speisen Tabasco, lief tausend Meter in weniger als sechs Minuten, spielte mit wenig Talent, aber reichlich Seele die Gibson-Gitarre ihres Großvaters. Sie malte Pünktchen auf ihre Fingernägel und auf die Wände in ihrem Zimmer. Sie träumte davon, von der Bayoumündung in eine Großstadt wie Dallas oder Memphis zu ziehen und Songs in schummrigen Klubs, in denen jeder auftreten durfte, zu spielen. Sie liebte ihre Mutter mit einer wilden, unzerstörbaren Leidenschaft, um die Ander sie beneidete und die zu verstehen er sich mühte. Sie trug im Winter Tanktops und Sweatshirts am Strand, hatte Höhenangst und liebte dennoch Achterbahnen, und sie plante, niemals zu heiraten. Sie weinte nie. Wenn sie lachte, schloss sie die Augen.

Er wusste alles über sie. Er würde jede Prüfung über jeden Wesenszug ihres Charakters mit Bravour bestehen. Er hatte sie seit dem Schalttag, an dem sie geboren worden war, beobachtet. Alle Saathüter hatten das getan. Er hatte sie beobachtet, noch bevor er oder sie sprechen konnten. Sie hatten nie ein Wort miteinander gewechselt.

Sie war sein Leben.

Er musste sie töten.

Das Mädchen und seine Mutter hatten die Fenster heruntergekurbelt. Das würde den Saathütern nicht gefallen. Er war sich sicher, dass einer seiner Onkel damit betraut worden war, ihre Fenster zu verklemmen, während Mutter und Tochter in einem Café mit blauer Markise Rommé spielten.

Aber Ander hatte einmal gesehen, wie die Mutter des Mädchens Klammern an einer entladenen Autobatterie angebracht hatte. Er hatte das Mädchen am Straßenrand bei einer Bullenhitze einen Reifen wechseln sehen, und ihr war kaum der Schweiß ausgebrochen. Sie wussten, wie man Dinge in die Hand nahm, diese Frauen. Umso mehr Grund, sie zu töten, würden seine Onkel sagen, die nichts anderes im Kopf hatten, als sich um den Fortbestand des Geschlechts der Saathüter zu sorgen. Aber nichts, was Ander in dem Mädchen sah, machte ihm Sorge; ihn faszinierte einfach alles an ihr, mehr und mehr.

Gebräunte Unterarme lagen auf beiden Autofenstern, als sie das zweite Meilenschild passierten. Wie die Mutter, so die Tochter – Handgelenke drehten sich im Rhythmus der Musik aus dem Radio, von der Ander wünschte, er könnte sie hören.

Er fragte sich, wie das Salz auf ihrer Haut roch. Die Vorstellung, ihr nah genug zu sein, um ihren Duft einzuatmen, bemächtigte sich seiner mit einer Welle schwindelerregender Wonne, die ihm beinahe Übelkeit bereitete.

Eines war sicher: Er würde sie niemals haben.

Ander sank auf die Knie. Das Boot schaukelte unter seinem Gewicht und die Reflexion des aufgehenden Mondes im Wasser zerfloss. Dann schaukelte das Boot noch einmal, heftiger, signalisierte eine Bewegung irgendwo im Wasser.

Die Welle baute sich auf.

Er brauchte nur zuzuschauen. Seine Familie hatte das ganz klar gemacht. Die Welle würde ihr Ziel finden; der Wagen würde mit ihr über die Brücke geschwemmt werden wie eine Blume, die mit einem Schwall Wasser über den Rand eines Springbrunnens glitscht. Sie würden in die Tiefen des Meeres gerissen werden. Das war alles.

Als seine Familie in dem schäbigen Ferienhaus in Key West mit »Blick ins Grüne« – in eine von Unkraut überwucherte Gasse – Pläne geschmiedet hatte, war nicht von den nachfolgenden Wellen gesprochen worden, die Mutter und Tochter ins Nirgendwo spülen würden. Niemand hatte erwähnt, wie langsam ein Leichnam in kaltem Wasser verweste. Aber Ander hatte die ganze Woche über Albträume von dem toten Körper des Mädchens gehabt.

Seine Familie sagte, dass es nach der Welle vorüber sein werde und Ander ein normales Leben beginnen könne. War es nicht das, was er immer gewollt hatte? Hatte er das nicht immer gesagt?

Er musste einfach sicherstellen, dass der Wagen so lange unter Wasser blieb, bis das Mädchen starb. Wenn Mutter und Tochter sich durch irgendeinen Zufall selbst befreiten und wieder auftauchten – an dieser Stelle begannen die Onkel untereinander zu streiten –, dann müsste Ander …

Nein, hatte seine Tante Chora laut genug gesagt, um die Männer zum Schweigen zu bringen. Sie war von allen Frauen in seinem Umfeld für Ander am ehesten so etwas wie eine Mutter. Er liebte sie, aber er mochte sie nicht. Es würde nicht passieren, sagte sie. Die Welle, die Chora heraufbeschwören würde, würde stark genug sein. Ander würde das Mädchen nicht mit eigenen Händen ertränken müssen. Die Saathüter waren keine Mörder. Sie waren Verwalter der Menschheit, sie verhinderten eine Apokalypse. Sie führten einen Akt Gottes herbei.

Aber es war Mord. In diesem Moment war das Mädchen lebendig. Sie hatte Freunde und eine Familie, die sie liebte. Sie hatte ein Leben vor sich, Möglichkeiten, die sich wie Eichenäste in den unendlichen Himmel streckten. Sie hatte eine Art, alles um sie herum spektakulär erscheinen zu lassen.

Ob sie vielleicht eines Tages tun würde, was die Saathüter befürchteten, darüber dachte Ander ungern nach. Zweifel nagte an ihm. Während die Welle näher heranrollte, zog er in Erwägung, sie auch ihn selbst mit sich nehmen zu lassen.

Wenn er sterben wollte, würde er aus dem Boot steigen müssen. Er würde die Befestigung am Ende der Ankerkette loslassen müssen. Wie stark die Welle auch war, Anders Kette würde ihr standhalten; sein Anker würde nicht vom Meeresboden gerissen werden. Beide waren aus Orichalcum gemacht, einem uralten Metall, das moderne Archäologen für einen Mythos hielten. Der Anker an seiner Kette war eine von fünf Reliquien aus diesem Material, die die Saathüter bewahrten. Die Mutter des Mädchens – eine der wenigen Wissenschaftler, die an Dinge glaubten, deren Existenz sie nicht beweisen konnten – hätte ihre ganze Karriere dafür gegeben, um nur eine einzige solche Reliquie zu entdecken.

Der Anker mit seiner Kette, Speer und Speerschleuder, die Phiole der Tränen und das kleine ziselierte Kästchen, das in einem unnatürlichen Grün erstrahlte – diese Dinge waren alles, was von seinem Geschlecht übrig geblieben war, von der Welt, von der niemand sprach, von der Vergangenheit, die zu verdrängen die Saathüter sich zu ihrer einzigen Mission gemacht hatten.

Das Mädchen wusste nichts über die Saathüter. Aber wusste sie, woher sie gekommen war? Konnte sie ihren Stammbaum so weit zurückverfolgen wie er seinen, zu der Welt, die in der Flut verloren gegangen war, zu dem Geheimnis, mit dem sowohl er als auch sie unausweichlich verbunden waren?

Es war Zeit. Der Wagen näherte sich dem Schild für Meile vier. Ander beobachtete, wie die Welle sich gegen den sich verdunkelnden Himmel abhob, bis ihre weiße Krone nicht mehr mit einer Wolke verwechselt werden konnte. Er beobachtete, wie sie sich zeitlupengleich erhob, sieben Meter hoch, zehn Meter hoch, eine Wand aus Wasser, die sich auf sie zubewegte, schwarz wie die Nacht. Ihr Brüllen übertönte beinahe den Schrei, der aus dem Wagen kam. Der Schrei klang nicht nach ihr, eher nach ihrer Mutter. Ander schauderte. Das Geräusch signalisierte, dass sie die Welle endlich gesehen hatten. Bremslichter blitzten auf. Dann wurde der Motor abgewürgt. Zu spät.

Tante Chora stand zu ihrem Wort; sie hatte ihre Welle perfekt aufgebaut. Sie duftete leicht nach Citronella – Choras Trick, um den Gestank von verbranntem Metall zu überlagern, der Zephyrzauberei begleitete. Die Welle war nicht breit, aber höher als ein dreistöckiges Gebäude, mit einem starken Strudel tief in ihrem Bauch und einer schäumenden Lippe, die die Brücke entzweireißen, aber das Land zu beiden Seiten unversehrt lassen würde. Sie würde ihre Arbeit sauber und – wichtiger noch – schnell verrichten. Für die Touristen, die am Brückenkopf standen, würde kaum Zeit sein, ihre Handys herauszunehmen und auf Aufnahme zu drücken.

Als die Welle brach, stürzten ihre Wassermassen auf die Brücke, genau wie geplant. Die Brücke ächzte. Die Fahrbahn bäumte sich auf. Der Wagen kreiselte in den Strudel im Zentrum der Welle. Sein Fahrgestell wurde überflutet. Er wurde von der Welle hochgehoben und ritt auf dem Kamm, dann schoss er auf einer Rutschbahn aus brodelndem Meerwasser von der Brücke.

Ander beobachtete, wie der Chrysler einen Purzelbaum in die Gischt der Welle schlug. Und er war entsetzt über das, was er durch die Windschutzscheibe sah. Aschblondes Haar wehte ihr um das Gesicht. Ihr Profil erschien weich wie in schummrigem Kerzenlicht. Sie griff mit beiden Armen nach ihrer Mutter, deren Kopf auf das Lenkrad geschlagen war. Ihr Schrei schnitt Ander ins Herz wie Glas.

Und zum ersten Mal in seinem Leben sah sie ihn an.

Seine Hände glitten von der Befestigung des Orichalcumankers. Seine Füße lösten sich vom Boden des Fischerbootes. Als der Wagen ins Wasser platschte, schwamm Ander auf dessen offenes Fenster zu, kämpfte gegen die Welle, nutzte jede Unze uralter Stärke, die er im Blut hatte.

Es war ein Krieg, Ander gegen die Welle. Sie krachte in ihn hinein, schleuderte ihn auf den Grund des Golfs, der hier nicht tief war, drosch ihm gegen die Rippen, prellte seinen Körper überall. Er knirschte mit den Zähnen und schwamm durch Schmerz, durch Korallenriffe, die seine Haut ritzten, durch Glasscherben, schrammte an einem gesplitterten Kotflügel vorbei und kämpfte sich durch dicke Vorhänge aus Algen und Wasserpflanzen. Sein Kopf schoss aus dem Wasser heraus, er schnappte nach Luft. Er sah die verzerrte Silhouette des Wagens – dann verschwand der Wagen unter Bergen von Schaum. Ander weinte beinahe bei dem Gedanken, es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen.

Alles wurde still. Die Welle zog sich zurück, sammelte Tonnen von Treibgut, schleppte den Wagen mit sich. Ließ Ander zurück.

Er hatte eine einzige Chance. Die Fenster waren über dem Wasserspiegel. Sobald die Welle zurückkehrte, würde der Wagen in die Tiefe gezogen werden. Ander handelte ohne nachzudenken, er erhob sich aus dem Wasser und hechtete durch die Luft. Er sprang in die Welle und streckte die Hand aus.

Ihr Körper war so starr wie ein Gelübde unbiegsam ist. Ihre dunklen blauen Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick entsetzt. Blut sickerte an ihrem Hals hinab, als sie sich zu ihm umdrehte. Was sah sie? Was war er?

Die Frage und ihr Blick lähmten Ander. In diesem Moment der Verwirrung rollte die Welle über sie beide hinweg, und eine wesentliche Chance war vertan: Er würde nur Zeit haben, eine von ihnen zu retten. Er wusste, wie grausam es war. Aber egoistischerweise konnte er sie nicht gehen lassen.

Kurz bevor die Welle über ihnen zusammenschlug, ergriff Ander ihre Hand.

Eureka.

1

Eureka

I n der Stille des kleinen beige gestrichenen Wartezimmers klingelte es in Eurekas lädiertem Ohr. Sie massierte es–eine Angewohnheit seit dem Unfall, der sie halb taub gemacht hatte. Es half nicht. Die Tür ihr gegenüber wurde geöffnet. Im Rahmen stand eine Frau in weißer Batistbluse, olivgrünem Rock und mit sehr feinem, hochgestecktem blondem Haar.

»Eureka?« Die leise Stimme der Frau übertönte kaum das Gurgeln des Aquariums, das zwar einen bis zu den Knien im Sand vergrabenen neonfarbenen Plastiktaucher beherbergte, aber keinen einzigen Fisch.

Eureka sah sich im Wartezimmer um und wünschte, eine andere, unsichtbare Eureka heraufbeschwören zu können, die während der nächsten Stunde ihren Platz einnahm.

»Ich bin Dr. Landry. Bitte, komm herein.«

Seit der Wiederheirat ihres Dads vor vier Jahren hatte Eureka eine Armada von Therapeuten überlebt. Ein Leben beherrscht von drei Erwachsenen, die sich in nichts einigen konnten, hatte sich als weitaus schwieriger erwiesen als eines, über das nur zwei Erwachsene bestimmten. Dad hatte am ersten Analytiker gezweifelt, einem Freudianer alter Schule, und Mom die zweite gehasst, eine Psychiaterin, die ständig gezwinkert und Gefühllosigkeit in Form von Pillen ausgeteilt hatte. Dann war Rhoda, Dads neue Frau, auf der Bildfläche erschienen – also wurde die Schultherapeutin ausprobiert und die Akupunkteurin und der Wutmanager. Aber bei dem herablassenden Familientherapeuten, in dessen Praxis ihr Dad sich weniger als Familie gefühlt hatte als irgendwo sonst, hatte Eureka dann gestreikt. Den letzten Psycho dagegen hatte sie beinahe gemocht. Er sprach sich für ein fernes Schweizer Internat aus. Als ihre Mutter davon Wind bekam, hatte sie gedroht, Dad vor Gericht zu bringen.

Eureka musterte die graubraunen Lederslipper ihrer neuen Therapeutin. Sie hatte auf einer Psychologencouch vielen ähnlichen Paaren Schuhe gegenübergesessen. Es war ein kleiner Trick der weiblichen Therapeuten: Sie schlüpften zu Beginn einer Sitzung aus ihren flachen Schuhen und schoben die Füße wieder hinein, um das Ende zu signalisieren. Sie mussten alle denselben stumpfsinnigen Artikel über die Schuhmethode gelesen haben, die sanfter für den Patienten war, als einfach zu sagen, dass die Zeit abgelaufen sei.

Das Sprechzimmer war bewusst beruhigend eingerichtet: eine lange braune Ledercouch vor dem mit Jalousien versehenen Fenster, zwei gepolsterte Sessel gegenüber einem Couchtisch mit einer Schale in Goldpapier verpacktem Konfekt, ein Teppich, in den verschiedenfarbige Fußabdrücke eingewebt waren. Ein elektrischer Lufterfrischer verbreitete Zimtgeruch, wogegen Eureka nichts einzuwenden hatte. Dr. Landry setzte sich in einen der Sessel. Eureka warf ihre Tasche mit einem lauten Krachen auf den Boden – hochwertige Lehrbücher waren wie Ziegelsteine –, dann fläzte sie sich auf die Couch.

»Nette Praxis«, sagte sie. »Sie sollten sich eins dieser Schwingpendel mit Silberkugeln anschaffen. Meine letzte Ärztin hatte eins. Vielleicht einen Wasserspender mit Hähnen für gekühltes und ungekühltes Wasser.«

»Wenn du gern etwas Wasser hättest, neben der Spüle steht ein Krug. Ich würde dir gern …«

»Vergessen Sie es.« Eureka waren bereits mehr Worte entschlüpft, als sie während der ganzen Stunde zu sprechen beabsichtigt hatte. Sie war nervös. Sie holte Luft, richtete ihren Schutzwall wieder auf und rief sich ins Gedächtnis, dass sie eine Stoikerin war.

Einer von Dr. Landrys Füßen befreite sich aus seinem flachen graubraunen Schuh, dann lockerte seine bestrumpfte Zehe den Absatz des anderen Schuhs, und zum Vorschein kamen weinrot lackierte Zehennägel. Mit beiden Füßen unter den Oberschenkeln stützte Dr. Landry das Kinn auf die Hand. »Was führt dich heute hierher?«

Wenn Eureka in einer schlimmen Situation festsaß, erfand sie im Geist Fluchtorte, an denen sie sich gern aufhalten würde. Sie stellte sich eine Autokolonne vor, die im Zentrum von New Iberia durch eine Konfettiparade fuhr, eine stilvolle Begleitung zu ihrer Therapie.

Aber Dr. Landry wirkte vernünftig, interessiert an der Realität, vor der zu fliehen Eureka sich sehnte. Eurekas roter Jeep hatte sie hierhergebracht. Die siebzehn Meilen lange Strecke zwischen dieser Praxis und ihrer Highschool hatte er sie hierhergebracht – und Sekunde für Sekunde formte sich jede weitere Minute, während der sie nicht in der Schule war und sich für den Crosscountry-Wettkampf an diesem Nachmittag aufwärmte. Ein Unglück hatte sie hierhergebracht.

Oder war es der Brief des Acadia-Vermilion-Krankenhauses, in dem stand, dass eine Therapie wegen ihres jüngsten Selbstmordversuches nicht optional, sondern verpflichtend sei?

Selbstmord. Das Wort klang viel gewalttätiger, als der Versuch es gewesen war. In der Nacht, bevor sie ihr zweites Oberstufenjahr beginnen sollte, hatte Eureka einfach das Fenster geöffnet und die weißen Gazevorhänge auf sich zuwehen lassen, während sie in ihrem Bett gelegen hatte. Sie hatte versucht, sich auf eine einzige positive Sache in ihrer Zukunft zu besinnen, aber ihre Gedanken waren immer abgeschweift zu verlorenen Augenblicken des Glücks, die es nie wieder geben würde. Sie konnte nicht in der Vergangenheit leben, also beschloss sie, dass sie nicht leben konnte. Sie schaltete ihren iPod ein und schluckte sämtliche Oxycodonpillen, die Dad im Medizinschrank gegen die stechenden Schmerzen in seinem Rücken aufbewahrte.

Acht, vielleicht neun Tabletten; sie zählte sie nicht. Sie dachte an ihre Mutter. Sie dachte an Maria, die Mutter Gottes. Man hatte sie dazu erzogen, an sie zu glauben und daran, dass sie in der Stunde des Todes für jeden betete. Eureka kannte die katholischen Lehren über Selbstmord, aber sie glaubte an Maria, deren Barmherzigkeit gewaltig war und die vielleicht verstehen würde, dass Eureka zu viel verloren hatte, um noch etwas anderes tun zu können, als zu kapitulieren.

Sie erwachte in einer kalten Notaufnahme, war an eine Trage gebunden und würgte am Rohr einer Magenpumpe. Sie hörte Dad und Rhoda im Flur streiten, während eine Krankenschwester sie zwang, grässliche, flüssige Kohle zu trinken, um die Gifte zu binden, die sie nicht aus ihrem Körper herauspumpen konnten.

Weil sie die Worte nicht herausbrachte, die sie früher gesagt hätte – »Ich will leben«, »Ich werde das nicht noch einmal versuchen« –, verbrachte Eureka zwei Wochen auf der psychiatrischen Station. Sie würde niemals vergessen, wie absurd es war, bei den Freiübungen neben der fetten, schizophrenen Frau Seil zu springen, würde nie vergessen, wie es war, Hafergrütze mit dem Collegejungen zu essen, der sich die Handgelenke nicht tief genug aufgeschlitzt hatte und der den Angestellten ins Gesicht spuckte, wenn sie versuchten, ihm Tabletten zu geben. Irgendwie schleppte Eureka sich sechzehn Tage später vor der ersten Stunde in der Evangeline Catholic High School in die Morgenmesse, wo Belle Pogue, eine Zehntklässlerin aus Opelousas, sie an der Kapellentür anhielt mit den Worten: »Du musst dich gesegnet fühlen, am Leben zu sein«.

Eureka hatte Belle wütend angefunkelt, woraufhin das Mädchen nach Luft geschnappt und sich bekreuzigt hatte, bevor es in die am weitesten entfernte Bank gerutscht war. In den sechs Wochen, seit sie wieder an der Evangeline war, hatte Eureka aufgehört zu zählen, wie viele Freunde sie verloren hatte.

Dr. Landry räusperte sich.

Eureka starrte zu der abgehängten Decke hoch. »Sie wissen, warum ich hier bin.«

»Ich würde schrecklich gern hören, wie du es in Worte fasst.«

»Wegen der Frau meines Vaters.«

»Du hast Probleme mit deiner Stiefmutter?«

»Rhoda macht die Termine. Das ist der Grund, warum ich hier bin.« Eurekas Therapie war für Dads Frau wie einer ihrer Missionszüge. Zuerst ging es darum, mit der Scheidung fertigzuwerden, dann darum, den Tod ihrer Mutter zu betrauern, und jetzt ging es darum, die Gründe für den Selbstmordversuch aus ihr herauszukitzeln. Ohne Diana – ihre Mutter – gab es niemanden mehr, der zu Eurekas Gunsten ein Machtwort sprach und einen unfähigen Therapeuten feuerte. Eureka stellte sich vor, wie sie im Alter von fünfundachtzig immer noch in Sitzungen mit Dr. Landry feststeckte, nicht weniger verkorkst als sie es heute war.

»Ich weiß, es war hart, deine Mutter zu verlieren«, fuhr Dr. Landry fort. »Wie fühlst du dich?«

Eureka konzentrierte sich auf das Wort verlieren. Als seien sie und Diana in einer Menschenmenge voneinander getrennt worden und würden sich bald wiederfinden, sich an den Händen fassen und zum nächsten Hafenrestaurant schlendern, um gebratene Muscheln zu essen und weiterzumachen, als seien sie niemals getrennt gewesen.

An diesem Morgen hatte Rhoda Eureka über den Frühstückstisch hinweg eine SMS geschickt: Dr. Landry. 15 Uhr. Sie hatte noch einen Link angelegt, um den Termin auf den Kalender ihres Telefons zu schicken. Als Eureka die Büroadresse anklickte, markierte eine Nadel auf der Karte das entsprechende Gebäude auf der Main Street in New Iberia.

»New Iberia?« Ihre Stimme brach.

Rhoda schluckte einen abscheulich aussehenden grünen Saft herunter. »Ich dachte, das würde dir gefallen.«

New Iberia war die Stadt, in der Eureka geboren und aufgewachsen war. Es war der Ort, den sie immer noch ihr Zuhause nannte, an dem sie während des unzerstörten Teils ihres Lebens mit ihren Eltern gelebt hatte, bis die beiden sich getrennt hatten und ihre Mom weggezogen und Dads selbstbewusster Schritt einem Schlurfen gewichen war, wie dem der Krebse mit den blauen Scheren bei Victor’s, wo er früher gekocht hatte.

Das war ungefähr zu der Zeit des Wirbelsturms Katrina gewesen, dem kurz danach Rita gefolgt war. Eurekas altes Haus stand noch – sie hatte gehört, dass jetzt eine andere Familie darin lebte –, aber nach den Hurrikans hatte Dad nicht die Zeit und die Mühe investieren wollen, um das Haus wieder instand zu setzen. Also waren sie nach Lafayette gezogen, fünfzehn Meilen und dreißig Lichtjahre von daheim entfernt. Dad fand einen Job als Chefkoch im Prejean’s, das größer und viel weniger romantisch war als Victor’s. Eureka wechselte die Schule, und das war ätzend. Bevor Eureka überhaupt begriffen hatte, dass Dad über ihre Mom hinweg war, zogen sie in ein großes Haus auf Shady Circle. Es gehörte einer tyrannischen Dame namens Rhoda. Sie war schwanger. Eurekas neues Zimmer lag im Souterrain in einer Einliegerwohnung.

Nein, Eureka gefiel es nicht, dass diese neue Therapeutin ausgerechnet in New Iberia praktizierte. Wie sollte sie an diesem Nachmittag von dort rechtzeitig zu ihrem Wettkampf zurück sein?

Der Wettkampf war wichtig, nicht nur weil die Evangeline gegen ihren Rivalen, die Manor High, antrat. Eureka hatte der Trainerin versprochen, heute ihre Entscheidung zu treffen, ob sie in der Mannschaft bleiben wollte oder nicht.

Vor Dianas Tod war Eureka zum Kapitän der Mannschaft ernannt worden. Nach dem Unfall, als sie körperlich weit genug genesen war, hatten Freunde sie angefleht, im Sommer wieder mit ihnen zu trainieren. Aber bei dem einen Lauf, an dem sie teilgenommen hatte, hätte sie schreien können. Schüler aus den unteren Klassen weinten vor Mitleid. Die Trainerin schrieb Eurekas langsames Tempo den schweren Gipsverbänden um ihre Handgelenke zu. Das war jedoch eine Lüge. Ihr Herz war nicht mehr beim Rennen. Es war nicht mehr beim Team. Ihr Herz war bei Diana im Meer.

Nach der Sache mit den Pillen hatte die Trainerin sie auf der psychiatrischen Station besucht und Luftballons mitgebracht, die in dem sterilen Zimmer absurd aussahen. Eureka hatte sie nicht einmal behalten dürfen, nachdem die Besuchszeit zu Ende war.

»Ich steige aus«, hatte Eureka ihr erklärt. Es war ihr peinlich, so gesehen zu werden, mit Handgelenken und Knöcheln ans Bett gebunden. »Sagen Sie Cat, sie kann mein Schließfach haben.«

Das traurige Lächeln der Trainerin legte die Vermutung nahe, dass die Entscheidungen eines Mädchens nach einem Selbstmordversuch weniger wogen als Körper auf dem Mond. »Ich habe zwei Scheidungen hinter mir und den Kampf einer Schwester mit dem Krebs«, sagte sie. »Ich erzähle dir das nicht nur, weil du die Schnellste in meinem Team bist. Ich sage das, weil das Laufen vielleicht die Therapie ist, die du brauchst. Wenn du dich besser fühlst, komm zu mir. Wir werden über dieses Schließfach reden.«

Eureka wusste nicht, warum sie zugestimmt hatte. Vielleicht wollte sie nicht noch jemanden enttäuschen. Sie hatte versprochen, dass sie versuchen wollte, bis zu dem Rennen gegen Manor heute wieder in Form zu kommen, um der Sache noch eine Chance zu geben. Früher war Laufen ihre Leidenschaft gewesen. Und das Team. Aber das war alles vorher gewesen.

»Eureka«, drang Dr. Landry in sie. »Erinnerst du dich an irgendetwas, das am Tag des Unfalls passiert ist?«

Eureka studierte das Stoffpanel, mit dem die Decke abgehängt war, als fände sich darauf vielleicht ein Stichwort für sie. Sie hatte so gut wie keine Erinnerung an den Unfall, sodass es keinen Sinn hatte, den Mund zu öffnen. An einer Wand der Praxis hing ein Spiegel. Eureka stand auf und stellte sich davor.

»Was siehst du?«, fragte Dr. Landry.

Spuren des Mädchens, das sie zuvor gewesen war: dieselben kleinen Ohren, die wie offene Autotüren aussahen und hinter die sie ihr Haar schob, die gleichen dunkelblauen Augen wie Dad, die gleichen Augenbrauen, die wild wucherten, wenn sie sie nicht täglich zupfte – es war alles immer noch wie vor dem Unfall. Und doch hatten eben noch zwei Frauen mittleren Alters, an denen sie auf dem Parkplatz vorbeigekommen war, einander zugeflüstert: »Ihre eigene Mutter würde sie nicht wiedererkennen.«

Es war eine Redensart wie vieles andere, was man in New Iberia über Eureka sagte: Stur wie ein Bock. Verschwiegen wie ein Grab. Schneller als der Blitz. Das Problem mit diesen Redensarten war die Leichtigkeit, mit der sie über die Lippen gingen. Diese Frauen dachten nicht an die wirkliche Diana, die ihre Tochter überall erkannt hätte und zu jeder Zeit, ganz gleich, unter welchen Umständen.

Dreizehn Jahre auf einer katholischen Schule hatten Eureka gelehrt, dass Diana vom Himmel herabschaute und sie sah. Ihr würde das zerrissene Joshua-Tree-T-Shirt unter der Schulstrickjacke ihrer Tochter nichts ausmachen, ebenso wenig wie die angekauten Nägel oder das Loch an der linken großen Zehe ihrer Stoffschuhe mit Hahnentrittmuster. Aber wegen des Haares wäre sie vielleicht sauer gewesen.

In den vier Monaten seit dem Unfall hatte Eurekas Haarfarbe von jungfräulichem Aschblond zu Sirenenrot gewechselt (dem natürlichen Farbton ihrer Mutter), dann zu Weißblond (die Idee ihrer Tante Maurin, die einen Schönheitssalon besaß), danach zu Rabenschwarz (was endlich zu passen schien), und jetzt wuchs es sich in interessanten Schattierungen aus. Eureka versuchte, ihr Spiegelbild anzulächeln, aber ihr Gesicht sah seltsam aus, wie die Komödienmaske, die im vergangenen Jahr an einer Wand im Raum ihres Schauspielkurses gehangen hatte.

»Erzähl mir von deiner jüngsten positiven Erinnerung«, forderte Dr. Landry sie auf.

Eureka ließ sich wieder aufs Sofa fallen. Es musste dieser Tag gewesen sein. Es musste die CD von Jelly Roll Morton in der Stereoanlage gewesen sein und der schrecklich schlechte Gesang ihrer Mutter, der mit ihrem eigenen harmonierte, während sie mit heruntergekurbelten Fenstern über eine Brücke fuhren, deren Ende sie nicht erreichen würden. Sie erinnerte sich daran, über einen komischen Vers gelacht zu haben, während sie sich der Mitte der Brücke näherten. Sie erinnerte sich daran, das angerostete weiße Schild vorbeisausen zu sehen –MEILEVIER.

Dann: Nichts. Ein klaffendes schwarzes Loch, bis sie in einem Krankenhaus in Miami mit aufgeschlitzter Kopfhaut erwacht war, einem geplatzten linken Trommelfell, das niemals ganz verheilen würde, einem verstauchten Knöchel, zwei kompliziert gebrochenen Handgelenken, tausend blauen Flecken …

Und ohne Mutter.

Dad hatte auf der Bettkante gesessen. Er hatte geweint, als sie zu sich gekommen war. Das machte seine Augen noch blauer. Rhoda reichte ihm Papiertaschentücher. Eurekas vier Jahre alte Halbgeschwister, William und Claire, umklammerten mit kleinen, weichen Fingern die Teile ihrer Hände, die nicht in Gipsverbänden steckten. Sie hatte die Zwillinge gerochen, noch bevor sie die Augen öffnete, bevor sie wusste, dass irgendjemand da war oder dass sie noch lebte. Sie rochen, wie sie das immer taten: nach Kernseife und Sternennächten.

Rhoda beugte sich über ihr Bett und schob sich die rote Brille auf den Kopf. »Du hattest einen Unfall. Aber du wirst wieder gesund«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

Sie erzählten ihr von der furchtbaren Welle, die sich wie ein Mythos aus dem Meer erhoben und den Chrysler ihrer Mutter von der Brücke gerissen hatte. Sie erzählten ihr von Wissenschaftlern, die das Meer auf einen Meteoriteneinschlag untersuchten, der die Welle vielleicht verursacht haben könnte. Sie erzählten ihr von den Bauarbeitern, fragten, ob Eureka wisse, wieso ihr Wagen der einzige gewesen war, der die Brücke hatte passieren dürfen. Rhoda erwähnte, dass sie den Verwaltungsbezirk verklagen könnten, aber Dad hatte abgewinkt. Sie fragten Eureka nach ihrem wundersamen Überleben. Sie warteten darauf, dass sie den unerklärlichen Vorgang, dass nur sie es ans Ufer geschafft hatte, erklärte.

Als sie es nicht konnte, erzählten sie ihr von ihrer Mutter.

Sie hörte nicht zu, wollte das alles nicht hören. Sie war dankbar, dass der Tinnitus in ihrem Ohr die meisten Geräusche übertönte. Manchmal gefiel es ihr immer noch, dass der Unfall sie halb taub gemacht hatte. Sie hatte Williams weiches Gesicht angesehen und dann Claires und gedacht, es würde helfen. Aber sie machten den Eindruck, als hätten sie Angst vor ihr, und das tat mehr weh als ihre gebrochenen Knochen. Also starrte sie an ihnen allen vorbei, lenkte ihren Blick auf die beruhigende mattweiße Wand ihrem Bett gegenüber und ließ ihn dort für die nächsten neun Tage. Sie sagte den Krankenschwestern immer, ihr Schmerzlevel liege bei sieben von zehn auf ihrer Skala. Das reichte, um weiter Morphium zu bekommen.

»Du hast vielleicht das Gefühl, als sei die Welt ein sehr unfairer Ort«, versuchte Dr. Landry es weiter.

Befand Eureka sich immer noch im gleichen Raum mit dieser herablassenden Frau, die dafür bezahlt wurde, sie misszuverstehen? Das war unfair. Sie stellte sich vor, wie Dr. Landrys abgetragene graubraune Schuhe sich wie von Zauberhand vom Teppich hoben, in der Luft schwebten und sich drehten wie Minuten- und Stundenzeiger auf einer Uhr, bis die Zeit abgelaufen war und Eureka zu ihrem Wettkampf sausen konnte.

»Hilferufe wie deiner resultieren häufig aus dem Gefühl, missverstanden zu werden.«

»Hilferuf« war Psychodeutsch für »Selbstmordversuch«. Es war kein Hilferuf gewesen. Vor Dianas Tod hatte Eureka die Welt für einen unglaublich aufregenden Ort gehalten. Mit ihrer Mutter war alles ein Abenteuer gewesen. Sie hatte auf einem x-beliebigen Weg Dinge bemerkt, an denen die meisten tausendmal vorübergingen. Sie hatte lauter und häufiger gelacht als jeder andere, den Eureka je gekannt hatte – und zeitweise war ihr das peinlich gewesen –, aber jetzt vermisste sie vor allem das Lachen ihrer Mutter.

Sie waren zusammen in Ägypten, in der Türkei und in Indien gewesen und hatten eine Bootstour durch die Galapagosinseln gemacht, alles im Rahmen von Dianas archäologischer Arbeit. Einmal, als Eureka ihre Mutter auf einer Ausgrabungsstelle im nördlichen Griechenland besucht hatte, hatten sie in Trikala den letzten Bus verpasst und gedacht, sie säßen für die Nacht dort fest – bis die vierzehn Jahre alte Eureka einen Olivenöltransporter angehalten hatte und sie per Anhalter zurück nach Athen gefahren waren. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr auf der Ladefläche des Transporters inmitten der würzig duftenden, undichten Olivenölfässer den Arm um die Schultern gelegt und mit leiser Stimme gemurmelt hatte: »Du würdest auch aus einem Fuchsbau im tiefsten Sibirien herausfinden. Du bist eine mordsmäßige Reisebegleiterin.« Es war Eurekas Lieblingskompliment. Sie dachte oft daran, wenn sie in einer Situation war, aus der es zu entkommen galt.

»Ich versuche, Zugang zu dir zu finden, Eureka«, sagte Dr. Landry. »Die Menschen, die dir am nächsten sind, versuchen, dich wieder zu erreichen. Ich habe deine Stiefmutter und deinen Vater gebeten, in einigen Stichworten zu notieren, wie du dich verändert hast.« Sie griff nach einem marmorierten Notizbuch auf dem Beistelltisch neben ihrem Sessel. »Würdest du sie gern hören?«

»Bitte sehr.« Eureka zuckte die Achseln. »Immer raus damit.«

»Deine Stiefmutter …«

»Rhoda.«

»Rhoda hat dich ›frostig‹ genannt. Sie meinte, der Rest der Familie liefe wie auf Eiern um dich herum, und dass du ›verschlossen und ungeduldig‹ deinen Halbgeschwistern gegenüber seiest.«

Eureka zuckte zusammen. »Ich bin nicht …« Verschlossen – wen scherte das? Aber ungeduldig mit den Zwillingen, war das wahr? Oder war es ein weiterer von Rhodas Tricks?

»Was ist mit Dad? Lassen Sie mich raten – ›distanziert‹, ›mürrisch‹?«

Dr. Landry blätterte in dem Notizbuch eine Seite weiter. »Dein Vater beschreibt dich als, ja, ›distanziert‹, ›stoisch‹, ›eine harte Nuss‹.«

»Stoisch zu sein, ist nichts Schlechtes.« Seit sie etwas über griechischen Stoizismus gelernt hatte, hatte Eureka danach getrachtet, ihre Gefühle in Schach zu halten. Ihr gefiel die Idee von Freiheit, die sie erlangen konnte, indem sie die Kontrolle über ihre Gefühle übernahm und sie so zurückhielt, dass nur sie sie sehen konnte, wie ein Kartenblatt. In einem Universum ohne Rhodas und Dr. Landrys wäre es vielleicht ein Kompliment gewesen, von Dad »stoisch« genannt zu werden. Er war ebenfalls stoisch.

Aber die Sache mit der harten Nuss machte ihr zu schaffen. »Eine Nuss, die geknackt werden will, muss ja schon etwas selbstmörderisch veranlagt sein?«

Dr. Landry ließ das Buch sinken. »Trägst du dich mit weiteren Gedanken an Selbstmord?«

»Es ging nur um das Bild von der harten Nuss«, antwortete Eureka entnervt. »Ich habe mich als das Gegenteil von einer Nuss gesehen, die … ach, vergessen Sie es.« Aber es war zu spät. Ihr war das S-Wort entschlüpft, was so war, als sage man in einem Flugzeug »Bombe«. Dr. Landry hatte jetzt auf Alarmstufe rot geschaltet.

Natürlich dachte Eureka immer noch an Selbstmord. Und ja, sie hatte andere Methoden erwogen, nur mit Ertrinken würde sie es nicht versuchen können – nicht nach Dianas Tod. Sie hatte einmal eine Sendung darüber gesehen, wie die Lungen sich mit Blut füllen, bevor Ertrinkende sterben. Manchmal sprach sie mit ihrem Freund Brooks über Selbstmord. Brooks war der Einzige, dem sie vertrauen konnte und der sie nicht verurteilen würde, der nicht zu Dad gehen würde oder Schlimmeres. Er hatte sogar mitgehört, als sie einige Male bei der Telefonseelsorge angerufen hatte. Er hatte sie versprechen lassen, dass sie mit ihm reden würde, wann immer sie daran dachte, daher redeten sie eine Menge.

Aber sie war immer noch hier, nicht wahr? Der Drang, diese Welt zu verlassen, war nicht mehr so überwältigend, wie er es gewesen war, als Eureka die Pillen geschluckt hatte. Lethargie und Apathie hatten ihr Verlangen zu sterben ersetzt.

»Hat Dad zufällig erwähnt, dass ich schon immer so war?«, fragte sie.

Dr. Landry legte ihr Notizbuch auf den Tisch. »Schon immer?«

Jetzt wandte Eureka den Blick ab. Vielleicht nicht schon immer. Natürlich nicht schon immer. Die Dinge waren für eine Weile sonnig gewesen. Aber als sie zehn war, hatten ihre Eltern sich getrennt. Danach hatte sie einfach keine Sonne mehr gesehen.

»Gibt es irgendeine Chance, dass Sie mir Tafil verschreiben?« Eurekas linkes Trommelfell klingelte wieder. »Ansonsten scheint mir das hier Zeitverschwendung zu sein.«

»Du brauchst keine Drogen. Du musst dich öffnen, dich nicht in deiner Trauer vergraben. Deine Stiefmutter sagt, du würdest nicht mit ihr oder deinem Vater reden. Du hast kein Interesse daran gezeigt, dich mit mir zu unterhalten. Was ist mit deinen Freunden in der Schule?«

»Cat«, antwortete Eureka automatisch. »Und Brooks.« Sie redete mit ihnen. Wenn einer von ihnen auf Dr. Landrys Platz gesessen hätte, hätte Eureka in diesem Moment vielleicht gelacht.

»Gut.« Dr. Landry meinte endlich. »Wie würden sie dich seit dem Unfall beschreiben?«

»Cat ist Kapitän der Geländelaufmannschaft«, sagte Eureka und dachte an die gemischten Gefühle auf dem Gesicht ihrer Freundin, als Eureka ihr gesagt hatte, dass sie aufhören wolle und somit die Position des Kapitäns frei werden würde. »Sie würde sagen, ich sei langsam geworden.«

Cat würde in diesem Augenblick mit der Mannschaft auf dem Sportplatz sein. Sie würde die Mannschaft sicher durch die Aufwärm- und Dehnübungen führen, aber motivieren war nicht ihre Stärke – und das Team brauchte Motivation, um sich Manor zu stellen. Eureka sah auf ihre Uhr. Wenn sie sich höllisch beeilte, sobald diese Sitzung vorbei war, konnte sie vielleicht gerade noch rechtzeitig wieder an der Schule sein. Das war es, was sie wollte, oder?

Als sie aufblickte, hatte Dr. Landry die Stirn in Falten gelegt. »Das wäre eine ziemlich harte Bemerkung einem Mädchen gegenüber, das um den Verlust seiner Mutter trauert, findest du nicht?«

Eureka zuckte die Achseln. Hätte Dr. Landry Sinn für Humor gehabt und Cat gekannt, würde sie es schon kapieren. Ihre Freundin scherzte die meiste Zeit. Es war in Ordnung. Sie kannten einander seit einer Ewigkeit.

»Was ist mit … Brooke?«

»Brooks«, korrigierte Eureka sie. Ihn kannte sie auch schon seit einer Ewigkeit. Er war ein besserer Zuhörer als all die Psychofritzen, für die Rhoda und Dad ihr Geld verschwendeten.

»Ist Brooks ein Er?« Dr. Landry nahm das Notizbuch wieder zur Hand und kritzelte etwas hinein. »Seid ihr beiden einfach Freunde?«

»Warum spielt das eine Rolle?«, blaffte Eureka. Vor dem Unfall waren sie und Brooks miteinander gegangen – in der fünften Klasse. Aber sie waren Kinder gewesen. Und sie war ein Wrack gewesen, weil ihre Eltern sich getrennt hatten, und …

»Die Scheidung der Eltern erschwert es den Kindern häufig, selbst romantische Beziehungen einzugehen.«

»Wir waren zehn. Es hat nicht funktioniert, weil ich schwimmen gehen wollte und er Fahrrad fahren. Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?«

»Sag du es mir. Vielleicht kannst du mit Brooks über deinen Verlust sprechen. Er scheint jemand zu sein, an dem dir viel liegen könnte, wenn du dir selbst gestatten würdest, etwas zu fühlen.«

Eureka verdrehte die Augen. »Ziehen Sie Ihre Schuhe wieder an, Doc.« Sie griff sich ihre Tasche und stand auf. »Ich muss gehen.«

Von dieser Sitzung weglaufen. Zur Schule zurücklaufen. Durch den Wald laufen, bis sie so müde war, dass sie nicht mehr litt. Vielleicht sogar zum Team zurücklaufen, das sie früher geliebt hatte. Die Trainerin hatte in einem Punkt recht gehabt: Wenn Eureka mies drauf war, war Laufen immer hilfreich.

»Werde ich dich nächsten Dienstag wiedersehen?«, rief Dr. Landry. Aber mittlerweile redete die Therapeutin mit einer sich schließenden Tür.

2

Bewegte Objekte

E ureka joggte über den von Schlaglöchern übersäten Parkplatz, schloss mit der Fernbedienung Magda auf, öffnete die Fahrertür und schwang sich auf den Sitz. In einer Buche über ihr zirpten Goldwaldsänger; Eureka kannte ihr einfaches Lied. Trotz des warmen Tages hatte sich Magda unter den ausladenden Ästen des Baumes nicht aufgeheizt und war innen ziemlich kühl geblieben.

Magda war ein roter Jeep Cherokee, den sie von Rhoda übernommen hatte. Er war zu neu und zu rot, um Eureka zu gefallen. Bei geschlossenen Fenstern drangen keine Geräusche von draußen herein; das war für Eureka, als führe sie in einem Grab umher. Cat hatte darauf bestanden, den Wagen Magda zu taufen, damit der Jeep zumindest für einen Lacher gut wäre. Er war nicht annähernd so cool wie Dads blassblauer Lincoln Continental, mit dem Eureka das Fahren gelernt hatte, aber zumindest hatte er eine mörderische Stereoanlage.

Sie schloss ihr Telefon daran an und stellte den webbasierten Schulradiosender KBEU ein. Die Station spielte jeden Wochentag nach der Schule die besten Songs von den besten einheimischen und Indie-Bands. Im letzten Jahr hatte Eureka als DJ für den Sender gearbeitet; sie hatte dienstagnachmittags eine Show namens Blues am Bayou gehabt. Sie hatten ihr den Sendeplatz in diesem Jahr frei gehalten, aber sie hatte ihn nicht mehr gewollt. Das Mädchen, das für Musik und Stimmung gesorgt hatte, war jemand, an den sie sich kaum noch erinnern konnte und der sie erst recht nicht wieder sein wollte.

Eureka ließ alle vier Fenster herunter, öffnete das Sonnendach und kurvte vom Parkplatz unter den Klängen von »It’s Not Fair« von den Faith Healers, einer Band, die einige Kids aus der Schule gegründet hatten. Sie kannte alle Texte auswendig. Der melodiöse Bass ließ sie schneller durch ihre Sprints jagen und war der Grund gewesen, warum sie die alte Gitarre ihres Großvaters ausgegraben hatte. Sie hatte sich selbst einige Akkorde beigebracht, die Gitarre aber seit dem Frühjahr nicht mehr angerührt. Sie konnte sich die Musik, die sie machen würde, nicht vorstellen, jetzt, da Diana tot war. Die Gitarre verstaubte in der Ecke ihres Schlafzimmers – unter dem kleinen Bild der heiligen Katharina von Siena, das Eureka nach dem Tod ihrer Oma – Sugar – aus dem Nachlass gemopst hatte. Niemand wusste, wie Sugar an die Ikone gekommen war. Das Bild der Schutzheiligen gegen Feuersbrünste hatte bei Oma Sugar über dem Kaminsims gehangen, seit Eureka denken konnte.

Sie klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad. Dr. Landry wusste nicht, wovon sie sprach. Eureka fühlte Dinge, Dinge wie … Ärger, dass sie gerade eine weitere Stunde in einem weiteren trübsinnigen Therapieraum verschwendet hatte.

Und es gab noch mehr: Kalte Furcht, wann immer sie auch nur über die kürzeste Brücke fuhr. Entkräftende Traurigkeit, wenn sie schlaflos im Bett lag. Eine Schwere in den Knochen, deren Quelle sie jeden Morgen aufs Neue aufspüren musste, wenn ihr Wecker schrillte. Scham, dass sie überlebt hatte und Diana nicht. Zorn, dass sie ihr durch etwas so Absurdes genommen worden war.

Hilflosigkeit bei dem Gedanken, Rache an einer Welle zu nehmen.

Unausweichlich endete Eureka, wenn sie es sich gestattete, den traurigen Wanderungen ihres Geistes zu folgen, bei Hilflosigkeit. Hilflosigkeit ärgerte sie. Also lenkte sie sich ab, konzentrierte sich auf Dinge, die sie kontrollieren konnte – wie zum Campus zurückzufahren und zu der Entscheidung, die auf sie wartete.

Nicht einmal Cat wusste, ob Eureka heute auftauchen würde oder nicht. Die zwölf Kilometer waren früher Eurekas Lieblingsstrecke gewesen. Ihre Mannschaftskameraden stöhnten nur, wenn es über diese Strecke ging, aber für Eureka hatte es etwas Erfrischendes, sich der hypnotischen Wirkung eines langen Laufs zu überlassen. Irgendwo in ihr brannte auf klitzekleiner Flamme der Wunsch, gegen die Manor Kids zu laufen, und dieser Wunsch war lebendiger als alles, was sie in den letzten Monaten zu irgendetwas anderem als Schlaf gedrängt hatte.

Sie würde Dr. Landry niemals gestehen, dass sie recht hatte, aber Eureka fühlte sich tatsächlich durch und durch missverstanden. Die Menschen wussten nicht, was sie mit einer toten Mutter anfangen sollten, geschweige denn mit ihrer lebenden, selbstmordgefährdeten Tochter. Ihr roboterhaftes Schulterklopfen und ihr Händedruck machten Eureka kribbelig. Sie konnte nicht verstehen, wie die Leute so unsensibel sagen konnten: »Gott muss deine Mutter im Himmel vermisst haben« oder »Dies macht dich vielleicht zu einem besseren Menschen«.

Mädchen aus der Schule, die sie nie zuvor zur Kenntnis genommen hatten, hatten ihr nach Dianas Tod Freundschaftsarmbänder mit Kreuzstickerei in den Briefkasten gesteckt. Zuerst hatte Eureka ihre Blicke gemieden, wenn sie ihnen in der Stadt mit nackten Handgelenken begegnet war. Aber nachdem sie versucht hatte, sich umzubringen, war das kein Problem mehr gewesen. Die Mädchen wandten den Blick ab, sobald sie sie sahen. Mitleid hatte seine Grenzen.

Selbst Cat war erst seit Kurzem nicht mehr den Tränen nahe, wenn sie Eureka begegnete. Sie hatte sich bei diesen Gelegenheiten sonst die Nase geputzt, gelacht und gesagt: »Ich mag meine Mom nicht einmal, und ich würde es gar nicht merken, wenn ich sie verlöre.«

Eureka hatte ihre verloren. Und nur weil sie nicht zerbrach und weinte, weil sie sich nicht in die Arme von jedem stürzte, der versuchte, sie zu trösten, oder sich nicht mit handgemachten Armbändern behängte, dachten die Leute, sie würde nicht trauern?

Sie trauerte jeden Tag, jede Sekunde, mit jeder Faser ihres Seins.

Du würdest auch aus einem Fuchsbau im tiefsten Sibirien herausfinden. Es war, als höre sie Dianas Stimme, während sie Heberts weiß getünchte Angler-Baracke passierte und nach links auf die Schotterstraße einbog, die von hohem Zuckerrohr gesäumt wurde. Das Land zu beiden Seiten dieser drei Meilen langen Straße auf dem Weg von New Iberia nach Lafayette gehörte zu den schönsten Flecken in der Gegend. Riesige Eichen streckten ihre knorrigen Äste in den blauen Himmel, weite Felder gesprenkelt mit wildem Immergrün im Frühling, ein einsamer Wohnwagen auf Stelzen und mit flachem Dach ungefähr eine viertel Meile von der Straße entfernt. Diana hatte diesen Teil der Fahrt nach Lafayette immer geliebt. Sie hatte es »das letzte Lebenszeichen des Landes vor der Zivilisation« genannt.

Eureka war seit Dianas Tod nicht mehr auf dieser Straße gefahren. Sie war so lässig auf die Straße eingebogen und hatte nicht gedacht, dass es wehtun würde, aber plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Jeden Tag fand ein neuer Schmerz sie, er stach sie, es war, als sei die Trauer ein Fuchsbau, aus dem sie keinen Ausweg finden würde, bis sie starb.

Beinahe hätte sie angehalten, um auszusteigen und zu laufen. Wenn sie lief, dachte sie nicht. Ihr Kopf wurde frei, Eichenarme umfassten sie mit ihrem buschigen Louisianamoos, und sie bestand nur noch aus hämmernden Füßen, brennenden Beinen, einem schlagenden Herzen und schwingenden Armen. Sie verschmolz mit der Laufbahn, bis sie weit, weit weg war.

Sie dachte an das Gespräch. Vielleicht konnte sie Verzweiflung in etwas Nützliches kanalisieren. Wenn sie es nur rechtzeitig zurück zur Schule schaffte …

In der Woche zuvor hatte man die letzten Gipsverbände, die sie an ihren zerschmetterten Handgelenken hatte tragen müssen (das rechte war so übel gebrochen gewesen, dass es dreimal hatte neu gerichtet werden müssen), endlich abgenommen. Sie hatte die Gipsverbände gehasst und es gar nicht erwarten können, sie loszuwerden. Aber letzte Woche, als der Orthopäde ihren Verband in den Müll geworfen und sie für geheilt erklärt hatte, hatte es wie ein schlechter Scherz geklungen.

Als Eureka an einem Stoppschild vor einer Kreuzung auf der leeren Straße hielt, bogen sich die Zweige eines Lorbeerbaums über ihr Schiebedach. Sie schob den Ärmel ihrer grünen Schulstrickjacke hoch. Dann drehte sie das rechte Handgelenk einige Male hin und her und untersuchte ihren Unterarm. Die Haut war so bleich wie die Blütenblätter einer Magnolie. Der Umfang ihres rechten Armes schien auf die Hälfte ihres linken geschrumpft zu sein. Es sah unheimlich aus und Eureka schämte sich deswegen. Dann schämte sie sich für ihre Scham. Sie lebte; ihre Mutter nicht …

Hinter ihr quietschten Reifen. Ein lautes Krachen ließ sie erschrocken aufschreien, als Magda einen Satz nach vorn machte. Eureka trat fest auf die Bremse. Der Airbag blähte sich auf wie eine Qualle. Der grobe Stoff, der mit Wucht auf ihr Gesicht geprallt war, brannte ihr auf Wangen und Nase. Sie wurde mit dem Kopf gegen die Kopfstütze geschleudert und keuchte auf, als die Luft ihr aus den Lungen gepresst wurde, während sich jeder Muskel in ihrem Körper verkrampfte. Das Knirschen von Metall ließ die Musik aus der Stereoanlage auf unheimliche Weise anders klingen. Eureka hörte ihr für einen Moment zu. Erst als die Zeile »Always not fair« kam, begriff sie, dass sie gerammt worden war.

Eureka riss die Augen auf und zerrte am Türgriff, vergaß aber, dass sie noch angeschnallt war. Als sie den Fuß von der Bremse nahm, rollte der Wagen vorwärts, bis sie den Schalthebel in die Parkposition schob. Sie stellte Magdas Motor aus. Ihre Hände ruderten unter dem Airbag, aus dem langsam die Luft entwich. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien.

Ein Schatten fiel über sie und vermittelte ihr ein seltsames Gefühl eines Déjà-vu. Jemand stand vor dem Wagen und schaute herein.

Sie sah auf …

»Du«, flüsterte sie unwillkürlich.

Sie hatte den Jungen noch nie gesehen. Seine Haut war so blass wie ihr Arm, an dem der Gipsverband gewesen war, aber seine Augen waren türkisfarben wie das Meer in Miami, und das ließ sie an Diana denken. Sie spürte Traurigkeit in den Tiefen dieser Augen, wie Schatten auf dem Meer. Sein Haar war blond, nicht zu kurz und oben leicht gewellt. Sie konnte erkennen, dass er unter seinem weißen Hemd ziemlich muskulös war. Gerade Nase, kantiges Kinn, volle Lippen – der Junge sah aus wie Paul Newman aus Dianas Lieblingsfilm, Der Wildeste unter Tausend, nur eben viel blasser.

»Könntest du mir vielleicht mal helfen!«, hörte sie sich dem Fremden zurufen. Er war der heißeste Junge, den sie je angebrüllt hatte. Er konnte gut der heißeste Junge sein, den sie je gesehen hatte. Ihre Stimme ließ ihn zusammenzucken, dann griff er um die offene Tür herum, gerade als ihre Finger endlich den Verschluss des Sicherheitsgurts fanden. Sie taumelte unbeholfen aus dem Wagen und landete auf Händen und Knien auf der staubigen Straße. Sie stöhnte. Ihre Nase und Wangen brannten von dem Aufprall des Airbags. Ihr rechtes Handgelenk pochte.

Der Junge hockte sich hin, um ihr zu helfen. Seine Augen waren von einem verblüffenden Blau.

»Vergiss es.« Sie stand auf und klopfte sich den Rock ab. Dann ließ sie den Kopf kreisen, was wehtat, obwohl es nichts im Vergleich zu ihrem Zustand nach dem anderen Unfall war. Nach einem Blick auf den weißen Truck, der sie angefahren hatte, sah sie den Jungen an.

»Hast du keine Augen im Kopf?«, rief sie. »Da ist ein Stoppschild!«

»Tut mir leid.« Seine Stimme war leise und sanft. Sie war sich nicht sicher, ob es ihm tatsächlich leidtat.

»Hast du überhaupt versucht, zu bremsen?«

»Ich habe nicht gesehen …«

»Du hast den großen roten Wagen direkt vor dir nicht gesehen?« Sie wirbelte herum, um Magda zu untersuchen. Als sie den Schaden sah, fluchte sie dermaßen, dass die ganze Gemeinde es hören konnte.

Das hintere Ende sah aus wie ein Zydeco-Akkordeon: bis zum Rücksitz eingedrückt, wo jetzt ihr Nummernschild verkeilt war. Die Heckscheibe war zertrümmert; Scherben hingen wie hässliche Eiszapfen an der Dichtung. Die Hinterräder waren zur Seite gedreht.

Sie holte Luft und erinnerte sich daran, dass das Auto Rhodas Statussymbol war und nichts, das sie geliebt hatte. Magda war Schrott, so viel war klar. Aber was sollte Eureka jetzt machen?

Dreißig Minuten bis zum Wettkampf. Immer noch zehn Meilen von der Schule entfernt. Wenn sie nicht erschien, würde die Trainerin denken, Eureka wolle mit dem Laufen aufhören.

»Ich brauche deine Versicherungsnummer«, rief sie und erinnerte sich endlich an den Satz, den Dad ihr monatelang eingetrichtert hatte.

»Versicherung?« Der Junge schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.

Sie trat gegen einen Reifen seines Trucks. Der Wagen war alt, wahrscheinlich aus den frühen Achtzigern, und sie hätte ihn cool gefunden, wenn er nicht gerade ihr Auto zerquetscht hätte. Seine Motorhaube war aufgesprungen, aber sonst hatte der Truck nicht einmal einen Kratzer.

»Unglaublich.« Sie funkelte den Jungen an. »Dein Auto hat überhaupt nichts abbekommen.«

»Was erwartest du? Es ist ein Chevy«, sagte der Junge mit nachgeahmtem Bayou-Akzent und zitierte einen nervigen Werbespot für den Truck, der in Eurekas Kindheit gesendet worden war. Es war einer dieser nichtssagenden Sprüche der Leute hier.

Er zwang sich zu einem Lachen und studierte ihr Gesicht. Eureka wusste, dass sie rot wurde, wenn sie wütend war. Brooks nannte es das Bayou-Feuer.

»Was ich erwarte?« Sie trat auf den Jungen zu. »Ich erwarte, in einen Wagen steigen zu können, ohne dass mein Leben bedroht wird. Ich erwarte, dass die anderen Verkehrsteilnehmer zumindest eine grundlegende Ahnung von Verkehrsregeln haben. Ich erwarte, dass der Typ, der auf mein Auto auffährt, sich nicht so selbstgefällig aufführt.«

Ihr wurde klar, dass sie sich zu sehr in Rage geredet hatte. Sie waren inzwischen nur noch Zentimeter voneinander entfernt, und sie musste den Kopf in den Nacken legen, was wehtat, um ihm in diese blauen Augen zu schauen. Er war einen halben Kopf größer als Eureka und sie war mit ihren eins siebzig schon groß.

»Aber da habe ich wohl zu viel erwartet. Du blöder Arsch hast ja nicht mal eine Versicherung.«

Sie standen immer noch sehr dicht voreinander, aus dem einzigen Grund, dass Eureka gedacht hatte, der Junge würde zurückweichen. Er tat es nicht. Sie spürte seinen Atem auf der Stirn. Er legte den Kopf schief und musterte sie eindringlich, studierte sie aufmerksamer, als sie für Tests lernte. Dann blinzelte er ein paar Mal und begann schließlich zu lächeln. Während sich das Lächeln auf seinem Gesicht ganz langsam ausbreitete, spürte Eureka ein Flattern im Bauch. Gegen ihren Willen sehnte sie sich danach, zurückzulächeln. Es ergab keinen Sinn. Er lächelte sie an, als seien sie alte Freunde, so wie sie und Brooks vielleicht kichern würden, wenn einer den Wagen des anderen gerammt hätte. Aber Eureka und dieser Junge waren sich vollkommen fremd. Und doch, als er nicht mehr nur lächelte, sondern leise in sich hineinlachte, bogen sich auch Eurekas Mundwinkel nach oben.

»Worüber lachst du?« Sie hatte ihn ausschimpfen wollen, aber es kam wie ein Lachen heraus, was sie erstaunte und dann wütend machte. Sie wandte sich ab. »Vergiss es. Sag nichts. Mein Stiefmonster wird mich umbringen.«

»Es war nicht deine Schuld.« Der Junge strahlte, als hätte er gerade den Nobelpreis für Bauerntrampel gewonnen. »Du hast nicht darum gebeten.«

»Das tut niemand«, murrte sie.

»Du hast an einem Stoppschild gehalten. Ich habe dich gerammt. Dein Monster wird es verstehen.«

»Du hattest offensichtlich nie das Vergnügen, Rhoda zu begegnen.«

»Sag ihr, ich werde mich um dein Auto kümmern.«

Sie ignorierte ihn und ging zu dem Jeep zurück, um sich ihren Rucksack zu nehmen und ihr Telefon aus der Halterung am Armaturenbrett zu ziehen. Zuerst würde sie Dad anrufen. Sie drückte auf die Kurzwahltaste zwei. Unter der Kurzwahltaste eins war immer noch Dianas Handynummer gespeichert. Eureka konnte sich nicht überwinden, sie zu löschen.

Dads Telefon klingelte und klingelte, was nicht überraschend war. Nach seiner langen Mittagsschicht musste er ungefähr drei Millionen Pfund gekochter Meeresfrüchte vorbereiten, bevor er das Restaurant verlassen konnte, weshalb seine Hände wahrscheinlich mit Shrimpsfühlern bedeckt waren.

»Ich verspreche dir«, sagte der Junge hinter ihr, »das kommt wieder in Ordnung. Ich werde es wiedergutmachen. Hör zu, mein Name ist …«

»Schscht.« Sie hob eine Hand, wandte sich von ihm ab und ging an den Rand des Zuckerrohrfeldes. »Du kannst mich mal mit ›Es ist ein Chevy‹.«

»Es tut mir leid.« Er folgte ihr und die dicken Zuckerrohrhalme neben der Straße knirschten unter seinen Schuhen. »Lass es mich erklären …«

Eureka scrollte durch ihre Kontakte bis zu Rhodas Nummer. Sie rief Dads Frau selten an, aber jetzt hatte sie keine andere Wahl. Das Telefon klingelte sechs Mal, bevor es auf Rhodas endlose Mailboxansage umsprang. »Das eine Mal, dass ich tatsächlich will, dass sie rangeht!«

Sie wählte wieder Dads Nummer. Und wieder. Danach versuchte sie es noch zwei Mal bei Rhoda, bevor sie das Telefon in die Tasche stopfte. Sie sah zu, wie die Sonne in die Baumwipfel sank. Ihre Mannschaftskameraden würden inzwischen bereits für den Lauf umgezogen sein. Die Trainerin würde auf dem Parkplatz Ausschau nach Eurekas Wagen halten. Ihr rechtes Handgelenk pochte immer noch. Und als sie es sich an die Brust drückte, kniff sie vor Schmerz die Augen zusammen. Sie saß hier fest. Sie begann zu zittern.

Du könntest einen Ausweg aus einem Fuchsbau in Sibirien finden, Mädchen.

Dianas Stimme klang so nah, dass Eureka ganz benommen war. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme und etwas brannte in ihrer Kehle. Als sie die Augen öffnete, stand der Junge direkt vor ihr. Er schaute sie mit ehrlicher Sorge an, so wie sie die Zwillinge beobachtete, wenn einer von ihnen wirklich krank war.

»Tu das nicht«, sagte der Junge.

»Was soll ich nicht tun?« Ihre Stimme zitterte, als sich unvermittelt Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Sie waren ungewohnt und ihr klarer Blick verschwamm.

Der Himmel grollte und das Grollen hallte in Eureka wider wie bei einem heftigen Gewitter. Dunkle Wolken trieben über die Bäume und bedeckten den Himmel mit einer grüngrauen Decke. Eureka wappnete sich gegen einen Regenguss.

Eine einzelne Träne quoll aus dem Winkel ihres linken Auges und war kurz davor, ihr die Wange hinunterzurinnen. Aber bevor sie das tat …

Der Junge hob den Zeigefinger, streckte die Hand aus und fing die Träne auf der Fingerspitze auf. Ganz langsam, als sei sie etwas Kostbares, führte er den salzigen Tropfen von ihr weg, auf sein eigenes Gesicht zu. Er presste ihn in den Winkel seines rechten Auges. Dann blinzelte er und die Träne war fort.

»So«, flüsterte er. »Keine Tränen mehr.«

3

Evakuierung

E ureka berührte mit Daumen und Zeigefinger ihre Augenwinkel. Sie blinzelte und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie geweint hatte …

Es war in der Nacht gewesen, bevor Hurrikan Rita New Iberia verwüstet hatte. An einem feuchtwarmen Abend Ende September, einige Wochen nach Katrina, hatte der Hurrikan ihre Stadt getroffen … und die morschen Dämme der Ehe ihrer Eltern waren ebenfalls überflutet worden.

Eureka war neun gewesen. Sie hatte einen unbehaglichen Sommer in der Obhut jeweils eines Elternteils verbracht. Wenn Diana mit ihr Angeln war, verschwand sie im Schlafzimmer, sobald sie wieder zu Hause waren, und überließ es Dad, die Fische auszunehmen und zu braten. Wenn Dad Karten fürs Kino hatte, hatte Diana andere Pläne und jemand anders musste ihren Platz einnehmen.

In früheren Sommern hatten sie zu dritt am Cypremort Point gesegelt und Dad hatte Eureka und Diana Zuckerwatte vom Jahrmarkt in den Mund gestopft. Diese Sommer erschienen Eureka jetzt wie ein Traum, an den sie sich kaum erinnern konnte. In jenem Sommer war das Einzige, was ihre Eltern gemeinsam taten, streiten.

Es hatte sich schon seit Monaten etwas zusammengebraut. Ihre Eltern stritten immer in der Küche. Etwas an Dads Ruhe, mit der er komplizierte Saucen umrührte, während er sie reduzierte, schien Diana aufzuregen. Je heißer es zwischen ihnen herging, umso mehr seiner Küchengeräte zerstörte sie. Sie hatte seinen Fleischwolf demoliert und seine Nudelmaschine verbogen. Als Hurrikan Rita die Stadt heimsuchte, gab es nur noch drei unversehrte Teller im Schrank.