Teatime mit Kuh - Stella Gibbons - E-Book

Teatime mit Kuh E-Book

Stella Gibbons

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Beschreibung

Flora Poste wurde in jeder Kunst und Fertigkeit unterrichtet, nur nicht in der, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Da ihre Eltern ihr weit weniger vermacht haben als erwartet, ist sie gezwungen, eine Weile bei ihren Verwandten im tiefsten Sussex unterzukommen. Schnell zeigt sich, dass der Alltag auf der Cold Comfort Farm die schlimmsten Vorurteile einer neunzehnjährigen Londonerin über das Landleben bestä­tigt. Was sich nämlich ihre Verwandtschaft nennt, ist ein liebenswerter, aber verrückter Haufen: Floras Tante Judith Starkadder verbringt den Tag damit, ihren Sohn Seth zu betüdeln, ein Don Juan vom Lande. Judiths Mann Amos macht als Freizeitprediger allen die Hölle heiß. Natur­kind Elfine, die Tochter, führt ein verwildertes Elfenleben. Und über allem thront die uralte Ada Doom, die sich seit zwanzig Jahren in ihrem Schlafzimmer verschanzt, um von dort aus den gesamten Haushalt zu tyrannisieren. Flora beschließt, das Leben der Starkadders in Ordnung zu bringen - ob die das wollen oder nicht.

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Seitenzahl: 403

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Stella Gibbons

Teatime mit Kuh

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

Oktopus

Mögen andere Federn sich bei Schuld und Elend aufhalten.

Mansfield Park

Für

Allan und Ina

Vorbemerkung

Die Handlung des Romans spielt in der nahen Zukunft.

Vorwort

ANANTHONYPOOKWORTHY, ESQ.,

A.B.S., L.L.R.

 

Mein lieber Tony,

mit etwas mehr als dem natürlichen Respekt eines Anfängers in der schönsten, beschwerlichsten und abartigsten aller Künste gegenüber einem wahren Meister lege ich Dir dieses Buch vor. Du kennst (besser als jeder andere) die Freuden des reinen Herdes und die Strenge des Spiels. Aber vielleicht ist es mir gestattet, diese Gelegenheit zu ergreifen, um Dir ein wenig ausführlicher, als ich es bislang angedeutet habe, etwas von dem Unvermögen zu erklären, mit dem ich zu kämpfen hatte, während ich die Seiten schrieb, die nun offen in Deinen Händen liegen.

Wie du weißt, habe ich rund zehn Jahre meines schöpferischen Daseins in dem bedeutungslosen und gewöhnlichen Treiben von Zeitungsredaktionen verbracht. Gott allein weiß, welche Wirkung dies auf meine Produktion an reiner Literatur hatte. Ich wage nicht, allzu sehr darüber nachzudenken – selbst heute nicht. Es gibt gewisse Dinge (wie die erste Liebe und die eigenen Rezensionen), die eine Frau in mittleren Jahren lieber nicht allzu genau betrachtet.

Die Auswirkung dieser zermürbenden Jahre auf meinen Stil (wenn ich gegenüber einem Schriftsteller, dessen gesetzte und präzise Prosa unsere Literatur auf Dauer bereichert hat, auf diese schöne Eigenschaft Anspruch erheben darf) war möglicherweise noch schwerwiegender.

Das Leben eines Journalisten ist ärmlich, abscheulich, barbarisch und kurz. Genau wie sein Stil. Du, der Du ein solches Talent besitzt, jedem gesetzten und präzisen Satz auf wunderbare Weise den letzten Schliff zu geben, wirst das Ausmaß der Aufgabe begreifen, vor der ich stand, als ich – nach zehn Jahren als Journalistin, in denen ich lernte, genau das, was ich meinte, in kurzen Sätzen auszudrücken – feststellte, dass ich, wenn ich es zu Literatur und positiven Rezensionen bringen wollte, lernen musste, so zu schreiben, als sei ich mir nicht ganz sicher, was ich meinte, aber nichtsdestoweniger entschlossen, etwas zu sagen, und zwar in möglichst langen Sätzen.

Es möge mir fernliegen, zu behaupten, die vorliegenden Seiten leisteten das, was vor zehn Jahren mit reinem, geistreichem Witz in mir loderte. Wer von uns kann das schon behaupten? Aber nun ist es vollbracht! Ecco! E finito! Und so liegt dieses Buch nun in aller Bescheidenheit vor Dir und ist Dein Eigentum.

Weißt Du, Tony, ich habe eine Schuld zu begleichen. Deine Bücher waren in den letzten zehn Jahren mehr für mich als nur Bücher. Sie waren erfrischende Quellen, Labsal für die Seele, Augen im Dunkel. Sie haben mir (inmitten des gewöhnlichen und bedeutungslosen Treibens von Zeitungsredaktionen) Freude bereitet. Es ist durchaus möglich, dass es nicht ganz die Freude war, die Du mit ihnen bezweckt hattest, denn wer von uns ist schon unfehlbar? Aber Freude war es trotzdem.

Ich muss zudem bekennen, dass ich mehr als einmal gezögert habe, als mir der Gedanke kam, ich könnte versuchen, einen Bruchteil meiner Schuld Dir gegenüber zu begleichen, indem ich Dir ein Buch darbringe, das … komisch sein sollte.

Denn Deine eigenen Bücher sind nicht … komisch. Sie sind Zeugnisse intensiver geistiger Auseinandersetzungen an den wilden Schauplätzen von Bergland, Marsch oder Sumpf. Deine Charaktere sind zeitlose, elementare Wesen, wie Strohhalme in die Meere der Leidenschaften geworfen. Du zeichnest die Natur, im Menschen ebenso wie in Landschaften, in ihrem äußersten Rohzustand. Die einzige Schönheit, die Deine Seiten erhellt, ist der tiefe Friede erfüllter Leidenschaft und der ausgereifte Humor, der wie ein warmes Licht über Deinen Nebenfiguren liegt. Du verstehst alltägliche häusliche Tragödien (sind die ersten hundert Seiten der Erfüllung des Martin Hoare nicht eine meisterhafte Analyse einer Gallenkolik?) ebenso lebhaft zu schildern wie die Umwälzungen der Seele. Könnte ich Mattie Elginbrod je vergessen? Ich könnte es nicht. Deine Bücher gleichen eher Gewittern als Büchern. Ich kann nur in aller Schlichtheit sagen: »Danke, Tony.«

Aber komisch … nein.

Doch ich bin sicher, dass Du – in jeder Bedeutung des Wortes – groß genug bist, um meinem Buch seine Unzulänglichkeiten zu verzeihen.

Und nur weil ich all jene Tausende von Leuten, mir selbst nicht unähnlich, vor Augen habe, die in dem gewöhnlichen und bedeutungslosen Treiben von Büroetagen, Geschäften und Privathäusern arbeiten und die sich nicht immer sicher sind, ob ein Satz nun Literatur oder bloßer Unfug ist, habe ich die Methode übernommen, die der verstorbene Herr Baedeker perfektioniert hat, und die Passagen, die ich für die gelungeneren halte, mit ein, zwei oder drei Sternen deutlich gekennzeichnet. Auf diese Weise verfuhr der gute Mann mit Kathedralen, Hotels und Gemälden genialer Männer. Es gibt eigentlich keinen Grund, weshalb man diese Methode nicht auch auf Romanpassagen übertragen sollte.

Den Rezensenten dürfte damit ebenfalls geholfen sein.

Und da wir gerade von genialen Männern sprechen, was für eine Konstellation lodert zurzeit in unserer Mitte! Selbst eine so ungeübte Anfängerin wie ich, die die besten Jahre ihres schöpferischen Daseins in dem gewöhnlichen und bedeutungslosen Treiben von Zeitungsredaktionen verbracht hat, findet einen gewissen Trost, eine plötzliche Erhebung in frohere, feurigere Lüfte, wenn sie unterzeichnet als

auf immer, mein lieber Tony,

Deine dankbare Schuldnerin

Stella Gibbons

 

Watford.

Lyons’ Corner House.

Boulogne-sur-Mer.

Januar 1931–Februar 1932.

1

Die Erziehung, die Flora Postes Eltern ihrer Tochter hatten zuteilwerden lassen, war teuer, sportlich und hinreichend lang gewesen; und als beide im Abstand von wenigen Wochen während der alljährlichen Grippeepidemie starben, die in Floras zwanzigstem Lebensjahr auftrat, stellte sich heraus, dass sie jede Kunst und Fertigkeit beherrschte, nur nicht die, sich ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.

 

Ihr Vater hatte stets als wohlhabender Mann gegolten, doch bei seinem Tod stellten die Testamentsvollstrecker zu ihrer Bestürzung fest, dass er arm gewesen war. Nachdem man die Erbschaftssteuern beglichen und die Ansprüche der Gläubiger befriedigt hatte, blieben seinem Kind Einkünfte in Höhe von einhundert Pfund im Jahr, und kein Grundbesitz.

Flora erbte jedoch den starken Willen ihres Vaters und die schlanken Fesseln ihrer Mutter. Das eine hatte durch ihre Eigensinnigkeit ebenso wenig gelitten wie das andere durch die ungestümen sportlichen Aktivitäten, zu denen man sie gezwungen hatte, doch sie war sich darüber im Klaren, dass keines von beidem das passende Rüstzeug darstellte, um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Sie beschloss daher, zu einer Freundin, einer Mrs Smiling, zu ziehen und in deren Haus in Lambeth zu bleiben, bis sie in der Lage war, sich zu entscheiden, wo sie sich und ihre einhundert Pfund im Jahr einbringen konnte.

Der Tod ihrer Eltern bereitete Flora keinen großen Kummer, denn sie hatte sie kaum gekannt. Sie waren aufs Reisen versessen gewesen und hatten nur etwa einen Monat im Jahr in England verbracht. Von ihrem zehnten Lebensjahr an war Flora über die Schulferien bei Mrs Smilings Mutter geblieben; und als Mrs Smiling heiratete, verbrachte Flora sie stattdessen bei ihrer Freundin. Sie hatte daher das Gefühl, nach Hause zurückzukehren, als sie an einem düsteren Februarnachmittag, zwei Wochen nach dem Begräbnis ihres Vaters, im Bezirk Lambeth eintraf.

Mrs Smiling konnte sich glücklich schätzen, dass sie das Hausgrundstück in Lambeth geerbt hatte, bevor die Mieten in diesem Stadtteil in schwindelerregende Höhen kletterten, dem Modetrend folgend, der sich von Mayfair auf das andere Ufer des Flusses verlagert hatte, und aus den steinernen Befestigungsanlagen am Ufer der Themse folglich die Spaziergegend argentinischer Frauen mit ihren Bullterriern wurde. Ihr Mann (sie war verwitwet) hatte in Lambeth drei Häuser besessen, die er ihr vermacht hatte. Das hübscheste der drei, am Mouse Place gelegen, blickte mit seinen fächerförmigen Fenstern auf die wechselhafte Themse; hier lebte Mrs Smiling. Von den beiden anderen hatte man eines abgerissen und sein Grundstück mit einer Garage verschandelt, während man das dritte, das zu klein und ungeeignet für irgendeinen anderen Zweck war, in den Old Diplomacy Club umgewandelt hatte.

Die weißen Porzellangeranien, die in Körben von den kleinen, eisernen Balkons der Nr. 1, Mouse Place, herabhingen, trugen maßgeblich dazu bei, Flora aufzumuntern, als ihr Taxi vor der Haustür hielt.

Sich vom Taxi dem Haus zuwendend, bemerkte sie, dass Mrs Smilings Butler, Sneller, die Tür bereits geöffnet hatte und mit gedämpfter Zustimmung auf sie herabblickte. Er ähnelte, dachte sie, so sehr einer Schildkröte, dass es fast schon unhöflich war; und sie war froh, dass ihre Freundin sich keine solchen als Haustiere hielt, sie hätten sonst womöglich vermutet, man wolle sich über sie lustig machen.

Mrs Smiling erwartete sie in ihrem Wohnzimmer mit Blick auf den Fluss. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, eine kleine Irin mit einem hellen Teint, großen grauen Augen und einer gekrümmten Nase. Sie hatte zwei Interessen im Leben. Das eine bestand darin, fünfzehn Gentlemen, allesamt von vornehmer Abstammung und entsprechendem Vermögen, die sich unsterblich in sie verliebt hatten und an so entfernte Orte wie Jhonsong La Lake M’Luba-M’Luba und die Kwanhattons geflogen waren, weil sie es abgelehnt hatte, sie zu heiraten, Verstand und Mäßigung aufzuzwingen. Sie schrieb ihnen allen einmal die Woche, und sie (wie ihre Freundinnen aus leidvoller Erfahrung wussten, denn sie pflegte ihnen lange, langweilige Auszüge aus ihren Briefen vorzulesen) schrieben ihr.

Diese Gentlemen waren aufgrund der harten Arbeit, die sie an entlegenen Orten leisteten, und ihrer Ergebenheit gegenüber Mrs Smiling in ihrer Gesamtheit als »Mary’s Pioneers-O« bekannt, ein Zitat aus Walt Whitmans geistreichem Gedicht.

Mrs Smilings zweites Interesse galt ihrer Büstenhaltersammlung und der Suche nach dem perfekten Exemplar. Es hieß, sie besäße die größte und schönste Sammlung dieser Kleidungsstücke auf der Welt. Man hoffte, dass dieser Schatz nach Mrs Smilings Tod der Nation vermacht werden würde.

Sie war eine Autorität im Hinblick auf Schnitt, Passform, Farbe, Konstruktion und das ordnungsgemäße Funktionieren von Büstenhaltern; und ihre Freundinnen hatten die Erfahrung gemacht, dass selbst in Augenblicken äußerster emotionaler oder körperlicher Pein ihr Interesse erregt und ihre Ausgeglichenheit wiederhergestellt werden konnte, indem man eilends die Bemerkung fallen ließ:

»Einen Büstenhalter habe ich heute gesehen, Mary, der hätte dich interessiert …«

Mrs Smilings Charakter war gefestigt und ihr Geschmack kultiviert. Ihre Methode, mit der unberechenbaren menschlichen Natur zu verfahren, wenn diese ihre Schroffheit beharrlich ihrer Lebensplanung aufdrängte, war kurz und effektiv; sie behauptete, dass die Dinge sich nicht so verhielten, und nach einer Weile taten sie das im Allgemeinen auch nicht mehr. Die Christliche Wissenschaft ist vielleicht eine größere Organisation, aber selten so erfolgreich.

»Natürlich, wenn man die Leute in dem Glauben unterstützt, sie seien unordentlich, dann sind sie es auch«, war eine von Mrs Smilings Lieblingsmaximen. Eine andere lautete: »Unsinn, Flora. Das bildest du dir nur ein.«

Doch Mrs Smiling selbst fehlte es nicht an den sanfteren Seiten der Phantasie.

»Nun, Darling«, sagte Mrs Smiling – und die große Flora beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wange – »möchtest du Tee oder einen Cocktail?«

Flora wollte Tee. Sie faltete ihre Handschuhe zusammen, legte ihren Mantel über eine Stuhllehne und nahm sich den Tee und eine Zimtwaffel.

»War die Beerdigung schlimm?«, erkundigte sich Mrs Smiling. Sie wusste, dass Mr Poste, dieser große Mann, der Sport und Spiele ernst genommen und die schönen Künste verachtet hatte, von seinem Kind nicht betrauert wurde. Ebenso wenig wie Mrs Poste, die sich gewünscht hatte, die Leute sollten ein schönes Leben führen und dabei doch Ladys und Gentlemen bleiben.

Flora erwiderte, es sei schrecklich gewesen. Aber sie müsse schon sagen, fügte sie hinzu, alle älteren Verwandten hätten sich offensichtlich ausgesprochen gut amüsiert.

»Hat dich einer von ihnen gefragt, ob du zu ihnen ziehen möchtest? Davor wollte ich dich noch warnen. Verwandte wollen immer, dass man zu ihnen zieht«, sagte Mrs Smiling.

»Nein. Du weißt doch, Mary, ich verfüge nur über einhundert Pfund im Jahr, und ich kann nicht Bridge spielen.«

»Bridge? Was ist das?«, fragte Mrs Smiling, während sie flüchtig aus dem Fenster auf den Fluss hinausblickte. »Mit welch seltsamen Dingen die Leute sich doch die Zeit vertreiben, wirklich wahr. Ich finde, du kannst dich glücklich schätzen, Darling, dass du all die grässlichen Jahre in Schule und College, wo du all diese Spiele spielen musstest, überstanden hast, ohne selbst Gefallen an ihnen zu finden. Wie hast du das bloß geschafft?«

Flora dachte nach.

»Nun – anfangs stand ich immer nur stocksteif da und starrte auf die Bäume, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Es gab eigentlich immer ein paar Bäume, weißt du, die meisten Spiele werden ja im Freien gespielt, und selbst im Winter sind die Bäume immer noch da. Aber dann stellte ich fest, dass die Leute mich trotzdem anrempelten, also musste ich es aufgeben, stocksteif dazustehen, und laufen wie die anderen auch. Ich lief immer nur dem Ball hinterher (denn der Ball ist doch wichtig bei einem Spiel, oder nicht, Mary?), bis ich merkte, dass ihnen das nicht passte, da ich nie in seine Nähe kam und ihn nicht schlug oder was auch immer man damit machen sollte.

Also bin ich dann stattdessen vor ihm weggelaufen, aber das schien ihnen auch nicht recht zu sein, denn offenbar fragten sich die Zuschauer, was ich denn ganz allein am Rand des Spielfelds zu suchen hatte und weshalb ich jedes Mal weglief, wenn ich den Ball auf mich zukommen sah.

Und dann, eines Tages nach einem Spiel, hackte die ganze Truppe auf mir herum und erklärte mir, ich sei nicht zu gebrauchen. Und die Spielleiterin schien recht beunruhigt zu sein und fragte mich, ob mir Lacrosse (das war der Name des Spiels) denn gar nichts bedeute, und ich sagte, nein, eigentlich nicht, und sie sagte, das sei schade, mein Vater sei doch so ›engagiert‹ gewesen, und was bedeute mir denn überhaupt etwas?

Und ich sagte, na ja, ich sei mir nicht ganz sicher, aber im Großen und Ganzen hätte ich gern alles hübsch ordentlich und friedlich um mich herum und würde nicht gern behelligt, irgendetwas zu tun; und dass ich über die Art Witze lachte, die andere Leute überhaupt nicht komisch fänden, und gern lange Spaziergänge unternähme, ohne dass mich jemand aufforderte, meine Meinungen zu Themen (wie zum Beispiel Liebe, und ist Soundso nicht seltsam?) zu äußern. Und dann sagte sie, na schön, ob ich denn nicht glaubte, ich könnte zumindest versuchen, mich etwas weniger gleichgültig zu geben, wegen Vater, und ich sagte, nein, leider nicht; und danach ließ sie mich in Frieden. Aber alle anderen sagten immer noch, ich sei nicht zu gebrauchen.«

Mrs Smiling nickte zustimmend, erklärte Flora jedoch, dass sie zu viel redete. Sie fügte hinzu:

»Und was nun diese Idee betrifft, zu jemandem zu ziehen: Du kannst natürlich so lange hierbleiben, wie du willst, Darling; aber ich nehme doch an, du wirst irgendwann irgendeine Arbeit aufnehmen und genug verdienen wollen, um dir eine eigene Wohnung leisten zu können, oder nicht?«

»Was denn für eine Arbeit?«, fragte Flora, die aufrecht und grazil auf ihrem Stuhl saß.

»Nun – organisatorische Arbeit, so wie ich früher.« (Denn Mrs Smiling hatte als Organisatorin für die Londoner Stadtverwaltung gearbeitet, bevor sie »Diamond« Tod Smiling, den Halsabschneider, geheiratet hatte.) »Frag mich nicht, was das genau heißt, ich hab’s vergessen. Es ist schon so lange her, dass ich etwas in der Richtung gemacht habe. Aber ich bin mir sicher, dass du es könntest. Oder du versuchst es mit Journalismus. Oder Buchhaltung. Oder Bienenhaltung.«

»Ich fürchte, ich könnte nichts von alledem, Mary.«

»Nun ja … was dann, Darling? Flora, nun sei doch nicht so einfältig. Du weißt genau, dass du dich hundeelend fühlen wirst, wenn du keine Arbeit hast, aber alle deine Freundinnen schon. Außerdem wirst du dir bei einhundert Pfund im Jahr nicht einmal Strümpfe und Fächer leisten können. Wovon willst du denn leben?«

»Von meinen Verwandten«, antwortete Flora.

Mrs Smiling warf ihr einen ebenso entsetzten wie fragenden Blick zu, denn auch wenn sie einen kultivierten Geschmack besaß, so war sie doch eine willensstarke und moralische Frau.

»Ja, Mary«, wiederholte Flora mit Bestimmtheit, »ich bin vielleicht erst neunzehn, aber ich habe bereits die Beobachtung gemacht, dass zwar noch immer ein absurdes Vorurteil dagegen besteht, auf Kosten von Freunden zu leben, dass aber weder durch die Gesellschaft noch durch das eigene Gewissen Grenzen gesetzt sind, inwieweit man seinen Verwandten zur Last fallen darf.

Und ich bin seltsam (ich glaube, wenn du einige von ihnen sehen könntest, würdest du mir zustimmen, dass das das richtige Wort ist) reich an Verwandten, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits. Da gibt es einen unverheirateten Vetter von Vater in Schottland. Da gibt es eine Schwester von Mutter in Worthing (und als ob das nicht schon genug wäre, züchtet sie auch noch Hunde). Eine Cousine von Mutter lebt in Kensington. Und dann gibt es noch ein paar entfernte Vettern und Cousinen, Verwandte von Mutter, glaube ich, die in Sussex leben …«

»Sussex …«, meinte Mrs Smiling grübelnd. »Das klingt mir nicht sehr gut. Leben sie auf einer verfallenden Farm?«

»Leider ja«, räumte Flora widerstrebend ein. »Aber schließlich muss ich es bei ihnen ja erst dann versuchen, wenn alles andere fehlschlägt. Ich habe die Absicht, an die eben von mir erwähnten Verwandten einen Brief zu schreiben, in dem ich meine Situation darlege und sie frage, ob sie bereit sind, mir im Gegenzug für meine schönen Augen und einhundert Pfund im Jahr ein Dach über dem Kopf zu gewähren.«

»Flora, wie irrsinnig!«, rief Mrs Smiling aus. »Du musst verrückt sein. Also wirklich, du würdest nach der ersten Woche sterben. Du weißt doch, dass wir beide Verwandte noch nie ausstehen konnten. Du musst hier bei mir bleiben, Schreibmaschine und Stenographie lernen, und dann kannst du für irgendjemanden als Sekretärin arbeiten und dir eine hübsche kleine Wohnung nehmen, und wir können herrliche Partys feiern …«

»Mary, du weißt doch, dass ich Partys hasse. Meine Vorstellung von der Hölle ist eine große Party in einem kalten Raum, in dem jeder richtig Hockey spielen muss. Aber du hast mich von dem abgebracht, was ich noch sagen wollte. Sobald ich einen Verwandten gefunden habe, der gewillt ist, mich aufzunehmen, werde ich mir ihn oder sie vornehmen und seinen oder ihren Charakter und Lebenswandel dahingehend ändern, dass es meinem eigenen Geschmack entspricht. Und dann, wenn mir danach ist, werde ich heiraten.«

»Und wen, wenn man fragen darf?«, erkundigte sich Mrs Smiling barsch. Sie war äußerst beunruhigt.

»Jemanden, den ich auswählen werde. Ich habe klare Vorstellungen von der Ehe, wie du weißt. Der Ausdruck ›Eine Ehe wurde arrangiert‹ hat mir schon immer gut gefallen. Und daher soll sie auch arrangiert werden! Ist sie denn nicht der wichtigste Schritt, den ein sterbliches Geschöpf tun kann? Mir ist die Vorstellung von einer arrangierten Ehe weitaus lieber als jene andere Behauptung, der zufolge Ehen im Himmel geschlossen werden.«

Mrs Smiling erschauderte bei dem bezwingenden, fast schon gallischen Zynismus in Floras Worten. Denn Mrs Smiling war der Überzeugung, dass Ehen auf natürliche Weise aus der Verbindung zweier sich liebender Naturen entstehen und in Kirchen geschlossen werden sollten, mit all dem dazugehörigen Brimborium und Drum und Dran; so war auch ihre eigene Ehe entstanden und gefeiert worden.

»Aber ich wollte dich noch etwas fragen«, fuhr Flora fort. »Meinst du, ein Rundbrief an all diese Verwandten wäre eine gute Idee? Würde ich sie auf diese Weise mit meiner Effizienz beeindrucken?«

»Nein«, gab Mrs Smiling kühl zurück, »das glaube ich kaum. Das wäre zu abstoßend. Du musst ihnen natürlich schreiben (und dabei jedes Mal einen völlig anderen Brief aufsetzen, Flora) und ihnen die Situation erklären – das heißt, falls du wirklich so irrsinnig bist, diese Idee weiterzuverfolgen.«

»Schon gut, Mary. Ich schreibe die Briefe morgen, vor dem Mittagessen. Ich würde sie ja heute Abend schreiben, aber ich finde, da sollten wir essen gehen, um den Beginn meiner Karriere als Parasit zu feiern, meinst du nicht auch? Ich habe zehn Pfund, und ich lade dich ein in den New River Club – ein himmlisches Lokal!«

»Sei nicht albern. Du weißt genau, dass wir dafür ein paar Männer benötigen.«

»Dann kannst du doch welche für uns auftreiben. Sind nicht zufällig ein paar Pioneers-O auf Heimaturlaub?«

Mrs Smilings Gesicht nahm jenen grübelnden und mütterlichen Ausdruck an, den ihre Freundinnen bei ihr stets mit Gedanken an die Pioneers-O in Verbindung brachten.

»Bikki ja«, sagte sie. (Alle Pioneers-O hatten kurze, schroff klingende Spitznamen, die wie die Schreie merkwürdiger Tiere klangen, aber das war nur natürlich, denn schließlich kamen sie alle aus Gegenden voller merkwürdiger Tiere.)

»Und dein Vetter zweiten Grades, Charles Fairford, ist in der Stadt«, fuhr Mrs Smiling fort. »Der große, ernste, dunkelhaarige.«

»Er eignet sich gut«, stimmte Flora zu. »Er hat eine so witzige kleine Nase.«

Und so verließ an jenem Abend, etwa zwanzig Minuten vor neun, Mrs Smilings Wagen den Mouse Place. In ihm saßen sie selbst und Flora, beide weiß gekleidet und mit lächerlichen kleinen Blumenkränzen seitlich am Kopf; und ihnen gegenüber saßen Bikki und Charles, dem Flora bis dahin nur etwa ein halbes Dutzend Mal begegnet war.

Bikki, der entsetzlich stotterte, redete ausgesprochen viel, ganz wie es Leute, die stottern, für ihr Leben gern tun. Er war schlicht und um die dreißig und auf Heimaturlaub aus Kenia. Er entzückte sie, indem er all die bösen Gerüchte erhärtete, die sie über dieses Land gehört hatten. Charles, der in seinem Frack gut aussah, sprach kaum ein Wort. Gelegentlich gab er ein lautes, tiefes, melodisches »Ha Ha!« von sich, wenn ihn irgendetwas amüsierte. Er war dreiundzwanzig und angehender Pastor. Er starrte die meiste Zeit aus dem Fenster und würdigte Flora kaum eines Blicks.

»Ich glaube nicht, dass dieser Ausflug Snellers Beifall findet«, bemerkte Mrs Smiling, als sie losfuhren. »Er machte einen recht gedämpften und besorgten Eindruck. Ist es euch auch aufgefallen?«

»Ich finde seinen Beifall, weil ich ernst wirke«, sagte Flora. »Eine gerade Nase macht viel aus, wenn man ernst wirken will.«

»Ich möchte gar nicht ernst wirken«, bemerkte Mrs Smiling kühl. »Dazu werde ich noch reichlich Zeit haben, wenn ich kommen und dich von deinen unmöglichen Verwandten, die in irgendeiner gottverlassenen Gegend leben, erretten muss, weil du es dort nicht mehr aushältst. Hast du Charles schon davon erzählt?«

»Du lieber Himmel, nein! Charles ist ein Verwandter. Er könnte noch glauben, ich hätte vor, zu ihm und Cousine Helen nach Hertfordshire zu ziehen, und wollte mir auf diese Weise eine Einladung verschaffen.«

»Nun, du könntest, wenn du wolltest«, sagte Charles und wandte seinen forschenden Blick von den glänzenden Straßen ab, die am Fenster vorbeiglitten. »Im Garten gibt es eine Schaukel und im Sommer Tabakblumen, und Mutter und ich, wir würden uns vermutlich sehr freuen, wenn du kämest.«

»Seid nicht albern«, sagte Mrs Smiling. »Sieh mal an – hier sind wir schon. Hast du einen Tisch am Fenster bekommen können, Bikki?«

Das war Bikki gelungen, und als sie an dem mit Blumen und Kerzen dekorierten Tisch Platz genommen hatten, konnten sie durch den gläsernen Boden auf den dahinströmenden Fluss hinabblicken und ihn, wenn sie tanzten, zwischen ihren Schuhen betrachten. Durch die gläsernen Wände konnten sie die Barkassen mit ihren romantischen roten und grünen Lichtern vorbeiziehen sehen. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und bald kullerten silbrige Tropfen über das gläserne Dach.

Im Verlauf des Abendessens erzählte Flora Charles von ihrem Plan. Anfangs war er schweigsam, und sie nahm an, er sei entsetzt. Denn obwohl Charles keine gerade Nase besaß, hätte man über ihn doch schreiben können, was Shelley über sich selbst im Vorwort zu Julian und Maddalo schrieb: »Julian ist ausgesprochen ernst.«

Doch schließlich sagte er mit einem amüsierten Gesichtsausdruck:

»Nun, wenn du es dort gründlich satthast, wo du bist, ruf mich an, und ich komme und errette dich mit meinem Flugzeug.«

»Hast du ein Flugzeug, Charles? Ich denke ja nicht, dass ein angehender Pastor ein Flugzeug besitzen sollte. Was für eines ist es?«

»Eine Twin Belisha Bat mit dem Namen Speed Cop II.«

»Aber Charles, findest du wirklich, ein Pastor sollte ein Flugzeug haben?«, stichelte Flora, zu Späßen aufgelegt, weiter.

»Was hat das denn damit zu tun?«, sagte Charles ruhig. »Wie dem auch sei, gib mir Bescheid, dann komme ich vorbei.«

Flora versprach es ihm, denn sie mochte Charles, und dann tanzten sie zusammen; und alle vier saßen noch lange beim Kaffee; und dann war es drei Uhr und, wie sie fanden, an der Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.

Charles half Flora in ihren grünen Mantel und Bikki Mrs Smiling in ihren schwarzen, und bald fuhren sie durch die regennassen Straßen von Lambeth nach Hause. In allen Häusern leuchteten die Fenster rosa, orange oder goldfarben, und dahinter liefen Partys, mit Kartenspielen, Musik oder einfach nur frivoler Ausgelassenheit; und die angestrahlten Schaufenster präsentierten dem Regen ein Tang-Pferd oder einen einreihigen Gehrock.

»Da ist der Old Diplomacy«, sagte Mrs Smiling interessiert, als sie an dem lächerlichen Häuschen vorbeikamen, einer Schachtel, an der Körbe mit Blumen aus Metall von den schmalen Fenstersimsen zu kippen schienen und aus deren oberen Zimmern Musik nach außen drang. »Wie froh bin ich doch, dass der arme Tod ihn mir vermacht hat. Er bringt einfach so viel Geld ein.« Denn Mrs Smiling hatte sich, wie alle Leute, die erst unerfreulich arm lebten und dann erfreulich reich wurden, nie an ihr Geld gewöhnt, und sie ließ es im Geiste immer wieder durch ihre Finger gleiten und erbaute sich in Gedanken daran, wie viel sie doch besaß. Ihre Freunde freuten sich darüber und sahen ihr anerkennend zu, so wie sie einem netten Kind mit seinem Spielzeug zugesehen hätten.

Charles und Bikki wünschten an der Tür gute Nacht, denn Mrs Smiling war zu besorgt, Sneller, der Butler, würde sie auf einen letzten Cocktail hereinbitten, und Flora murmelte, das sei absurd; aber trotzdem fühlte sie sich recht gedämpft, als sie beide über die schmale, mit schwarzem Teppich ausgelegte Treppe zu Bett schlichen.

»Morgen werde ich meine Briefe schreiben«, sagte Flora gähnend, eine Hand auf das zierliche weiße Geländer gestützt. »Gute Nacht, Mary.«

»Gute Nacht, Darling«, sagte Mrs Smiling. Und sie fügte hinzu, dass Flora es sich bis morgen anders überlegen würde.

2

Doch Flora schrieb am nächsten Morgen ihre Briefe. Mrs Smiling half ihr nicht dabei, denn sie hatte sich in die Slums von Mayfair begeben, einem neuartigen Büstenhalter auf der Spur, den sie im Vorbeifahren in einem jüdischen Geschäft entdeckt hatte. Außerdem missbilligte sie Floras Plan so entschieden, dass sie es als würdelos empfunden hätte, ihr behilflich zu sein, auch nur einen einzigen öligen Satz zu schmieden.

»Ich finde es erniedrigend von dir, Flora«, rief Mrs  Smiling beim Frühstück aus. »Soll das allen Ernstes heißen, du willst niemals an irgendetwas arbeiten?«

Nach einigem Nachdenken erwiderte ihre Freundin:

»Nun, wenn ich so um die dreiundfünfzig bin, würde ich gern einen Roman schreiben, der so gut ist wie Überredung, aber an einem modernen Schauplatz natürlich. Die nächsten etwa dreißig Jahre werde ich damit verbringen, Material zu sammeln. Wenn mich irgendjemand fragt, woran ich arbeite, werde ich sagen: ›Ich sammle Material.‹ Dagegen kann niemand etwas einwenden. Außerdem werde ich genau das tun.«

Mrs Smiling nahm einen Schluck Kaffee und hüllte sich in missbilligendes Schweigen.

»Wenn du mich fragst«, fuhr Flora fort, »so glaube ich, ich habe viel mit Miss Austen gemeinsam. Sie hatte gern alles um sich herum hübsch ordentlich, angenehm und bequem, und mir geht es genauso. Verstehst du, Mary« – und an dieser Stelle wurde Flora langsam ernst und begann, mit einem Finger herumzufuchteln – »wenn nicht alles um einen herum hübsch ordentlich, angenehm und bequem ist, dann können die Leute das Leben nie auch nur annähernd genießen. Ich kann Unordnung nicht ausstehen.«

»Oh, ich auch nicht«, rief Mrs Smiling inbrünstig aus. »Wenn ich etwas verabscheue, dann ist es Unordnung. Und ich glaube sehr, du wirst unordentlich werden, wenn du zu einem Haufen undurchsichtiger Verwandter ziehst.«

»Nun, mein Entschluss steht fest, es hat also keinen Zweck, sich darüber zu streiten«, sagte Flora. »Schließlich kann ich ja, wenn ich feststellen sollte, dass ich es in Schottland, South Kensington oder Sussex nicht aushalte, immer noch nach London zurückkehren, großmütig einlenken und entsprechend deinem Vorschlag lernen, wie man arbeitet. Aber allzu großen Wert lege ich darauf nicht; ich bin mir sicher, ich amüsiere mich weitaus besser, wenn ich zu irgendwelchen dieser schrecklichen Verwandten ziehe. Außerdem findet sich dort bestimmt reichlich Material, das ich für meinen Roman sammeln kann; und vielleicht gibt es auch ein, zwei Verwandte mit unordentlichen oder unglücklichen Verhältnissen in ihrer Hausgemeinschaft, die ich in Ordnung bringen kann.«

»Du hast wirklich einen höchst abscheulichen Florence-Nightingale-Komplex«, sagte Mrs Smiling.

»Das ist es überhaupt nicht, und das weißt du sehr wohl. Im Großen und Ganzen hege ich eine Abneigung gegen meine Mitmenschen; ich finde, sie sind so schwer zu begreifen. Aber ich besitze nun mal Sinn für Ordnung, und unordentliche Lebensweisen irritieren mich. Außerdem sind sie unkultiviert.«

Dieses Stichwort beendete wie immer ihre Auseinandersetzung, denn die beiden Freundinnen waren sich einig in ihrer Ablehnung dessen, was sie als »unkultiviertes Benehmen« bezeichneten: eine vage Formulierung, die trotzdem in ihren Vorstellungen zu ihrer beider Zufriedenheit sehr klar umrissen war.

Dann brach Mrs Smiling auf, ihr Gesicht erhellt von jenem entrückten Ausdruck, der den Sammler verrät, der einem Einzelstück auf der Spur ist; und Flora begann mit ihren Briefen.

Die aalglatten Sätze flossen ihr in der nächsten Stunde leicht aus der Feder, und es erfüllte sie mit Stolz, bei jedem Brief, den sie schrieb, den Stil so abzuwandeln, dass er der Wesensart des jeweiligen Empfängers entsprach.

Der an die Tante in Worthing war anstößig fröhlich, wurde jedoch wegen ihres schmerzlichen Verlusts durch einen etwas unartikulierten Public-School-Trauerton abgemildert. Der an den unverheirateten Onkel in Schottland war liebreizend-mädchenhaft und allenfalls ein klein wenig keck; er ließ durchblicken, dass sie doch nur ein armes kleines Waisenkind sei. An ihre Cousine in South Kensington verfasste sie ein kühles, würdevolles Schreiben, von Trauer erfüllt und doch sachlich-nüchtern. Und während sie noch darüber nachsann, in welchem Stil sie sich am besten an die unbekannten, entfernten Verwandten in Sussex wenden sollte, stach ihr auf einmal die merkwürdige Anschrift ins Auge:

Mrs Judith Starkadder

Cold Comfort Farm

Howling, Sussex

Aber sie rief sich in Erinnerung, dass Sussex eben etwas anders war als die meisten Grafschaften und dass die Adresse, wenn man bedachte, dass diese Leute in Sussex auf einer Farm lebten, gar nichts Außergewöhnliches mehr hatte. Denn auf dem Land schien schneller und weitaus häufiger etwas schiefzugehen als in der Stadt, und eine solche Tendenz musste sich natürlich auch in der dortigen Nomenklatur widerspiegeln.

Trotzdem konnte sie sich nicht entscheiden, in welcher Form sie sich an die Starkadders wenden sollte, und so schickte sie ihnen schließlich (denn inzwischen war es beinahe ein Uhr, und sie war etwas erschöpft) einen schlichten Brief, in dem sie ihre Lage darlegte und um eine baldige Antwort bat, da sich ihre Pläne in der Schwebe befänden und sie sich schließlich Sorgen mache, was denn nun aus ihr werden solle.

Um Viertel nach eins kehrte Mrs Smiling zum Mouse Place zurück, wo sie ihre Freundin mit geschlossenen Augen in einem Sessel sitzend vorfand, die vier Briefe, fertig für die Post, auf dem Schoß. Sie war geradezu grün im Gesicht.

»Flora! Was ist los? Ist dir schlecht? Ist es wieder dein Magen?«, rief Mrs Smiling besorgt.

»Nein, das heißt, es ist nichts Physisches. Mir ist nur übel von der Art, wie ich diese Briefe zustande gebracht habe. Wirklich, Mary« – ihre Worte belebten sie wieder, und sie richtete sich auf – »es ist schon recht erschreckend, wie man so abscheulich und gleichzeitig so erfolgreich schreiben kann. All diese Briefe sind Kunstwerke, vielleicht mit Ausnahme des letzten. Sie sind eindeutig ölig.«

»Heute Nachmittag«, bemerkte Mrs Smiling mit Blick auf das Mittagessen, »sollten wir ins Kino gehen. Gib die Briefe Sneller; er wird sie für dich aufgeben.«

»Nein … ich denke, ich werde sie lieber selbst aufgeben«, sagte Flora bedachtsam. »Hast du den Büstenhalter bekommen, Darling?«

Ein Schatten fiel über Mrs Smilings Gesicht.

»Nein. Ich konnte ihn nicht gebrauchen. Es war nur eine Variante des Modells ›Venus‹, das 1938 von den Waber Brothers entworfen wurde; er hatte vorne drei elastische Einsätze statt zwei, wie ich gehofft hatte, und ich habe ihn bereits in meiner Sammlung. Ich hatte ihn nur im Vorbeifahren vom Auto aus gesehen, weißt du; und durch die Art, wie er zusammengefaltet im Schaufenster lag, hatte ich mich täuschen lassen. Der dritte Einsatz war nach hinten gefaltet, sodass es aussah, als wären es nur zwei.«

»Und dann wäre er ein seltenes Exemplar gewesen?«

»Aber natürlich, Flora. Büstenhalter mit zwei Einsätzen sind ausgesprochen selten: Ich hatte vor, ihn zu kaufen – aber so war er natürlich nicht zu gebrauchen.«

»Mach dir nichts draus, mein Täubchen. Sieh mal hier – ein guter Rheinwein. Trink ihn aus, das wird dich aufmuntern.«

Bevor sie an diesem Nachmittag ins Rhodopis, das große Kino in Westminster, fuhren, gab Flora ihre Briefe auf.

Als der übernächste Morgen noch keine Antwort auf einen der Briefe brachte, äußerte Mrs Smiling die Hoffnung, dass keiner der Verwandten reagieren würde. Sie sagte:

»Und ich kann nur beten, dass es, wenn doch noch jemand antwortet, nicht diese Leute in Sussex sind. Die Namen sind einfach schrecklich: Sie machen zu alt und wirken abstoßend.«

Flora pflichtete ihr bei, dass die Namen gewiss nicht sehr vorteilhaft klängen.

»Ich glaube, wenn ich feststellen sollte, dass ich auf der Cold Comfort Farm irgendwelche Vettern dritten Grades habe (jüngere, weißt du, Kinder von Cousine Judith), die Seth oder Reuben heißen, dann werde ich mich entschließen, nicht dorthin zu fahren.«

»Warum?«

»Oh, weil junge Männer mit extrem starkem Geschlechtstrieb, die auf einer Farm leben, immer Seth oder Reuben heißen, und das wäre ausgesprochen lästig. Und meine Cousine, musst du bedenken, heißt Judith. Das allein lässt schon nichts Gutes ahnen. Ihr Mann heißt mit größter Wahrscheinlichkeit Amos; und wenn das der Fall ist, dann ist es eine typische Farm, und du weißt ja, wie die sind.«

Mrs Smiling bemerkte düster:

»Hoffentlich gibt es dort ein Badezimmer.«

»Unsinn, Mary!« Flora wurde blass. »Natürlich gibt es dort ein Badezimmer. Selbst in Sussex – das wäre zu viel …«

»Nun, wir werden sehen«, sagte ihre Freundin. »Und denk daran, mir ein Telegramm zu schicken (falls du von ihnen hören und beschließen solltest, dorthin zu fahren), wenn einer deiner Vettern Seth oder Reuben heißt oder wenn du ein extra Paar Stiefel oder sonst irgendetwas haben willst. Dort gibt es bestimmt massenhaft Schlamm.«

Flora versprach es.

 

Mrs Smilings Hoffnungen wurden zunichtegemacht. Am Morgen des dritten Tages, einem Freitag, kamen vier Briefe für Flora am Mouse Place an, einer davon in einem allerbilligsten gelben Umschlag und in einer so krakeligen, ungeübten Handschrift adressiert, dass der Postbote einige Schwierigkeiten hatte, die Anschrift zu entziffern. Und der Briefumschlag war schmutzig. Abgestempelt war er in Howling.

»Na bitte, siehst du!«, sagte Mrs Smiling, als Flora ihr das Prachtstück beim Frühstück zeigte. »Wie ekelerregend!«

»Jetzt warte erst mal ab, bis ich die anderen gelesen habe, und diesen hier heben wir uns bis zum Schluss auf. Und jetzt sei still. Ich will wissen, was Aunt Gwen zu sagen hat.«

Aunt Gwen sprach Flora ihr herzliches Beileid aus, erinnerte sie, dass wir Haltung bewahren und die Spielregeln befolgen müssen (»Immer diese Spiele!«, murmelte Flora), und sagte, sie würde sich freuen, ihre Nichte bei sich aufzunehmen. Flora würde eine wirklich »heimelige« Atmosphäre mit einer Menge Spaß erwarten. Es würde ihr doch nichts ausmachen, ihr gelegentlich mit den Hunden behilflich zu sein? Die Luft in Worthing sei herrlich frisch, und gleich nebenan lebten ein paar fröhliche junge Leute. »Rosedale« sei immer voller Leute, und Flora würde überhaupt keine Zeit haben, sich einsam zu fühlen. Peggy, die so begeistert bei den Pfadfindern war, würde ihr Zimmer liebend gern mit Flora teilen.

Mit einem leichten Schaudern reichte Flora den Brief Mrs Smiling; doch diese rechtschaffene Frau enttäuschte sie, indem sie, als sie ihn gelesen hatte, entschieden behauptete: »Nun, das ist doch ein sehr netter Brief. Etwas Netteres könntest du nicht verlangen. Schließlich hast du doch nicht erwartet, dass dir irgendjemand von diesen Leuten genau das Zuhause anbietet, in dem du leben möchtest, oder?«

»Ich kann mir unmöglich ein Zimmer teilen«, sagte Flora, »und damit scheidet Aunt Gwen aus. Dieser hier ist von Mr McKnag, Vaters Vetter in Perthshire.«

Mr McKnag war erschüttert über Floras Brief gewesen, so erschüttert, dass sein altes Leiden zurückgekehrt war und ihn die letzten zwei Tage ans Bett gefesselt hatte. Dies erkläre und, so hoffe er, entschuldige die Verzögerung, mit der er auf ihren Vorschlag antworte. Er wäre natürlich entzückt, Flora unter seinem Dach in seine Obhut zu nehmen, solange sie die weißen Schwingen ihres Mädchendaseins dort ruhen lassen wolle (»Dieses alte Lamm!«, krächzten Flora und Mrs Smiling), er fürchte jedoch, es könnte ein wenig eintönig für Flora werden, ohne jede Gesellschaft außer ihm – und er sei ja wegen seines Leidens oft ans Bett gefesselt –, seinem Butler Hoots und der Haushälterin, die schon älter und etwas taub sei. Das Haus läge sieben Meilen vom nächsten Dorf entfernt; auch das könne sich als Nachteil erweisen. Andererseits könne man, für den Fall, dass Flora an Vögeln Gefallen hätte, in den Sümpfen, die das Haus von drei Seiten umgaben, eine höchst interessante Vogelwelt beobachten. Er müsse diesen Brief zu seinem Bedauern nun beenden, da sein altes Leiden ihm wieder zu schaffen mache, und er verblieb mit den herzlichsten Grüßen.

Flora und Mrs Smiling sahen sich an und schüttelten den Kopf.

»Na bitte, siehst du«, sagte Mrs Smiling noch einmal. »Lauter hoffnungslose Fälle. Du solltest besser hier bei mir bleiben und lernen, wie man arbeitet.«

Doch Flora las schon den dritten Brief. Die Cousine ihrer Mutter in South Kensington schrieb, sie würde sich sehr freuen, Flora bei sich aufzunehmen, es gäbe da nur ein kleines Problem mit dem Schlafzimmer. Vielleicht hätte Flora ja nichts dagegen, den großen Dachboden zu nehmen, der dienstags der Gesellschaft »Stern des Orients im Westen« und freitags dem Spiritistischen Forschungsbund als Versammlungsraum diente. Sie hoffe, Flora sei keine Skeptikerin, denn auf dem Dachboden träten gelegentlich Erscheinungen zutage, und schon eine Spur von Skeptizismus in der Atmosphäre des Raumes zerstöre die Bedingungen und verhindere Phänomene, durch deren Beobachtung die Gesellschaft doch so wertvolle Belege für das Überleben erhielte. Ob Flora etwas dagegen hätte, wenn der Papagei seinen Platz in der Ecke des Dachbodens behielte? Er sei dort aufgewachsen, und in seinem Alter könne der Umzug in ein anderes Zimmer leicht einen tödlichen Schock auslösen.

»Siehst du, ich soll mir schon wieder ein Zimmer teilen«, sagte Flora. »Gegen die Phänomene habe ich ja nichts, aber gegen den Papagei schon.«

»Nun mach doch den aus Howling auf«, drängte Mrs Smiling und kam um den Tisch zu Flora herüber.

Der letzte Brief war auf billigem, liniertem Papier geschrieben, in einer schwungvollen, aber ungeübten Handschrift:

Liebe Nichte,

so wollen Sie schließlich doch noch Ihre Rechte geltend machen. Nun, ich habe die letzten zwanzig Jahre darauf gewartet, von Robert Postes Tochter zu hören.

Kind, mein Mann hat Ihrem Vater einst großes Unrecht zugefügt. Wenn Sie wirklich zu uns kommen wollen, so werde ich mein Bestes tun, um es wiedergutzumachen, aber Sie dürfen mich niemals fragen, was es war. Meine Lippen sind versiegelt.

Wir sind vielleicht nicht so wie andere Leute, aber es hat immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben, und wir werden unser Bestes tun, um Robert Postes Tochter willkommen zu heißen.

Kind, Kind, wenn Sie in dieses fluchbeladene Haus kommen, was soll Sie dann retten? Vielleicht werden Sie uns helfen können, wenn unsere Stunde naht.

 

In Liebe, Ihre Tante

J. Starkadder

Flora und Mrs Smiling versetzte dieser ungewöhnliche Brief in helle Aufregung. Sie waren sich einig, dass er zumindest das negative Verdienst für sich in Anspruch nehmen konnte, über den Gegenstand stiller Abkommen Schweigen zu bewahren.

»Und nirgends steht ein Wort davon, in Sümpfen Vögel zu beobachten oder dergleichen«, sagte Mrs Smiling. »Oh, ich wüsste wirklich zu gern, was ihr Mann deinem Vater angetan hat. Hat er dir gegenüber je etwas von einem Mr Starkadder erwähnt?«

»Nie. Die Starkadders sind mit uns lediglich verschwägert. Diese Judith ist eine Tochter von Mutters ältester Schwester, Ada Doom. Judith ist also in Wirklichkeit meine Cousine, nicht meine Tante. (Ich nehme an, sie hat es verwechselt, was mich überhaupt nicht überrascht. Die Umstände, unter denen sie zu leben scheint, bringen es vermutlich mit sich, dass man leicht etwas verwechselt.) Aunt Ada Doom war jedenfalls immer ein ziemlich jämmerliches Geschöpf, und Mutter konnte sie nicht ausstehen, weil sie das Land über alles liebte und diese kunstvollen Hüte trug. Schließlich hat sie einen Bauern aus Sussex geheiratet. Ich nehme an, sein Name war Starkadder. Vielleicht gehört die Farm inzwischen Judith, und ihr Mann wurde bei einer Stammesfehde aus einem benachbarten Dorf fortgeschleppt, und er musste ihren Namen annehmen. Oder sie hat vielleicht einen Starkadder geheiratet. Ich frage mich, was wohl aus Aunt Ada geworden ist? Sie müsste nun schon recht alt sein; sie war um die fünfzehn Jahre älter als Mutter.«

»Hast du sie je kennengelernt?«

»Nein, da kann ich von Glück reden. Ich habe nie einen von ihnen kennengelernt. Ich habe ihre Adresse auf einer Liste in Mutters Tagebuch gefunden; sie hat ihnen jedes Jahr zu Weihnachten einen Gruß geschickt.«

»Nun ja«, sagte Mrs Smiling, »das klingt nach einem entsetzlichen Ort, aber anders als die übrigen. Ich meine, interessant und entsetzlich, während die anderen einfach nur entsetzlich klingen. Wenn dein Entschluss wirklich feststeht und du nicht hier bei mir bleiben willst, dann denke ich, du solltest am besten nach Sussex fahren. Du wirst es sowieso bald satthaben, und nachdem du es versucht hast und feststellen konntest, wie es wirklich ist, bei Verwandten zu leben, wirst du nur zu gern schön brav hierher zurückkommen und lernen, wie man arbeitet.«

Flora hielt es für klüger, den letzten Teil dieses Vortrags zu ignorieren.

»Ja, ich denke, ich werde nach Sussex fahren, Mary. Ich möchte doch zu gern wissen, worauf Cousine Judith mit ›Rechten‹ anspielt. Oh, glaubst du, sie meint etwas Geld? Oder vielleicht ein kleines Häuschen? Das würde mir noch besser gefallen. Wie dem auch sei, ich werde es schon in Erfahrung bringen, wenn ich erst einmal dort bin. Und was denkst du, wann sollte ich am besten fahren? Heute ist Freitag. Sollen wir sagen, am Dienstag, nach dem Mittagessen?«

»Nun, so bald musst du bestimmt nicht fahren. Es besteht überhaupt kein Grund zur Eile. Vermutlich wirst du es dort ohnehin nicht länger als drei Tage aushalten, was spielt es dann schon für eine Rolle, wann du fährst? Aber du bist ganz versessen darauf, stimmt’s?«

»Ich will meine Rechte«, sagte Flora. »Wahrscheinlich ist es ja irgendein nutzloses Zeug, ein Haufen wertloser Hypotheken oder etwas Ähnliches; aber wenn es meine Rechte sind, dann will ich sie auch haben. Und jetzt verschwinde, Mary, denn ich will all diesen guten Seelen schreiben, und das wird seine Zeit brauchen.«

Flora hatte noch nie begreifen können, nach welchem System Eisenbahnfahrpläne aufgebaut waren, und sie war zu sehr von sich eingenommen, um sich bei Mrs Smiling oder Sneller nach Zügen Richtung Howling zu erkundigen. Also fragte sie in ihrem Brief ihre Cousine Judith, ob sie ihr vielleicht ein paar Züge nach Howling nennen könnte, und wann sie dort einträfen, und wer sie abholen würde, und wie.

Es stimmte zwar, dass in Romanen, die auf dem Land spielten, niemand je so höflich war, beispielsweise jemanden am Zug abzuholen, es sei denn, man hatte irgendein gemeines oder leidenschaftliches Ziel vor Augen und wollte vor der restlichen Familie in dieser Angelegenheit dazwischenfunken; aber das war schließlich kein Grund, weshalb die Starkadders nicht zumindest anfangen sollten, kultivierte Gepflogenheiten zu entwickeln. Und so schrieb sie entschlossen: »Lassen Sie mich wissen, welche Züge nach Howling es gibt und wann man mich abholen wird.« Mit einem Gefühl der Genugtuung klebte sie den Brief zu. Und Sneller gab ihn am selben Abend rechtzeitig für die Abholung der Landpost auf.

 

Die nächsten beiden Tage vertrieben Mrs Smiling und Flora sich die Zeit auf angenehme Weise.

Morgens fuhren sie zum Schlittschuhlaufen in den Rover Park Ice Club, zusammen mit Charles und Bikki und einem weiteren der Pioneers-O, der mit Spitznamen Swooth hieß und aus Tanganjika kam. Obwohl er und Bikki ausgesprochen eifersüchtig aufeinander waren und daher entsetzliche Qualen litten, hatte Mrs Smiling die beiden doch so gut im Griff, dass sie es nicht wagten, kläglich dreinzublicken, sondern mit ernster Miene zuhörten, als sie, Mrs Smiling bei den Händen haltend, über die Eisbahn glitten und sie ihnen jeweils abwechselnd erzählte, wie beunruhigt sie wegen eines dritten der Pioneers-O namens Goofi sei, der sich auf dem Weg nach China befände und von dem sie seit zehn Tagen nichts mehr gehört habe.

»Ich fürchte, das arme Kind könnte sich Sorgen machen«, sagte Mrs Smiling dann vage, was ihre Art war anzudeuten, dass Goofi in den Tiefen unerwiderter Leidenschaft vermutlich Selbstmord begangen hatte. Und Bikki oder Swooth, die aus eigener Erfahrung wussten, dass das vermutlich tatsächlich der Fall war, entgegneten gut gelaunt: »Oh, an deiner Stelle würde ich mich nicht ängstigen, Mary«, und fühlten sich umso glücklicher bei dem Gedanken an Goofis Qualen.

Nachmittags unternahmen sie Ausflüge mit dem Flugzeug, oder sie gingen in den Zoo oder in ein Konzert, und abends besuchten sie Partys; das heißt, Mrs Smiling und die Pioneers-O besuchten Partys, auf denen sich weitere junge Männer in Mrs Smiling verliebten, und Flora, die, wie wir wissen, Partys verabscheute, dinierte in aller Stille mit intelligenten Männern: ein abendlicher Zeitvertreib, den sie über alles liebte, denn dann konnte sie sich aufplustern und selbstgefällig von sich reden.

Am Montag war bis zum abendlichen Tee noch kein Brief eingetroffen, und Flora hatte sich schon darauf eingestellt, ihre Abreise vermutlich auf Mittwoch verschieben zu müssen. Doch mit der letzten Post kam eine schäbige Karte; sie las sie um halb elf, nach der Rückkehr von einem jener selbstgefälligen Dinnerabende, als Mrs Smiling, die von einer abscheulichen Party bald genug gehabt hatte, ins Zimmer trat.

»Stehen dort die Abfahrtszeiten der Züge, mein Täubchen?«, fragte Mrs Smiling. »Die Karte ist aber auch schmutzig, findest du nicht? Ich kann mir nicht helfen, aber ich wünschte, die Starkadders brächten es fertig, einen sauberen Brief zu schicken.«

»Da steht nichts von Zügen«, entgegnete Flora zurückhaltend. »Soweit ich erkennen kann, sind es offenbar ein paar Verse aus dem Alten Testament, die mir, wie ich gestehen muss, nicht vertraut sind. Außerdem wird wiederholt versichert, es habe immer schon Starkadders auf Cold Comfort gegeben, auch wenn mich die Frage, weshalb es nötig sein sollte, mir diese Tatsache so überdeutlich klarzumachen, vor ein Rätsel stellt.«

»Oh, und sag bloß nicht, die Karte ist mit Seth oder Reuben unterzeichnet«, rief Mrs Smiling ängstlich aus.

»Sie ist überhaupt nicht unterzeichnet. Ich vermute, sie stammt von irgendeinem Mitglied der Familie, das sich auf meinen Besuch nicht sehr freut. Ich kann unter anderem eine Anspielung auf Vipern erkennen. Ich muss schon sagen, ich finde, es wäre sinnvoller gewesen, mir die Zugverbindungen zu nennen; aber ich nehme an, es ist ein wenig unlogisch, von einer fluchbeladenen Familie in Sussex zu erwarten, dass sie kleinen Details solch große Aufmerksamkeit schenkt. Nun, Mary, ich werde wie geplant morgen nach dem Mittagessen dorthin fahren. Ich werde ihnen morgen früh ein Telegramm schicken und ihnen sagen, dass ich komme.«

»Willst du fliegen?«

»Nein. Der nächste Landeplatz ist erst in Brighton. Außerdem muss ich sparen. Du und Sneller, ihr könnt eine Route für mich ausarbeiten; ihr werdet Spaß dabei haben, euch darüber den Kopf zu zerbrechen.«

»Natürlich, Darling«, sagte Mrs Smiling, die sich bei der Aussicht, ihre Freundin zu verlieren, allmählich ein wenig unbehaglich fühlte. »Aber ich wünschte, du würdest nicht fahren.«

Flora warf die Postkarte ins Feuer; ihr Entschluss blieb unverändert.

Am nächsten Morgen schlug Mrs Smiling Zugverbindungen nach Howling nach, während Flora das Packen ihrer Koffer durch Riante, Mrs Smilings Hausmädchen, beaufsichtigte.

Selbst Mrs Smiling konnte dem Fahrplan nicht viel Trost abgewinnen. Er erschien ihr noch verworrener als sonst. Und in der Tat, seit die Luftverkehrswege und die günstig angelegten Straßenverbindungen drei Viertel der Reisenden, die früher den Zug genommen hatten, auf ihre Seite gezogen hatten, waren die verbliebenen Eisenbahngesellschaften in einen Zustand steter Melancholie verfallen. Hoffnungslosigkeit zog sich träge hadernd durch ihre Broschüren, und ihr Einfluss machte sich selbst in den Fahrplänen bemerkbar.

Es gab einen Zug, der London Bridge um halb zwei in Richtung Howling verließ. Es war ein Bummelzug. Er erreichte Godmere um drei Uhr. In Godmere stieg der Reisende in einen anderen Zug um. Es war ein Bummelzug. Er erreichte Beershorn um sechs Uhr. In Beershorn endete der Zug; und dort gab es auch kein müßiges Geschwätz mehr über die Ankunft und Abfahrt von Zügen. Lediglich die Worte »Howling (siehe Beershorn)« machten sich in selbstgenügsamer Art über den Reisenden lustig.

Also beschloss Flora, nach Beershorn zu fahren und ihr Glück zu versuchen.

»Ich nehme an, Seth wird dich mit einer Droschke abholen«, sagte Mrs Smiling, als sie bei einem frühen Mittagessen saßen.

Die Stimmung der beiden hatte inzwischen einen Tiefpunkt erreicht; und der Blick aus dem Fenster in Lambeth, wo bunte kleine Häuschen in hellem Sonnenlicht badeten, und der Gedanke, dass sie die Gesellschaft von Mrs Smiling, die Flüge und die selbstgefälligen Dinnerabende gegen die strenge Atmosphäre von Cold Comfort und die derbe Art der Starkadders tauschen sollte, trugen nicht dazu bei, Flora aufzumuntern.

Sie fauchte die arme Mrs Smiling an.

»In England hat man keine Droschken, Mary. Liest du denn nie etwas anderes als ›Haussman-Haffnitz über Büstenhalter‹? Droschken hat man ausschließlich in Irland. Wenn Seth mich überhaupt abholt, dann mit einem Einspänner oder einem englischen Buggy.«

»Nun, ich hoffe doch stark, dass er nicht Seth heißt«, entgegnete Mrs Smiling ernst. »Wenn das