Terra - Science Fiction 02: Die Stadt am Ende der Welt - Ronald M. Hahn - E-Book

Terra - Science Fiction 02: Die Stadt am Ende der Welt E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

Nach Scharlachpest und Zombie-Apokalypse, die von Krupp-Kampfmaschinen in wüsten Schlachten zum Stillstand gebracht wurde, ist Nordrhein-Westfalen fast entvölkert. Besonders schlimm betroffen ist das Bergische Land. Nach dem Erlöschen der Feuer und dem Abkühlen der Ruinen setzt die Landflucht ein. Wem die Emigration zu teuer ist, der nimmt alles Herrenlose in Besitz. Gruppierungen, die man einst Banden nannte, die nun aber Großfamilien heißen, passen die Infrastruktur ihren Bedürfnissen an und ersetzen staatliche Autorität durch tribalistische Vetternwirtschaft. Die Natur erobert das ruinierte Land zurück. Wo Straßen nicht mehr instand gehalten werden, breitet sich Dschungel aus. In dieser chaotischen Phase nimmt der naive Egbert Cohen den Auftrag an, einen Großrechner zu sabotieren und die Geliebte eines Freundes ausfindig zu machen. Er ahnt nicht, welche Katastrophe er damit auslöst. In Barmènistan, der Stadt am Ende der Welt, nimmt er eine Spur auf. Und jeder Schritt führt ihn tiefer ins Verderben. Die Printausgabe des Buches umfasst 274 Seiten. Die Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch ist nur auf der Verlagsseite des Blitz-Verlages erhältlich!!!

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TERRAScience Fiction

In dieser Reihe bisher erschienen

3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal

3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt

3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls

Ronald M. Hahn

Die Stadt am Ende der Welt

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-Lonati Umschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-692-7

Die Ineptokratie ist eine Herrschaftsform, in der die Unfähigsten von den Unproduktivsten gewählt werden, die jene Mitglieder der Gesellschaft, die sich am wenigsten selbst erhalten können, mit Gütern und Dienstleistungen belohnt, die aus dem konfiszierten Wohlstand einer schwindenden Anzahl von Werteschaffenden bezahlt werden.

Nach dem Ende der Scharlachpest, die 70 % der Bevölkerung das Leben kostete, und der kurz darauf ausgelösten Zombie-Apokalypse, die die Hälfte der Überlebenden zu Tode brachte, bevor sie von Krupp-Kampfmaschinen beendet wurde, war Almanistan fast entvölkert.

Besonders schlimm war das Bergische Land betroffen. Nach dem Erlöschen der Feuer und dem Abkühlen der Ruinen setzte eine beispiellose Landflucht ein: Wie am Anfang des 21. Jahrhunderts wanderten auch diesmal nur jene Kreise aus, die es sich finanziell leisten konnten. Ihre Immobilien blieben, sofern die Kampfhandlungen sie nicht ruiniert hatten, unbeaufsichtigt zurück.

Wem die Emigration zu teuer war, nahm das Herrenlose in Besitz und richtete sich dort ein.

Es gab aber auch Zuwanderung: Gruppierungen, die man im 20. Jahrhundert noch Banden genannt hätte, nun aber politisch korrekt Großfamilien hießen, fielen in Scharen in die verlassenen Gebiete ein, passten die aus den Fugen geratene Infrastruktur ihren Bedürfnissen an und ersetzten staatliche Autorität durch tribalistische ­Vetternwirtschaft.

Die Auswirkungen waren schon zwanzig Jahre später zu spüren: Die Natur eroberte das dünn besiedelte Land zurück. Wo Straßen und Liegenschaften nicht mehr instand gehalten wurden, breitete sich Unkraut aus. Wo Unkraut wucherte, nistete bald wieder eine Fauna, die die Großstadt früher verdrängt hatte. Nicht nur Schmetter­linge gaben sich in den zugewachsenen Straßen ein Stelldichein: Raubvögel und Wildkatzen, aus dem von Kampfmaschinen niedergewalzten städtischen Zoo entwichen, jagten Nager, Echsen und anderes Getier.

Den Höhepunkt dieser an Katastrophen reichen Epoche bildete ein von militanten Veganern mittels Kampf­drohnen ausgeführter Anschlag auf ein Labor des Bayer-Monsanto-Konzerns, in dem, was nicht allgemein bekannt war, auch biologische Waffen getestet wurden. Die Attacke sollte eigentlich ein anderes Projekt des Unternehmens treffen, doch die aus dubiosen Quellen importierten Drohnen konnten ihrer Programmierung offenbar nicht folgen. Das Ergebnis waren Explosionen mit desaströsen Folgen, die Zehntausenden von Menschen das Leben kosteten und die in der Stadt patrouillierenden Kampfmaschinen Amok laufen ließen.

Dies wiederum führte zur automatischen Aktivierung des Bayer-Monsanto-Selbstschutzes. Um Schlimmeres zu verhindern, legte er ein undurchdringliches Sesam-Kraftfeld um sein Zentrum und schottete einen Teil der Stadt hermetisch vom Rest der Welt ab.

ENCYCLOPEDIA GERMANICA

1.

DAS ALLES, UND NOCH VIEL MEHR,

WÜRD ISCH MACHEN,

WENN ISCH KÖNISCH VON ALMANISTAN WÄR.

„… dabei sei das bösartige Gerücht, die massenhaften Fälle von Hirnerweichung im Kalifat Kolonistan seien auf das miese Sensiprogramm zurückzuführen, völlig aus der Luft gegriffen. Wie die Vertreter von ARD und ZDF sowie der Union Privater Fernsehanbieter einmütig versicherten, sei dieser Vorwurf von keinerlei Sachkenntnis getrübt und stelle eine schwere Schädigung des Ansehens des öffentlich-rechtlichen und freien Unternehmertums dar. Rechtspopulistische Angriffe dieser Art auf den Industriestandort Almanistan werden dem Kalifat schaden und zweifellos dazu führen, dass noch mehr Unternehmen ins ungläubige Ausland abwandern.“

Als Kevin Hassan aufwachte, signalisierte ihm das Rauschen in seinem Hirn, dass sein Ausflug ins Land der devoten Damen zu Ende war.

Sein Zeigefinger fuhr über eine Stelle hinter seinem rechten Ohr. Er bildete sich ein, dort eine kleine Schwellung zu ertasten, aber das war natürlich Unsinn. Der implantierte Tschipp war nicht größer als ein Sandkorn. Er zog das Hartweyer heraus, das an einem Kettchen an seinem Hals hing, und die dünne Strippe wurde sofort in dem Miniamp eingesaugt.

Die Szenenfolge, die er sich gerade angeschaut hatte, gehörte zu dem Projekt, an dem er seit einem halben Jahr feilte. Die Figur Beinhart würde beim Mob gut ankommen. Er selbst hatte sich im Körper des Protagonisten wie im Höhenrausch gefühlt. Die transvestitische Sekretärin des Kanzlers war ihm ein wenig zu verdorben geraten. Aber es lag natürlich daran, dass er Frauen dieser Art mochte. Männer anderer Art fanden sie vielleicht zu aufdringlich. Mal sehen, vielleicht würde er das eine oder andere an ihrem Charakter noch ändern.

Hassan stand auf und sagte: „Licht.“ Das Licht ging an.

Hunger? Nee. Durst? Keine Frage. In seiner Suite war alles still. Deswegen ging er auf Zehenspitzen nach nebenan zum Fritsch. Er wollte Hamed nicht wecken. Ach, Hamed … Hassan schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Er war doch gar nicht mehr da. Hamed hatte längst das Weite gesucht. Na schön. Hamed dachte ohnehin nur immer an die Zukunft. Machte sich Gedanken über die nahende Eiszeit. Fragte sich, was aus den Leuten wurde, die in dieser verrotteten Welt lebten und Schweine fraßen. Während Hassan sich nur eine Frage stellte: Wen scherte es, wie die Welt in hundert Jahren aussah?

Hamed ist ’ne lebende Zeitbombe, die bestimmt bald hochgeht. Andererseits … Das Klicken der Fritschtür machte Hassan wach.

Er vergaß Hamed und dachte an andere Dinge. Wichtigere Dinge. Wenn es Galouye gelang, das Simulacron über den Sender gehen zu lassen … Wenn die Familie Hashim die Finanzierung auf die Reihe kriegte und alles so ablief, wie Galouye es sich vorstellte, konnte man Bedenkenträger wie Hamed einfach abschalten. Dann lagen sie nur noch auf dem Bett und erlebten Abenteuer in Gegenden, in denen nie zuvor jemand gewesen war. Und sie banden keine Ressourcen mehr.

Hassan seufzte. Manche Menschen ertrugen das Leben einfach nicht. Wenn sie längere Zeit keine Sonne sahen, kriegten sie einen Rappel. Viele waren einfach nur durchgedreht. Manche lebten im ständigen Psychopharmaka-Tran. Andere, die sich übler benahmen, hatte die Gestapo leider ausknipsen müssen …

Hassan schüttelte sich. Er nahm eine Flasche Slurpi aus dem Fritsch, kehrte in sein Gemach zurück und hob sie an den Mund. Gluck, gluck.

Sein Blick fiel auf den Skrien. Er war ausgeschaltet. Und das war auch gut so. Seufz. Das Leben war auch nicht mehr das, was es mal gewesen war.

Ihm fehlte vieles. Früher hatte er immer im Netz rumgehangen. Schon als Kind hatte er gewusst, wo die geilsten Fickclips liefen und in welchen Foren sich die süßesten Schnuckis rumtrieben.

All das war jetzt schwer zu kriegen. Weil ständig Katastrophen die Welt heimsuchten. Die Beknackten glaubten beispielsweise seit hundert Jahren daran, dass sie die Alphabetisierungsrate bald wieder auf 50% ­hochtreiben konnten. In einem Land, in dem sogar Lehrer keinen geraden Satz schreiben konnten, würde dies schwierig werden. Von den richtigen Katastrophen hatte Hassan zum Glück nichts mitbekommen, weil sogar sein Opa zu der Zeit noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum gelaufen war. Aber er hatte von dem Scheiß ’ne Menge gehört: Abenteuerliche Geschichten waren sein Brot­erwerb, seit er den Tschopp bei CraniumTV hatte.

Inzwischen hatte die Menschheit in Sachen Katastrophen aber wohl das Gröbste überstanden. Die Erderwärmung war nicht eingetroffen. Nun sprach man von einer neuen Eiszeit.

„Das kann ja ’ne schöne Scheiße werden“, murmelte Hassan. Er nahm vor dem Skrien Platz und sagte: „Skrien einschalten.“ Der schaltete sich ein. Eine Figur mit Segelohren, Hasenzähnen und einem roten Umhang mit der Aufschrift PERRY ROTTEN, NR. 1 HUMAN ZERO machte Faxen. Hassan schnipste mit den Fingern und sagte: „Stirb!“ Perry Rotten desintegrierte. An seiner Stelle klappte ein Fenster auf. Nanu, Post?

Hassan kniff die Augen zusammen. Ein Schreiben des Producers. Abzüglich der 36 Zeilen Routenschrott und der Versicherung, dass die E-Post auf Viren, Spam, Trojanische Pferde, Tripper, Syphilis und Schanker geprüft worden war, bestand die Botschaft aus einem mageren, doch Schrecken erregenden Text.

Dr. Galouye wurde heute das Opfer eines vermutlich terroristisch motivierten Attentats. Deswegen endet Ihre Zugehörigkeit zum Simulacron-Team mit sofortiger Wirkung. Ein Monatsgehalt geht Ihnen zu.

Fatih Özcan

Projektleitung Simulacron

„Drecksack“, murmelte Hassan. „Arschgeige! Elende Sackratte!“

Galouye war tot? Galouye, das Genie? Es gab niemanden, der ihn ersetzen konnte. Hassan war fassungslos. Es konnte einfach nicht wahr sein! Man hatte ihn gefeuert!

Er hatte Özcan noch nie ausstehen können. Der Mann war ihm zu eckig.

Früher war er hin und wieder in seinem Büro gewesen. Dort hatten Plakate von türkischen Katzen­musikern rumgehangen. Und ein Foto: Özcan inmitten einer Schar stoppelglatziger Spießer. Mit einer Zigarette im Mund. Konnte man solchen Typen trauen? Wie war dieser Salonbolschewist überhaupt in den Sender gekommen?

Was jetzt? Hassan las die Botschaft noch einmal. Was kam jetzt auf ihn zu? Irgendein dröger Archivjob? Oder – Allah, steh mir bei! – eine Bewährung als Pauker in der untersten Ebene, wo die Typen saßen, denen man den Unterschied zwischen offenbar und offensichtlich erst noch beibringen musste?

Eher sterbe ich. Was bildeten sich diese Ärsche ein? Er war, verdammt noch mal, so was wie ein Offizier. Dieser Wichser Özcan war nur ein dummer Achtgroschenjunge, der für jeden Eimerschwenker Reden schrieb, der sein Honorar bezahlen konnte. Heute propagierte er die ­Weisheiten von Kalif Storch, morgen vielleicht die von Perry Rotten!

Hassan schüttelte sich. Nein, dachte er, mit mir macht ihr das nicht. Bevor ihr mich in die Wüste schickt, schalte ich euch alle aus …

Er hatte sich nicht bei diesem Scheißsender beworben. Sie hatten ihn aus der Redaktion des Kritikus abgeworben, damit er Galouye zur Hand ging.

Er war nicht als Schütze Arsch im siebenten Glied nach Hagen gekommen, sondern als preisgekrönter 1-A-Ideen-Mann. Er hatte jede Menge Geistesblitze in das Simulacron-Projekt eingebracht. Simulacron war fast ebenso sein geistiges Kind wie das von Galouye.

Wenn sie mich nicht mehr dabei haben wollen, sollen sie krepieren. Ein gewaltiger Zorn stieg in ihm auf. Er eilte ins Bad und schaute in den Spiegel. Er sah natürlich anders aus als der Agent Beinhart, aber das gehörte zum Spiel. Wer wie Perry Rotten aussah, konnte kein Held sein, sondern nur eine Witzfigur.

Hassan kämmte sich das Haar, glättete sein Hemd, zog ein Jackett an, setzte die blaue Kappe auf und stürmte hinaus. Die Hausdestille hatte geöffnet.

Hassan orderte ein Glas polnischen Wodka und kochte auf kleiner Flamme vor sich hin. Er dachte sich einige Szenarien aus, an deren Ende Fatih Özcan auf grausamste Weise ums Leben kam. Vielleicht war es aber am einfachsten, wenn er in die Simulacron-Software etwas einspeiste, das unvorhergesehene Dinge tat …

Schon im 20. Jahrhundert hatten gewitzte Programmierer es verstanden, sich an denen zu rächen, die sie vor die Tür setzten. Man erfand Computerviren, die sich Monate nach dem unfreiwilligen Abgang aktivierten und eine Havarie zustande brachten …

Ja, dachte Hassan, so ’ne hübsche Sauerei wird mir doch sicher einfallen … Und wenn nicht mir, dann irgendeiner miesen Ratte, deren Dienste ich kaufen kann. Er stellte sich etwas vor, das den Sender bis auf die Knochen blamierte. Einen Virus, der die Steuerung der Figuren änderte … Agent Beinhart, der große Umleger … als aufgebrezelte Schwuchtel im Spitzenhöschen? Sternenstürmende Raumfahrer bei päderastischen Aktivitäten? Der Kalif von Kolonistan als katholischer Konvertit? Er würde die komplette Tschetschenenbande – Özcan inklusive – bei Nacht und Nebel entführen und an die Wand stellen lassen.

Ah, was für eine tolle Fantasie!

Hassan war plötzlich guten Mutes.

„N‘abend“, sagte jemand neben ihm.

Hassan hob den Blick. Er wusste auf der Stelle, dass er das große Los gezogen hatte.

Das blasse Bürschlein mit der Brille, das die Destille gerade betreten hatte, hieß Ollie. Früher hatte Ollie als Junior-Informatiker beim Finanzamt an einem Rechner gesessen und Software manipuliert, damit sie für die Steuer­fahndung spionierte. Dann hatte ein garstiges Weib ihn aus der Bahn geworfen und in die Krakenarme des Alkohols getrieben: Er hatte Dinge getan, die ein ­Informatiker nur im Staatsdienst tun durfte, deswegen war ihm sein schöner Titel abhanden gekommen, und man hatte ihn in ein Haus gesperrt, das man „Knast“ nannte.

Jetzt war Ollie wieder frei. Er war zwar bleich – im Knast gab es keine Sonnenbank –, aber ansonsten wirkte er wie der Alte. Und durstig war er auch.

„Tach, Ollie“, sagte Hassan. „Kennste mich noch?“

„Klar.“ Ollie tat so, als hätte er ein Glas in der Hand, mit dem er Hassan zuprostete. Er hatte wohl schon in einer anderen Destille getankt, denn er wankte sogar im Sitzen. Ollie bestellte was, aber als der Wirt sein SumUp-Kärtchen ins Lesegerät schob, piepste es.

„War nix, Alter.“ Der Wirt warf Ollie das Kärtchen hin. „Fusel ist nicht mehr drauf. Kaffee kannste noch haben.“

Hassan warf ihm seine Karte hin. „Geht auf mich.“

„Oh, danke, Kumpel.“ Ollie nickte ihm dankbar zu. „Bist ’n wahrer Freund, Hussein.“

„Hassan.“

„Sag ich doch.“

Der Wirt füllte Ollies Glas, dann kümmerte er sich um andere Gäste, unter denen sich auch einige mords­hübsche Transen befanden, die Hassan seit geraumer Zeit beäugten. Normalerweise hätte er seinen Charme spielen lassen, aber im Moment nagten andere Dinge an ihm: seine Rache.

Er winkte Ollie zu. „Bist wohl knapp, was?“

Ollie nickte. „Ja. Sitz‘ echt in der Tinte, Hussein. Du hast doch bestimmt gehört, dass die mich weggesperrt haben …“

„Ja.“ Hassan nickte. „Hast Pech gehabt im Leben, was?“ Er breitete mitfühlend die Arme aus.

Dann quetschte er Ollie aus und erfuhr, dass es ihm so dreckig ging wie nie zuvor; dass das Prollamt ihn zur Bewährung in die Abteilung „Gas, Wasser, Scheiße“ versetzt hatte; dass sein Chef ein Arschloch war; dass seine Kollegen ihn ständig aufzogen, weil er als Studierter tiefer gesunken war als sie.

Ollie war fertig mit der Welt, von der er nichts mehr erwartete. Eins, dies fand Hassan nach dem sechsten Wodka heraus, war jedoch noch in ihm vorhanden: Hass. Hass auf die Lumpen, die ihn nicht wieder hochkommen lassen wollten. In gewisser Hinsicht war Ollie so irre wie Hamed. Er würde vermutlich bald explodieren und in seiner Wut Dinge tun, die die Gestapo zwangen, ihn umzulegen. Doch bevor es dazu kam, musste Ollie ihm noch einen Dienst erweisen.

„Du glaubst nicht, wie gut ich dich verstehe“, sagte er bei seinem dritten und Ollies achtem Wodka. Sie saßen inzwischen in einer Nische. „Diese verdammten Säcke haben auch mir übel mitgespielt.“

Ollie schaute ihn trunken an. „Wirklich?“

„Jau.“ Hassan nickte. „Aber ich kann nicht drüber reden.“

„Ist es so schlimm?“ Ollie konnte es kaum fassen, dass es jemanden geben sollte, der noch wütender auf die Gesellschaft war als er.

Hassan beugte sich vor. „Ich werd‘ mich rächen“, sagte er leise. „Und du bist eingeladen, mitzumachen.“

Ollie schaute sich um. Er hatte sich in der Stunde, die sie nun schon zusammensaßen und soffen, heftig in Rage geredet. Auch sein benebelter Geist schrie nach Rache.

Hassan maß ihn mit einem prüfenden Blick. „Ich brauch ’n Virus, der ’ne üble Sauerei macht.“

Ollie grinste teuflisch. „Kein Problem. Wenn du mir die Technik besorgst … ’n paar von diesen Dingern liegen noch in meiner Bude rum …“

„Was du nicht sagst.“ Hassan beugte sich vor. Er spürte ein erregtes Zittern. „Er soll auf’n Großrechner überspielt werden …“ Er schaute sich um. Die wenigen Gäste, die sich in der Destille aufhielten, waren mit sich selbst beschäftigt. „Das Ding soll ’ne Menge Schaden anrichten, und ich muss darauf bestehen, dass der, von dem es stammt, wirklich schweigt …“

„Ja, glaubst du vielleicht, ich bin scharf drauf, wieder im Bau zu landen, Hussein?“ Ollies Lächeln machte Hassan klar, dass das organisierte Verbrechen schon vor hundert Jahren über den Anstand gesiegt hatte. Der Anstand hatte keine Chance mehr.

„Darauf heben wir noch einen, Ollie.“ Seine Mund­winkel verzogen sich zu einem feinen Lächeln.

„Und wann geht’s los?“

„Klären wir bei dir zu Hause.“ Hassan winkte dem Wirt. „Wichtig ist, dass wir unsere Spuren perfekt verwischen.“ Dass er die Sache nicht bei sich zu Hause klären wollte, hielt er für einen klugen Schachzug.

„Klar.“ Ollie zupfte sein Jackett zurecht. Seine Augen blitzten. Er wirkte nun viel wacher als in dem Moment, in dem er die Destille betreten hatte.

Sein euphorischer Zustand hielt leider nicht lange an. Als sie auf die Straße traten, raste ein dunkles Auto an ihnen vorbei. In dem Wagen saßen mehrere bärtige Männer, die durch offene Fenster das Feuer auf einen anderen Bärtigen eröffneten, der vor Hassan und Ollie gerade das Nebenhaus verließ. Wie sich später ergab, wurde er von zwölf Kugeln durchlöchert.

Die dreizehnte traf Ollie versehentlich in den Kopf. Er fiel gegen Hassan und warf ihn gegen die Hauswand. Hassan verlor die Balance und knallte mit dem Schädel auf hartes Gestein. In seinem Inneren gingen alle Lichter aus.

Als er zwei Tage später im Hadschi-Halef-Omar-Hospital der Armen Schwestern von Haspe mit einer Gehirnerschütterung wieder zu sich kam, erfuhr er, dass Ollie das Zeitliche gesegnet hatte und von seinen Mördern jede Spur fehlte.

Nach seiner Entlassung fuhr Hassan mit einem Panzertax nach Hause und haute sich erst mal hin. Seine Rachegefühle hatten nicht nachgelassen, aber er hatte auch Kopfschmerzen. Und die wollte er erst mal los sein. Also: ablenken. Am besten mit CraniumTV, Galouyes abgetriebener Schöpfung. Dass die Testsendungen noch liefen, wusste Hassan aus dem Geschwätz der Armen Schwestern von Haspe.

Hartweyer rein und ab. Hassan war wieder der Böse. Sein Name: Benno Beinhart. Ein Name, der zu ihm passte. Ein Killer auf der Flucht. Ein skrupelloser Pistolero im Solde der Herren der Nacht. Ein Untier. Ein breitschultriger Macho, dessen animalische Anziehungskraft die Weiber sofort schwach werden ließ. Die Folge hieß Des Teufels Pistolero.

Er saß in Shorts, T-Shirt und Turnschuhen in einem Spitfire 2050 und bretterte im Sonnenschein eine anonyme Uferstraße entlang. Rechts brandete der Pazifik gegen den Strand. Über ihm kackten die Möwen. Obwohl ihm vieles im Kopf herumging, übersah er die angenehmen Dinge des Lebens nicht: Am Straßenrand stand ein rostiger Matsushita mit offener Kühlerhaube. Daneben zwei winkende Ischen in weißen Bikinis.

Er hielt mit quietschenden Bremsen an.

„Tausend Dank“, rief die Brünette, die den Spitfire zuerst erreichte. Sie schwang ein Lederköfferchen. „Wir haben schon gedacht, die Reise wäre für uns hier zu Ende.“

„Werft den Krempel rein.“ Beinhart deutete lässig nach hinten.

„Wie nett.“ Die zweite war ein falscher Rotschopf mit straffen Titten. „Wie können wir Ihnen nur danken?“

„Oh, da wüsste ich schon was.“ Beinhart musterte die Frauen. Sie setzten sich nach vorn, sodass es ziemlich eng wurde.

„Ich fahr nach Monte Carlo“, sagte er. „Ist euch das recht?“

„Uns ist alles recht.“ Die Rote entblößte zwei makellose Zahnreihen. „Bloß weg von hier!“

Beinhart trat aufs Gas. Der Spitfire schoss vorwärts. Bald dominierte in Beinharts Gehör wieder das heiße Singen der Reifen auf dem Asphalt.

„Schöner Wagen“, sagte die Rote. „Ich heiß‘ Fatima.“

„Angenehm“, sagte Beinhart. „Nennt mich …“ Er überlegte kurz. „Kevin.“

„Ich bin Proschat“, sagte die Brünette.

Figürlich waren sie das Kaliber, das er schätzte, aber ansonsten nicht gerade seine Klasse. Callgirl-Typen, aber keine von der teuren Sorte.

„Wie war das mit dem Dank?“, fragte Beinhart.

Fatima griff ihm an die Eier. Er fuhr auf den Rand­streifen und stoppte den Wagen. „Okay, Girls, dann zeigt mal, was ihr könnt.“

Proschat stieg aus und nahm links von ihm Platz.

Beinhart packte sein Ding aus. Während Proschat ihm die Zunge in den Mund schob, griff Fatima zu. Sein riesiger Kolben machte sie heiß. Keine Frage.

Er schwoll in ihrem Mund an. Beinhart saugte sich an Proschat fest und knetete ihre Möpse. Die beiden wechselten sich an seiner Flöte ab. Wenn die eine ihn saugte, leckte die andere seinen Schaft. Dann zog Proschat ihr Bikinihöschen aus und spießte sich auf seinen Pfahl. Fatima schmiegte sich an ihn, und sie knutschten.

[KNIRSCH. KRACKS.]

Hassan wachte auf. „Mist!“ Es war tiefe Nacht. Das weiße Rauschen, das sein Hirn ausfüllte, sagte ihm, dass das Programm zu Ende war, bevor es richtig angefangen hatte. Die verdammten Schweinebacken hatten ihn rausgeworfen! Ein Blick auf das Display seines VA sagte ihm, wie seine Aktien standen und brachte den schmerzenden Hirnzellen Frieden.

„Drecksäcke.“ So sah der Plan aus: Immer, wenn es spannend oder geil wurde, endete die Episode. Es fehlte nur noch eine Stimme, die sagte: „Bitte zehn Euro einwerfen!“ Die Episoden wurden ohnehin immer kürzer. Na ja, es war ’ne Testsendung. Irgendwelche Fetzen, die noch im Speicher waren. Wenn Galouye wirklich tot war …

Hassan stand auf und sagte: „Licht.“ Wie gehabt.

Hunger. Durst. Die Wohnung war still. Hassan trat ans Fenster, zog die Vorhänge beiseite und warf einen Blick auf die Straße.

Was für ein Glück, dass er hier wohnte. Er hatte dank seiner Beziehungen zu den ersten Mietern des zwölfthundert Einheiten umfassenden Wohnzentrums gehört. Damals hatte man sich die Wohnungen noch aussuchen können, und es war ihm gelungen, eine Außenbude zu kriegen. Hinter dem Zentrum begann der Dschungel.

Im Moment lag die Stadt still da. Gelbe Leuchten tauchten die hellen Steinplatten vor dem Fenster in einen magischen Schein. Ein Mann, der so aussah, als hätte er in der Gosse geschlafen, näherte sich langsam dem Haupteingang.

Hassan kniff die Augen zusammen. Wollte diese Penner etwa …? Er hatte den Zeigefinger schon auf der Taste, um die Hauswache zu alarmieren, als er den Mann erkannte. Er wohnte im zwölften Stock.

Nachdem er verschwunden war, entdeckte Hassan einen zweiten Hausbewohner: einen schlaksigen jungen Kerl mit wirrem Haar und langen Armen, der sich wie ein besoffener Gorilla bewegte. Der Sohn einer Putze, die mit einem arbeitslosen Tagedieb ein Innenapartment bewohnte. Was suchte der Bursche um diese Zeit noch auf der Straße?

Bei dem Gedanken, dass er vielleicht zu der Bande gehörte, die in dieser Gegend ihr Unwesen trieb, musste Hassan frösteln. Rasch zog er den Vorhang wieder zu, verdrängte den Gedanken und schlich in die Küche. Als er sich ein Brot schmierte, fiel sein Blick auf eine Zeitschrift. Er sah eine Schlagzeile: OBSZÖNER SEX IST, WENN MAN MIT OFFENEM MUND KÜSST.

Hassan seufzte. Für sein Problem gab es keine Lösung, nur Konsequenzen. Er biss in ein Fladenbrot, trank eine Tasse fettarme Milch, schlüpfte ins Jackett und ging hinaus. Er wusste nicht, was ihn antrieb, aber er hatte das Gefühl, dass er etwas verpasste, wenn er ins Bett zurückkehrte.

Als er sich einen Weg durch die tote Fußgängerzone bahnte, fiel sein Blick auf das Schaufenster des Alawni-Supermarktes. Jemand hatte mit einer Sprühdose eine Parole auf der Scheibe hinterlassen: ES IST DEN REICHEN UND ARMEN GLEICHERMASSEN UNTERSAGT, UNTER DEN BRÜCKEN ZU SCHLAFEN. Auf der nächsten Scheibe stand KÜTZELMÜTZ IS DOOF.

Von der B7 her drang Getöse und Geschrei an seine Ohren. Dann das Klirren berstender Fensterscheiben, wütendes Hupen und das Rasseln von Ketten. Man konnte sich nicht mehr auf die Straße trauen. Wahrscheinlich schlug sich das Pack mit den Tschakos. Natürlich würde es den Kürzeren ziehen. Aber immerhin … Hier war es noch besser als in Barménistan. Am Arsch der Welt.

Hassan hielt für den Fall des Falles nach einem Fluchtweg Ausschau. Es war wohl besser, wenn er abbog und sich in ein Café verkrümelte, bevor die Tschakos das Gesindel noch vor sich her trieben und ihn mit einkesselten. Es war nicht gut für die Reputation, wenn man ihn aus einer Vandalenhorde herausfischte.

Vandalen waren gefährlich. Leute, die tagsüber ihrem Job nachgingen und nachts die Sau rausließen, waren ein rotes Tuch für ihn. Er wollte nicht mit ihnen in einen Topf geworfen werden.

Als er unschlüssig dastand, strömte eine vermummte Schar aus einer Seitenstraße hervor. Hassan wandte sich nach rechts. Er stand wie erstarrt, als er auf der B7 brennende Autos und eingeschlagene Schaufenster sah. Aus allen Richtungen kam Sirenengeheul.

Gleich würden die Tschakos hier sein. Er musste weg. Hassan ging ein paar Schritte zurück, schlug sich in eine Nebenstraße und fand sich in einer verrotteten Häuserschlucht wieder. Flüchtende Vandalen ergossen sich wie ein johlender Sturzbach über den rissigen Asphalt. Es waren Dutzende.

Rauch hing in der Luft. Im Rinnstein, direkt vor ihm, lag ein gefleckter Hund mit zerschmettertem Rückgrat. Ein paar an ihm nagende Ratten stoben auseinander, als das Trommeln der Füße näher kam.

Der Mond stand tief. Dunst kroch in Schwaden über die Fahrbahn, als die Tschakos anrückten.

Hassan geriet langsam in Panik. Wäre er doch bloß zu Hause geblieben! War hier nicht irgendwo ein Café? Hier musste doch irgendwo ein Kellercafé sein, ein Laden, in dem sich ungläubige Minderjährige prostituierten. Vielleicht konnte er sich dort verstecken.

Das Sirenengeheul kam von überall. Hassan sah Scharen von behelmten Uniformierten, die knüppel­schwingend aus Einsatzwagen sprangen. Da kamen auch schon die Wasserwerfer. Und Männer mit Maschinen­pistolen.

Oh, nein! Und das Café war weit und breit nicht zu sehen. Ein Mädchen, das vor der Phalanx der Uniformierten herlief, fiel hin. Es blutete. Jemand stürzte auf es zu, hob einen Knüppel. Das Mädchen schrie. Hassan duckte sich instinktiv. Endlich sah er die Leuchtreklame des Cafés; es war nur hundert Meter weit entfernt. Doch die fliehenden Vandalen rempelten ihn von allen Seiten an. Er kam kaum von der Stelle.

Panik.

Jemand schrie eine Warnung. Sie waren eingekreist, und Hassan war mittendrin. Wenn sie ihn erwischten … Er drückte sich in den Eingang des Cafés. Die Tür war verschlossen, was ihn nicht wunderte. Der Wirt hatte nicht nur den Krach gehört, er legte auch keinen Wert auf Besuch.

Hassan schlug heftig gegen die Tür, doch hinter ihr rührte sich nichts.

Im Nu war in der Nähe eine wüste Keilerei im Gange. Die Vandalen wehrten sich. Fahrradketten und Eisenstangen flogen. Die Tschakos knüppelten alles nieder, was sich bewegte. Ein Zivilist, dessen Bewegungen Hassan merkwürdig vertraut erschienen, hatte ihn im Hauseingang entdeckt und wollte sich auf ihn stürzen, doch plötzlich hängte sich ein Vandale an dessen Hals, packte seinen Waffenarm und brachte ihn zu Fall.

Die Menge flutete wie ein einziger Organismus vor und zurück. Der Zivilist tauchte im Leibergewimmel unter. Das Letzte, was Hassan von ihm sah, war ein herum­rudernder Arm, der eine blauschwarze Plempe hielt.

Salman!, dachte er.

Ein Nachbar. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ob er ihn erkannt hatte? Hassan musste sich eingestehen, dass sein Hiersein auf andere durchaus befremdlich wirken konnte. Er stand vor einem übel beleumundeten Lokal. Wenn Salman ihn nicht für einen Vandalen hielt, dann bestimmt für einen Perversen.

Er fragte sich, was ihm weniger schaden konnte, doch er kam zu keinem Ergebnis. Vandale oder Hurenbock – beides konnte ihn Kopf und Kragen kosten.

Seine Knie zitterten. Wenn Salman auf die Gerüchtepauke haute … Die Leute in der Wohnmaschine waren an pikanten Details aus dem Privatleben anderer immer interessiert.

Übelkeit machte sich in seinem Magen breit. Dann verlor er die Balance und fiel nach hinten. Jemand hatte die Cafétür geöffnet und sagte leise: „Los, rein hier, Süßer, schnell!“

Mechanisch ging er eine Kellertreppe hinunter. Keine Tschakos. Keine Sirenen mehr. War er davongekommen?

Beinhart, dachte er und schüttelte sich, hätte sich so was garantiert nicht bieten lassen …

2.

SHIT HAPPENS

„… sagte der argentinische Traktorfahrer Manuel Diaz (42) vor der örtlichen Polizei aus, die Insassen der Fliegenden Untertasse hätten ihn zum Dank, weil er ihnen mit seinem Wagenheber ausgeholfen hatte, mit Zigaretten der Marke Overstolz beschenkt. Laut Diaz sprachen die Ufonauten Deutsch und trugen Uniformen und Orden der Antifaschistischen Aktion …“

Egbert war schon um 7.00 Uhr wieder zu Hause, denn der Mann, für den er einen Tschopp erledigt hatte, war nicht zur vereinbarten Zeit erschienen, um die zweite Rate seines Honorars zu blechen.

Man kann nicht sagen, dass Egbert besonders guten Mutes war, als er müde und leicht angesoffen durchs Treppenhaus stiefelte: Die Miete war fällig, und sein Postfach quoll von Mahnungen über. Erst gestern hatte ihn ein Schrieb des Propellerwerks erreicht, das der Welt und Egbert Cohen in computergeneriertem Bürokratendeutsch mitteilte, dass die Stromgebühren zum ­nächsten Ersten um 27,6 % erhöht werden mussten, um die Geflüchteten aus dem krisengeschüttelten Mikro­nesien zu versorgen.

Und das war ein ganz besonderer Scheiß, denn Strom brauchte Egbert in Massen, weil er nämlich als Kleingewerbetreibender Tag und Nacht an seinem Yamashita-Toshiba-Keyboard hockte, um all jenen dienlich zu sein, die es sich leisten konnten, ihr Interesse an anderer Leute Daten zu honorieren. Wenn die Bürokraten von den Stadtwerken ihm den Saft abdrehten, saß er in der allerstinkigsten Merde.

Egbert war also sauer und entsprechend abgelenkt als er aus dem Lift in den heimatlichen Korridor trat, aber als waches Kerlchen fiel ihm natürlich sofort auf, dass dort heute etwas anders war als sonst.

Er blieb an der Aufzugtür stehen und lauschte in den kahlen Gang hinein. Vor ihm zweigten hundertsechzig – achtzig rechts, achtzig links – dünne Holztüren ab. Der Korridor war vierhundert Meter lang und seit 2050 nicht mehr gestrichen und geputzt worden. Sämtliche Freiräume zwischen den Holztüren waren mit Parolen wie „Miete? Driete!“ und obszönen Zeichnungen beschmiert.

Egbert blieb stehen und tastete verhalten nach seinem Wohnungsschlüssel. Etwa zwanzig Meter weiter befand sich eine Holztür, die nur angelehnt wirkte. Ein schmaler Lichtstreifen fiel aus dem dahinter liegenden Wohnschlafklo auf den Gang hinaus. Egbert musterte die auf der Holztür befindliche Nummer und stellte fest, dass es die seine war.

SCHOCK! SCHAUER! SCHRECKEN!

Hinter der Tür raschelte etwas.

Egbert hörte katzenhaft leise Schritte und gedämpfte Stimmen. Beides kam aus seiner „Wohnung“, was eigentlich kaum möglich war, denn er war unverheiratet, kinderlos und beherbergte keine Gäste.

Die Muffe ging ihm eins zu tausend. Egbert dachte voller Grauen an seinen kostbaren und unersetzlichen Yamashita-­Toshiba, dessen Festplatte von geklauter Software nur so wimmelte. Der Rechner war sein einziges Lebensmittel. Das gute Stück in der Hand matschhirniger Drogensüchtiger zu wissen, die es womöglich für einen Killmich-Schuss an irgendeinen schrägen Otto vertickten, verursachte ihm Herzrasen.

Aber nein! Er hatte das Technik-Wunderwerk doch gestern Abend in weiser Voraussicht hinter den zwei Metern seiner „Anal Rampage“-Sammlung versteckt, und mit Taschenbüchern für € 44.98 belasteten sich diese Birnemänner für gewöhnlich nicht. Vielleicht bestand die Chance …

Egbert machte einen lautlosen Schritt zum Aufzug zurück und ertastete, ohne den Blick von der Tür abzuwenden, den Knopf, der die Tür öffnete.

Da er hinten keine Augen hatte, fand er ihn erst nach einer Weile. Doch zu spät. Als er ihn erwischte, setzte sich der Lift ruckend in Bewegung. Natürlich nach unten. Verdammt!

Egbert überlegte. Fieberhaft. Der Lift war weg. Er musste die Feuertreppe nach unten nehmen. Ihm graute davor, denn man wusste nie, wer sich im Treppenhaus häuslich niedergelassen hatte.

Nein, lieber nach oben. Penner scheuten es, sich allzu weit oben einzuquartieren. Wenn die Hauswache sie erwischte, war der Fluchtweg viel zu lang. Es war besser, wenn er nach oben abhaute.

Wenn die Kerle seine Bude verließen, ohne etwas von Wert gefunden zu haben, waren sie bestimmt sauer, und dann jagten sie ihm, wenn sie ihn sahen, sicher ein Messer zwischen die Rippen …

Egbert hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als die Holztür seiner Wohnung aufging. Er machte einen hastigen Satz, öffnete die Tür zur Feuertreppe und rannte mit klopfendem Herzen die Stufen hinauf.

Aus der Wohnung kamen zwei Gestalten, die seinen Holo-Projektor schleppten.

Es wäre Egbert nicht im Traum eingefallen, sie an ihrem Tun zu hindern.

3.

DEM SCHWEIN IST ALLES SCHWEIN

„Adolf Hitler war transsexuell! ‒ Ein deutsches Historikex ließ gestern die Bombe platzen: Ex gab bekannt, in seinex Besitz befänden sich Dokumente aus Hitlers engstem Bekanntenkreis, die behaupten, dass der Führer ein Transsexuellex war! Professix Claus-Christina v. Stempfer aus Wittenberg sagte aus, ex habe die geheimen Tagebücher von Rudolf Hess erworben, die eindeutig beweisen, dass …“

Nicht, dass Hassan etwas gegen die Regierung hatte: Er unterstützte sie, wo er konnte, denn Kanzler Kützelmütz war ein Mann nach seinem Geschmack. Trotzdem war er der Ansicht, dass er manchmal zu nachgiebig war. Etwa bei den Vandalen-Razzien. Hätte man ihm das Kommando übertragen, sähe die Welt anders aus. Er würde diese verlotterten Lumpen einfach niedermähen lassen.

Man sollte ein paar von denen zur Abschreckung an die Laternenpfähle hängen, dachte er. Und die, die ihnen den Arsch hinterhertragen, gleich mit.

Die, die ihnen den Arsch hinterhertrugen, nannte man Sozialarbeiter.

Hassan ging in die Kochnische und bestückte den Koffi-Kuka. Bis das Wasser kochte, schaute er aus dem Fenster und dachte an Hamed. Der soll bloß nicht glauben, dass ich ohne ihn aufgeschmissen bin. Transen wie ihn krieg‘ ich doch an jeder Straßenecke. Er ging, die Tasse sorgfältig balancierend, ins Wohnzimmer zurück. Zum Schaitan mit der Welt, dachte er. Hätte ich mich bloß nicht mit den Hashims und ihrem beschissenen Hirnsender eingelassen. Zuerst versprechen sie einem goldene Berge, und beim ersten Problem treiben sie das Projekt ab.

Andererseits … Ohne den genialen Galouye konnte aus CraniumTV tatsächlich nichts werden. Ein Sender, der dem Konsumenten sein Programm gleich ins Hirn speiste, war auf der Welt einmalig. Hassan fragte sich, ob die Konkurrenz für Galouyes Ableben verantwortlich war. Es gab Hunderte von Sendern, die sich die Butter nicht so einfach vom Fladenbrot nehmen lassen würden.

Hassan trank einen Schluck und schaute sich um. Er war eigentlich ganz schön weit gekommen: drei Zimmer, Küche und Bad. Er hatte gedacht, es würde so weitergehen. Oder noch besser werden. Nun sah seine Lage jedoch ziemlich beschissen aus.

---ENDE DER LESEPROBE---