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Zeit. Die vierte Dimension. Ein Quell großer Geheimnisse und Ideen faszinierender Weltbilder. Ist die Zeit ein Fluss? Oder ein unendlicher Bahnhof, allein aus Weichen bestehend? Wie oft existieren wir – und was geschieht, wenn wir uns selbst begegnen? Nicht erst seit H. G. Wells ist Zeit ein ständig wiederkehrendes Thema in Science-Fiction-Geschichten. Zeitmaschinen, Paradoxa, verhinderte Kriege, getötete Großväter und verschwindende Enkel. In seinen sieben Geschichten packt Axel Kruse das Thema Zeit unter verschiedenen Gesichtspunkten an und verpackt sie in spannenden und faszinierenden Handlungen. Die titelgebende Novelle wurde im Jahr 2014 mit dem ersten Platz des Deutschen Science Fiction Preises ausgezeichnet. Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete, erweiterte Neuausgabe. Seitwärts in die Zeit Iteration Time and Again Der kleine Unterschied Zeitreise unmöglich? Rachezeit Eine Schriftstellerin
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2025
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In dieser Reihe bisher erschienen
3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal
3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt
3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls
3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet
3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum
3306 Walter Ernsting Tempel der Götter
3307 Axel Kruse Tsinahpah
3308 Axel Kruse Mutter
3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß
3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit
3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau
3312 Axel Kruse Knochen
3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant
3314 Axel Kruse HBAB
3315 Axel Kruse Seitwärts in die Zeit
3316 Axel Kruse ASTRONOMIC
3317 Axel Kruse Glühsterne
TERRA - SCIENCE FICTION
BUCH 15
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Copyright © 2025 Blitz-Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney
Vignette: Ralph Kretschmann
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
3315 vom 28.02.2025
ISBN: 978-3-68984-343-4
1. Vorwort
I. Seitwärts in die Zeit
Prolog
1
2
3
4
5
6
6
8
9
10
Epilog
II. Iteration
Definition
I
II
III
IV
III. Time and Again
I
II
III
IV
V
VI
VII
IV. Der kleine Unterschied
1
2
3
V. Zeitreise unmöglich?
1
2
VI. Rachezeit
1
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5
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7
VII. Eine Schriftstellerin
Prolog
1
2
3
4
5
Epilog
Über den Autor
Vorwort
Warum ich im Zusammenhang mit einem Buch ausgerechnet an jenen Mann denke, der sich gern als „Pop-Titan“ brüstet und damit, wie viele Nr.-1-Hits er bereits landen konnte? Nun, das ist nicht wirklich ein Wunder, denn es geht ja auch bei einem Buch darum: „Treffe ich den sogenannten Massengeschmack – oder nicht?“ Und was den Geschmack der Masse betrifft, mit dem sich genannter „Pop-Titan“ gern brüstet, wissen wir nun alle, dass dies mit Qualität höchst selten etwas zu tun hat.
Ich vergleiche daher Literatur auch gern mit dem Essen in Restaurants: Niemand würde je auf die Idee kommen, Fast-Food als besonders schmackhaft zu bezeichnen, so lange seine Geschmacksnerven noch intakt sind. Dennoch rennt die Masse den Fast-Food-Tempeln die Bude ein – wesentlich mehr als solche, die das Essen als ein Fest der Sinne erleben möchten und sich daher lieber einem Sterne-Koch anvertrauen.
Und da haben wir es schon: Es gibt „Pop-Titanen“ und Sterneköche! Es gibt Würstchenbuden – und Sterneköche. Und es gibt Fast-Food-Autoren und eben… Sterne-Autoren!
Als ich zum ersten Mal Geschichten von Axel Kruse zu lesen bekam, wusste ich sofort: Da handelt es sich eindeutig um einen Sterne-Autor, nicht um einen Fast-Food-Schreiber. Dadurch wird er vielleicht nicht so reich wie ein „Pop-Titan“, aber wir danken es ihm, wenn er uns sein „Fest für die Sinne“ serviert, anstatt uns mit Einheitsbrei abzuspeisen.
Dass er dem über all die Jahre treu geblieben ist und auch weiterhin treu bleiben wird, bewies er zuletzt mit seinem Buch „Eine Sphäre – lichtjahreweit“, das bei HARY-PRODUCTION erschien und auch als eBook erhältlich ist: Mein Buch. Und das beweist er hier und heute mit dem Buch, das Sie in Händen halten: „Seitwärts in die Zeit“!
Falls Sie ihn sowieso schon kennen, wissen Sie schon, was alle anderen nun erfahren werden: Bei Axel Kruse sind nicht nur die Titel eine Klasse für sich!
Ach ja, und falls jemand sich beklagen sollte, weil es bis zum nächsten Buch von Axel Kruse noch eine ganze Weile dauern wird: Im Sternerestaurant ist es normal, wenn man länger warten muss als an der Würstchenbude um die Ecke!
In diesem Sinne: Guten Appetit!
Wilfried A. Hary
www.HARY-PRODUCTION.de
Prolog
Der Tag war stürmisch gewesen, Regenwolken zogen auf. Es würde sicherlich noch ein Gewitter geben. Die ungefähr sechzigjährige Frau wandte sich vom Fenster ihres Hauses ab. So ein Hundewetter hatte es schon lange nicht mehr gegeben, ja, um genau zu sein, war es das erste Mal, seitdem ihr Mann sich damals auf und davon gemacht und sie mit ihrer kaum drei Jahre alten Tochter allein gelassen hatte. Ja, genau so ein Unwetter braute sich heute wieder zusammen, wie in jener unseligen Nacht!
Sie blickte wieder zum Fenster. Wo sie nur blieb? Ihre Tochter hatte ihr vorhin noch versprochen vorbeizukommen, nachdem sie sanften Druck ausgeübt hatte. So ohne Weiteres wollte sie ihren Schwebewagen wohl doch nicht bei diesen Sturmböen aus der Garage holen – aber es musste sein.
Da, dort konnte man die Frontlichter eines Schwebewagens erkennen. Brav, wie sie nun einmal war, hielt ihre Tochter den Wagen exakt über dem als Verkehrsweg gekennzeichneten Grasstreifen. Als ob es hier etwas ausgemacht hätte, querfeldein zu fliegen. Aber nein, ihre Tochter war korrekt. Kurze Zeit später parkte sie den Wagen in der hauseigenen Garage. Auch so eine Marotte. Als ob es etwas ausmachen würde, wenn sie das Gefährt Wind und Wetter aussetzen würde.
Die Haustür öffnete sich und ihre Tochter trat ein. – Ja, so ähnlich hatte sie damals selbst ausgesehen. Lediglich die Haare waren der geltenden Mode entsprechend kurz geschnitten; sie selbst hatte sie damals lang getragen. Ansonsten das gleiche Blond, fast dieselbe Gestalt, in ihrem Äußeren hatte sie so gut wie nichts von ihrem Vater. Wohl einige Wesensarten, aber auch nicht so sehr, dass es ins Gewicht gefallen wäre.
„Was gibt es denn so Dringliches, dass du mich unbedingt heute hier sehen musst, Mutter?“, entfuhr es unbeherrscht dem Munde ihrer Tochter. „Willst du wieder über deinen neuen Roman diskutieren? – Ich habe dir dazu doch bereits meine Meinung gesagt.“ Mit einer theatralischen Geste zog sie ein Bündel Papier aus ihrer Jackentasche und knallte es auf den Tisch. „Es ist einfach nur peinlich. Du solltest im Mindesten die Namen der handelnden Hauptpersonen ändern – oder eine anständige Autobiografie schreiben, aber Fiktion und Realität derart miteinander zu verweben, das ist einfach nur peinlich zu nennen …“
„Warte, ich wollte nur in den Keller und …“
„Der Keller! Draußen zieht ein Gewitter herauf und Mutter wandert in den Keller! Am liebsten würdest du mich an die Hand nehmen und wie früher die ganze Nacht da unten mit mir hocken. – Weißt du eigentlich, wie viele Stunden beim Therapeuten mich diese Kindheitserlebnisse gekostet haben? Seit Vater verschwunden war, hast du damit angefangen. Und nun dies!
Versuchst du die Entscheidung, das Haus hier mitten im Park auf den Ruinen das alten Aussichtsturms zu errichten, jetzt literarisch zu rechtfertigen? – Mutter, ich bitte dich, du hast hervorragende Romane geschrieben. Aber diesen hier lass lieber in der Schublade!“
„Du bist ein Kind deiner Zeit und deiner Welt, du musst wahrscheinlich so reden“, entgegnete die Mutter seufzend. „Jetzt ist es wohl zu spät, dir die Augen zu öffnen. – Ich hole nur eine Flasche Wein aus dem Keller, ja?“
Die Tochter nickte, setzte sich an den Tisch und blätterte lustlos in dem Manuskript des jüngsten Romans ihrer Mutter herum.
1
Sie war die perfekte Frau, die Frau seiner Träume. Anfang dreißig, in seinem Alter, lange, blonde Haare, schlank, groß, aber nicht zu groß – und wohl noch ungebunden. Seine Beziehung zu ihr war recht unkompliziert, sofern man unter den gegebenen Umständen bereits von einer Beziehung sprechen konnte. Sie arbeitete im selben Konzern wie er, nur durch einige Tausend Kilometer Entfernung getrennt. Einmal jährlich, auf der Mitarbeiterschulung der Führungskräfte in Essen, war ihre gemeinsame Zeit gekommen. Eine zugegebenermaßen kurze, aber stürmische Zeit. Von neun bis siebzehn Uhr Schulung, fünf Tage lang. Der Abend und die Nacht gehörten ganz allein ihnen. Danach reiste er wieder ab, sie verblieb in der Konzernzentrale mitten im Ruhrgebiet.
In der Regel spazierten sie nach Abschluss des Seminars quer durch den Gruga-Park, der sich an das Kongresszentrum anschloss, um am anderen Ende eines der dortigen Restaurants aufzusuchen.
Das Wetter spielte jedoch an diesem Tag – es war früher April – nicht mit. Dicke Regenwolken waren den ganzen Tag über aufgezogen, dann begannen die ersten Tropfen, zu fallen. Schnell entwickelte sich der Regen zu einem regelrechten Unwetter. Blitze zuckten über den Himmel, Donner dröhnte. Die wenigen Spaziergänger im Park suchten irgendwo Unterschlupf oder versuchten die Grünanlage so schnell wie möglich zu verlassen.
Völlig durchnässt erreichten die zwei Lehrgangsteilnehmer den Eingang eines kleinen, wahrscheinlich baufälligen Aussichtsturmes, unter dessen Vordach sie Schutz vor den Unbilden des Wetters suchen konnten.
Aber auch dieses Refugium konnte nicht von Dauer sein, da der Schlagregen von der Seite her unter das Vordach drang und sie weiter durchnässte.
„Komm her, ich schirme dich vor dem Regen ab“, ließ sich die Stimme des Mannes vernehmen, während er die Frau eng an sich zog und mit seinen Händen langsam in ihren klammen Kleidern nach ihrem Körper tastete.
„Ralf, nicht hier“, entgegnete sie, hastig einen Blick über seine Schulter werfend.
„Warum nicht?“, erwiderte er und nestelte weiter an ihrer Bluse.
„Lass uns wenigstens da reingehen“, sagte sie, entwand sich seinem Griff und drückte die Türklinke der mehrfach gesprungenen Glastür herunter, die widerstrebend nachgab. Quietschend öffnete sich die Tür und ließ die zwei Menschen in das Innere des Turms. Aufsehenerregendes erwartete sie nicht. An einen kleinen Vorraum schloss sich ein heruntergekommenes Treppenhaus an, eine Treppe führte nach oben in den baufälligen Turm, eine weitere nach unten, wahrscheinlich in einen Kellerraum. Muffig und modrig riechende Luft schlug ihnen entgegen.
„Mir ist kalt, Ralf“, bemerkte die Frau beiläufig und schlang ihre Arme um ihren Körper. Draußen hatte ihr die Nässe nicht so viel ausgemacht, wie hier, wo das Unwetter plötzlich ausgesperrt war.
„Warte, ich schließe nur noch die Tür“, erwiderte er und machte sich daran, die sperrige Glastür wieder zu verschließen. Mehr schlecht als recht gelang es ihm auch. „So, das wäre erledigt“, murmelte er vor sich hin. „Wo waren wir eigentlich vorhin stehen geblieben?“
„Du bist unmöglich! Findest du die Umgebung hier tatsächlich geeignet für …“
„Ich brauche keine Umgebung. Wichtig ist, dass du da bist! Wir könnten uns auf die Treppe setzen“, schlug er vor.
„Unersättlich wie immer. Was machen wir, wenn hier jemand reinkommt?“
„Ich denke, das ist dann sein Problem. Komm schon, gib dir einen Ruck. – Es ist ganz gemütlich hier.“ Er hatte sich mittlerweile auf eine der nach oben führenden Treppenstufen niedergelassen. Langsam ging die Frau auf ihn zu, stockte dann jedoch plötzlich.
„Hast du das gehört? – Da war doch was!“ Verstört blickte sie sich um, konnte aber außer dem im Halbdunkel liegenden Treppenabsatz der nach unten führenden Treppe nichts erkennen.
„Da war nichts, du hast dich geirrt“, entgegnete er, wobei der Tonfall seiner Stimme verriet, dass er sich nicht ganz sicher war.
„Doch“, antwortete sie bestimmt. „Da war etwas!“ Jetzt konnte man es deutlicher hören. Schlurfende Geräusche kamen langsam die Kellertreppe herauf. „Ist da jemand?“, rief sie mit schriller Stimme.
„Keine Panik, Chris. Wahrscheinlich nur jemand, der sich auch vor dem Unwetter in Sicherheit bringen wollte.“ Er stand auf und ging in Richtung der nach unten führenden Treppe, sich durchaus der bohrenden Blicke bewusst, die die Frau ihm hinterher warf.
Tatsächlich stieg jemand langsam die Treppe herauf. Langsam, sehr langsam kam er aus der am Fuße der Treppe herrschenden Finsternis ins Dämmerlicht des Treppenabsatzes. Zuerst sah man nur einen grünen Filzhut, an dem hinten ein Fuchsschwanz oder etwas Ähnliches angebracht war. Wenige Stufen weiter konnte man einen ebenfalls grünen, allerdings sehr heruntergekommenen Lodenmantel ausmachen. – „Ein Penner“, schoss es Ralf durch den Kopf, als ein diffuser Lichtstrahl das eingefallene, wahrscheinlich zahnlose Gesicht des Mannes erhellte. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch die stark gebeugte Haltung des relativ kleinen, alten Mannes, der sichtlich mit seiner Kondition zu kämpfen hatte, während er die Treppe erklomm.
„Ah, neu“, ließ sich seine krächzende Stimme vernehmen. Mittlerweile hatte er die letzte Treppenstufe erklommen und stand nun nur ungefähr einen Meter entfernt vor den zwei Schutzsuchenden. Mit einer flinken Bewegung, die man ihm nicht zugetraut hätte, umrundete er die sprachlos Dastehenden und wandte sich der Eingangstür zu. Ein kurzer Blick nach draußen schien ihn nicht zu befriedigen. Er drehte sich wieder um und suchte den Blick der zwei anderen Anwesenden.
„Lang hier, was?“, krächzte er kaum verständlich.
„Vielleicht eine Viertelstunde“, kam die zurückhaltende Antwort. „Regnet es noch immer?“ Der Blick, den die Frau ihrem Liebhaber bei diesen Worten zuwarf, sprach Bände. Sie wollte diesen Ort und vor allem dieses Subjekt am liebsten so schnell wie möglich verlassen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte dieser Kerl noch ein wenig am Fuße der Treppe gewartet und wäre erst heraufgekommen, wenn sie beide …! – Nicht auszudenken!
„Regen? – Nein“, murmelte das Hutzelmännchen vor sich hin, während er aufmerksam die Kleidung seiner Gesprächspartner betrachtete. „Zu lang hier“, war seine einzige noch folgende Bemerkung, bevor er sich wieder der nach unten führenden Treppe zuwandte.
„Komm, lass uns verschwinden. Wir sollten machen, dass wir ins Hotel kommen.“ Mit einem Kopfnicken folgte ihr der Mann nach draußen.
Das Öffnen der Tür ging erstaunlich leicht. Hinter der Tür erwartete die beiden jedoch eine gewaltige Überraschung. Von Regen war tatsächlich nichts mehr zu sehen – strahlender Sonnenschein lachte vom Himmel herab. Vor der Turmtür erstreckte sich ein sanft gewelltes Hügelland, vollständig von Sand und Geröll bedeckt.
Fassungslos starrten sich die beiden Menschen an. Sie hatten erwartet, in einen von dem Regenguss halb überschwemmten Park zu treten – und nun dies.
„Ich träume. Sag mir, dass ich träume, Chris“, murmelte der Mann vor sich hin.
„Sieh dir den Turm an“, schrie die so Angesprochene los. Der Turm, vordem ein leicht baufälliges Gebäude, war so gut wie nicht mehr vorhanden. Die oberen Stockwerke waren eingestürzt und halb vom Sand bedeckt. Lediglich der Eingangsbereich war, wohl aufgrund der windgeschützten Lage, relativ sandfrei geblieben.
„Was ist hier passiert? – Das kann doch nicht innerhalb der paar Minuten geschehen sein, während derer wir da drinnen waren“, flüsterte der Mann.
„Eine Atombombe vielleicht?“, gab die Frau zurück.
Ratlos sahen sich die beiden an. „Der Penner, der Penner, Chris! Er war überhaupt nicht überrascht, als er aus der Tür gesehen hat. – Komm, wir müssen ihn fragen!“ Er riss ihr fast den Arm aus, als er sie zurück zur Tür zog. Die feuchte, muffig riechende Luft war wie eine Erlösung, ein ruhender Hafen des Wiedererkennens. Anders als der Schock, den sie draußen erlitten hatten.
„Hallo?“, brüllte der Mann bereits im Vorraum, wohl wissend, dass der Penner die Kellertreppe heruntergeschlurft war. „He, wo sind Sie?“ Ein leises Kichern schien ihnen vom Fuße der Kellertreppe aus zu antworten.
„Da runter?“ Die Dunkelheit des Kellers nahm sich nicht gerade einladend aus.
„Hast du eine bessere Idee?“ Achselzuckend folgte sie dem Mann, der die Stufen geradezu hinunter hastete. Unten erwartete sie ein langer Gang, an dessen Ende ein schwacher Lichtschein durch die Ritzen einer geschlossenen Tür drang.
Des Blickes, den sich die beiden Menschen zuwarfen, hätte es eigentlich gar nicht bedurft. Eiligen Schrittes wandten sie sich der Tür zu. Gut geölte Türangeln gaben keinen Laut von sich, als sie die Tür nach außen aufzogen. Das Licht, welches den Raum dahinter erleuchtete, stammte von großen Altarkerzen, die in regelmäßigen Abständen von etwa zwei Metern, entlang der Mittelachse des Raumes aufgestellt waren.
An die Wände gelehnt, teilweise in Schlafsäcken steckend, konnten sie ungefähr zwanzig Personen beiderlei Geschlechts und fast jeglichen Alters zwischen etwa Anfang zwanzig bis ins Greisenalter ausmachen.
Am anderen Ende des Raumes befand sich der Penner mit dem Lodenmantel, gerade in ein Gespräch mit einem der anderen Anwesenden vertieft.
Niemand schien besondere Notiz von den Neuankömmlingen zu nehmen. Einige der hier Hausenden sahen nicht einmal auf, als sich die Tür öffnete, um Chris und Ralf einzulassen. Der ganze Raum strahlte eine gewisse Lethargie aus, die direkt ansteckend wirkte.
„He, Sie“, donnerte Ralfs Stimme durch den Raum. „Was ist …?“ Weiter kam er nicht. Einer der bis eben noch fast bewegungslos dasitzenden Obdachlosen brach in schallendes Gelächter aus, dem sich Augenblicke später fast alle Anwesenden anschlossen.
Der alte Mann, den sie bereits oben getroffen hatten, schlurfte langsam auf die durch die Reaktion der Obdachlosen eingeschüchterten Menschen zu. „Keine Angst, die tun nix“, nuschelte das Individuum, während die Neuankömmlinge nahezu gleichzeitig die Nase rümpften. Im Eifer des Gefechts hatten sie bislang den scharfen Geruch nach Schweiß und Urin nicht bemerkt, der in dem Kellerraum hing. Jetzt, nach der spannungsentladenden Wirkung des Gelächters, nahmen sie die sie umgebenden Umwelteindrücke wieder auf.
„Hank, nennen mich Hank“, riss sie der Mann aus ihren Gedanken. „Das hier ist Wolf, unser Chef.“ Der andere Obdachlose, mit dem Hank zuvor in eine Unterhaltung vertieft war, verneigte sich kurz. Er war höchstens vierzig Jahre alt, wobei man dies ob der doch ziemlich heruntergekommenen Erscheinung nur schwer ausmachen konnte.
„Willkom, willkom“, radebrechte der Chef, sichtlich um eine möglichst saubere und langsame Aussprache bemüht. „Ihr neu werdet finden, hier alles – aber wenig Zeit, ihr eingewöhnt.“ Grinsend wandte er sich von den beiden ab, nicht ohne vorher noch Chris mit einem lüsternen Blick abzutasten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ließ er sich am anderen Ende des Raumes, anscheinend sein Stammplatz, zu einem Nickerchen nieder.
„Chef in Ordnung, ihr verstehen?“, fragte der alte Mann, während er forschend ihre Gesichtszüge studierte. „Ihr aus Milieu mit Park, ja? – Pech, so kurz vor Wechsel, aber vielleicht, mit Glück, Milieu kommen wieder. – Hunger, Durst?“ fragte er unvermittelt. „Abendmahl wird bald verteilt!“
„Glaubt ihm kein Wort, wir sind hier gefangen, für immer und ewig“, meldete sich eine junge Stimme hinter Hank zu Wort.
„Ah, Ben. Du hatten Chance – warum du wiederkommen?“, entgegnete der Alte schnell.
„Du weißt ganz genau, Hank, dass das nicht meine Welt war! – Sicherlich, sie war ihr nicht unähnlich. Westliche Zivilisation, Wohlstand, alles das passte. Aber es war nicht meine Welt.“ Schluchzend schlug der junge Mann seine Hände vors Gesicht.
„Ich verstehe nicht“, warf Chris ein, während sie versuchte, das Alter des jungen Mannes abzuschätzen. „Vielleicht fünfundzwanzig“, dachte sie, „aber wie alle Obdachlosen hier sehr mitgenommen.“
„Vielleicht besser reden mit Ben. Er beherrsch’ eure Slang besser. – Ben? Ben!“, schrie er plötzlich den jungen Mann an, der verstört zusammenzuckte und dann aufsprang. „Brav! – Du erklären, ja? Ich noch mal gehen und sehen, ob Phase stabil.“ Der Alte verschwand, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, im dunklen Kellergang.
„Kommt hier rüber, ich erkläre euch alles.“ Melancholischen Blickes wischte Ben sich eine seiner langen verfilzten schwarzen Locken aus dem Gesicht und deutete auf die wenig einladenden Sitzkissen, auf denen er bisher gelegen hatte. „Wolf ist der Chef und Hank ist sein Leutnant, das solltet ihr euch zu allererst gut einprägen. Was die zwei sagen, wird hier gemacht.“ Ängstlich glitt sein Blick zum anderen Ende des Raumes, von wo man mittlerweile die Schlafgeräusche des Chefs laut und deutlich vernehmen konnte.
„Was ist da draußen los?“ drängte Ralf, den die Querelen und Hierarchien unter den Obdachlosen nicht zu interessieren schienen.
„Ihr habt schon mal von Parallelwelten gehört?“, fragte Ben, und ohne auf eine Antwort zu warten fuhr er fort. „Es gibt da eine Theorie, nach der sich die Zeit wie ein Fluss verhält. Ein Fluss, der sich teilt und verästelt, ein Delta und immer mehr und kleinere, ja filigrane Verästelungen bildet. – Und jede dieser Verästelungen stellt einen neuen, alternativen Ablauf der Dinge, eine neue Wahrscheinlichkeit dar.“ Er holte tief Luft und gestikulierte mit den Armen. „Verstehen Sie? Jede auch nur denkbare Welt ist möglich! Jede auch nur denkbare Welt existiert, einfach nebeneinander. Eine Welt, in der das Römische Reich nicht einmal Cäsar überlebt hat, oder eine Welt, die nie eine Frau namens Radaf gesehen hat …“
„Radaf? – Was meinen Sie?“ warf Ralf ein.
„Sehen Sie, das meine ich ja! – Sie kommen nicht aus meiner Welt. Die Ihrige ist der meinigen zwar sehr ähnlich, aber es gibt doch Unterschiede. Hier waren sie sowohl im Globalen als auch im Kleinen zu finden. Nicht nur Radaf hat in Ihrer Welt nie existiert, nein, auch meine ganze Familie war nicht aufzufinden! – Und Hank meint, ich hätte meine Chance gehabt. – Können Sie sich vorstellen, in einer Welt zu leben, in der zwar Ihre Sprache gesprochen wird, ansonsten aber, mal abgesehen von einem gewissen übereinstimmenden Kontext, alles in Ihrem persönlichen Bereich anders ist?
Ihre Freundin ist weg, Eltern, Verwandte und Bekannte haben nie existiert. Und der einzige Mensch, den Sie aus Ihrer Welt her kannten, dort war er Zeitungsverkäufer an einem Kiosk, verkauft nun Blumen am Hauptbahnhof! Nicht, dass er Sie erkennt, beileibe nicht, er hält Sie für einen der Penner, die ständig am Hauptbahnhof herumlungern. – Kurz, es ist irgendwie alles anders, obwohl es eine große Übereinstimmung gibt. Der Seitenarm des Flusses hat sich wahrscheinlich nicht sehr weit stromaufwärts von dem Ihren getrennt, leider weit genug, um Sie verzweifeln zu lassen. Sie würden sich dort nie mehr zurechtfinden und so enden, wie die erbarmungswürdigen Obdachlosen am Hauptbahnhof.“ Ben brach abrupt seinen Redefluss ab und stierte gedankenverloren vor sich hin.
„Sie meinen, das ist uns geschehen? – Ehrlich gesagt verwirrt mich das Ganze doch mehr als es für eine Erklärung sorgt“, bemerkte Chris. „Wie kommen wir von unserer Welt in diese Wüste da oben – und was ist mit dem Turm, den scheint es dann ja in allen Welten zu geben?“
„Ich schätze, dass einzelne Flussverästelungen, um bei meinem zweidimensionalen Bild zu bleiben, sich irgendwie anderen annähern, für eine kurze Zeit sogar ineinanderfließen und so den Übergang in eine andere Wahrscheinlichkeit ermöglichen. Vielleicht sind bereits so viele Wahrscheinlichkeiten entstanden, dass einfach nicht mehr genug Platz vorhanden ist, und es nun, so dicht gepackt, zwangsläufig zu Überlappungen kommen muss.
Was den Turm hier angeht, er existiert nicht in allen Welten, wohl aber der Keller hier. Oft können wir tage-, ja wochenlang nicht aus diesem Raum heraus, weil sich dann hinter der Tür Erdreich oder Gestein befindet.“ Er deutete auf die nun geschlossene Tür, hinter der sich der lange Kellergang erstreckte. „Allerdings existiert der Turm in vielen Welten, wenn auch in den unterschiedlichsten Zuständen. Die weitaus meisten Welten, in die wir unsere Füße setzen, sind öde Wüstenlandschaften oder von Menschen unberührte Dschungel. Der Turm ist fast immer eingestürzt und oft von Pflanzen überwuchert oder durch Sand und Geröllmassen fast verschüttet.
Aber in diesen Welten ist er da, und das bedeutet, dass es Menschen gegeben haben muss, die ihn erbaut haben! – Ich habe mir schon oft Gedanken darübergemacht, was wohl in diesen Welten passiert sein mag. Welche Katastrophe mag dazu geführt haben, dass diese Welten so leer sind? Und warum überwiegen diese Welten gegenüber denen, auf denen menschliche Zivilisationen anzutreffen sind? Nimmt man noch die Welten dazu, die wir überhaupt nicht betreten können, weil weder Turm noch Kellergang existieren, so machen die von Menschen bewohnten maximal zehn Prozent aus!“
„Ich bin im falschen Film“, warf Chris ein. „Das sind doch alles Schauermärchen, oder?“ Sie blickte ihren Partner durchdringend an, und als dieser keine Antwort gab, wandte sie sich wieder Ben zu.
„Ihr Park und damit Ihre Welt ist weg, oder?“, entgegnete dieser. „Ist das nicht Beweis genug für meine Geschichte? – Aber keine Sorge, Sie brauchen mir jetzt nicht zu glauben, keiner tut das sofort. Alle hier mussten erst mal ihre Erfahrungen machen. Warten Sie ab, bis Sie die ersten Welten sehen. Im Moment sind wir ja wohl wieder einmal in einer Phase mit einer dieser Sandwüsten. Wenn Hank so lange oben bleibt, wird sie wohl stabil sein. – Ist schon ein komischer Kauz, dieser Hank. Er genießt es richtig, aus dem Turm hinauszutreten. Für mich bedeutet das immer wieder eine aufs Bitterste enttäuschte Hoffnung. Manchmal glaube ich, es wäre am besten, für immer hier unten zu bleiben!“
„Was meinen Sie mit Phase?“, fragte Chris nach, selbst erstaunt über ihre ruhige und gefasste Stimme. Innerlich hatte sie das Gefühl, laut aufschreien zu müssen, äußerlich blieb sie ruhig.
„Die Überlappungen zwischen den Wahrscheinlichkeiten bezeichnen wir als Phasen. Manche dauern nur wenige Sekunden oder Minuten an. Hat sich eine Phase aber über eine gewisse Zeit als stabil erwiesen, so kann man davon ausgehen, dass sie mehrere Tage andauern wird. – Was ich bei dieser hier nicht hoffe. Wir brauchen dringend Nahrungsmittel, und die aktuelle Phase ist, wie auch die vorherige, nicht dazu geeignet, uns mit Nahrungsmitteln zu versorgen. – Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.“
„Laber nicht so viel Scheiße, Ben. Es ist viel schlimmer, wenn du auf die Leute triffst, die du liebst“, warf ein Mann ein, der bislang teilnahmslos neben Ben auf dem Boden gehockt hatte. Chris sah ihn irritiert an, er empfand diesen Blick wohl als Aufforderung seine Geschichte zu erzählen:
2
Es ist einige Phasen her, als ich eines Tages, es war um die Mittagszeit, als das Gewitter einem strahlenden Sonnenschein wich, aus dem Turm trat und einen Park vor mir fand, der demjenigen, durch den ich hierher gelangt war, wie ein Ei dem anderen glich. Ohne zu überlegen, bin ich davon gestürmt, zum Ausgang des Parks. Die Kassen waren noch nicht geöffnet, vermutlich wegen der Mittagspause, also musste ich über den Zaun klettern. Der Parkplatz für die Autos war nicht weit, dort angelangt machte sich allerdings Verzweiflung in meinem Gemüt breit, keines der Automodelle, die hier geparkt waren, kam mir bekannt vor. Sicherlich, die Grundstruktur war denen meiner Herkunftswelt identisch, vier Räder, eine Passagierkabine und so weiter, aber die Modellausführungen waren absolut anders als die in meiner Herkunftswelt. Ich blickte zurück zum Parkeingang, dort war alles so, wie das, woran ich mich erinnerte. Jetzt entdeckte ich einen Angestellten der Parkverwaltung, der zielstrebig auf das Kassenhäuschen zustrebte. Es war ganz sicher derselbe Mensch, der mich vor nicht allzu langer Zeit in den Park eingelassen hatte. Was machten da schon ein paar andere Wagentypen aus, sagte ich mir. Die Menschen, auf die kam es doch an. Ich suchte nach meinem Wagen.
Aber welcher Wagen war denn der meinige? Wie sollte ich das herausfinden? Auf dem Parkplatz standen endlose Reihen von Autos. Krampfhaft überlegte ich, wo ich denn geparkt hatte. Zielstrebig wandte ich meine Schritte nach rechts. Ich war schließlich von dort gekommen.
Verstohlen griff ich in meine Jackentasche und holte die Chipkarte hervor. Meine Finger fanden automatisch den Kontaktpunkt. Immer wieder drückte ich darauf, die Reihen der parkenden Autos abschreitend. Verzweifelt wartete ich auf eine automatische Reaktion, in meiner Welt hätten jetzt die Blinker meines Wagens mehrmals kurz aufgeleuchtet. Vielleicht war der Wagen dieser Welt doch nicht mit demselben Code versehen? Oder war die Reichweite eingeschränkt, befand ich mich zu weit von meinem Fahrzeug entfernt?
Missmutig schritt ich die Reihen ab, immer wieder die Kontakte drückend. Wenn mich jetzt jemand beobachtete, würde er sicherlich den Schluss ziehen, dass ich eine Chipkarte gestohlen und nun ein fremdes Auto ausräumen wollte. Da, da hinten, drei Reihen von meinem derzeitigen Standort entfernt, leuchteten Blinker an einem Fahrzeug auf. Hastig blickte ich mich um, ich war der einzige Mensch, der sich derzeit auf dem Parkplatz befand, dies musste mein Auto sein!
Schnellen Schrittes begab ich mich dorthin. Ein kurzer Blick in den Innenraum des Vans, ich hatte mich zu dieser Bezeichnung durchgerungen, denn der Wagen hatte eine einem Van ähnliche Form, überzeugte mich davon, dass dies tatsächlich mein Wagen sein musste. Sechs Sitze, auf einem war ein Kindersitz festgeschnallt. Das passte alles so gut zusammen, dass ich innerlich frohlockte. Trotz aller Unterschiede, das Wesentliche schien in dieser Welt doch in Ordnung zu sein. In meinen Gedanken tauchten die Bilder meiner Frau und meiner Kinder auf. Sehnsucht trieb mich, die Vernunft gebot mir dennoch Einhalt. Ich stank regelrecht! Zuerst die Reisetasche, da war sie. Ein kurzer Blick in ihr Inneres eröffnete mir zwar erneut ein paar Unterschiede zu dieser Welt, aber, ja, das mussten meine Sachen sein. Der Geschmack, die Auswahl, die sich darin befand, das waren meine Sachen.
Schnell ergriff ich eine Garnitur Unterwäsche, eine Hose, ein Hemd, das merkwürdigerweise an der Seite geknöpft wurde und Socken. Diese Sachen unter den Arm geklemmt begab ich mich zurück in den Park, dort gab es ein Restaurant mit angeschlossenem Schwimmbad. Es mutete mir an, wie ein Gang nach Canossa, aber was blieb mir übrig, ich benötigte Kleingeld für die Dusche. Das bekam ich nur von dem Kassierer.
Zwei bezahlte Schokoriegel später, die Dinger waren hier richtig teuer, zumindest, wenn die Kaufkraft des Geldes hier identisch mit derjenigen meiner Herkunftswelt war, konnte ich endlich die Sanitärräume betreten. Die Dusche war herrlich, auch wenn es nur eine Gemeinschaftsdusche in einem kleinen Parkschwimmbad war. Es kam mir so vor, als ob ich noch niemals zuvor unter einer so fantastischen Dusche gestanden hätte.
Gut eine halbe Stunde später saß ich in meinem Auto. Die Bedienung war identisch wie in meiner Herkunftswelt. Die Chipkarte passte zwar nicht in den Kartenhalter, die Wegfahrsperre wurde aber bereits dadurch entsperrt, dass sich die Chipkarte an Bord befand. Das Navigationsgerät zu bedienen erwies sich als Kleinigkeit, die Sprache war identisch, sah man von geringen Varianten in der Buchstabengestaltung ab, was aber auch daran liegen konnte, dass mal wieder irgendjemand neue Schrifttypen für Computer ersonnen hatte.
Geistesgegenwärtig speicherte ich zuerst meinen jetzigen Standort in den Computer ein. Bei einem Misserfolg wollte ich wenigstens problemlos wieder hierher zurückfinden. Dann gab ich meine Heimatadresse als Zielort ein. Innerlich hatte ich mich auf einen Schock vorbereitet, was wäre gewesen, wenn ich mein Zuhause nicht finden würde? Das Navigationssystem sagte mir, dass ich ungefähr zweieinhalb Stunden bis nach Hause ins Ruhrgebiet brauchen würde. Es beruhigte mich kolossal, dass der Computer die Adresse finden konnte.
Ich startete den Wagen und lenkte ihn vom Parkplatz auf die Fahrbahn. Rechtsverkehr, alles so wie gewohnt. Entspannt fuhr ich, das Navigationssystem lenkte mich bereitwillig. Keine Staus zu erwarten, bei dem Wetter schien es eine schöne Fahrt zu werden.
Zwei Stunden später war ich fast angelangt. Essen, das Hinweisschild war unübersehbar. Verwundert folgte ich dem Hinweis. In meiner Welt wurde diese bedeutende, immerhin achtgrößte Stadt Deutschlands, auf den Schildern an den Autobahnen totgeschwiegen. Fuhr man aus südlicher Richtung auf das Ruhrgebiet zu, musste man sich nach Oberhausen orientieren, unverständlich und dem Lokalpatriotismus zuwider, aber hier war es anders, ein Detail, das mir gefiel.
Je näher ich meinem Zielort kam, umso größer wurde meine Angst. Ich entschied mich, nicht direkt nach Hause zu fahren. Zuerst wollte ich einen Schlenker machen. Orte aufsuchen, die weniger verfänglich waren. Meine alte Schule zum Beispiel, sie war nicht weit entfernt von meinem jetzigen Zuhause in Essen-Kettwig, gerade mal einen Stadtteil weiter. Die Straßen muteten mir bekannt an, das eine oder andere Haus gab es schon, an das ich mich nicht erinnerte, aber im Großen und Ganzen war dies der Stadtteil meiner Heimat. Auch das Schulgebäude war nahezu identisch. Blaue Außenfassade, hässliches Design, ja, das war meine alte Schule.
Ich nahm die Straße an der Ruhr entlang. Ein schöner Weg, nur Grün um mich herum, ich fühlte mich daheim. Langsam bog ich nach rechts ab, die Ruhrhöhen hinauf, ich war nicht mehr weit entfernt von meinem Heim. Der Fahrer des Wagens hinter mir betätigte die Lichthupe, ich fuhr ihm zu langsam. Egal, noch hundert Meter, dann bog ich erneut ab. Meine Straße, mein Haus, das dritte auf der rechten Seite, es war weiß gestrichen. Ein Impuls verlangte von mir, Gas zu geben und weiter zu fahren, ich gab ihm nicht nach. Gut, die Farbe war falsch, aber ansonsten stimmte alles. Die Form, der Carport, das Fahrrad meines ältesten Sohnes, der es wieder einmal nicht weggestellt, sondern einfach vor der Tür hatte stehen lassen. – Normalität, das vermittelte mir das Haus. Ich bog in die Einfahrt zum Carport ein.
Der Haustürschlüssel passte nicht, schockiert versuchte ich es noch einmal, dann entschied ich mich dazu, die Türklingel zu bedienen. Kurze Zeit später öffnete meine Frau mir die Tür. „Du?“, entfuhr es ihr. „Was willst du denn hier?“
„Ich“, stammelte ich, kam aber nicht weiter.
„Es ist vorbei, bereits seit vielen Jahren, ist dir das immer noch nicht klar? – Mein Gott, ich hätte wegziehen sollen, du gibst wohl nie auf? Du bist doch verheiratet, geh nach Hause zu deiner Frau und deinen Kindern!“ Ihr Gesichtsausdruck war richtig wütend geworden.
„Wer ist denn da?“, ließ sich eine Männerstimme aus dem Haus heraus vernehmen.
„Jemand, der nach dem Weg fragt“, entgegnete sie schnell. Ich merkte, dass sie nicht wollte, dass ich Kontakt zu ihrem Mann bekam. „Verschwinde jetzt“, fauchte sie mich an.
„Aber wohin?“, entfuhr es mir. Ich sah mich völlig orientierungslos um.
„Wieso, hat Marja dich rausgeworfen?“, fragte sie?
„Marja“, schoss es mir durch den Kopf. „Wir waren zusammen zur Schule gegangen, mehr aber auch nicht! Sicher, ich hatte sie bewundert, aus der Ferne, versteht sich. Damals war ich einfach zu schüchtern gewesen und sie schien nicht an mir interessiert. – Was war hier geschehen?“
„Hast du getrunken? Geht es dir nicht gut?“ Der Unterton in der Stimme meiner Frau wechselte von Wut in Besorgnis.
Ich schüttelte den Kopf. „Wohin …?“, fragte ich erschöpft.
„Zwei Straßen weiter rechts abbiegen, Hausnummer 17“, entgegnete sie fast sanft, während ich langsam zu meinem Wagen trottete.
Langsam fuhr ich aus der Einfahrt heraus auf die Straße. Es war nicht weit, ich entschied mich hinzufahren, ich würde mir ansonsten mein Leben lang Vorwürfe machen, nicht nachgesehen zu haben. Kurze Zeit später stand ich vor dem Haus.
Hektisch ergriff ich den Haustürschlüssel, er passte! Die Tür öffnete sich und ich stand im Inneren des Hauses. Die Raumaufteilung war identisch, wie in meiner Welt in meinem Haus, stellte ich irritiert fest. Die Inneneinrichtung nicht. Die Abweichungen waren auffällig, aber nicht wirklich gravierend, hier konnte ich mich durchaus wohlfühlen.
Erschöpft warf ich mich auf die Couch im Wohnzimmer und blickte mich um. Siebzehn Uhr zwanzig und kein Mensch Zuhause. Meine Frau war sicher einkaufen, die Kinder bei Freunden. – Was war das? Mein Blick war an einem großen Holzkreuz an der Wand neben dem Fernseher hängen geblieben. Ein Kreuz? Wir waren Atheisten, meine Frau und ich. Nicht, dass wir etwas gegen Menschen hätten, die ihrem Glauben nachgingen, nein, solange sie uns damit in Ruhe ließen und nicht zu missionieren versuchten, war uns das egal, aber dieses Kreuz deutete auf eine gravierende Veränderung hin.
Ich stand auf, um mir das Haus anzusehen, gab es andere, wesentliche Veränderungen? „Die Fotos der Kinder“, schoss es mir durch den Kopf. Wir hatten diverse Bilder unserer Kinder aufgehängt. Konsterniert stand ich vor dem Bilderrahmen. Das waren nicht meine Kinder. Eine Welt brach in mir zusammen. Ich wollte fliehen, nur raus hier.
„Bist du schon wieder zurück?“ Die Stimme kam aus Richtung der Eingangstür. Es war definitiv nicht die Stimme meiner Frau, wenn sie mir auch bekannt vorkam. „Du wolltest doch eine Woche bleiben.“
„Ich …, es ging schneller als erwartet“, antwortete ich. Ich hörte an den Schritten, dass die Frau sich in die Küche bewegte.
„Hilfst du mir dabei, die Einkäufe wegzuräumen?“ Erschreckend normal dieser Wortwechsel.
Auch ich begab mich in die Küche. Die Frau, die dort Lebensmittel in die Vorratsschränke einsortierte, war zwar nicht meine Frau, sie erinnerte mich jedoch an früher. „Marja!“, entfuhr es mir.
Die Frau drehte sich um. Ja, das war Marja.
„He, was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als wäre etwas Grausames geschehen.“
„Nichts“, stammelte ich. „Es ist nichts, ich …, die Kinder, wo sind denn die Kinder?“
„Bei Freunden“, nach einem kurzen Blick zur Uhr ergänzte sie: „Sie müssten gleich kommen.“ Sie sah mich forschend an. „War irgendetwas Berufliches? Ich sehe dir doch an, dass dich etwas belastet.“
Ich winkte ab, wie hätte ich ihr auch erklären sollen, was mir widerfahren war? Das Läuten der Türglocke, es war tatsächlich ein Glockenton, rettete mich. Marja schritt zur Tür, ich hörte, wie sie ein Kind begrüßte. Was brachte es, die Begegnung aufzuschieben? Ich begab mich ebenfalls in den Flur. Dort stand ein etwa zwölfjähriges Mädchen, angezogen mit einem rosafarbenen Kleid und ebensolchen Schleifen im Haar. Meine Gesichtszüge mussten mir entglitten sein, denn das Kind sah mich verstört an.
„Was hat Dad denn? Warum schaut er so seltsam, Mum?“ Nicht nur, dass wir keine Mädchen hatten, in meiner Welt, meine ich, auch die Wortwahl war für mich so neu, dass ich mir nicht zu helfen wusste, ich stand da wie erstarrt, ich muss ein merkwürdiges Bild abgegeben haben.
„Dad ist überarbeitet, Honey. Er hat zudem eine lange Autofahrt hinter sich. Lass ihm ein wenig Zeit, das gibt sich wieder. – Wie war es denn in der Schule? Hast du bei Sally auch alle Hausaufgaben gemacht?“
„Klar, Sallys Mum hat uns geholfen. War aber alles ganz einfach. In Erdkunde und Bio hatten wir so ziemlich dasselbe auf, als ob die Lehrer sich nicht was Besseres einfallen lassen könnten, ich meine, es ist ja ganz nett, fächerübergreifenden Unterricht zu machen, aber die Hausaufgaben hätten wir jetzt fast Wort für Wort zweimal schreiben können, zum Glück hat Sallys Mum uns in der Bibel ein paar Stellen gezeigt, die wir einfach abschreiben konnten, sodass …“
„In der Bibel?“, entfuhr es mir.
„Ja, das finde ich auch nicht gerade gut“, fiel mir Marja ins Wort, während sie mich warnend ansah. „Ihr solltet eure eigenen Worte benutzen und nicht einfach einen Text abschreiben!“
„Aber, Mum, das merkt die doch gar nicht! – Was gibt es denn eigentlich zum Abendessen?“
„Dauert noch ein wenig, Honey. Wir essen erst, wenn deine Geschwister alle da sind. Geh noch was nach oben, ja?“