Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Daria – jahrhundertelang war der Kontakt zu der menschlichen Kolonie abgebrochen. Nach der Wiederentdeckung geschehen rätselhafte Morde unter der menschlichen Bevölkerung: Sind die Schuldigen unter der eingeborenen Alienrasse zu suchen? Terra – der Mord an einer menschlichen Familie ist brutal, die Spur führt nach Daria. Welche Hinweise verbergen sich in der uralten Ballade über die Hauke Haien: »… wo noch niemand zuvor gewesen ist«. Der 2014 für seine Novelle »Seitwärts in die Zeit« mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnete Autor nimmt den Leser mit auf eine rasante Space-Odyssee vor dem Hintergrund einer faschistischen irdischen Gesellschaft im All. Der vorliegende Roman wurde 2016 mit dem vierten Platz für den besten deutschsprachigen SF-Roman beim Kurd-Lasswitz-Literaturpreis ausgezeichnet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
In dieser Reihe bisher erschienen
3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal
3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt
3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls
3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet
3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum
3306 Walter Ernsting Tempel der Götter
3307 Axel Kruse Tsinahpah
3308 Axel Kruse Mutter
3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß
3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit
3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau
3312 Axel Kruse Knochen
3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant
3314 Axel Kruse HBAB
3315 Axel Kruse Seitwärts in die Zeit
3316 Axel Kruse ASTRONOMIC
3317 Axel Kruse Glühsterne
TERRA - SCIENCE FICTION
BUCH 17
Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen
und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.
In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.
Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.
Copyright © 2025 Blitz-Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney
Vignette: Ralph Kretschmann
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten.
3317 vom 09.03.2025
ISBN: 978-3-68984-358-8
Vorwort
1. Ein Job in Sreser
2. Glühsterne
3. … wo noch niemand zuvor gewesen ist
Nachwort
Über den Autor
Vorwort
Science oder Science-Fiction – wer gewinnt, wenn es darum geht, zutreffende Aussagen über die Zukunft zu machen? Glaubt man verschiedenen Publikationen der (oftmals selbst ernannten) Zukunftsforscher der letzten Jahre, dann sind die Autoren der Science-Fiction auf jeden Fall im Vorteil. Sie sind, anders als die Damen und Herren der Wissenschaft, nicht so sehr in Detailfragen und deren Lösbarkeit verhaftet, sondern beflügeln die Wissenschaftler vielmehr mit ihrer Fantasie zu Ideen für weitere Forschung. Und auch ich bin geneigt, dem zuzustimmen und den Science-Fiction-Autoren den Vorzug vor den Vertretern meiner Zunft zu geben. Unbestreitbar sind die Produkte der technischen Fantasie eines Jules Verne oder eines Gene Roddenberry nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Willkürlich ausgewählt: Von den U-Booten der heutigen Zeit bis hin zu den Errungenschaften der modernen Telekommunikation, die uns alle so beglücken und überrollen – was ist nicht alles den wirren Köpfen des Science-Fiction entsprungen, lange, bevor es technische Realität wurde. Und welcher Eingeweihte denkt beim Anblick der gerade entstehenden 3-D-Scanner-Technologie nicht unwillkürlich an die Replikatoren der Enterprise.
Doch in dieses Feld steckt Axel Kruse seine beachtlichen kreativen Energien nicht. Technologisch sind seine Geschichten nahtlos z. B. mit der großartigen Star-Trek-Saga Roddenberrys kompatibel. So wie bei diesem wird in Axel Kruses Welt selbstverständlich vorausgesetzt, dass in einer nicht mehr ganz so fernen Zukunft aufgrund der Realisierung von Überlicht-geschwindigkeitsantrieben der Kontakt mit fremden Spezies zum Alltag gehören wird.
In einem wesentlichen Aspekt unterscheidet sich Axel Kruse jedoch von Roddenberrys Welt. Während im Star-Trek-Universum im Bezug auf die die Menschheit gleichsam ein utopischer Kommunismus Realität geworden ist, der mit der Abschaffung des Geldes einhergeht und der es den Menschen ermöglicht, sich ganz auf die Vervollkommnung der eigenen Person und der menschlichen Zivilisation zu konzentrieren, ähnelt die Welt Kruses in einer geradezu beängstigenden Weise der unseren. Nach wie vor müssen sich die Menschen der Kruse-Gesellschaft mit Großkonzernen und totalitären Tendenzen herumschlagen, nach wie vor setzen Politiker dieser Gesellschaft auch einmal gerne auf die Trumpfkarte der Fremdenfeindlichkeit. Und auf subtile Weise verknüpft er die Schicksale seiner Protagonisten mit diesen großen Läufen der gesellschaftlichen Entwicklung.
So sympathisch mir der Utopismus Roddenberrys ist, so muss man doch festhalten, dass die Prognosen Axel Kruses realistischer erscheinen – leider. Die Rückschau auf die neuere Geschichte seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, lässt keine optimistischeren Schlüsse zu. Trotz Völkerbund und Vereinten Nationen sind so wenige Tendenzen hin zu einer vereinigten Menschheit zu erkennen. Stattdessen ziehen Ströme von Blut durch das Bild, wenn man den Zeitstrahl der letzen hundert Jahre betrachtet. Und der Raubbau an diesem Planeten geht erst recht munter weiter, weil man ihn immer noch mit Begriffen wie „Fortschritt“ und „Alternativlosigkeit“ verbrämen kann, ohne dass sich Menschen in großer Zahl über diese Propagandalügen empören.
So ist es also wahrscheinlich, dass sich in den Geschichten dieses Autors nicht nur unsere heutige Gesellschaft spiegelt, sondern dass auch in den technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften der Zukunft, vielleicht der Natur des Menschen folgend, eine permanente Auseinandersetzung zwischen den destruktiven und den solidarischen Kräften herrschen wird. Ich denke allerdings Axel Kruse wäre der Letzte, der etwas dagegen hätte, wenn sich diese Vorausschau als falsch erweisen würde.
Dr. Michael Arnold
Essen, 15. Januar 2015
Ein Job in Sreser
Wir waren lange unterwegs gewesen, aber schlussendlich hatten wir es geschafft. Die lange, gerade Straße von Janjina in den Bergen herunter hatten wir hinter uns gebracht, jetzt trennten uns lediglich noch gut zwanzig Höhenmeter von unserem Ziel. Wir würden es sicherlich noch vor der Abenddämmerung erreichen. Ich schob meinen breitkrempigen Hut in den Nacken und wischte mir mit einem Tuch über mein Gesicht. Champ hatte sich zu meinen Füßen niedergelassen und hechelte mit seiner Zunge. Der Schlauch, den ich mir über Schulter und Rucksack gehängt hatte, enthielt noch Wasser, das fühlte ich genau. Den Hut mit der Unterseite zuoberst auf den Boden legend, öffnete ich den Wasserschlauch und ließ das kühle Nass hineinfließen. Champ sah dankbar zu mir auf und begann aus dem improvisierten Napf zu schlürfen. Ich genoss derweil das Panorama, das sich mir von unserer Position auf dem Weg erstmalig bot.
Bislang hatten mir schroffe Berghänge immer den Ausblick versperrt. Nunmehr erblickte ich die Bucht von Sreser in ihrer fast schon betäubenden Schönheit. Die Leute in Janjina hatten mir nicht zu viel versprochen, die Küstenlinie zog sich nahezu halbmondförmig bis zum Kap auf der linken Seite hin. Nach rechts wurde meine Sicht durch einen bis ins Meer reichenden Bergvorsprung unterbrochen, was dem Panorama jedoch keinen Abbruch tat. Fast genau in der Mitte hatte ich die Aussicht auf eine der drei kleinen Inseln, die, wie ich wusste, in der Bucht von Sreser lagen. Zwischen meiner erhöhten Position und dem Meer zog sich ein Grüngürtel hin, Pflan-zenbewuchs, der, wie ich wusste, maximal zwei Meter hoch war und hauptsächlich aus einer Art verkrüppelter Kiefer bestand. Allerdings so dicht, dass ein Mensch schwerlich durch ihn hindurch hätte gehen können. Untersuchungen hatten ergeben, dass es sich bei diesen Pflanzen um tatsächlich den auf Terra oder auch New Adria vorhandenen Bäumen verwandten handelte. Die ersten Siedler mussten versucht haben sie hier heimisch zu machen, was ihnen nur bedingt geglückt war. Immerhin hatten sie überlebt, wie auch die ganze Kolonie überlebt hatte, was man längst nicht von jeder Kolonie behaupten konnte, zu der der Kontakt über Jahrhunderte hinweg abgebrochen war.
Nun war ich hier, gut zehn Jahre, nachdem der Planet wiederentdeckt und erneut in den Fokus zur Besiedelung gerückt worden war. Während der letzten Dekade waren gut eine Million Menschen hier auf Daria eingewandert. Dies ging recht problemlos, da sich die Darianer trotz der gut fünf Jahrhunderte andauernden Isolation ihre Kultur und vor allem auch ihren technischen Stand einigermaßen bewahrt hatten.
Sicherlich fehlte die Schwerindustrie, ja, man war technisch gewissermaßen zurückgefallen, aber nicht auf Steinzeitniveau. Es gab Manufakturen, dampfgetriebene Vehikel fuhren durch die Zivilisationszentren und man hatte vor allem nicht vergessen, dass die Vorfahren, die Daria besiedelt hatten, ursprünglich von einem anderen Planeten, nämlich Terra, stammten. Dies alles hatte dazu beigetragen, dass die erneute Kontaktaufnahme niemanden vor allzu große Probleme gestellt hatte.
Champ strich mit seinem Kopf an meinem Hosenbein und sah mich auffordernd an. Er hatte mir einen Rest an Wasser in meinem Hut gelassen. Grinsend nahm ich ihn auf, setzte die Krempe an meine Lippen und nahm einen tiefen Schluck, dann stülpte ich mir den Hut wieder auf den Kopf und genoss den kurzen Wasserschwall, der mich erfrischte. Bei den derzeit vorherrschenden Temperaturen von über vierzig Grad Celsius hielt das jedoch nicht lange vor.
Ungefähr zwanzig Minuten später hatten wir den Gebirgsweg hinter uns gelassen und standen vor dem Ortseingangsschild des Dorfes, über das mir die Leute in Janjina so viel erzählt hatten. Sreser, ein Fischerdorf mit rund zweitausend Einwohnern, eintausendneunhunderteinundsiebzig, um genau zu sein. Diese Zahl hatte ich soeben dem Ortseingangsschild entnommen, wobei unschwer zu erkennen war, dass sich die Einwohnerzahl vor nicht allzu langer Zeit um zwei Personen reduziert haben musste, da die an letzter Stelle stehende Ziffer eins etwas ungelenk über eine sich dort vorher befundene drei gemalt worden war.
„Sollen wir aus der Eins eine Zwei machen, Champ?“, fragte ich meinen treuen Begleiter, der mich allerdings nur müde anblickte. „Vielleicht sollten wir das lieber anderen überlassen“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart und machte mich auf den Weg in das Dorf hinein. Die Dorfstraße war staubig und irgendwie war es hier heißer als auf dem Pfad, dem ich bislang gefolgt war. Die gelb getünchten Häuser hatten die Hitze des Tages gespeichert und gaben die Wärme jetzt in den frühen Abendstunden wieder ab.
Ich war noch keine einhundert Meter die Hauptstraße heruntergegangen, als ich auf der rechten Seite die Dorfkneipe entdeckte. Ein schmales, lang gezogenes Gebäude, mit einer überdachten Terrasse davor. Unschwer konnte ich erkennen, dass sie geöffnet hatte. An den etwa zehn Tischen unter der Überdachung saßen einheimische Fischer und spielten mit irgendwelchen Spielsteinen, während sie sich von ihrer anstrengenden Arbeit erholten. Da draußen nichts frei war, ging ich in den Schankraum hinein, Champ folgte mir auf dem Fuße.
„Guten Tag.“ Ich nickte dem hinter der Theke stehenden Wirt kurz zu, während ich mir einen Tisch in einer Ecke aussuchte, von dem aus ich den Gastraum gut überblicken konnte. „Haben Sie ein kleines Essen für mich und ein Stück Fleisch für meinen Hund? Er könnte auch etwas Wasser vertragen, für mich haben Sie doch sicherlich etwas Härteres, oder?“ Die Sprache kam mir recht flüssig über die Lippen, auch wenn sie sich in meinen eigenen Ohren noch immer fremd anhörte. Ich hatte sie während meines Fluges hier nach Daria via Hypnoschulung gelernt.
Es dauerte nicht lange und der Wirt brachte mir das bestellte Essen. Für Champ hatte er zwei Schüsseln, eine mit Wasser und eine mit dem gewünschten Stück Fleisch auf dem Boden abgestellt. Champ sah mich auffordernd an, ich nickte kurz und er begann, sein Abendmahl zu genießen.
„Was ist das für ein Tier, Fremder?“ Der Wirt beobachtete respektvoll staunend, wie Champ mit seinen großen Zähnen das Fleisch zerriss und verschlang.
„Ein Hund, ein Pudel, um genau zu sein. Ein wundervolles Tier. Ein Jagdhund, seine Vorfahren wurden auf Terra über Jahrhunderte hinweg zur Jagd auf Wasservögel eingesetzt. „He, Champ …“ Ich klopfte kurz mit meiner Handinnenfläche auf meine Schenkel. Der Hund richtete sich auf seine Hinterbeine auf, legte mir seine Vorderpfoten auf meine Schultern und begann damit, mein Gesicht mit seiner Zunge abzulecken. Ich streichelte kurz sein apricotfarbenes, stark verfilztes Fell und verwies ihn wieder auf seinen Platz.
„Ist er, ich meine, ist er nicht …“ Der Wirt traute sich nicht recht, das zu sagen, was er sagen wollte.
„Ob er gefährlich ist, meinen Sie? – Für mich nicht, anderen würde ich nicht unbedingt raten, unaufgefordert in seine Nähe zu kommen. Seine Beißkraft ist schon enorm. Hier auf Daria gibt es keine Hunde mehr, nicht wahr?“ Ich hatte darüber auf meinem Flug gelesen, ursprünglich hatte man versucht eine fast komplette terranische Ökologie über den Planeten zu stülpen, bei manchen Dingen hatte es funktioniert oder fast funktioniert, wie bei der Kiefer. Bei anderen Dingen war es gründlich schiefgegangen. Hier auf Daria gab es weder Hunde noch Pferde, keine Kühe oder andere terranische Nutztiere, Schafe und Ziegen ausgenommen. Aus irgendeinem Grunde gediehen die hier prächtig, während alle anderen ursprünglich von Terra eingeführten Tierrassen die letzten fünfhundert Jahre nicht überlebt hatten. „Ich schätze, dass Champ hier derzeit der einzige Vertreter seiner Art auf Daria sein könnte.“
„Sie wollen hier Urlaub machen?“, fragte der Wirt weiter, während er mir ein kleines Glas mit einer klaren Flüssigkeit vollgoss. Ich bedeutete ihm, dass er die ganze Flasche auf dem Tisch stehen lassen sollte. Mit einem Stirnrunzeln stellte er sie ab.
„Urlaub, nein. – Ich komme von Außenwelt, aber das haben Sie ja schon selbst erkannt. Ich suche Abstand, brauche einen Tapetenwechsel, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Annlee, schoss es mir durch den Kopf, deinetwegen bin ich jetzt hier. Es hätte eigentlich alles anders sein sollen. „Die Leute in Janjina haben mir erzählt, dass man hier Arbeit finden könne, in der Fischfabrik oder auf einem der Kutter?“
Erstaunt blickte mich der Wirt an, damit hatte er nicht gerechnet. Seinem Gesicht konnte ich entnehmen, dass er mir nicht zu nahetreten wollte, jedoch durchaus daran zweifelte, dass ich für diese Art von Arbeit der Richtige sei. „Wir haben seit zwei Tagen zum ersten Mal Touristen hier im Dorf!“, mit einer vagen Kopfbewegung deutete er nach draußen auf die Terrasse, wo sich an einem Tisch sechs Personen, zwei Frauen und vier Männer lautstark danebenbenahmen. „Ich dachte, Sie würden auch hier Ihren Urlaub verbringen wollen.“
Ich schüttelte vehement mit meinem Kopf. „Wie bereits gesagt, ich will Abstand gewinnen, auf andere Gedanken kommen. Und da meine Börse nicht gerade prall gefüllt ist, brauche ich auch Arbeit. Was meinen Sie, ist da was zu machen?“
„Wenn Sie sich das zutrauen, der Blaszenko sucht immer Leute in seiner Fabrik, und wenn Sie mit raus fahren wollen, dann sollten Sie den Pero fragen, ob er Sie gebrauchen kann. Haben Sie denn schon mal auf einem Fischkutter gearbeitet?“
Ich schüttelte den Kopf. „Vermutlich ist es besser, wenn ich es erst einmal in der Fabrik versuche. Den Blaszenko muss ich da ansprechen?“
„Nicht ihn direkt, er hat einen Vorarbeiter, der regelt das. Vielleicht kommt er heute Abend noch vorbei, ich zeige ihn Ihnen dann. – Ich muss mich jetzt aber um die anderen Gäste kümmern.“ Mit einem Strahlen auf den Lippen eilte er nach draußen, um vor allem die Touristen dazu zu animieren doch noch etwas zu bestellten.
Ich versuchte derweil den Schnaps, den er mir dagelassen hatte. Gewöhnungsbedürftig, mit irgendwelchen Kräutern versetzt, recht scharf aber vor allem hoher Alkoholgehalt, darauf kam es mir an. Ich hatte das kleine Glas mit einem Zug geleert. Danach war das andere, größere Glas mit Fruchtsaft dran. Nachdem auch dieses leer war, ergriff ich die Schnapsflasche und füllte damit das Fruchtsaftglas auf. – So gefiel es mir doch viel besser.
Grübelnd starrte ich auf meinen Teller. Das Gericht war mir unbekannt, schmeckte aber nicht schlecht. Der Schnaps, die Hausmarke, aus weißen Beeren selber gebrannt, wie ich später erfuhr, auch nicht. Binnen kurzer Zeit hatte ich die Flasche zur Hälfte geleert.
Stumpfsinnig starrte ich in das Glas, was mochte sie jetzt wohl gerade tun? Lichtjahre von hier entfernt würde sie jetzt wahrscheinlich mit dem anderen zusammen sein. Manchmal malte ich mir aus, ob es denn so weit gekommen wäre, wenn ich an diesem schicksalhaften Tag nicht früher als üblich nach Hause gekommen wäre und sie und ihn zusammen in meinem Bett vorgefunden hätte. Würden wir noch immer zusammenleben? Nebeneinander her leben, hatte sie es genannt. – Verdammt, ich war hierhergekommen, um auf andere Gedanken zu kommen und jetzt saß ich hier in dieser Spelunke, trank und blas Trübsal.
Verschwommen nahm ich wahr, dass jemand vor meinem Tisch stand. Ich blickte noch rechtzeitig genug auf, um mitzubekommen, dass sich die zwei etwa zwanzig Standardjahre alten Männer über mich und Champ lustig machten. „He, Mann, ist das ein Schaf, mit dem Sie da auf Wanderschaft gehen? Die Farbe stimmt, die Locken auch, sind Sie ein Schäfer?“
„Sag ihm, dass wir hier keine Schäfer brauchen, Molo. – He, Mann, wir leben hier vom Fischfang.“
„Verzieht euch“, antwortete ich barsch. Ich hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung.
„Der Typ da will mir Hausverbot erteilen, was sagst du dazu, Molo?“ Der mit Molo angesprochene Mann grinste nur und stieß so geschickt an den Tisch, dass die auf ihm stehende Flasche herunterfiel. Mit viel Glück fing ich sie gerade eben noch mit der linken Hand auf und stellte sie wieder auf den Tisch.
„He, Molo, der Mann ist nicht nur Schäfer, der ist auch Akrobat. – Kommst du vom Zirkus, Mann. Habt ihr da trainierte Schafe?“ Beide lachten schrill auf. Sie suchten Streit, das war jetzt klar. So hatte ich mir meinen ersten Abend hier weiß Gott nicht vorgestellt. Etwas schwankend stand ich auf.
Molos Hand schnellte vor und stieß mich zurück in den Stuhl. Ich kippte nach hinten und fiel zusammen mit dem Stuhl zu Boden.
Jetzt ging alles sehr schnell. Während ich noch Zeit damit zubrachte, wieder auf die Beine zu kommen, versetzte mir der Wortführer einen heftigen Tritt in die Magengegend. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Molo mit seinem Fuß ebenfalls weit ausholte. Weiter kam er nicht. Champ, den die beiden vollständig vernachlässigt hatten, sprang Molo an und verbiss sich in dessen Unterarm. Der Schrei, der jetzt durch den Wirtssaal hallte, zog die Aufmerksamkeit aller Gäste auf sich.
Der Wortführer blickte zuerst nur irritiert auf Molo und das Tier, das da an dessen Arm hing, holte dann jedoch mit der Faust aus und wollte auf Champ einschlagen. Dieser ließ geschickt seine erste Beute los, und sprang den Wortführer an, der sofort das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Champ stand laut knurrend und zähnefletschend mit seinen zwei Vorderbeinen auf dem Brustkorb seines Opfers, anders konnte ich den Angreifer nicht nennen.
Mir den Magen haltend stützte ich mich mittlerweile auf den Tisch. „Champ, aus! Komm her.“ Das Kommando reichte vollkommen. Der Hund gehorchte und kam an meine Seite.
Mittlerweile hatte sich eine Traube von Menschen um uns versammelt. Mit Genugtuung nahm ich wahr, dass die sechs Touristen in der ersten Reihe um uns herumstanden. Der Wirt schnappte sich den auf dem Boden liegenden Mann, zog ihn hoch und schnauzte ihn an. „Das reicht jetzt, Gero. Du hast für heute genug Ärger verursacht. Verschwinde und nimm deinen Kumpel mit.“
„Er sollte einen Arzt aufsuchen“, warf ich ruhig ein. „Champ hat heftig zugebissen, wenn mich nicht alles täuscht, dann blutet er.“
Molo stand da mit bleichem Gesicht und hielt seinen rechten Arm mit seiner linken Hand bedeckt. Der Wirt bugsierte beide energisch nach draußen. Die Touristen und die anderen Gäste hatten sich langsam auch wieder an ihre Tische verzogen. Ich ließ mich wieder in meinen Stuhl sacken, eine feine Einführung hatte ich da ja gegeben. Mich sofort am ersten Abend zum Mittelpunkt einer Wirtshausschlägerei gemacht. Na ja, wer wusste schon, wofür es noch gut sein würde.
„Bitte entschuldigen Sie, dass waren zwei Jungs aus der Fabrik, eigentlich keine schlechten Leute. Sie wollten Sie nur hochnehmen …“
Ich winkte ab, er wollte mir jetzt wahrscheinlich erzählen, dass es auch meine Schuld gewesen war, dass ich Champ nicht gebührend genug eingeführt hatte, dass ich ihn nicht im Griff hatte, dass es gefährlich war, ein solches Tier frei herumlaufen zu lassen. Zum Teil hatte er sicherlich recht. Andererseits konnte es durchaus sein, dass ich Champ mein Leben verdankte, wer konnte schon sagen, ob nicht einer der verhinderten Tritte üble Folgen gehabt hätte.
„Wo kann ich hier übernachten?“, fragte ich den Wirt, um auf ein anderes Thema zu kommen.
„Gehen Sie ein Stück die Dorfstraße zurück. Sie kommen da zu einer kleinen Kreuzung. Links geht es zum Meer, rechts biegt eine kleine Straße ab. Folgen Sie dieser gut hundert Meter. Auf der linken Seite werden Sie eine Pension finden. Sie ist sicherlich annehmbar genug für Sie, die Touristen da draußen sind auch da untergekommen.“
Ich gab ihm sein Geld, nahm die noch halb volle Flasche Schnaps und meinen Rucksack auf und ging wieder hinaus auf die Straße. Champ folgte treu, so als ob nichts geschehen wäre.
Eine Strecke zurück in Richtung des Ortseingangsschildes, ja, da hatte ich kleine abzweigende Wege bemerkt. Diese Wege Straßen zu nennen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie bestanden, wie auch die Hauptstraße des Dorfes, aus festgetretenem Lehm. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was denn passieren würde, wenn hier einmal ein richtiger Regen vom Himmel herunterkam.
Ich bog nach rechts ab, obwohl es mich eigentlich nach links zog, zum Meer. Wie lange hatte ich schon nicht mehr an einer Küste gestanden? – Aber das konnte warten, ich war ja schließlich für längere Zeit hier. Der Weg wurde an beiden Seiten von niedrigem Buschwerk gesäumt. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte nicht vermutet, dass das Dorf hier noch eine Fortsetzung hatte. Nach gut fünfzig Metern kamen auf der rechten Seite etwas heruntergekommene Häuser in Sicht. Klein und gedrungen standen sie da, so als ob sie sich hinter dem sie umgebenden Buschwerk verstecken wollten. Der Putz hatte sicherlich irgendwann einmal auch die grelle gelbe Farbtönung besessen, die ich von den Häusern der Hauptstraße her kannte, hier jedoch war die Farbe verblasst, der Putz stark angegriffen ob der aggressiven, stark salzhaltigen Meeresluft, die jahrein, jahraus ihre Spuren an den Häusern hinterließ.
Auf der linken Seite kam hinter einer Kurve nun ein zweistöckiges, gut dreißig Meter langes Gebäude in Sicht. Die kurze Dämmerung war mittlerweile schnell in pechschwarze Nacht übergegangen. Wir befanden uns hier nahe des Äquators von Daria, hier wechselte der Tag zur Nacht sehr schnell. Straßenbeleuchtungen gab es nicht, mir diente einzig das Licht der Sterne und der zwei Monde als Orientierungshilfe. Ich steuerte auf die etwas gedrungen wirkende, grün gestrichene Tür in der Fassade des Hauses zu und klopfte an. Ich wartete ein wenig und klopfte dann erneut, aber es erfolgte keine Reaktion. Irritiert sah ich mich um. Es war nicht gerade erstrebenswert nachts im Freien zu übernachten, die Temperaturen sanken schnell und stark. Temperaturunterschiede von über vierzig Grad Celsius zwischen den Tag- und den Nachttemperaturen waren hier keine Seltenheit.
Das Quietschen eines sich öffnenden Fensterladens weckte mich aus meiner Grübelei, ich blickte nach oben. Dort erblickte ich schemenhaft Kopf und Oberkörper einer Frau. „Wer da?“, rief sie zu mir herunter.
„Entschuldigung“, erwiderte ich schnell. „Ich suche eine Unterkunft und …“
„Und da klopfen Sie an der Kellertür?“ Sie unterbrach sich kurz mit einem Kichern. „Sie stammen nicht aus der Gegend, nicht wahr?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, da sie sich sicher schien, recht zu haben, fuhr sie fort: „Gehen Sie weiter, bis zum Ende des Gebäudes, dort finden Sie eine Freitreppe, die Sie nach oben führt. Ich erwarte Sie dann dort.“
Ohne die Kellertür eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte ich mich nach rechts. Ja, tatsächlich, dort war die Treppe. Warum ich sie bei meiner Ankunft übersehen hatte, war mir schleierhaft. Müde stieg ich die Stufen empor, oben verbreiterte sich die Treppe zu einer kleinen Terrasse. Ein Lichtschein fiel aus der sich auf die Terrasse öffnenden Tür. In der Tür stand die Frau, die mich aus dem Fenster heraus angerufen hatte. Sie war klein und alt. Wie alt konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte dieses undefinierbare Äußere eines Menschen, der sowohl sechzig als auch achtzig Standardjahre alt sein konnte, wobei mir irgendwie gefühlsmäßig klar war, dass sie den achtzig sicherlich näher war als den sechzig. Ich will damit sagen, dass sie auch mit sechzig wahrscheinlich nicht viel anders ausgesehen hatte als jetzt, wenn Sie verstehen, was ich meine.
„Eine Unterkunft? Da haben Sie aber Glück, junger Mann. Wir haben in letzter Zeit viele Fremde hier im Dorf. – Aber für Sie habe ich auch noch ein Zimmer. Soll das Schaf da auch mit auf Ihr Zimmer?“, fasste sie etwas irritiert nach.
„Das ist ein Hund, kein Schaf, gute Frau“, erwiderte ich bereits ein wenig genervt. Dass Champ hier ständig mit einem Schaf verwechselt wurde, ärgerte mich mittlerweile maßlos.
„Ein Hund? Es gibt da alte Legenden, in denen von diesen Tieren die Rede ist. Sie sollen die ersten Begleiter der Menschen auf Terra gewesen sein, als diese sich ihre Behausungen in Höhlen suchten. – Kommen Sie von Terra, junger Mann? – Hausen Sie dort wieder in Höhlen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und winkte mir ihr zu folgen. Hätte ich es nicht besser gewusst, so hätte ich angenommen, dass auch sie auf einen Streit aus war.
Sie führte mich einen langen Flur entlang, von dem rechts und links diverse Türen abgingen. „Die sind alle belegt, Arbeiter der Fischfabrik und jetzt seit ein paar Tagen diese Touristen von Außenwelt. Sie sind auch Tourist?“, fragte sie mit einer Miene, die andeutete, dass sie überhaupt nicht verstehen konnte, warum man freiwillig hierherkommen konnte, um hier seine Freizeit zu verbringen.
„Nein, ich suche Arbeit, vielleicht in der Fabrik“, entgegnete ich kurz.
Sie musterte mich eindringlich von oben bis unten, so als ob sie mir sagen wollte, dass ich doch wohl eher für eine andere Art von Arbeit geeigneter sei. „Groß sind Sie ja“, entgegnete sie mit diesem Unterton, der andeutete, dass die Fortsetzung des Satzes in etwa hätte lauten können: das ist aber auch alles. Vermutlich war der Umgangston hier normal, wenn ich daran dachte, dass es erstmalig Touristen in dieses Dorf verschlagen hatte und man es normalerweise hier nur mit Arbeitern zu tun hatte, die für eine gewisse Zeit hier Ihren Unterhalt verdienten und dann wieder zu ihren Familien zurückkehrten. Wenn Molo und sein Kumpan hier den Standard darstellten, dann war der Umgangston der Frau sicherlich dazu geeignet jeden Gast sofort in seine Schranken zu verweisen, bevor dieser auch nur versucht hatte, dies bei ihr zu tun.
Sie öffnete eine der Türen und schaltete das Licht an. Irgendwie wunderte es mich, dass es hier elektrischen Strom gab. Für meine Begriffe war alles so primitiv, wieso dann Strom und Glühbirnen? „Wir haben einen Windgenerator!“, sagte die Frau unvermittelt, sie hatte meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet. „Einen Darr fünfzig macht das pro Nacht, inklusive Frühstück. – Zahlbar im Voraus! Die Toiletten sind am Ende des Ganges.“ Sie hielt mir die offene Handfläche hin.
Das war günstig, sehr günstig sogar. Ich nestelte an meiner Geldbörse und zahlte ihr den Betrag für eine Woche aus. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht verschwand sie wieder im Flur und ließ mich in meinem Zimmer allein. Mein Zimmer bestand aus einem etwa zehn Quadratmeter großen Raum, der mit einem Doppelstockbett, einem kleinen Tisch und zwei einfachen Stühlen ausgestattet war. Fast hatte ich schon erwartet, dass eines der Betten belegt war, diese Vermutung stellte sich jedoch zum Glück als falsch heraus. Ich warf meinen Rucksack auf das obere Bett und kroch selbst in das untere hinein. Champ legte sich auf den Boden vor meinem Bett. So lag ich jetzt da, die Flasche des Wirtes im Arm und grübelte nach. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Annlee. Warum war es so weit gekommen? Was hatte ich falsch gemacht? – Irgendwann schlief ich dann ein.
Am folgenden Morgen stand ich recht zeitig auf, mit den ersten Sonnenstrahlen, die in mein Zimmer schienen. Die sanitären Anlagen waren einfach, aber sauber, was unter den gegebenen Umständen sicherlich nicht selbstverständlich war, da ja viele Menschen sich ein und dieselbe Anlage teilten. Meine Morgentoilette war trotzdem spärlich, da die vorhandene Dusche nur kaltes Wasser lieferte, der Kessel für heißes Wasser war wohl leer.
Im Frühstücksraum traf ich auf eine erkleckliche Anzahl von Menschen. Die Touristen waren bereits vor mir aufgestanden und verzehrten gerade die Reste ihres Frühstückes, sie waren die Einzigen, die mich kurz grüßten. Die anderen Anwesenden, wohl allesamt Arbeiter in der Fischfabrik, nahmen zwar kurz Notiz von mir, vergruben sich danach jedoch wieder mürrisch in ihre Morgenmahlzeit.
Ich nahm an einem kleinen Tisch in einer Ecke Platz. Champ gesellte sich wie immer zu mir und legte sich unter den Tisch. Die Wirtin kam kurz darauf und brachte mir eine dampfende Schüssel. Der Inhalt erinnerte an eine Art Haferbrei, der einzige Unterschied, den ich allerdings erst beim Essen bemerkte war, dass der Brei von Fischfleisch durchsetzt war. Für meinen Gaumen ergaben der süße Brei und der Fisch eine Kombination, die, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig erschien. Ein kurzer Blick zu den anderen Tischen sagte mir jedoch, dass hier niemand eine Vorzugsbehandlung erfuhr. Wollte ich also essen, so musste ich mit dem vorliebnehmen, was auf den Tisch kam.
Unaufgefordert brachte die Wirtin eine Schüssel Wasser für Champ. Er blickte mich fragend an, ein Nicken meinerseits reichte und er schlürfte gierig das Wasser auf. Ich würde ihm im Laufe des Tages etwas zum Fressen besorgen.
Die Touristen standen wie auf einen Befehl hin zusammen auf, sie nickten mir kurz zu und verschwanden dann aus dem Frühstücksraum. Nach und nach verschwanden auch die Arbeiter, bis ich mit Champ alleine im Raum verblieb. „Na, alter Junge, dann wollen wir auch mal“, sagte ich in Gedanken versunken und begab mich auf die Straße. Man konnte bereits erahnen, dass dies ein heißer Tag werden würde. Die Temperaturen, die in der Nacht nahezu auf den Gefrierpunkt zurückgefallen waren, hatten sich bereits erholt. Ich knöpfte meine Jacke auf und warf sie mir über die Schulter, mindestens zwanzig Grad Celsius dürften es mittlerweile sein, schätzte ich und wir hatten noch nicht einmal acht Uhr morgens.
Daria drehte sich in gut achtundzwanzig Standardstunden um seine eigene Achse. Die ersten Siedler hatten trotzdem an den terranischen Stundeneinteilungen für Tag und Nacht festgehalten, ihr Tag hatte nur vierundzwanzig Stunden, die Stunde sechzig Minuten und die Minute sechzig Sekunden, für einen Außenweltler äußerst verwirrend, war doch die effektive Zeit pro Stunde für mich wesentlich länger, da auf meiner Heimatwelt die Standardstunde galt, auch wenn sich mein Heimatplanet in nur zwanzig Stunden und sechsunddreißig Minuten um seine Achse drehte.
Der Weg durch das Dorf war irgendwie faszinierend. Es lag still da, sodass ich mich voll und ganz auf die Geräusche, die aus dem das Dorf umgebenden Grüngürtel herüberschwebten, konzentrieren konnte. Vogelstimmen überlagerten alle anderen Laute, sie würden allerdings im Laufe des Tages bei zunehmender Hitze allmählich verstummen.
Ich hatte die Kreuzung bereits hinter mir gelassen und passierte nun die Dorfkneipe, in der ich gestern Abend die unangenehme Begegnung mit Molo und seinem Kumpan gehabt hatte. Jetzt war sie geschlossen, vermutlich würde der Wirt erst gegen Mittag öffnen.
Mein Weg führte mich weiter geradeaus, der Hauptstraße nach. Diese machte nach gut hundert Metern einen Knick nach links und ergoss sich auf einen kleinen Platz. Ein kleiner Krämerladen, eine Bank, sofern man dieses Geldinstitut mit einem so hochtrabenden Namen versehen konnte und diverse Wohnhäuser etwas wohlhabenderer Bürger säumten diesen. Wenige Schritte hinter diesem Platz hörte die Bebauung auf der rechten Straßenseite auf. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier sah ich das Meer direkt und unvermittelt. Ich stand am Rand des kleinen Hafenbeckens, in dem ein paar kleine Nachen dümpelten. Die größeren Fischerboote mussten ausgelaufen sein.
Ich gab einem Impuls nach und ging die kleine Mole hinaus, die sich am linken Rand des aus behauenen Natursteinen erbauten Hafenbeckens noch gut fünfzig Meter weiter ins Meer hinausschob. Am Ende der Mole setzte ich mich hin, ließ meine Beine über den Rand baumeln und sah auf das nahezu glatte Wasser hinaus. Angestrengt versuchte ich, das gegenüberliegende Ufer zu erahnen. Ich befand mich auf einer Halbinsel, einer gewaltigen Halbinsel und sah im Augenblick in Richtung Festland. So sehr ich meine Augen auch anstrengte, ich konnte das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen, es war doch zu weit entfernt.
Das Wasser reizte mich, einem Impuls folgend entkleidete ich mich rasch und sprang hinein. Die nasse Kühle erfrischte mich immens. Ein paar Schwimmzüge später schalt ich mich allerdings einen Tor, ich hatte versäumt mir dazu Gedanken zu machen, wie ich wieder auf die Mole kommen wollte, die sich nunmehr gut zwei Meter über mir auftürmte, weit und breit war keine Leiter zu erkennen.
Laute Rufe erweckten meine Aufmerksamkeit. Ein Fischer, den ich wohl übersehen hatte, saß am anderen Ende des Hafenbeckens und flickte seine Netze. Er war aufgestanden, ruderte mit seinen Armen und schrie irgendetwas. Unvermittelt lief er zu einem der Nachen, band ihn los, sprang hinein und ruderte auf mich zu. Mit ausholenden Schwimmzügen schwamm ich ihm entgegen. In seinen Nachen zu klettern erwies sich als etwas schwierig, letztendlich gelang es mir aber doch.
„Danke“, sagte ich zu ihm. „Ich hatte mir keine Gedanken dazu gemacht, wie ich wieder auf die Mole kommen könnte.“
Er grinste mich an. „Das wäre kein Problem gewesen, hier im Hafen sind einige Leitern angebracht.“ Er machte eine bedeutsame Pause und schaute mich lange an. „Dir ist nicht bewusst, in welche Gefahr du dich begeben hast, Fremder, nicht wahr?“
Ich schaute ihn irritiert an, starrte flüchtig ins Wasser und schüttelte den Kopf.
„Das Hafenbecken ist tief genug, dass sich hierhin Raubfische verirren können. In der Regel folgen sie den Fischkuttern, in der Hoffnung auf leichte Beute, wenn der Fang an Land gebracht wird.“ Er deutete auf die hölzerne Krananlage am Kai, mit der wohl der Fang von den Booten aufs Land gehoben wurde. „Dabei fallen immer einige Fische zurück ins Wasser, darauf warten die Raubfische geradezu. – Du hast Glück gehabt, Fremder, dass sich im Moment kein Räuber hier aufhält. Spätestens, wenn die Schiffe zurückkommen, wimmelt es hier im Becken geradezu. Letzte Woche hatten wir sogar einen Völes hier!“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und als er sah, dass ich ihn verständnislos anblickte, fuhr er fort: „Das Vieh war mindestens fünfzehn Meter lang und hatte ein Maul, in das du zweimal reingepasst hättest. – Du musst wissen, Fremder, dass das Hafenbecken einen direkten Zugang zum Tiefseegraben hat.“ Er deutete mit seinem Arm nach links, dem Ende des Dorfes zu, an dem die Fischfabrik lag. „Der Tiefseegraben verläuft hier fast bis ans Ufer, hier ist es lebensgefährlich, sich ins Wasser zu begeben. Dort drüben“, er deutete mit seiner Hand in die entgegengesetzte Richtung, „dort drüben“, wiederholte er, „geht er vom Ufer weg. Dort ist es ungefährlich, wenn man von der Insel gut hundert Meter Abstand hält. Hinüberzuschwimmen sollte man nicht riskieren!“
Ich blickte ernüchtert ins Wasser des Hafenbeckens, sicherlich, es war tief, aber darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Dass das Wasser zwischen der Halbinsel und dem Festland teilweise mehrere Kilometer tief war, wusste ich auch, ich war jedoch davon ausgegangen, dass es in Küstennähe unproblematisch war, im Wasser zu schwimmen. Trotz der Wärme des Tages fröstelte ich, als ich aus dem Nachen stieg und die Mole wieder erklomm. Eilig begab ich mich zu meinen Kleidern und legte sie an. Der kurze Weg über die Mole hatte ausgereicht, um mich vollständig zu trocknen. Der alte Fischer sah kopfschüttelnd hinter mir her.
Zwischen Hafenbecken und Fischfabrik zog sich die Uferpromenade, dies war sicherlich ein sehr hochtrabender Name für den Lehmweg, halbmondförmig über etwa einen Kilometer weit hin. Am Ende der Promenade erhob sich ein kleiner Hügel, auf dem die Fabrik thronte. Ich entschied mich dagegen, sofort dorthin zu gehen, zuerst wollte ich den Ort weiter erkunden. Ich ging zurück über den kleinen Platz mit seinem Krä-merladen und der Bank, schaute in die eine oder andere Gasse hinein und machte mir erst einmal ein Bild des Dorfes. Letztendlich stand ich wieder an der Kreuzung hinter der Dorfkneipe, entschied mich diesmal jedoch die Abzweigung nach links zu nehmen.
Nachdem ich an drei Häusern vorbeigegangen war, stand ich erneut am Meer. Das Dorf endete hier, der Weg führte allerdings entlang des Wassers weiter. Es war ein mit Steinen befestigter Weg, etwa einen Meter über dem Meeresspiegel verlaufend. Die kleinen Wellen klatschten gegen die Steine unter mir. Im kristallklaren Wasser konnte ich eine Vielzahl von Lebewesen, kleine Fische und Krebse, erkennen. Das Wasser mochte hier eine Tiefe von vielleicht dreißig Zentimetern haben, hier war es wohl tatsächlich ungefährlich sich hineinzubegeben.
Ich folgte dem Weg weiter, nach ungefähr zwei Kilometern war rechter Hand ein Gehöft aufgetaucht, das sich richtiggehend in die Vegetation hineingeschmiegt hatte. Linker Hand stand ich vor einem kleinen Bootsanlegeplatz, einer kleinen Mole, die gut zehn Meter ins Wasser hinausführte, wohl, um kleinen Schiffen die Möglichkeit zu verschaffen, in etwas tieferem Wasser anlegen zu können. Von hier aus hatte man einen prächtigen Blick auf die erste Insel, die dem Dorf vorgelagert war. Sie war nicht weit entfernt, vielleicht dreihundert Meter, die Warnung des Fischers kroch sofort wieder in mein Bewusstsein. Der Tiefseegraben zog sich zwischen Festland und Insel hindurch, nur lebensmüde Menschen würden versuchen hinüberzuschwimmen.
Ich folgte dem Weg weiter und fand nicht allzu lange später eine Stelle, an der die Vegetation bis fast an den Weg heranreichte. Unter den Ästen eines kleinen Gehölzes ließ ich mich nieder und bedeutete Champ mit einer Handbewegung, dass er sich auf die Suche nach einer Mahlzeit begeben sollte. Mein treuer Begleiter verschwand auf der Stelle im Unterholz. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich ein kurzes Bellen und darauffolgend die Geräusche einer wilden Hatz vernahm, Champ hatte ein Opfer gefunden. Ich hegte keinerlei Zweifel daran, dass er es zur Strecke bringen würde.
Ich weiß nicht, wie lange ich so im Schatten gelegen hatte, meine Gedanken waren erneut zu Annlee zurückgeeilt, da bemerkte ich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung. Zeitgleich richtete sich Champ, dessen Rückkehr ich überhaupt nicht bemerkt hatte, neben mir auf und knurrte laut dem Ankömmling entgegen.
Aus dem Gestrüpp war ein Geschöpf getreten, das entfernt an einen kleinen Affen erinnern konnte. Obwohl ich vorher noch nie eines dieser Geschöpfe zu sehen bekommen hatte, wusste ich doch sofort, dass es sich um die einheimische Lebensform handelte, die hier auf Daria die höchste Intelligenzstufe erreicht hatte. Traurig aus braunen Augen zu mir herüber-starrend verharrte das Lebewesen eine Zeit lang, sodass ich es eingehend mustern konnte. Von Kopf bis Fuß in dichtes, braunes Fell gehüllt, stand ein Form vor mir. Wie diese Lebewesen zu diesem Namen gekommen waren, war mir schleierhaft. Ich wusste nur, dass der Mensch hier auf Daria immer stärker in den Lebensraum der Forms eingriff, die im hiesigen Volksmund auch die Stummen genannt wurden, weil sie trotz vorhandener, dazu notwendiger Anatomie, keine Laute von sich gaben, sodass sie auf Dauer wohl keine Überlebenschance haben würden. Was wäre wohl aus ihnen geworden, wenn die Menschen Daria nicht besiedelt hätten? Wenn man ihrer Evolution noch genug Zeit zugestehen würde, würde sich dann eine dem Menschen ähnliche Intelligenz entwickeln?
Champ wurde zusehends unruhiger, ich musste ihn zurechtweisen, wollte ich verhindern, dass er sich auf den Form stürzte. „Champ, aus!“, gab ich ein kurzes Kommando. Verschreckt durch meinen Befehl verschwand der Form wieder im Unterholz.
Irgendwie müde und zerschlagen stand ich auf und machte mich auf den Weg zur Fabrik. Warum sollte ich das Gespräch zur Arbeitsaufnahme noch weiter hinauszögern? Sicherlich hatte ich noch nicht alles vom Dorf gesehen, geschweige denn alle etwas abseits gelegenen Gehöfte aufgesucht, aber das hatte ja auch noch Zeit.
Die Hitze hatte etwas Unerträgliches an sich. Champ und ich schleppten uns mehr oder weniger die Uferpromenade entlang. Nach einiger Zeit standen wir dann vor dem Gebäude, dass hier so hochtrabend Fischfabrik genannt wurde.