Text Talks -  - kostenlos E-Book

Text Talks E-Book

0,0

Beschreibung

Wissenschaft entsteht nicht im stillen Kämmerlein - sie ist ein lebendiger Austausch von Ideen. Dieser Band dokumentiert Gespräche aus der Reihe "Text Talks" an der Universität Bremen und macht die Aushandlungsprozesse wissenschaftlicher Erkenntnis sichtbar. Die Beiträge thematisieren zentrale Fragen der Textlinguistik, darunter das Verhältnis von Text und Diskurs, Mehrdeutigkeit in Texten und die Zukunft der Disziplin. Die dialogische Form ermöglicht es Leser:innen, Argumente nachzuvollziehen, Positionen zu hinterfragen und Wissenschaft als dynamischen Prozess zu erleben. Dabei wird deutlich, dass Erkenntnis nicht das Ergebnis einzelner Personen ist, sondern in der Diskussion entsteht. Ein abschließender Beitrag reektiert die Diskussionen und setzt weiterführende Impulse. Der Band richtet sich an alle, die sich für Sprache, Kommunikation und wissenschaftlichen Austausch interessieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sarah Brommer / Nina-Maria Klug

TEXT TALKS

Gespräche über Text(e) und Textlinguistik

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381143627

 

© 2025 · Prof. Dr. Sarah Brommer

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/den ursprünglichen Autor/innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 1860-7373

ISBN 978-3-381-14361-0 (Print)

ISBN 978-3-381-14363-4 (ePub)

Inhalt

Wissenschaft im DialogLiteraturText und DiskursLiteraturMehrdeutigkeiten in Texten erkennen und didaktisch nutzen im Kontext DaZ/DaFLiteraturAdieu Textlinguistik — Bienvenu Textwissenschaft?LiteraturTexte zwischen Tradition und Innovation — Ein Gespräch zur Zukunft von TextenLiteraturKommentar mit Rückblick und AusblickVorbemerkung – Was war der Anlass für diesen Text?1 Wo kommen wir – textlinguistisch – her?Streiflichter auf die Anfangsphase der Textlinguistik – Situation, Vorsätze, Programmatisches2 Was hat sich – textlinguistisch – getan?Rückblick auf die Etappen der Textlinguistik: Satz, Text und darüber hinaus2.1 Texthaftigkeit2.2 Prozesshaftigkeit3 Wo sind wir jetzt? Was müssen wir – textlinguistisch oder anders – bedenken?Blick auf in den „Text Talks“ benannte bzw. sich dort abzeichnende Probleme3.1 Nina Janich und Ingo H. Warnke zum Thema „Text und Diskurs – eine Diskussion zu ihrem theoretischen und methodischen Verhältnis“3.2 Andrea Daase und Michael Dobstadt zum Thema „Mehrdeutigkeiten in Texten erkennen und didaktisch nutzen im Kontext DaZ/DaF“3.3 Martin Nonhoff und Jürgen Spitzmüller zum Thema „Adieu Textlinguistik – bienvenu Textwissenschaft“3.4 Heiko Hausendorf und Janina Wildfeuer zum Thema „Texte zwischen Tradition und Innovation – Ein Gespräch zur Zukunft von Texten“4 Schlussbemerkung LiteraturPortraits der Diskutant:innen bzw. Autor:innen

Wissenschaft im Dialog

Erkenntnis als Aushandlung

Sarah Brommer

Wissenschaft ist ein fortlaufender Prozess des Fragens, Überprüfens und Weiterdenkens. Sie zeichnet sich durch ihre grundsätzliche Vorläufigkeit aus. Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist eingebettet in den Kontext bestehender Erkenntnis und offener Fragen. Im Sinne des kritischen Rationalismus (Popper) ist wissenschaftliches Wissen immer nur der derzeit beste Stand des Wissens, der kontinuierlich durch neue empirische Befunde oder theoretische Perspektiven revidiert werden kann.

Wissenschaftliche Texte, die sich an die Wissenschaftsgemeinde richten, sind daher nie isoliert zu betrachten, sondern immer in ihrer Einbettung in den Wissenschaftsdiskurs. Sie sind „Repräsentanten einer seriell organisierten diskursiven Praxis“ (Warnke 2002, 133), die mit einem „Veröffentlichungsgebot“, einem „Rezeptionsgebot“ und einem „Kritikgebot“ verbunden ist (Weinrich 1985, 46). Der Wissenschaftsdiskurs selbst wird durch seine diskursiven Bezüge und die aktive Teilnahme der Diskursgemeinschaft konstituiert, also durch die Wissenschaftler:innen, die konkret durch ihre Äußerungen zum Diskurs beitragen. Entsprechend beruht die Kommunikation innerhalb der Wissenschaftsgemeinde auf gegenseitigem Austausch (Weinrich 1985, 45) – unabhängig davon, welche epistemische Kommunikationsform gewählt wird (zu ‚epistemic genres‘ vgl. Gloning 2020, s.a. Gloning 2018): Ehlichs (1993, 30) Feststellung, dass „wir […] in den sprachlichen Formen den Prozeß der Diskussion der Wissenschaft selbst“ erleben und „die diskursive Qualität des Wissenschaftsprozesses als eines Prozesses der streitenden Auseinandersetzungen [in den Texten] eingeschrieben“ ist, trifft gleichermaßen auf konventionelle Formate (z. B. Vortrag, Fachartikel, Monographie) wie auch auf jüngere Wissenschaftspraktiken im digitalen Raum zu (vgl. König 2020, Meiler 2024). Die diskursive wissenschaftliche Praxis führt zu einer hohen Intertextualität wissenschaftlicher Texte, die durch wechselseitige Bezugnahmen und ein Netz aus Zitaten und Referenzen geprägt sind (vgl. Schmidt 2000, 334). Dabei trägt die wechselseitige Bezugnahme auf bestehendes Wissen gleichermaßen zur Stabilisierung und zur Dynamisierung wissenschaftlicher Diskurse bei (Spieß 2018, 149).

Aufgrund der eingangs beschriebenen Vorläufigkeit von Wissen ist der epistemische Status von Wissen in diesen Diskursen nicht statisch; vielmehr ist die Zuschreibung von epistemischem Status Teil eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses (Deppermann 2018, 119–121). Da Wissen sowohl nach seinem Wahrheitsgehalt als auch hinsichtlich seiner Elaboriertheit und Begründetheit bewertet wird (Janich/Birkner 2015, 203), spielt in diesem Prozess nicht nur die empirische Evidenz eine Rolle: Wer etwas besser weiß oder als erster erzählen darf, ist auch eine machtpolitische Frage, basierend auf bestehenden Wissensasymmetrien als eine „wesentliche Determinante sozialer Beziehungen“ (Deppermann 2018, 119, s.a. ausführlich Stivers/Mondada/Steensig 2011). Entsprechend dient die Anzeige und Aushandlung von Wissen nicht nur der Informationsweitergabe und Diskussion wissenschaftlicher Positionen, sondern auch der sozialen Positionierung und der Identitäts- und Beziehungskonstitution (Deppermann 2018, 121). Doch obwohl also das Diskursive ein inhärenter Bestandteil von Wissenschaft ist, verdeckt die gängige Praxis, wissenschaftliche Erkenntnisse in abgeschlossenen Beiträgen zu präsentieren, die oft komplexen und facettenreichen Aushandlungsprozesse: Diese gehen der Wissensproduktion voraus bzw. führen erst zur Wissensproduktion, finden aber oft im Hintergrund statt (Gloning 2020, 216).

Der vorliegende Sammelband greift den diskursiven, prozesshaften Charakter der Wissenschaft auf besondere Weise auf: Anstelle konventionell angelegter wissenschaftlicher Fachaufsätze, die in der Regel abgeschlossene Argumentationslinien präsentieren, versammelt er dialogische Texte, in denen sich Wissenschaftler:innen im Gespräch austauschen. Dabei entsteht ein Raum, in dem Hypothesen formuliert, Perspektiven ausgetauscht und argumentative Positionen getestet werden können. Das Format macht die epistemische Praxis des Aushandelns sichtbar und ermöglicht es, die Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse unmittelbar nachzuvollziehen. Grundlage für die hier versammelten dialogischen Texte war eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Text Talks“, die 2022 an der Universität Bremen stattfand. Mit der Entscheidung, eine Gesprächsreihe zu veranstalten, wollte ich dem wertvollen Austausch innerhalb der wissenschaftlichen Community Raum geben und diesen auch für andere zugänglich machen. Im Sinne Bourdieus (1988), der wissenschaftliche Diskurse als soziale Arenen beschreibt, in denen verschiedene Stimmen um Anerkennung und Sichtbarkeit ringen, bot der Theatersaal der Universität Bremen den Diskutant:innen nicht nur einen Laufsteg für Forschungsergebnisse, sondern eine Bühne, auf der die Formulierung und Aushandlung von individuellen Perspektiven, Herangehensweisen und Argumenten in Echtzeit stattfand. Der dialogische Ansatz repräsentiert eine Form der epistemischen Kooperation, die das Verständnis von Wissenschaft als eine gemeinsame Praxis fördert, in der Wissen nicht nur vermittelt, sondern aktiv durch Diskussion und Feedback konstruiert wird, nicht zuletzt durch das Einbinden der Zuhörer:innen. Die Gespräche, die über vier Abende stattfanden, führten unterschiedliche Perspektiven und Einsichten zu zentralen Themen der Textlinguistik zusammen: Es ging um den linguistischen Umgang mit Texten und das Verhältnis von Text und Diskurs, um Mehrdeutigkeiten in Texten und ihr didaktisches Potential, um die Multimodalität und Lesbarkeit von Texten und die Frage nach einer Öffnung der Textlinguistik hin zu einer Textwissenschaft. Die Diskussionen sind nicht nur ein Spiegelbild des gegenwärtigen Wissensstandes, sondern auch ein Katalysator für zukünftige Überlegungen und Entwicklungen.

Die Entscheidung, die Gesprächsform auch in der Publikation beizubehalten, bietet die Möglichkeit, die Interaktivität und Dynamik wissenschaftlicher Diskurse adäquat abzubilden. Dadurch wird nicht nur der Entstehungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnisse nachvollziehbar, sondern auch die kollaborative Natur dieser Erkenntnisgewinnung hervorgehoben. Der Einblick in die dokumentierten Gespräche verdeutlicht, dass Wissen wie oben beschrieben nicht isoliert, sondern im Austausch entsteht – ein Prozess, der durch Fragen und kritische Reflexion geprägt ist. Darüber hinaus offenbart die dialogische Darstellungsform den performativen Charakter wissenschaftlicher Aushandlungsprozesse. Leser:innen werden nicht nur als Rezipient:innen fertiger Gedanken angesprochen und über die Ergebnisse informiert, sondern erleben als aktiv Teilnehmende eines wissenschaftlichen Diskurses unmittelbar mit, wie Argumente entwickelt, Ideen diskutiert und Positionen im interaktiven Diskurs formuliert werden. Die Gespräche laden ein, an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen teilzuhaben, den Reichtum und die Komplexität des wissenschaftlichen Diskurses zu entdecken und in den Wissenschaftsdialog einzutauchen, der sonst oftmals verborgen bleibt.

Im ersten Gespräch diskutieren Nina Janich und Ingo H. Warnke über den Gegenstand der Textlinguistik und zum theoretischen und methodischen Verhältnis von Text und Diskurs. Dieser Text unterscheidet sich von den folgenden darin, dass er anlässlich des Sammelbandes neu und von vorneherein schriftlich verfasst wurde. Die weiteren Gespräche basieren auf den Mitschnitten der Gesprächsreihe; die Manuskripte wurden nur geringfügig überarbeitet, der mündliche Charakter wurde bewusst beibehalten. Das zweite Gespräch zwischen Andrea Daase und Michael Dobstadt, moderiert von Anna Mattfeldt, ist Mehrdeutigkeiten in Texten gewidmet und der Frage, wie man diese erkennen und im Kontext DaZ/DaF didaktisch nutzen kann. Im dritten Gespräch, moderiert von Ingo H. Warnke, diskutieren Martin Nonhoff und Jürgen Spitzmüller zum Status der Textlinguistik als Wissenschaftsdisziplin. Das vierte Gespräch zwischen Heiko Hausendorf und Janina Wildfeuer, moderiert von John A. Bateman, fragt nach der Multimodalität von Texten und ihrer Zukunft als Format zwischen Tradition und Innovation. In einem abschließenden Beitrag reflektiert Ulla Fix die Diskussionen in den vier Gesprächen, ordnet sie wissenschaftsgeschichtlich ein und setzt weiterführende Impulse für die Textlinguistik und darüber hinaus.

Das Ziel dieses Sammelbands ist nicht nur, die Gesprächsreihe zu dokumentieren, sondern auch das Verständnis und die Wertschätzung für die komplexen Aushandlungsprozesse zu stärken, die der Wissenschaft zugrunde liegen. In einer Zeit, in der die Gesellschaft zunehmend nach wissenschaftlicher Transparenz und Nachvollziehbarkeit verlangt, kann dieser Sammelband einen Beitrag leisten, indem er die Dialoge beleuchtet, die letztlich zur Entstehung und Veränderung wissenschaftlicher Erkenntnisse führen. Das Format kann also auch dazu anregen, über die Art und Weise nachzudenken, wie wir Wissen erstellen und bereitstellen.

Ich danke den Diskutant:innen John A. Bateman, Andrea Daase, Michael Dobstadt, Heiko Hausendorf, Nina Janich, Anna Mattfeldt, Martin Nonhoff, Jürgen Spitzmüller, Ingo H. Warnke und Janina Wildfeuer (in alphabetischer Reihung), dass sie sich auf das unkonventionelle Format und damit verbundene Wagnis eingelassen haben, sowohl im Hinblick auf die Gespräche selbst als auch auf die anschließende Publikation. Ulla Fix danke ich für ihr unermüdliches Engagement für die Wissenschaftsgemeinde und die daraus erwachsenden wertvollen Einsichten. Den Reihenherausgeber:innen Nina-Maria Klug, Steffen Pappert und Georg Weidacher gilt mein Dank für ihre Offenheit, bewährte Publikationspfade zu verlassen, und für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Auf dem Weg von der Veranstaltungsreihe bis zur Publikation haben Neele Bahr, Lara Belage, Rosalie Schneegaß und Anna Tilmans durch Transkription und Lektorat unterstützt – vielen Dank hierfür. Dem Narr Verlag, namentlich Tillmann Bub, danke ich für die erneut hervorragende Zusammenarbeit und der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen für die großzügige Förderung der Publikation.

Literatur

Bourdieu, Pierre (1988): Homo Academicus. Übersetzt von Peter Collier. Stanford: Stanford University Press.

Deppermann, Arnulf (2018): Wissen im Gespräch. In: Birkner, Karin / Janich, Nina (Hrsg.): Handbuch Text und Gespräch. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 104–142. https://doi.org/10.1515/9783110296051-005

Ehlich, Konrad (1993): Deutsch als fremde Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, S. 13–42.

Gloning, Thomas (2018): Wissensorganisation und Kommunikation in den Wissenschaften. In: Birkner, Karin / Janich, Nina (Hrsg.): Handbuch Text und Gespräch. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 344–371. https://doi.org/10.1515/9783110296051-014

Gloning, Thomas (2020): Epistemic genres. In: Leßmöllmann, Annette / Dascal, Marcelo / Gloning, Thomas (Hrsg.): Science Communication. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton, S. 209–234. https://doi.org/10.1515/9783110255522-010

Janich, Nina / Birkner, Karin (2015): Text und Gespräch. In: Felder, Ekkehard / Gardt, Andreas (Hrsg.): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin, München, Boston: De Gruyter, S. 195–220. https://doi.org/10.1515/9783110295979.195

König, Mareike (2020): Scholarly communication in social media. In: Leßmöllmann, Annette / Dascal, Marcelo / Gloning, Thomas (Hrsg.): Science Communication. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton, S. 639–656. https://doi.org/10.1515/9783110255522-030

Meiler, Matthias (2024): Wissenschaftspraktiken im digitalen Raum. In: Androutsopoulos, Jannis / Vogel, Friedemann (Hrsg.): Handbuch Sprache und digitale Kommunikation. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 547–566. https://doi.org/10.1515/9783110744163-026

Schmidt, Siegfried J. (2000): Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Spieß, Constanze (2018): Wissenskonstitution im Diskurs. In: Birkner, Karin / Janich, Nina (Hrsg.): Handbuch Text und Gespräch. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 143–168. https://doi.org/10.1515/9783110296051-006

Stivers, Tanya / Mondada, Lorenza / Steensig, Jakob (2011): Knowledge, morality and affiliation in social interaction. In: Stivers, Tanya / Mondada, Lorenza / Steensig, Jakob (Hrsg.): The Morality of Knowledge in Conversation. Cambridge: Cambridge University Press, S. 3–24.

Warnke, Ingo (2002): Adieu Text – bienvenue Diskurs? Über Sinn und Zweck einer poststrukturalistischen Entgrenzung des Textbegriffs. In: Fix, Ulla / Adamzik, Kirsten / Antos, Gerd / Klemm, Michael (Hrsg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 125–141 (= Forum Angewandte Linguistik 40).

Weinrich, Harald (1985): Wege der Sprachkultur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

Text und Diskurs

Eine Diskussion zu ihrem theoretischen und methodischen Verhältnis

Nina Janich & Ingo H. Warnke

Paul Klee, Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich. 1903. München, Lenbachhaus

WARNKE | Dass der Gegenstand der Textlinguistik der Text ist, wird für alle, die sich auch nur annähernd mit Textlinguistik befasst haben, offensichtlich sein und ist selbst für diejenigen, die von Textlinguistik noch nie gehört haben, leicht zu erschließen. Was der Gegenstand der Textlinguistik dabei aber tatsächlich ist und vor allem, was er nicht ist, bleibt damit noch ungesagt. Dies liegt erstens daran, dass eine solche erste Antwort die Bedeutungserschließung in bekannter Weise nur verschiebt; hier von der Linguistik zum Textbegriff. Zweitens muss jedes Nachdenken über Textlinguistik uninteressant, weil inadäquat, bleiben, das mit der Behauptung einhergeht, es gäbe so etwas wie eine Textlinguistik mit einem Textkonzept. Das Gegenteil ist der Fall. Aus diesem Grund ist es weitaus nützlicher, als über den Gegenstand der Textlinguistik nachzudenken, Formen der Vergegenständlichung einer linguistischen Teildisziplin in den Blick zu nehmen und dabei selbst eine Position zu beziehen. Die Möglichkeiten der theoretischen und damit auch heuristischen Standortbestimmung sind vielfältig. Als linguistische Teildisziplin ist die Textlinguistik bereits in der germanistischen Sprachwissenschaft weit ausgefächert, den Logiken der Spezialisierung und zeitgebundenen Paradigmenwechsel folgend. Generische Fragen nach dem Gegenstand der Textlinguistik beantworten zu wollen, muss auch deshalb scheitern.

Die Frage nach dem Gegenstand der Textlinguistik ruft bei mir daher zwei andere und ich denke auch präzisere Fragen auf, die erste in strukturalistischer, die zweite Frage in poststrukturalistischer Tradition stehend:

(i)

Was sind die Konstituenten von Texten?

(ii)

Was sind die Kontextbedingungen von Texten?

Beide Fragen sind gleich zu beantworten: Aussagen. Aussagen sind die Konstituenten von Texten und Aussagen sind zugleich die Bedingungen ihrer Hervorbringung, weil es keinen Text gibt, der nicht bereits Aussagen voraussetzt. Ich vertrete dabei einen weiten Aussagenbegriff, der jede konkrete Verschmelzung von Referenz und Prädikation1 als Aussage versteht, ungeachtet der Frage, ob es sich dabei um eine Behauptung, um eine Frage, eine Deklaration etc. handelt.2

Es gibt keinen Text, der nicht mindestens eine Aussage, eigentlich ein ganzes Aussagenbündel in diesem Sinne enthält. Sieht man von Sonderfällen ab, kann man also sagen, jeder Text ist ein Gewebe von Aussagen, genauer:

Def1

Texte sind endliche Aussagenprodukte in sozial konventionalisierter und materialisierter Form, deren Bedeutung und Funktion rezeptionsseitig, und das heißt im Diskurs, eine potentiell infinite Rekontextualisierung erfahren.

Im Gegensatz zu seiner Rezeption hat jeder Text als ein solches Gewebe von Aussagen in meinem Verständnis also Grenzen. Das folgt aus seiner Materialität, wobei auch Multimodalität und komplexe Gewebe aus Artefakten, Körpern, Dingen, sozialen Fakten und Institutionen stets mit zu bedenken sind. Ich vertrete damit einen erkennbar materialistischen Textbegriff, der aussagenorientiert ist.

Warum kommt es aber überhaupt zu Geweben von Aussagen? Oder anders gefragt, warum gibt es überhaupt Texte? Was sind die hervorbringenden und auch ermöglichenden Kontexte ihres Erscheinens? Hier kommt der Diskurs als Aussagenformation ins Spiel. Diskurse sind dabei weit mehr als eine „Gesamtheit von Zeichen“, sie sind „Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“3 Das macht Diskurse auch zu zentralen textlinguistischen Größen. Der Diskurs greift dabei in der Sprache allerdings weit über den Text hinaus, bis in die Morphologie. Doch kein Text entkommt den ihn hervorbringenden Diskursen.

Es gibt keinen Text, der nicht mindestens aus einer diskursiven Aussagenformation im Sinne seiner Kontextbedingungen resultiert:

Def2

Diskurse sind potentiell infinite Aussagenbedingungen in sozial konventionalisierter und materialisierter Form, deren Bedeutung und Funktion produktseitig endlich, und das heißt im Text, kontextualisiert sind.

Ich möchte damit auf zweierlei hinaus und schlage dies auch als Ausgangspunkt unseres Gesprächs vor: Es gibt weder aussagenfreie Texte noch diskursungebundene Aussagen. Dies begründet in erster Linie den empirischen Status des Textes als Gegenstand der Diskurslinguistik und damit zugleich das theoretische Primat der Diskurslinguistik gegenüber Textlinguistik(en). Dies ist ohne Frage eine spezifische, strukturalistischer Linguistik und poststrukturalistischer Theorie folgende Vergegenständlichung der Textlinguistik. Dass es andere sinnvolle und notwendige Auffassungen gibt, bezweifele ich nicht, dass diese allerdings geeignet wären, den empirischen Status des Textes als Gegenstand der Diskurslinguistik infrage zu stellen und damit das Primat der Diskurslinguistik gegenüber Textlinguistik(en) zu verneinen, kann ich bisher nicht erkennen.

 

JANICH | Ein spannender, aber auch gleich sehr theoretisch-komplexer Einstieg. Ich möchte erst einmal im Hinblick auf zwei Punkte antworten.

Zum einen: Dass Text als ein empirisches Phänomen in einer sozial konventionalisierten und materialisierten Form ein notwendiger Gegenstand der Diskurslinguistik ist, leuchtet mir unmittelbar ein – sofern es hier um Text primär als Aussagengeflecht (und weniger um seine formal-materielle Abgeschlossenheit) geht. Denn diskursrelevant können ja auch einzelne Aussagen oder Teilgeflechte innerhalb eines größeren Textes (z. B. einem Sachbuch) sein. Oder anders gesagt: In einem als materiell endlich verstandenen Produkt ‚Text‘ können ganz verschiedene Diskurse zusammenlaufen, aufscheinen, aufgegriffen und voneinander getrennt oder miteinander vernetzt weitergeführt werden. Darum geht es mir aber gerade gar nicht, weil das wahrscheinlich auch gar nicht kontrovers zwischen uns ist. Was mir nicht einleuchtet, ist die Schlussfolgerung, dass aus Deiner Aussage „Es gibt weder aussagenfreie Texte noch diskursungebundene Aussagen“ ein Primat der Diskurslinguistik gegenüber der Textlinguistik folge. Sind nicht Text- und Diskurslinguistik eher Ausdruck unterschiedlicher analytischer Perspektiven auf den Text – und damit auch unterschiedlicher Erkenntnisinteressen, die sich mit Textanalysen verbinden? Wohlgemerkt, es geht mir nicht darum, das von Dir formulierte Primat nur abzulehnen zugunsten einer umgekehrten Sichtweise, dass der Textlinguistik ein Primat gegenüber der Diskurslinguistik zuzuschreiben sei. Die Textlinguistik hat sich – unter diesem Label – allenfalls wissenschaftshistorisch früher entwickelt. Dies aber wahrscheinlich auch nur, weil sie sich Mitte des 20. Jahrhunderts aus einer bis dahin vornehmlich strukturalistisch-deskriptiven Sprachperspektive, die den Satz als größte (formale) linguistische Einheit versteht, herausgelöst hat. Und auch dann hat sie sich als sprachgebrauchsorientiertes Gegenprogramm zu einer generativistisch betriebenen Linguistik begriffen, welche sich auf sprachtheoretische Reflexionen über wohlgeformte Sätze von idealen Sprechern beschränkt hat.4 Die moderne Textlinguistik ab den 1990er Jahren hat sich der Diskursivität von Texten aber nie verweigert (s. u.).

Nein, ich würde dafür plädieren, beide Teildisziplinen nebeneinander zu stellen und sie als wechselseitig aufeinander angewiesen zu verstehen. Letzteres zeigen schon Deine Definitionsbemühungen und deren inhärente, quasi gespiegelte Komplementarität – ersteres möchte ich damit begründen, dass Text- und Diskurslinguistik einen jeweils unterschiedlichen Fokus auf die in Texten vorfindlichen Aussagen legen. Ich versuche, diesen Standpunkt dadurch zu verdeutlichen, dass ich auf Beaugrande5 zurückgreife, der die unterschiedlichen Analyseeinheiten der Linguistik (Phonem, Morphem, Lexem, Syntagma) nicht formal, sondern funktional versteht. Beaugrande lehnt daher auch Auffassungen ab, nach denen sich diese Kategorien hierarchisch anordnen ließen mit der Implikation, dass die jeweils unteren Ebenen/kleineren Einheiten miterfasst und mitbehandelt würden, wenn man sich einer der übergeordneten Ebenen/größeren Einheiten analytisch widme.6 Letzteres verneint Beaugrande, weil diese Einheiten jeweils nach unterschiedlichen Kriterien definiert seien. Gilt das nicht auch für Text und Diskurs, selbst wenn beiden Aussagengeflechte zugrunde liegen? Denn der Text ist im Gegensatz zum Diskurs auch in Deinem Sinn etwas in seiner Form Materielles und sozial Konventionalisiertes, während der Diskursbegriff sich – in Deinen Worten – auf die infiniten Aussagebedingungen bezieht, also auf Nichtmaterielles, Nichtbegrenztes und damit auch nur bedingt Konventionalisierbares bzw. dem Konventionsbruch jederzeit Ausgeliefertes.

Ich versuche, das noch einmal anders konkreter zu machen. Beaugrande postuliert:

Phoneme haben die Funktion, durch Laute Bedeutungen zu differenzieren. Morpheme haben die Funktion, durch Wortteile Bedeutungen zu grammatikalisieren. Lexeme haben die Funktion, durch Wörter Bedeutungen zu lexikalisieren. Syntagmeme haben die Funktion, durch Phrasen und Sätze Bedeutungen zu linearisieren. Texte haben die Funktion, durch Ko-Texte Bedeutungen zu integrieren. Textsorten schließlich haben die Funktion, durch Textmuster Bedeutungen zu schematisieren.7

Und ich würde anschließen: Diskurse – auch hier wie bei Beaugrande als linguistische Einheit, auf die sich eine Analyse richtet, verstanden – haben als eine solche linguistische Konstruktion die Funktion, durch Aussagenbedingungen Bedeutungen inter- und transtextuell miteinander zu vernetzen und aufeinander zu beziehen (bzw. die wissenschaftliche Beschreibung solcher Vernetzungen und Bezugnahmen in Texten zu ermöglichen).

Eine solche Sicht würde verdeutlichen, dass Textlinguistik und Diskurslinguistik nicht nur gewissermaßen verschiedene, wenn auch eng miteinander verwandte oder besser: ineinandergreifende Forschungsgegenstände haben, sondern diese auch in linguistischer, kognitiver und sozialer Hinsicht8 unterschiedlich betrachten: Die Textlinguistik beispielsweise fragt, warum und inwiefern wir von der Abgeschlossenheit eines Textes (verstanden als Aussagengeflecht) ausgehen können – die Diskurslinguistik interessiert sich vor allem für die transtextuelle Ebene. Die Textlinguistik nimmt nicht nur die Konventionalisierungsformen von Textsorten, sondern eben immer auch den Einzeltext in den Blick, um das oft ausgesprochen variable Verhältnis zwischen Text und Typ nicht unzulässig zu simplifizieren9 – die Diskurslinguistik dagegen sucht nach Mustern, die in Texten und über Texte hinweg aussagekräftig und für Geltungsansprüche auf Wissen relevant gesetzt sind.

Zum anderen: Daraus folgt für mich auch ein anderes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Text und Diskurs. Du sagst: „kein Text entkommt den ihn hervorbringenden Diskursen“. Ich stimme Dir völlig zu, dass Texte als sozial konventionalisierte Produkte nicht ohne vorgängige Texte denkbar sind – selbst originell-einzigartige oder untypische Texte nicht.10 Wenn man aber einem forschungspragmatischen Diskursbegriff wie dem von Busse und Teubert11 folgt, nach dem die von Dir mit Foucault postulierten infiniten Aussagebedingungen im konkreten einzelnen Diskurs thematisch zu sortieren und zu bündeln sind, um diesen der linguistischen Analyse zugänglich zu machen – dann interessieren uns in der Diskurslinguistik ganz bestimmte (z. B. gesellschaftspolitisch aussagekräftige) Texte, sicherlich aber nicht alles das, was man nach Deiner Definition als Text fassen könnte. Beispielsweise wäre dann der Kassenzettel eher kein Text, der aber immerhin Auskunft über Preise gibt und letztlich eine Art verkürzter Kaufvertrag ist, der demnach also selbst in seiner formal rudimentären Form ebenfalls ein Aussagengeflecht darstellt.

Diejenigen Typen von Texten, wie sie uns in der Diskurslinguistik interessieren, sind also ganz sicherlich nicht ohne die Dimension einer so verstandenen Diskursivität analytisch fruchtbar zu machen, selbst wenn man sie vorrangig als bedeutungsschematisierende Textsorte behandelt (z. B. Wahlkampfplakate). Ein entsprechendes dynamisches Verständnis von Textsinn, das den Textbegriff an Vorwissen aus vorgängigen Aussagen und rekontextualisierendes Verstehen in Interaktionskontexten bindet, findet sich ja letztlich auch schon in der Textlinguistik-Einführung von Heinemann und Viehweger12. Trotzdem möchte ich behaupten, dass es auch Texte und darauf bezogene Erkenntnisinteressen gibt, bei deren Analyse die Diskursivität weniger relevant ist als beispielsweise die Form und Struktur des Textes und deren bedeutungsintegrierende und bedeutungsschematisierende Funktion.13 Dies gilt beispielsweise dann, wenn Gebrauchstexte zum Gegenstand einer angewandt-linguistischen Verständlichkeitsanalyse werden: Geräteanleitungen kann ich zwar auch diskurslinguistisch untersuchen, wenn ich zum Beispiel herausfinden möchte, inwiefern die dort enthaltenen Sicherheitshinweise oder Informationen zu Umweltschutz und Stromsparen in ihrer Existenz, ihrer Form und ihrem Umfang Ausdruck eines größeren gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses, eines darauf antwortenden ökonomischen Absicherungshandelns sowie zudem einer generell größeren gesellschaftlichen Beachtung von Nachhaltigkeitsaspekten in Konsum und Techniknutzung sind. Ich kann aber durchaus auch eine einzelne Anleitung rein textlinguistisch untersuchen, um zu prüfen, ob die Aussagenstrukturierung, die sprachliche Formulierung und die Bildunterstützung zur Verstehenserleichterung beitragen oder nicht. Ebenso kann ich wissensvermittelnde Kinderbücher auf ihre Diskursivität hin analysieren (z. B. welche ecosophy Bücher über Natur und Umweltschutz vermitteln über die Art, wie sie ökologisches Wissen aufgreifen), ich kann aber auch am Einzelbuch Akkomodationsstrategien (z. B. beim Umgang mit Pronominalisierung in Erstlesebüchern) oder multimodale Textsorteneigenschaften nachweisen, bei denen es eher um die (z. B. textsortenbedingt schematisierte, ggf. aber medial unterschiedlichen Logiken folgende) Bedeutungsintegration mit Hilfe verschiedener semiotischen Ressourcen geht.

Diese Einwände erscheinen mir aus einem bestimmten Grund wichtig: Wenn man den Text primär als Gegenstand der Diskurslinguistik versteht und ihn damit zu einem Ausdruck kommunikativer Praxis in einer unhintergehbaren Polyphonie von Aussagen macht, lassen sich Fragen wie die nach der Verantwortung des Autors für seinen Text, z. B. im intertextuellen Umgang mit anderen Texten (z. B. Zitatverfälschung, Plagiat) und in seiner formalen wie inhaltlichen Gestaltung (z. B. Verständnissicherung vs. Verdunkelung, aber auch Originalität und Ästhetik), nicht mehr sinnvoll bearbeiten.14

Mit beiden Einlassungen widerspreche ich also keinesfalls Deinen beiden Definitionsvorschlägen von Text und von Diskurs – ich wende mich nur gegen die Position, dass daraus ein theoretisches Primat der Diskurslinguistik folge, das – wenn ich Dich richtig verstehe – die Textlinguistik zu einer Hilfswissenschaft der Diskurslinguistik marginalisiert. Dass es der Textlinguistik trotz ihrer inzwischen relativ langen Geschichte durchaus noch an theoretischen Fundierungen mangelt (z. B. bei der Bestimmung und Kategorisierung von Textmustern), sei dabei keinesfalls bestritten.

 

WARNKE | Vielen Dank für die kluge, interessante und das Gespräch weiterspinnende Respondenz. Alles, was Du schreibst, ist in meinen Augen wichtig und notwendig festzuhalten. Ich möchte daher gar nicht apologetisch reagieren, auch wenn das dieser Text als Text vielleicht implizit fordert – was für einen Text in welcher Textsorte in welchem Diskurs schreiben wir eigentlich? Ich verstehe diesen kleinen Dialog als ein Gespräch, das uns beide fortträgt ins noch Unbekannte. Schön. Daher zunächst: Zustimmung. Ich werde allerdings theoretisch bleiben. Und möchte deshalb auch nur darauf hinweisen, dass ich ganz bewusst von einem theoretischen Primat der Diskurslinguistik gegenüber Textlinguistik(en) gesprochen habe, zumindest bei der ersten Nennung. Du greifst das am Ende Deiner Ausführungen ja selbst auf.

Selbstverständlich sind Text- und Diskurslinguistik heuristisch verstanden, also in der konkreten Operationalisierung ihrer Interessen, Ausdruck unterschiedlicher analytischer Perspektiven. Ich stimme zu. Hier gibt es gar kein Primat, auch das sehe ich wie du. Und du hast natürlich auch recht, wenn du anmerkst, dass sich die Textlinguistik ab den 1990er Jahren der Diskursivität von Texten nicht verweigert hat, und sei es ante litteram. Wir treffen uns also in der Position, Textlinguistik und Diskurslinguistik nicht zu hierarchisieren; jedenfalls wenn es um ihre Heuristik, Perspektivität, Anwendung und damit die Operationalisierung von Linguistik geht. Daraus lässt sich allerdings nach meinem Dafürhalten nicht ableiten, dass Diskurs und Text auch sprachtheoretisch auf einer Ebene anzusetzen wären. Hier in der Theorie sehe ich das Primat, was immer das für Empirie bedeutet.

Wenn Du Def2 so verstehst, als bedeute infinite Aussagebedingung notwendigerweise eine Immaterialität, dann habe ich das entweder nicht präzise genug gefasst oder du liest das in bestimmter und von mir nicht intendierter Weise. Auf jeden Fall liegt diesbezüglich ein Missverständnis vor: Die Virtualität des Diskurses ist gar nicht denkbar ohne seine gleichzeitige Materialität. Der Diskurs ist ein materielles Archiv und eine produktive Kraft, der nicht zuletzt aussagenbasierte Texte generiert. Wir wissen, dass das zwar widersprüchlich, aber nicht unvertraut in der Linguistik und den Sozialwissenschaften ist.

Und ja: Man kann Diskurs so einordnen, wie Du es in Erweiterung von Beaugrande tust. Und das stimmt ja auch. Vielleicht hätte ich Dir vor einigen Jahren auch noch gänzlich zugestimmt, aber genau hier regt sich nun heute der Widerstand. Denn ich vertrete zunehmend und vor allem theoretisch die Position, dass Diskurs weit mehr ist, als eine solche aszendente Erweiterungsebene mit spezifischer Funktion, denn theoretisch betrachtet ist es doch einzig der Diskurs, der all die Einheiten wie Phoneme, Morpheme, Lexeme, Syntagmen, Texte, Textsorte überhaupt notwendig macht. Der Diskurs ist sprachtheoretisch die conditio von Texten, mit all ihren teilfunktionalen Konstituenten. Soweit möchte ich zumindest hier in unserem Gespräch, und von mir aus auch tentativ, gehen. Das meine ich, wenn ich vom theoretischen Primat der Diskurslinguistik gegenüber Textlinguistik(en) spreche. Ich nehme damit der Textlinguistik keinen Deut ihrer Autonomie, sich mit der Funktion zu befassen, wie Texte „durch Ko-Texte Bedeutungen […] integrieren“ oder wie Textsorten „durch Textmuster Bedeutungen […] schematisieren.“15 Aber ich weise darauf hin, dass ich mir nur durch den Diskurs erklären kann, warum sie das tun. Weil der Diskurs den sprachtheoretischen Status der Bedingung von Sprachgebrauch hat. Ich vertrete also insofern einen radikalen diskurstheoretischen Ansatz. Diskurse resultieren nicht aus Texten, sondern Texte resultieren aus Diskursen: theoretisch betrachtet. Das möchte ich sagen, auch wenn man das empirisch in einem korpusbezogenen Verfahren anders konzipieren wird.

Die Diskursfunktion geht in meinem Verständnis deutlich darüber hinaus, Bedeutungen zu vernetzen und aufeinander zu beziehen. Diskurs ist sprachtheoretisch grundsätzlicher zu verstehen, und so könnte Diskurslinguistik damit eine Erklärung für nicht weniger leisten als die soziale Präsenz von Sprache.

Es geht dabei gerade nicht (nur) darum, „dass Texte als sozial konventionalisierte Produkte nicht ohne vorgängige Texte denkbar sind“, wie Du schreibst, sondern nicht ohne vorgängige Diskurse. Und damit komme ich zu Deinem Beispiel der Gebrauchsanleitung. Auch hier stimme ich ganz zu. Ich finde, gerade dieses Beispiel ist allerdings auch gut geeignet, um noch einmal die Position von Diskurslinguistik zu unterstreichen. Die angewandte Frage, ob „die Aussagenstrukturierung, die sprachliche Formulierung und die Bildunterstützung“ einer Geräteanleitung „zur Verstehenserleichterung beitragen oder nicht“, ist gegebenenfalls eine sehr wichtige, praktisch viel wichtiger als die Beschäftigung mit dem sprachtheoretischen Status des Diskurses. Aber dieser praktische Sinn ergibt sich eben nur auf der Grundlage einer Wissensordnung, die vorgängig ist. Diese Wissensordnung ist der Diskurs. Der gute alte forschungspragmatische Diskursbegriff von Busse und Teubert erfasst dabei nur die Spitze dieses Eisbergs.

Ja, Du hast recht: Die Textlinguistik hat im Licht der Diskurslinguistik nicht ausgedient. Gerade die angeführte Bedeutung dieser Auffassung im Zusammenhang von Textverantwortung und -gestaltung verweist aber einmal mehr auch auf den Diskurs und vielleicht besonders auf diesen: auf den Autorstatus als historische Wissensformation, deren disruptive Infragestellung wir ja gerade durch AI erleben. Wer wird in Zukunft noch so schreiben, wie wir es hier tun? Welche textualisierenden Subjekte bringt eine posthumanistische Zeit hervor?

Ist es übrigens nicht schön, wie wir hier einen Text produzieren, als die alten Schreiberlinge, einen Text, von dem wir gar nicht wussten, dass es ihn geben kann? Und wie wir uns fast schon in einer écriture automatique damit in einen Diskurs verstricken lassen, der uns als wissenschaftliche Subjekte immerhin noch hervorbringt. Und ja: auch auf der Textebene selbst.

Nichts also sei hier Hilfswissenschaft! Denn diese Figur wäre ja selbst nichts anderes als eine machtvolle Ordnung mit zweifelhaften Zielen.

Vielleicht noch eine Bemerkung: Wenn Du der Textlinguistik selbst attestierst, dass es ihr zumindest teilweise „durchaus noch an theoretischen Fundierungen mangelt“, dann sei eigeräumt, dass die Diskurslinguistik in der von mir präferierten Spielart nicht frei vom Duktus der Emanzipation ist, einem Wunsch nachjagt, hegemonialer Linguistik subversiv zu begegnen. Enfant terrible dadurch sein zu können, dass man privilegiert ist: Long live the text in the face of discursive power.

 

JANICH | Vielen Dank für Deine Antwort und die vorgenommenen Klärungen und Präzisierungen – und ja, auch für die Zuspitzungen, damit wir uns nicht in Missverständnissen verlieren. Auf Deine reizvolle Abschlussbemerkung will ich später reagieren – zuvor versuche ich noch einmal, auf den zentralen Aspekt deiner Präzisierung einzugehen, nämlich auf Deinen „radikal diskurstheoretischen Ansatz“: „Diskurse resultieren nicht aus Texten, sondern Texte resultieren aus Diskursen: theoretisch betrachtet.“ Ich sehe das wie Du, dass wir uns im Kern eigentlich einig sind, aber beide aus verschiedenen Richtungen argumentieren, die wahrscheinlich auch unsere unterschiedlichen Erkenntnisinteressen als Linguist bzw. Linguistin widerspiegeln: Dich hat immer schon zuerst die theoretische Perspektive gereizt, das theoretische Reflektieren, Ordnen und Strukturieren, aus dem dann alltagsweltliche Sprachphänomene wissenschaftlich besser beschrieben und verstanden werden können – hier also der Diskurs. Ich habe das immer sehr geschätzt und gerne auf deine Strukturierungs- und Reflexionsangebote zurückgegriffen (das ist mir wichtig zu sagen mit Blick auf meine folgenden Ausführungen!). Mich dagegen interessiert fast immer zuerst das konkrete sprachliche Phänomen in seiner Einbettung in konkrete kommunikative Situationen – hier also der Text. Oder konkreter: Was konkrete Sprecher:innen und Schreiber:innen da mit ihren Texten tun, warum sie es so tun und nicht anders, und was das für den gegenseitigen Austausch, für Verstehen, Lernen, Anwenden, Streiten oder auch nichtsprachliches Handeln bedeutet. Und erst bei der Bearbeitung solcher Fragen suche ich dann nach den theoretischen und methodischen Aspekten, die mir Einsichten und Klärung zu versprechen scheinen. Damit interessiert uns aber beide, von zwei verschiedenen Richtungen kommend, das, was Du oben die „soziale Präsenz von Sprache“ nennst. Ich verstehe Deine Ausführungen und Begründungen, inwiefern der Diskursbegriff diesbezüglich theoretisch hochrelevant ist, und stimme Dir auch in weiten Teilen zu, was die zentrale Bedeutung von Diskursen für die (kommunikative) Vergesellschaftung betrifft – mir scheint es nur nicht ratsam, einen solchen Anspruch von Fragen der Empirie abzukoppeln (denn so interpretiere ich Deinen Satz: „Hier in der Theorie, sehe ich das Primat, was immer das für Empirie bedeutet.“). Liegt der Sinn von Theorien nicht in allererster Linie darin, sich in und an der Praxis zu beweisen? Ist die Postulierung eines theoretischen Primats sinnvoll, wenn man nicht die Theorie auf die Erklärung von Praxis ausrichtet? Ich möchte das durch ein Zitat genauer erläutern, das sich im Original vor allem auf die Naturwissenschaften bezieht:

„Wegen dieser Verletzungen des Zusammenhangs von nichtsprachlichen und sprachlichen Handlungen [auf den „höheren Ebene des Theoretisierens“], wie er im Alltagsleben unverzichtbar (und generell anerkannt) ist, wird für die komplexen Formen des Redens in den Wissenschaften ein PRINZIP DER METHODISCHEN ORDNUNG formuliert. Es regelt den beschriebenen Zusammenhang von Sprechen und nichtsprachlichem Handeln. Es verbietet, in vorschreibender oder beschreibender Rede die Reihenfolge von Teilhandlungen einer Handlungskette anders wiederzugeben, als diese ausgeführt werden müssen, um ihren Zweck zu erreichen.“16

Das Prinzip der methodischen Ordnung widerspricht aus meiner Sicht Deinem Postulat, dass es „theoretisch betrachtet […] doch einzig der Diskurs [ist], der all die Einheiten wie Phoneme, Morpheme, Lexeme, Syntagmen, Texte, Textsorte überhaupt notwendig macht. Der Diskurs ist sprachtheoretisch die conditio von Texten, mit all ihren teilfunktionalen Konstituenten.“ Denn wenn ich von einer alltagsweltlich-praktischen Perspektive auf die „soziale Präsenz von Sprache“ blicke (und das muss meines Erachtens Auswirkungen auf die Theorie haben), dann denke ich als Erstes an die Kommunikation zwischen Eltern und Kind und damit an Spracherwerb und die Herausbildung von Sprachvermögen. Sprache erlernen wir – in allen ihren funktionalen Bestandteilen – praktisch zuallererst und nur im sozialen Kontakt, was Fälle wie der französische Wolfsjunge oder Kaspar Hauser gezeigt haben: im primären Mutter-Kind-Kontakt. Dieses frühe Stadium der Kommunikation, in dem ich bereits eine erste „soziale Präsenz von Sprache“ sehe, lässt sich theoretisch aber noch ohne ein Konzept von Diskurs in deinem Sinn beschreiben, denke ich. In diesem vielleicht eher anthropologisch zu beschreibenden Anfangsstadium geht es noch um eine überlebensnotwendige Verständigung, die gleichwohl bereits alle möglichen sozialen Dimensionen umfasst (Nahrungssicherung, Bedürfnis nach physischer und psychische Nähe, Regulierung von Emotionen, Erwerb eines vernünftigen Ich-Bewusstseins im Kontrast zum Anderen), die aber erst mit der Artikulierung sich irgendwann ausdifferenzierender individueller (und damit möglicherweise auch konfligierender) Interessen und Zwecke als mögliche Diskursrealisationen in einem engeren Sinn (d. h. zum Beispiel auch: als Ausdruck von Deutungsmacht) zu fassen sind. Ich will hier jetzt nicht tiefer in die verschiedenen Spracherwerbstheorien einsteigen, das würde uns viel zu weit vom Text und vom Diskurs wegführen – ich will eigentlich nur darauf hinaus, dass es, praktisch wie theoretisch, keinen Diskurs geben würde, wenn wir Sprache und damit auch das Textualisieren im Sinne eines kohärenten Sprechens nicht sozusagen erst einmal – pointiert gesagt – im gemeinschaftlichen Zwiegespräch als einer besonderen semiotischen Form des sozialen Austausches erlernen würden. In diesem Zwiegespräch, das ich eben noch nicht als ein Gesellschaftsgespräch werten würde, scheint mir semiotisch auch noch (also noch vor jedem Diskurs) alles möglich zu sein – man denke beispielsweise an kindliche Wortschöpfungen oder familienspezifische Wort- und Sprachgebräuche.

Ich argumentiere mit diesen Ausführungen übrigens auch für einen radikal pragmatischen Textbegriff, der die Textualitätskriterien Intentionalität und Akzeptabilität als primär ansetzt, noch vor denjenigen der Kohärenz und Kohäsion auf der einen Seite und denjenigen der Intertextualität und Diskursivität auf der anderen Seite – für einen Textbegriff, der also das möglicherweise unterschiedliche Urteil von Sprachteilhabern über die Texthaftigkeit von Zeichenfolgen berücksichtigt, indem der Fokus auf der Frage liegt, was als Text in einer bestimmten Situation behandelt wird.17 Solche Urteile sind – da hast du natürlich völlig Recht – in den meisten Situationen nicht ohne Bezug zu Diskurs(en) denkbar. Aber sie sind es – folgt man dem Prinzip der methodischen Ordnung – zumindest doch in ihrem Anfang. Anders gesagt, will ich darauf hinaus, dass es in der Entwicklung von Sprachvermögen und damit auch einer allerersten Textkompetenz möglich ist, ein erstes, pragmatisches ‚Text‘-Verständnis unabhängig von Diskursen zu entwickeln, und zwar nur, weil Andere einzelne sprachliche Äußerungen bereits als Text interpretieren und akzeptieren (man denke zum Beispiel an das oft extrem inkohärente Erzählen – oder später: (Briefe-)Schreiben – von Kindern im Kindergarten- bzw. Grundschulalter). Dass Eltern/Erwachsene darauf vor dem Hintergrund ihres Diskursuniversums reagieren, sei dabei unbestritten. Aber ich würde das eben so zusammenfassen: Bedeutungshaltige sprachliche Äußerungen und damit auch Texte entstehen, ontogenetisch betrachtet, im unmittelbaren sozialen Kontakt mit einer sozialen Funktion und passen sich erst dann im Wechselspiel mit den umgebenden Diskursen – sie gleichzeitig mitgestaltend – zunehmend an bzw. in sie ein: Als materielle Einheiten und Ausdruck individuellen Wissens sind sie dann also nicht mehr nur gemeinschafts-, sondern auch gesellschaftsfähig geworden.

Damit bin ich zuletzt bei Deiner und meiner Selbstreflexion: Ja klar, wir beide diskutieren hier in keiner Weise diskursfrei oder diskursunabhängig, sei es angesichts der Zitate und intertextuellen Verweise, sei es angesichts der Wahl der Sprache, der Terminologie und nicht zuletzt des Stils (auch wenn das ein heute, wie Du ja schon andeutest, unüblich gewordenes und damit auch für mich sehr ungewohntes Format ist, sich seiner eigenen wissenschaftlichen Positionen im kollegialen schriftlichen Zwiegespräch zu vergewissern). Es entsteht hier also ein diskursgebundener Text der besonderen Art – eine Art polyphones Zwiegespräch? –, was aber vor dem Hintergrund unserer divergierenden Wissensbestände und Forschungsinteressen jetzt und hier zugleich herrschaftsfrei möglich ist, weil wir es führen, Du und ich, auf der Basis unserer ganz persönlichen sozialen Beziehung. Ein Text also, der sich gleichermaßen durch hohe Diskursivität auszeichnet wie durch eine (zumindest gewisse) Autonomie jenseits des Diskurses. Dabei darfst Du gerne ein enfant ‚theorrible‘ sein 😊 – ich bin, wie du weißt, immer schon anders. Und die anderen dürfen das lesen und sich wieder das Ihre dabei denken.

 

WARNKE | Vielen Dank für Deine Antwort. Ich glaube, wir kommen hier langsam zur Stretta – zur kompositorischen Schlussfigur des Ganzen. Daher antworte ich jetzt relativ kurz.

Danke vor allem für das enfant theorrible. Ich als erschreckend theoretische Figur der Linguistik. Das ist eine Imagination, bei der ich mich gemeint fühle.