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Europa steht am Abgrund. Krankheiten und Hunger raffen die Bevölkerung dahin, Monster lauern in den Schatten und gierige Prinzen nehmen sich rücksichtslos alles, was sie wollen. Nur eins ist sicher: Die Elfen werden zurückkehren und alles vernichten. Manchmal sind es die dunkelsten Pfade, die uns ins Licht führen. Pfade, auf denen nur die Gerechten wandeln können. Unter dem Prunk des Himmlischen Palastes liegt die geheime Kapelle eines Ordens, der aus Monstern besteht. Sie haben jede Sünde begangen, jede Grenze überschritten und im Blute Unschuldiger gebadet. Bruder Diaz muss nun versuchen, diese Kreaturen dazu zu bringen, eine heilige Mission zu erfüllen und die drohende Apokalypse aufzuhalten. Es wird ein Ritt durch die Hölle – doch um zu überleben, braucht Diaz ein paar Teufel an seiner Seite.
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Seitenzahl: 1170
Veröffentlichungsjahr: 2025
Europa steht am Abgrund. Krankheiten und Hunger raffen die Bevölkerung dahin, Monster lauern in den Schatten und gierige Prinzen nehmen sich rücksichtslos alles, was sie wollen. Nur eins ist sicher: Die Elfen werden zurückkehren und alles vernichten. Manchmal sind es die dunkelsten Pfade, die uns ins Licht führen. Pfade, auf denen nur die Gerechten wandeln können. Unter dem Prunk des Himmlischen Palastes liegt die geheime Kapelle eines Ordens, der aus Monstern besteht. Sie haben jede Sünde begangen, jede Grenze überschritten und im Blute Unschuldiger gebadet. Bruder Diaz muss nun versuchen, diese Kreaturen dazu zu bringen, eine heilige Mission zu erfüllen und die drohende Apokalypse aufzuhalten. Es wird ein Ritt durch die Hölle – doch um zu überleben, braucht Diaz ein paar Teufel an seiner Seite.
Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen »Klingen«-Romanen hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schafft es regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten. Mit »The Devils« schlägt er nun ein neues Kapitel seines fantastischen Erzählens auf. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.
Roman
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
Die Originalausgabe ist unter dem Titel The Devils bei Gollancz, einem Imprint von The Orion Publishing Group Ltd., London, erschienen.
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Deutsche Erstausgabe 05/2025
Copyright © 2025 by Joe Abercrombie
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Werner Bauer
Karte und Illustrationen © Joel Daniel Phillips
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach einer Vorlage von Unusualcorporation/JetPurdie und unter Verwendung von Bildmaterial von Ashley Woods
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32297-7V001
www.heyne.de
Für Gillian, die mit mir seit 2006 die Fantasy in die Gosse zieht
Die schlechteste Prinzessin aller Zeiten
Es war der Fünfzehnte im Tugendmonat Treue, und Bruder Diaz verspätete sich auf dem Weg zu seiner Audienz bei Ihrer Heiligkeit der Päpstin.
»Gott verdammt noch mal«, raunte er nervös, als seine Kutsche, die ohnehin schon kaum vorankam, in eine Prozession heulender Flagellanten geriet und ordentlich durchgeschüttelt wurde. Den Flagellanten liefen das Blut über den Rücken und die Tränen über die verzückten Gesichter, während sie sich unter einem Banner geißelten, auf dem schlicht »Tut Buße« stand. Wofür man Buße tun sollte, war allerdings nicht genauer ausgeführt.
Aber da hatte ja ohne Zweifel jeder seins.
»Gott verdammt noch mal.« Zwar mochte Pünktlichkeit nicht zu den Zwölf Tugenden gehören, aber dennoch hatte Bruder Diaz sich bisher immer etwas auf seine gute Zeiteinteilung eingebildet. Für den Weg von seiner Herberge zu seiner Besprechung hatte er volle fünf Stunden einkalkuliert und war überzeugt gewesen, dass ihm mindestens zwei Stunden bleiben würden, um in aller Gottesfurcht die Statuen der bedeutenderen Heiligen zu bewundern, die vor dem Himmlischen Palast standen. Immerhin hieß es doch, alle Straßen in der Heiligen Stadt führten dorthin.
Dabei schien es jetzt vielmehr so, als ob alle Straßen in der Heiligen Stadt in Kreisen verliefen. Und in diesen Kreisen drängte sich zudem eine unvorstellbare Dichte von Pilgern, Prostituierten, Träumern, Betrügern, Reliquienkäufern, Vergnügungsanbietern, Wundergläubigen, Priestern und Fanatikern, Schwindlern und Gaunern, Prostituierten, Dieben, Händlern und Geldverleihern, Soldaten und Schlägern sowie eine erstaunliche Menge Huftiere, Krüppel, Prostituierte, verkrüppelte Prostituierte, und, falls er sie noch nicht erwähnt hatte, überhaupt und überall eine Vielzahl von Prostituierten. Auf einen Priester kamen mindestens zwanzig leichte Mädchen. Ihre ins Auge springende Präsenz im heiligen Herzen der Kirche, wie sie kreischend ihre rauchigen Lockrufe ausstießen und ungeachtet der grausamen Kälte und aller Gänsehaut zum Trotz ihre nackten Extremitäten zur Schau stellten, war natürlich schockierend und zweifelsohne eine Schande, aber davon abgesehen, weckten sie Begierden, von denen sich Bruder Diaz eigentlich schon lange verabschiedet zu haben glaubte. Er sah sich gezwungen, seine Kutte zurechtzurücken und den Blick himmelwärts zu richten. Oder zumindest an die Decke seiner ruckelnden Kutsche.
Mit genau so etwas hatte der ganze Ärger schließlich einmal angefangen.
»Gott verdammt noch mal!« Er schob das Fenster nach unten und reckte den Kopf in die frostkalte Luft hinaus. Die Kakofonie aus Hymnen und Bittstellern, Feilschen und Bitten um Vergebung, unterlegt mit dem Gestank von Holzfeuern, billigem Weihrauch und einem nahe gelegenen Fischmarkt, verstärkte sich sofort um das Dreifache. Er wusste nicht, ob er sich eher die Ohren oder die Nase zuhalten sollte, während er zum Kutscher hinaufbrüllte: »Ich komme zu spät!«
»Würde mich nicht überraschen.« Der Mann sagte das in einem Ton müder Resignation, als sei er lediglich ein desinteressierter Unbeteiligter und hätte nicht etwa eine exorbitante Summe verlangt, Bruder Diaz zum wichtigsten Termin seines Lebens zu transportieren. »Es ist nun mal Sankt-Aelfrics-Tag, Bruder.«
»Ja und?«
»Seine Reliquien wurden am Turm der Kirche der Makellosen Besänftigung emporgezogen und den Bedürftigen zur Ansicht ausgestellt. Es heißt, dass sie die Gicht heilen.«
Das erklärte die zahllosen Hinkebeine, Gehstöcke und Rollvehikel in der Menge. Hätten sie nicht ein Mittel gegen Skrofeln, dauerhaften Schluckauf oder irgendein anderes Gebrechen zur Schau stellen können, das die Betroffenen nicht daran hinderte, zügig für eine eilende Kutsche Platz zu machen?
»Gibt es denn keine andere Strecke?«, kreischte Bruder Diaz über den tosenden Lärm.
»Hunderte.« Der Kutscher deutete mit einem müden Achselzucken auf das sie umgebende Gedränge. »Aber es ist überall Sankt-Aelfrics-Tag.«
Nun begannen überall in der Stadt die Glocken fürs Mittagsgebet zu läuten. Zunächst ertönte hier und da ein planloses Klingeln von den Schreinen am Straßenrand, dann steigerte es sich zu einem misstönenden Dröhnen, als jede Kapelle, Kirche und Kathedrale mit dem eigenen wilden Läuten einfiel, um die Pilger zur eigenen Tür, auf die eigenen Bänke und zu den eigenen Klingelbeuteln zu locken.
Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und Erleichterung überkam Bruder Diaz. Allerdings blieb sie zu seiner Verzweiflung fast sofort mit einem erneuten Ruck wieder stehen. Zwei zerlumpte Priester, die offenbar rivalisierenden Bettlerorden angehörten, hatten sich ganz in der Nähe auf höhenverstellbare Kanzeln geschwungen, die nun unter dem Stöhnen gequälter Mechanik hoch über der Menge schwankten, und stritten so heftig darüber, wie die Ausführungen der Erlöserin über die Höflichkeit auszulegen seien, dass die Spucketröpfchen nur so flogen.
»Gott verdammt noch mal!« Wenn er daran dachte, wie schwer es gewesen war, seine Brüder im Kloster auszubooten. Mit wie viel Mühe er dafür gesorgt hatte, dass die Geliebten des Abtes nichts voneinander erfuhren. Wie sehr er damit angegeben hatte, dass er in die Heilige Stadt berufen worden war, zu etwas Besonderem auserkoren, für eine große Zukunft bestimmt.
Und hier würden seine Ambitionen ihr Ende finden. Begraben in einer Kutsche, versackt in einem Menschensumpf, auf einem engen, nach einem kaum bekannten Heiligen benannten Platz, an einem Ort, der kalt war wie ein Eishaus, geschäftig wie ein Schlachthaus und so dreckig wie ein Scheißhaus, eingepfercht zwischen einer bemalten Einzäunung voller amtlich zugelassener Bettler und einer Plattform aus Lindenholz für öffentliche Züchtigungen, auf der ein paar Kinder Strohpuppen verbrannten, die offenbar Elfen darstellen sollten.
Bruder Diaz beobachtete, wie sie auf die spitzohrigen, spitzzahnigen Figuren einschlugen und dabei jede Menge Funken aufstieben ließen, was ihnen den Beifall der Umstehenden eintrug. Nun waren Elfen natürlich Elfen, so viel war klar, und sicherlich waren sie verbrannt besser als lebendig, aber trotzdem lag etwas Beunruhigendes in den runden, kleinen Kindergesichtern, die vor herzloser Begeisterung glühten. Zwar war Theologie nicht unbedingt sein stärkstes Fach gewesen, aber er war sich ziemlich sicher, dass die Erlöserin ziemlich viel von Barmherzigkeit gesprochen hatte.
Eine weitere der Zwölf Tugenden war die Sparsamkeit. Das pflegte Bruder Diaz zu beherzigen, indem er regelmäßig einen großen Bogen um die Bettler vor den Klostertoren schlug. Aber manchmal musste man für profitable Entwicklungen im Vorfeld investieren. Er reckte sich wieder aus dem Fenster und schrie zum Kutscher hinauf: »Wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr mich rechtzeitig zum Himmlischen Palast bringt, zahle ich das Doppelte!«
»Wir sind in der Heiligen Stadt, Bruder.« Dem Kutscher war seine Entgegnung kaum ein Achselzucken wert. »Nur Verrückte geben hier Versprechen.«
Bruder Diaz zog den Kopf wieder ein, und Tränen brannten in seinen Augen. Unter einigen Verrenkungen rutschte er vom Sitz auf den Boden des Gefährts, zog die kleine Phiole hervor, die an einer Kette um seinen Hals hing und deren antikes Silber über die Jahrhunderte auf der Haut seiner Vorfahren blank gerieben worden war. »O gütige Sankt Beatrix«, raunte er und umklammerte das Schmuckstück verzweifelt, »heilige Märtyrerin und Hüterin der Sandale unserer Erlöserin, ich bitte nur um das Eine – bring mich rechtzeitig zu dieser Scheiß-Audienz mit der Päpstin!«
Augenblicklich bereute er, in einem Gebet geflucht zu haben, und er zog das Zeichen des Kreises über seiner Brust, aber noch während er die Hand zur Kreismitte führte, um sich zur Buße fest zu kneifen, ließ ihn die Heilige Beatrix ihren Unmut auf andere Weise spüren.
Es tat einen enormen Schlag auf das Kutschendach, das Gefährt schlingerte, und Bruder Diaz wurde heftig nach vorn geschleudert. Sein entsetzter Aufschrei verstummte, als er kräftig mit dem Mund gegen den Vordersitz knallte.
Alex hatte den Sprung vom Fenster aufs Kutschendach perfekt berechnet, rollte sich butterweich ab und kam geschmeidig wieder auf die Beine, aber dann versaute sie den eigentlich viel leichteren Sprung vom Kutschendach auf den Boden, verdrehte sich den Knöchel, geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte durch die Menge, bevor sie mit dem Mund voran gegen die dungverschmierte Flanke eines Esels knallte und bäuchlings in die Gosse fiel.
Der Esel war darüber ziemlich ungehalten – und sein Besitzer erst recht. Wegen des Geheuls der gerade vorüberziehenden Büßer konnte Alex nicht genau verstehen, was der Mann ihr entgegenbrüllte, aber schmeichelhaft war es nicht.
»Fick dich selber!«, schrie sie zurück. Ein Mönch glotzte sie aus der Kutsche heraus an. Er hatte Blut im Mund und diesen Blick verschwitzter Panik, den Touristen in der Heiligen Stadt leicht bekamen, und daher schrie sie an ihn gerichtet: »Und fick du dich auch! – Fickt euch gegenseitig«, fügte sie halbherzig hinzu und humpelte dann weiter.
Fluchen kostete immerhin nichts.
Sie zog sich ein Gebetstuch von einem Stand, als der Händler gerade nicht hinsah – für ihre Begriffe fiel das nicht unbedingt unter Diebstahl, sondern unter Reflex –, wickelte es sich um den Kopf und mischte sich unter die Büßenden, wobei sie sich alle Mühe gab, ebenfalls möglichst durchdringend zu jammern. Das war schon allein deswegen nicht weiter schwierig, weil ihr Bein heftig pochte und sie das Kribbeln der Gefahr im Nacken spürte. Sie streckte die Hände nach dem gezackten Streifen Blau hinter den unegalen Dächern aus und murmelte ein inbrünstiges Gebet um Vergebung. Ausnahmsweise meinte sie es sogar beinahe ehrlich.
So lief es nun mal. Wenn man abends versuchte, ein bisschen Spaß zu haben, dann begann man den nächsten Tag mit einem Gebet der Reue.
Gott, ihr war übel. Ihr Magen rebellierte, und die Säure stieg ihr in die raue Kehle; außerdem fühlte es sich ganz so an, als ob auf der entgegengesetzten Seite ihrer Verdauung auch einiges in Bewegung war. Vielleicht lag es am schlechten Fleisch von gestern Abend oder aber an den schlechten Aussichten von heute Morgen. Oder an dem Geld, das sie verloren hatte oder das sie anderen schuldete. Vielleicht war da auch noch ein bisschen Eselsdung auf ihren Lippen. Dazu kam der unheilige Gestank der Pilger, denen es verboten war, sich auf der langen Reise in die Heilige Stadt zu waschen. Sie zog sich einen Zipfel des Gebetstuchs über den Mund und sah verstohlen hinter sich, spähte durch den Wald aus erhobenen Armen …
»Da ist sie!«
So sehr sie sich auch immer anzupassen versuchte, sie fügte sich nie wirklich irgendwo ein. Hastig versetzte sie einem Pilger mit Augenbinde einen Stoß mit dem Ellbogen, schubste einen anderen beiseite, der auf seinen schorfigen Knien dahinrobbte, und stolperte so schnell die Straße entlang, wie ihr verdrehter Knöchel es zuließ. Nicht annähernd schnell genug für ihren Geschmack. Hinter ihr grölte jemand eine Hymne und hoffte dafür offenbar auf Kleingeld von Passanten, aber über den Lärm war deutlich Unruhe zu hören. Ein Kampf, wenn sie Glück hatte; diese Büßer konnten ziemlich hart zuhauen, wenn man ihnen bei ihrem Streben nach göttlicher Gnade in die Quere kam.
Sie flitzte um eine Ecke und gelangte auf den Fischmarkt im Schatten der Bleichen Schwestern. Um die hundert Stände, um die tausend Käufer und Verkäufer, die in enormer Lautstärke schlecht gelaunt miteinander feilschten, dazu der salzige Meeresgestank der frisch gefangenen Fische, die im wässrigen Sonnenlicht dieses Wintertags glitzerten.
Aus dem Augenwinkel gewahrte sie eine Bewegung und ließ sich aus Reflex fallen. Die Hand, die nach ihr griff, konnte ihr daher nur ein paar Haare ausreißen, als sie unter einen Karren tauchte, beinahe von stampfenden Hufen getroffen wurde, sich dann wegrollte, zwischen den Beinen eines Kunden hindurchglitt und dabei durch die schleimigen Gräten und Innereien rutschte, die zwischen den Ständen den Boden bedeckten.
»Verdammte Scheiße, jetzt hab ich dich!«
Eine Hand schloss sich um ihren Knöchel. Ihre Fingernägel zogen geschlängelte Furchen durch die Fischabfälle, als man sie ans Licht zerrte. Es war einer von Bostros Schlägern, ein Kerl, der einen wenig schmeichelhaften Dreispitz trug, mit dem er wie ein gescheiterter Pirat aussah. Sie schlug um sich, während sie auf die Beine kam, und erwischte ihn im Gesicht; allerdings hatte sie die Befürchtung, dass das fiese Knochenknacken eher von ihrem Knöchel als von seiner Wange stammte. Er bekam ihre Hand zu fassen und riss sie zur Seite. Sie spuckte ihn an und traf ihn im Auge, und als er zurückwich, trat sie ihn in den Schritt und brachte ihn ins Stolpern, während sie weiter mit der freien Hand um sich schlug. Auch wenn man sie erwischen sollte – freiwillig ergab sie sich deswegen noch lange nicht. Ihre Finger bekamen etwas zu fassen, und sie holte laut kreischend damit aus. Es war eine schwere Bratpfanne. Sie traf den Piratendarsteller mitten ins Gesicht und verursachte dabei ein Geräusch wie die Glocken, wenn sie zum Abendgebet riefen. Dem Kerl flog der blöde Hut vom Kopf, und er fiel der Länge nach hin; die Marktbesucher brachten sich schnell in Sicherheit, als überall heißes Öl umherspritzte.
Alex wirbelte herum; eine fischige Strähne ihres eigenen Haars verklebte ihr die Augen. Glotzende Gesichter, ausgestreckte Zeigefinger, Gestalten, die sich durch die Menge zu ihr hindurchdrängten. Sie sprang auf die Auslagen des nächsten Stands, dass die Bretter auf den Stützböcken gefährlich wackelten, und rannte über die Ausbeute der Fischer hinweg, während die Fische davonglitschten, die Krabben knackten und die Verkäufer ihr wüste Flüche hinterherschickten. Dann federte sie zum nächsten Stand hinüber, glitt auf einer riesigen Forelle aus und tat einen letzten, verzweifelten Schritt, bevor sie mit einer Drehung wegrutschte, auf ihre Schulter knallte und in einer Lawine Schalentiere unterging. Mit einem Keuchen rappelte sie sich wieder auf, humpelte auf einen schmalen Durchgang voller Abfälle zu und stellte leider erst nach vier Schritten fest, dass es sich um eine Sackgasse handelte.
Leicht vornübergebeugt blieb sie stehen und starrte entsetzt die vor ihr aufragende Mauer an, während ihre Hände sich hilflos öffneten und schlossen. Dann drehte sie sich ganz langsam um.
Bostro stand an der Einmündung der Sackgasse, hatte die großen Fäuste in die Hüften gestemmt, das breite Kinn vorgeschoben und wirkte wie ein ausdrucksloser, bedrohlicher Felsblock. Dann schnalzte er bedauernd mit der Zunge.
Einer seiner Schläger, der von der Verfolgungsjagd noch außer Atem war, schloss zu ihm auf. Der Typ, der beim Grinsen immer diese braunen Zähne zeigte. Gott, das war so eklig. Wenn man schon so breit grinste, dann doch wenigstens mit sauberen Zähnen, und wenn man solche Ruinen in der Fresse hatte, dann verzichtete man doch besser aufs Grinsen.
»Bostro!« Alex lächelte ihn so strahlend an, wie ihr das nur möglich war, während sie noch nach Luft rang; das war selbst für ihre Maßstäbe nicht besonders viel. »Ich hatte gar nicht gesehen, dass du das bist.«
Sein schwerer Seufzer passte zu seiner massigen Erscheinung. Er arbeitete seit vielen Jahren als Geldeintreiber für Papa Collini, und in dieser Zeit hatte man ihm sicherlich schon jeden Trick, jede Lüge, jede Entschuldigung und jede tränenrührige Geschichte aufgetischt, die es auf der Welt gab, wahrscheinlich sogar noch ein paar mehr. Und diese hier beeindruckte ihn gar nicht.
»Die Zeit ist abgelaufen, Alex«, sagte er. »Papa will sein Geld.«
»Schon in Ordnung.« Sie streckte ihm ihre pralle Geldbörse hin. »Hier ist der ganze Zaster.«
Dann warf sie ihm die Börse zu und stürmte noch im gleichen Augenblick davon, aber damit hatten die Männer gerechnet. Bostro fing den Geldbeutel, während sein kackzahniger Freund Alex am Arm zu fassen bekam, sie zu sich herumriss und gegen die Wand schleuderte, dass ihr Kopf gegen die Mauersteine krachte und sie in den Müll fiel, der natürlich auch hier den Boden bedeckte.
Bostro öffnete die Börse und beäugte ihren Inhalt. »Na, was für eine Überraschung!« Dreck krümelte heraus, als er sie umdrehte. »Deine Börse ist genauso voller Scheiße wie du selber.«
Inzwischen war auch der Möchtegern-Pirat zu ihnen gestoßen; eine rosa Schwellung von Pfannengröße zierte sein Gesicht. »Pass bloß auf«, schnaufte er und klopfte eine Beule aus seinem fischschleimbeschmierten Hut. »Die ist gemeingefährlich, wenn man sie in die Ecke treibt. Wie ein verhungertes Wiesel.«
Alex war schon schlimmer betitelt worden. »Jetzt hört doch mal«, krächzte sie, während sie sich aufrappelte. Sie fragte sich, ob die Kerle ihr die Schulter gebrochen hatten, und tastete vorsichtig danach – um sich gleich darauf zu fragen, ob es auch noch ihre Hand erwischt hatte. »Er kriegt sein Geld. Ich kann es ihm echt besorgen!«
»Wie denn?«, fragte Bostro.
Sie zog den Lumpen aus ihrer Tasche und faltete ihn mit angemessener Ehrfurcht auseinander. »Sehet die Fingerknöchelchen des Heiligen Lucius …«
Der Kerl mit dem Hut schlug ihr die Knochen aus der Hand. »Wir erkennen Hundefüße, wenn wir welche sehen, du betrügerisches Luder.« Das war schon ziemlich verletzend, wenn man bedachte, wie lange sie daran gearbeitet hatte, die Krallen abzufeilen.
»Hört mal«, sagte sie wieder, hob beschwichtigend die malträtierten, schmerzenden, fischigen Hände und wich ein paar Schritte zurück. Leider musste sie feststellen, dass die Straße hinter ihr schneller zu Ende war als gedacht. »Ich brauche einfach nur noch ein bisschen mehr Zeit!«
»Papa hat dir mehr Zeit gelassen«, erklärte Bostro, der ihr nachsetzte. »Die ist jetzt rum.«
»Das sind doch nicht mal meine eigenen Schulden!«, jammerte sie jetzt, was zwar stimmte, aber eigentlich keine Rolle spielte.
»Papa hat dich davor gewarnt, sie zu übernehmen, oder vielleicht nicht? Hast du aber trotzdem gemacht.« Das spielte leider eine Rolle, und es stimmte noch dazu.
»Ich kann das Geld problemlos aufbringen!« Ihre Stimme wurde immer höher. »Darauf könnt ihr euch verlassen!«
»Kannst du nicht, und wir verlassen uns auf gar nichts. Das weißt du auch.«
»Ich frage bei meinen Freunden um Geld!«
»Du hast doch gar keine.«
»Ich finde eine Lösung. Ich finde immer eine Lösung!«
»Diesmal offenbar nicht. Deswegen stehen wir ja hier. Halt sie fest.«
Sie versetzte Kackzahn mit ihrer gesunden Hand einen Fausthieb, den er aber kaum wahrzunehmen schien. Stattdessen schnappte er einen ihrer Arme, der Pirat den anderen. Alex trat um sich, wand sich und schrie um Hilfe wie eine Nonne, die Opfer eines Überfalls wird. Und wenn man sie auch niederwarf, sie würde immer wieder aufsteh…
Bostro rammte ihr die Faust in den Bauch.
Es gab ein Geräusch, als würde ein Stalljunge einen feuchten Sattel fallen lassen, und ihr ganzer Mumm löste sich in Luft auf. Ihre Augen wurden feucht, ihre Knie weich, und sie konnte nichts anderes tun, als zwischen ihren beiden Bewachern zu hängen und ein langes, würgendes Keuchen von sich geben, während sie zu dem Schluss kam, dass sie doch besser gleich liegen geblieben wäre.
Es ist tatsächlich überhaupt nichts Romantisches an einem Schlag in den Bauch, schon gar nicht, wenn er von jemandem kommt, der doppelt so groß ist wie man selbst, und man weiß, dass man bestenfalls noch mit einem zweiten Hieb rechnen kann. Bostro packte sie mit seiner Riesenfaust am Hals und sorgte dafür, dass ihr Keuchen zu einem feuchten Gurgeln mutierte. Dann zog er seine Zange hervor.
Eine Kneifzange aus Eisen. Schön poliert vom häufigen Einsatz.
Er wirkte angesichts der damit angekündigten Maßnahmen zwar nicht besonders glücklich, aber dessen ungeachtet fest entschlossen.
»Was nehmen wir denn?«, brummte er. »Zähne oder Finger?«
»Jetzt hör doch mal«, schnuffelte sie und verschluckte dabei beinahe ihre Zunge. Wie lange hatte sie auf Zeit gespielt? Hatte versucht, ein oder zwei Wochen mehr herauszuholen. Eine oder zwei Stunden. Jetzt ging es nur noch um Augenblicke. »Hör mal …«
»Such’s dir aus«, knurrte Bostro, und seine Zange ragte so dicht vor Alex auf, dass sie beim Blick darauf zu schielen anfing. »Sonst nehm ich beides …«
»Einen Augenblick!« Eine Stimme erschallte, scharf und befehlsgewohnt, und alle fuhren sofort herum. Bostro, die Schläger und auch Alex, soweit ihr das in Bostros Würgegriff möglich war.
Ein groß gewachsener, gut aussehender Mann stand in der Straßenmündung. In Alex’ Gewerbe lernte man schnell, auf einen Blick zu abzuschätzen, wie viel Geld jemand hatte. Wer beispielsweise reich genug war, dass sich ein Betrugsversuch lohnte. Und wer wiederum gleich so reich war, dass man ihn besser in Ruhe ließ. Der hier war richtig reich. Sein Gewand war an den Nähten zwar schon etwas abgewetzt, aber aus guter Seide, die mit Drachen aus Goldfaden bestickt war.
»Ich bin Herzog Michael von Nicäa.« Tatsächlich hatte er einen leicht osteuropäischen Akzent. Ein kahler Kerl, dem der Schweiß auf der Stirn stand, schloss hastig zu ihm auf. »Und das ist mein Diener Eusebius.«
Diese überraschende Wende mussten alle erst einmal verarbeiten. Der sogenannte Herzog musterte Alex aufmerksam. Er hatte ein freundliches Gesicht, dachte sie, aber sie konnte schließlich auch freundlich gucken und war trotzdem ein diebisches Luder, das wusste doch jeder. »Wenn ich richtig informiert bin, dann lautet dein Name Alex?«
»Ihr seid richtig informiert«, knurrte Bostro.
»Und du hast ein Muttermal unterhalb deines Ohrs?«
Bostro spreizte den Daumen, besah sich das freigelegte Stückchen von Alex’ Hals und hob die Augenbrauen. »Hat sie.«
»Bei allen Heiligen …« Herzog Michael holte sehr tief Luft und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah es aus, als ob Tränen darin schimmerten. »Du lebst.«
Bostro hatte seinen Griff so weit gelockert, dass Alex »Jedenfalls noch« herauspressen konnte. Zwar war sie genauso verblüfft wie alle anderen, aber der Sieg ging schließlich stets an jene, die ihre Überraschung am schnellsten überwanden und sofort begriffen, wo es etwas zu holen gab.
»Meine Herren!«, erklärte der Herzog. »Das hier ist niemand Geringeres als Ihre Hoheit Prinzessin Alexia Pyrogennetos, die lange verschollene Tochter der Kaiserin Irene und rechtmäßige Erbin des Schlangenthrons von Troja.«
Bostro hatte man zwar wirklich schon jeden Trick, jede Lüge, jede Ausrede und jede tränenrührige Geschichte einmal serviert, aber bei dieser hier machte selbst er ein verblüfftes Gesicht. Er schielte Alex an, als hätte ihm jemand gesagt, dass der Kackhaufen, den er gerade aus einem Ziegenarsch hatte kommen sehen, in Wirklichkeit ein Goldklümpchen sei.
Sie konnte nichts weiter tun, als ein sehr deutliches Achselzucken zustande zu bringen. Man hatte schon alles Mögliche zu ihr gesagt – Betrügerin, Schwindlerin, Diebin, Luder, diebisches Luder, verficktes Frettchen oder lügnerisches Wiesel; und das waren nur die ausgewählten Bezeichnungen, die sie als Kompliment aufgefasst hatte. Aber sie war noch nie, solange sie sich erinnern konnte, eine Prinzessin genannt worden. Noch nicht einmal im unlustigsten Scherz.
Kackzahn vollführte eine so heftige Gesichtsakrobatik, dass sogar die noch übler verrotteten Zähne weiter hinten in seinem Mund sichtbar wurden. »Was soll sie verfickt noch mal sein?«
Herzog Michaels Blick ruhte auf Alex, die noch immer im Griff der beiden Kerle hing wie ein billiger Teppich beim jährlichen Ausklopfen. »Ich gebe gern zu, dass sie nicht gerade … ausgesprochen prinzessinnenhaft erscheint. Aber sie ist, was sie ist, und damit werden wir wohl leben müssen. Daher muss ich darauf bestehen, dass ihr Ihre Hoheit sofort freigebt.«
»Freigebt?«, fragte der Möchtegern-Pirat.
»Sie loslasst.« Die freundliche Art des Herzogs bekam ein paar Risse, und Alex erkannte, dass darunter etwas wie Feuerstein lag. »Sofort.«
Bostro runzelte die Stirn. »Das Lügenwiesel hat Schulden bei unserem Boss.«
Der Pirat zog sich einen Zahn aus dem blutenden Mund. »Und das verfickte Frettchen hat mir ’nen Beißer ausgeschlagen!«
»Sehr bedauerlich.« Der Herzog betrachtete das rotbeschmierte Objekt mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das war offenbar noch ein richtig guter.«
Der Mann schleuderte den Zahn beiseite. »Ich fand ihn jedenfalls ziemlich gut.«
»Ich verstehe, dass ihr einige Unannehmlichkeiten hattet.« Herzog Michael fasste in eine der Taschen seiner goldverbrämten Robe. »Bei Gott, mir ist durchaus bewusst, wie anstrengend Prinzessinnen sein können, und daher …« Er hielt ein paar Münzen hoch. »Hier habt ihr etwas …« Nach kurzer Überlegung steckte er einige wieder ein, dann warf er den Rest auf das dreckige Pflaster. »Als Entschädigung.«
Bostro betrachtete das Geld und wirkte kaum mehr beeindruckt als von dem Dreck in Alex’ Börse. »Ich dachte, sie wär’ ’ne Scheiß-Prinzessin?«
»Bei der Ankündigung durch einen Herold wird gewöhnlich auf das Scheiß verzichtet, aber ansonsten ja.«
»Und dann ist ihr Leben nicht mehr wert als das da?«
»O nein«, sagte Herzog Michael. Sein Diener sank neben ihm elegant auf ein Knie, schlug den Mantel beiseite und zog ein großes Schwert hervor. Die fleckige Scheide war mit schimmerndem Draht bespannt, und der abgewetzte, goldene Knauf ragte jetzt zu seinem Herrn hinauf. Der Herzog berührte ihn mit einer Fingerspitze. »Euer Leben ist nicht mehr wert als das da.«
Ich … bin …«
Bruder Diaz ließ den Saum seiner Kutte fallen, nachdem er sie, um schneller laufen zu können, auf Kniehöhe zusammengerafft hatte wie eine Braut, die zu spät zu ihrer Hochzeit erscheint. Seine schlappenden Schritte hallten vom spiegelhell polierten Marmor zurück, während er in beständig wachsender Panik durch das Korridorlabyrinth des Himmlischen Palasts hastete.
»Ich … bin …« Er rutschte auf einem Fleck frischer Spucke aus, nachdem ein Grüppchen hochrangiger Büßer den Boden hier offenbar besonders engagiert saubergeleckt hatte. Gleichzeitig überkam ihn der Verdacht, dass ihm im Schritt dabei ein Unglück passiert sein mochte. Jedenfalls fühlte er nichts von der überwältigenden Würde, mit der er in seinen Träumen durch diese heiligen Hallen geschritten war, bevor man ihn endgültig offiziell für seine Qualitäten auszeichnete. Bei Gott, vor seinen Augen drehte sich alles. Wurde er ohnmächtig? Musste er sterben?
»Bruder Eduardo Diaz?«, fragte die unglaublich große Sekretärin.
Der Name kam ihm vage bekannt vor. »Ich glaube, ja …« Er stützte sich mit beiden Fäusten auf den Tresen und versuchte, sein Keuchen so weit zu unterdrücken, dass er für einen respektablen Posten auf der mittleren Ebene der Kirchenhierarchie geeignet erschien. »Und ich kann mich nur … dafür entschuldigen … dass ich zu spät komme.« Mit heroischer Anstrengung unterdrückte er den Reflex, sich auf den Empfangstresen zu übergeben. »Da war diese verdammte Menge von Gichtkranken, die sich wegen des Sankt-Aelfrics-Tags versammelt hatten! Und der Kutscher …«
»Ihr seid zu früh.«
»… hat sich auch überhaupt keine Mühe gegeben, und ich … Was?«
Die Sekretärin zuckte die Achseln. »Wir sind hier in der Heiligen Stadt, Bruder Diaz. An jedem Tag wird mindestens eines Heiligen gedacht, und alle kommen ständig zu spät. Wir passen aufgrund dieser Erfahrung alle Termine entsprechend an.«
Erleichtert sank Bruder Diaz in sich zusammen. Die gütige Sankt Beatrix hatte doch noch an ihn gedacht! Beinahe wäre er auf die Knie gefallen, um ihr an Ort und Stelle tränenreich dafür zu danken, aber da er befürchtete, anschließend nicht mehr auf die Beine zu kommen, blieb er lieber stehen.
»Aber keine Angst.« Die Sekretärin kletterte von einem offenbar sehr hohen Stuhl und erwies sich nun wirklich als überraschend klein. »Kardinalin Zizka hat Euch einen Platz in ihrem Terminkalender freigeräumt und darum gebeten, dass Ihr sofort nach Eurem Eintreffen zu ihr gebracht werdet.« Mit einer großen, theatralischen Geste deutete sie auf eine Tür.
Auf einer Bank davor saß ein hünenhafter Mann mit gefurchtem Gesicht und schiefen Knöcheln, der vielleicht auch auf einen Termin wartete. Er hielt die grauen Augen mit einer solchen Ruhe auf Bruder Diaz gerichtet, dass man hätte glauben mögen, der Himmlische Palast sei um ihn herum errichtet worden. Sein kurz geschnittenes Haar war eisengrau und von zwei langen Narben durchzogen, sein grauer Bart sauber gestutzt und von drei Narben durchzogen – und seine Augenbrauen waren beinahe mehr Narbe als alles andere. Er sah aus, als hätte er ein halbes Jahrhundert damit zugebracht, von einem Berg herabzustürzen. Wahrscheinlich von einem, der aus lauter Äxten bestand.
»Wartet«, murmelte Bruder Diaz. »Kardinalin Zizka?«
»So ist es.«
»Ich war der Auffassung, ich würde Ihre Heiligkeit die Päpstin sprechen … um eine Pfründe zu erhalten …«
»Nein.«
War es möglich, dass es für ihn jetzt doch einmal aufwärts ging? Ihre Heiligkeit mochte zwar das Herz der Kirche sein, aber sie vergab täglich viele Tausend irrelevante Posten, Ämter und Segnungen an eine Warteschlange irrelevanter Priester, Mönche und Nonnen und verschwendete daran vermutlich ebenso wenige Gedanken, wie sie ein Traubenleser jeder einzelnen Traube zumisst, die er von der Rebe pflückt.
Aber eine Unterredung mit Kardinalin Zizka, dem Oberhaupt der Irdischen Kurie, das war etwas völlig anderes. Sie war die unbestrittene Herrscherin über die ausufernde Bürokratie und die kolossalen Einkünfte der Kirche. Sie beachtete nur die Beachtenswerten. Und sie hatte Platz in ihrem Terminkalender freigeräumt …
»Nun, dann …« Bruder Diaz wischte sich den Schweiß von der Stirn, tupfte seine geschwollene Lippe ab, zog sich den verrutschten Habit zurecht und begann das erste Mal seit seiner Ankunft in der Heiligen Stadt zu lächeln. Es wollte scheinen, als hätte sich die gütige Sankt Beatrix sogar selbst übertroffen. »Dann kündigt mich doch bitte an!«
Angesichts der Tatsache, dass sie das Zentrum kirchlicher Macht repräsentierten, waren Kardinalin Zizkas Räumlichkeiten ein wenig enttäuschend. Gemessen an den Maßstäben eines Mönchs vom Lande war das Zimmer zwar riesig, wirkte aber absolut beengt, weil überall schwindelerregend hohe Papierstapel lauerten, die vor Quasten, Lesezeichen und Siegeln nur so strotzten und sich auf zwei gegenüberliegenden Bänken stapelten, als seien sie verfeindete Armeen kurz vor einer Schlacht. Bruder Diaz hatte eine gewisse Großartigkeit erwartet – jede Menge Fresken, Samt und Marmor sowie in jeder Ecke vergoldete Cherubim. Aber das Mobiliar, das sich auf dem schmalen Streifen zwischen den beiden Bürokratie-Klippen drängte, ging bestenfalls als langweilig und funktional durch. Die rückseitige Wand war eine einzige Steinfläche, die ein seltsames Wellenmuster aufwies, als sei sie einmal geschmolzen, herabgeflossen und dann ausgehärtet, vermutlich ein Überbleibsel der uralten Ruinen, auf denen der Himmlische Palast errichtet worden war. Die einzige Dekoration war ein kleines und ziemlich brutales Gemälde, das die Geißelung des Heiligen Barnabus darstellte.
Auf den ersten Blick war auch Kardinalin Zizka selbst eine gewisse Enttäuschung. Sie war eine robuste Frau mit ergrautem Haarschopf und damit beschäftigt, Papiere von einem Stapel zu ihrer Linken zu nehmen, sie in ernüchternd krakeliger Handschrift abzuzeichnen und dann auf einen Stapel zu ihrer Rechten zu legen. Ihre goldene Amtskette hatte sie über eine der Spitzen ihrer Stuhllehne gehängt, und die Vorderseite ihrer karmesinroten Amtstracht war stattdessen mit Krümeln übersät.
Hätte nicht der rote Kardinalshut verkehrt herum auf dem Tisch gelegen, hätte man den Raum für die Amtsstube eines niederen Schreibers halten können, der darin seinen wenig aufregenden Pflichten nachkam. Aber, wie Bruder Diaz’ Mutter gesagt hätte, das war kein Grund, von den eigenen Standards abzuweichen.
»Euer Eminenz«, intonierte er und vollführte seine eleganteste Verbeugung.
Sie war an die Kardinalin verschwendet, die nicht einmal den Kopf hob und weiter ihre Feder über die Papiere kratzen ließ. »Bruder Diaz«, knurrte sie. »Wie gefällt Euch die Heilige Stadt?«
»Sie ist ein Ort …« Er räusperte sich höflich. »Von bemerkenswerter Spiritualität?«
»Oh, zweifelsohne. Wo sonst könnte man wohl an drei verschiedenen Ständen, die keine Meile voneinander entfernt liegen, den eingeschrumpelten Ochsenziemer des Heiligen Eustacius erwerben?«
Bruder Diaz war sich schrecklich unsicher, ob er das als Witz oder als harte Anklage werten sollte, ergo rettete er sich dahingehend, gleichzeitig zu grinsen und den Kopf zu schütteln, während er murmelte: »Wahrlich ein Wunder …«
Glücklicherweise hatte die Kardinalin noch immer keinen Blick auf ihn verschwendet. »Euer Abt lobt Euch in höchsten Tönen.« Das sollte er wohl auch, wenn man bedachte, wie viele Gefallen ihm Bruder Diaz schon erwiesen hatte. »Sagt, Ihr seid der vielversprechendste Verwalter, den sein Kloster seit Jahren hatte.«
»Er erweist mir zu viel der Ehre, Euer Eminenz.« Bruder Diaz leckte sich die Lippen bei dem Gedanken daran, aus den einengenden Zwängen ebendieses Klosters auszubrechen und endlich all das zu beanspruchen, was ihm seiner Meinung nach zustand. »Aber ich werde mir jede erdenkliche Mühe geben, Euch und Ihrer Heiligkeit zu dienen, in welcher Funktion auch immer Ihr Euch wünscht, bis an die Grenzen …«
Er sprang auf, als sich die Tür geräuschvoll hinter ihm schloss, und als er herumwirbelte, sah er, dass ihm der vernarbte, graue Mann von der Bank draußen ins Amtszimmer gefolgt war. Justament bleckte er die abgewetzten Zähne und ließ sich auf einen der harten Stühle sinken, die vor dem Schreibtisch standen.
»Bis an die Grenzen …«, stolperte Bruder Diaz unsicher weiter voran, »meiner Fähigkeiten …«
»Das ist eine enorme Beruhigung.« Ihre Eminenz legte endlich die Feder beiseite und dann das letzte Dokument sorgfältig auf den rechten Stapel, rieb sich mit dem tintenfleckigen Zeigefinger den tintenfleckigen Daumen und hob den Kopf.
Bruder Diaz schluckte. Kardinalin Zizka mochte das öde Zimmer, die langweiligen Möbel und die fleckigen Finger eines unbedeutenden Schreibers haben, aber ihre Augen waren die eines Drachen. Und zwar eines außergewöhnlichen Exemplars, das sich nicht einmal ansatzweise auf der Nase herumtanzen ließ.
»Das hier ist Jakob von Thorn«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Neuankömmling. Dessen Hauklotzgesicht hatte schon im Korridor beunruhigend gewirkt, aber jetzt, da es plötzlich in Bruder Diaz’ privater Audienz auftauchte, war es absolut erschreckend. So, wie es lediglich unangenehm sein mochte, wenn man einen Bettler vor der eigenen Haustür entdeckte, aber völlig entsetzlich, wenn dieser Bettler unerwartet im eigenen Bett lag.
»Er ist ein Tempelritter, der sich dem Dienst im Namen Ihrer Heiligkeit verschworen hat«, fuhr Kardinalin Zizka fort, was ziemlich wenig erklärte und noch weniger beruhigend wirkte. »Ein Mann mit langer Erfahrung.«
»Lang.« Das eine Wort trat grollend über die unbewegten Lippen des Ritters, wie eine Handvoll alter Kiesel, die zwischen neue Mahlsteine geraten.
»Seine Ratschläge und seine Führung, vor allem aber auch sein Schwert, werden Euch von unschätzbarem Wert sein.«
»Sein … Schwert?« Bruder Diaz war sich nicht mehr sicher, welche Richtung seine Unterredung jetzt einschlug, aber ihm gefiel es überhaupt nicht, dass er dort, wo auch immer es ihn hinführen würde, ein Schwert brauchen sollte.
Kardinalin Zizka kniff die Augen leicht zusammen. »Wir leben in einer Welt voller Gefahren«, erklärte sie.
»Tun wir das?«, fragte Bruder Diaz, dachte dann kurz darüber nach und machte aus seiner Frage eine Bestätigung. »Das tun wir.« Natürlich nicht er persönlich, aber generell stimmte es wohl schon.
Er lebte in einer kleinen, aber – wenn er jetzt so darüber nachdachte – recht gemütlichen Zelle mit Meerblick, durch deren Fenster meist eine frische Brise wehte, die um diese Jahreszeit den Duft von Wacholder mitbrachte. In ihm wuchs der Verdacht, dass Wacholdergeruch nicht zu den Gefahren zählte, von denen die Kardinalin sprach. Ein Verdacht, der sich nur zu bald bestätigte.
»Die Kirchen des Ostens und des Westens sind gespalten.« Ihre Eminenz schien geradewegs durch Bruder Diaz’ Kopf in eine Ferne voller Bedrohungen zu blicken.
»Soweit ich weiß, konnte der Fünfzehnte Großökumenische Rat kaum etwas dazu beitragen, die bestehenden Probleme zu lösen«, lamentierte Bruder Diaz, der hoffte, mit seinem Wissen über aktuelle Ereignisse und theologische Grundlagen gleichermaßen zu punkten. Er wusste, dass es in der Ostkirche männliche Geistliche gab, dass dort das Rad und nicht der Kreis als heiliges Symbol galt, dass es eine heftige Auseinandersetzung über das richtige Datum für Ostern gab, aber er hatte, ehrlich gesagt, so gut wie keine Ahnung, welche tiefergehenden Unstimmigkeiten darüber hinaus noch vorliegen mochten. Das wussten in diesen Tagen die wenigsten.
»Die zahlreichen machtgierigen Fürsten Europas missachten ihre heiligen Pflichten und streiten miteinander um irdische Macht.«
Bruder Diaz schlug die Augen fromm zur Decke. »Sie alle werden sich dafür im Jenseits verantworten müssen.«
»Mir wäre es lieber, sie müssten das schon wesentlich früher tun«, bemerkte Kardinalin Ziska, und in ihrer Stimme lag eine Schärfe, bei der sich die Härchen auf Bruder Diaz’ Armen aufrichteten. »Währenddessen suchen uns alle möglichen Ungeheuer heim. Kobolde, Trolle, Hexen, Hexenmeister und andere, die sich den vielen üblen Facetten der Schwarzen Künste verschrieben haben.«
Dafür fand Bruder Diaz so schnell keine Worte, und daher beschränkte er sich darauf, das Zeichen des Kreises auf seiner Brust zu ziehen.
»Und wir reden gar nicht erst von noch teuflischeren Mächten, die im Schutze der unfassbar endlosen Nacht jenseits der Welt den Untergang der gesamten Schöpfung planen.«
»Dämonen, Euer Eminenz?«, flüsterte Bruder Diaz und zog noch hingebungsvoller den nächsten Kreis.
»Zudem existiert natürlich weiterhin die ewige, apokalyptische Bedrohung durch die Elfen. Sie werden nicht bis in alle Ewigkeit im Heiligen Land bleiben. Die Feinde Gottes werden sich im Osten wieder erheben, mit ihrem gottlosen Feuer, ihren unreinen Giften und ihren verfluchten Begierden.«
»Verdammt sollen sie sein«, krächzte Bruder Diaz, der allmählich Gefahr lief, eine kreisförmige Rille in seinen Habit zu kratzen. »Ist das gewiss, Euer Eminenz?«
»Man hat die Orakel des Himmlischen Chors befragt, und sie lassen keinen Zweifel daran. Wir leben in einer Welt, die in Dunkelheit versinkt und in der unsere Kirche das einzige Licht darstellt. Die einzige Hoffnung für die Menschheit. Können wir Redlichen es zulassen, dass dieses Licht gelöscht wird?«
Das war endlich einmal eindeutig. »Absolut nicht, Euer Eminenz«, beteuerte Bruder Diaz und schüttelte energisch den Kopf.
»Und in diesem Kampf derer, die nur als die Guten bezeichnet werden können, gegen jene, die man nur böse nennen kann, ist eine Niederlage unvorstellbar.«
»Absolut unvorstellbar, Euer Eminenz«, echote Bruder Diaz, der jetzt energisch nickte.
»Da nun Gottes Schöpfung und alle Seelen darin auf dem Spiel stehen, wäre jede Form der Zurückhaltung nichts als Wahnsinn. Nichts als eine feige Vernachlässigung unserer heiligen Pflicht. Eine Sünde.«
Allmählich beschlich Bruder Diaz der Verdacht, dass er sich auf ziemlich unsicheren theologischen Boden begab, wie ein tapsiger Bär, der bei der Verfolgung von Kaninchen auf einen nur mäßig zugefrorenen See gerät. »Na ja …«
»Es kommt eine Zeit, in der so viel auf dem Spiel steht, dass moralische Einwände selbst unmoralisch werden.«
»Tun sie das? Ich meine – ist das so? Das ist natürlich so. Oder nicht?«
Kardinalin Zizka lächelte. Allerdings gab ihr Lächeln irgendwie mehr Anlass zur Sorge, als wenn sie die Zähne gefletscht hätte. »Ist Euch die Kapelle der Geheiligten Zweckdienlichkeit ein Begriff?«
»Ich … äh, ich glaube nicht …«
»Sie ist eine der dreizehn Kapellen des Himmlischen Palasts. Sogar eine der ältesten. So alt wie die Kirche selbst.«
»Ich dachte immer, es gäbe zwölf Kapellen, die jeweils einer der Zwölf Tugenden geweiht sind …«
»Manchmal ist es notwendig, über bestimmte bedauerliche Tatsachen das Tuch des Schweigens zu breiten. Aber hier, im Herzen unserer Kirche, müssen wir über den äußerenSchein der Tugenden hinausblicken. Wir müssen die Welt so in Angriff nehmen, wie sie ist, und zwar mit allen verfügbaren Werkzeugen.«
War das hier eine Art Prüfung? Bei Gott, Bruder Diaz hoffte es inständig. Aber falls ja, dann hatte er keine Ahnung, wie er sie bestehen konnte. »Ich … äh …«
»Die Kirche muss natürlich treu an den Lehren unserer Erlöserin festhalten. Aber es gibt bestimmte Aufgaben und bestimmte Methoden, für welche die Untadeligen und Getreuen … nicht taugen.«
Bruder Diaz überlegte sich, dass man das so betrachten konnte, wenn man ein Auge ganz fest zudrückte, aber er selbst wollte mit solchen Praktiken ganz sicher nichts zu tun haben. Er sah zu Jakob von Thorn hinüber, aber der war keine Hilfe; der Mann sah vielmehr so aus, als ob er mit absolut untadeligen Methoden arbeitete. »Ich bin nicht sicher, ob ich hier folgen kann …«
»Solche Aufgaben und solche Methoden übernimmt die Gemeinde der Kapelle der Geheiligten Zweckdienlichkeit.«
»Die Gemeinde?«
»Unter der Führung ihres Vikars.« Bei diesem Wort hob Zizka bedeutungsvoll ihre Augenbrauen.
Bruder Diaz konnte seine eigenen nicht davor zurückhalten, ebenfalls in die Höhe zu schnellen. Zögerlich legte er die Spitze seines Zeigefingers an seine Brust.
»Ihre Heiligkeit hat Euch für diese Aufgabe auserwählt. Baptiste wird Euch Euren Schäfchen vorstellen.«
Als Bruder Diaz erneut herumwirbelte, stellte er fest, dass hinter ihm eine Frau an der Wand lehnte, die Arme vor der Brust gekreuzt. Er hätte nicht sagen können, ob sie geräuschlos hinter ihm hereingeschlichen war oder schon die ganze Zeit über dort gestanden hatte, und es war ihm herzlich egal. Woher sie stammte, war schwer zu sagen – am ehesten wohl von irgendwoher aus dem Mittelmeerraum, vermutete er –, und sie erschien ihm ganz genauso Unheil verkündend wie Jakob von Thorn, wenn auch auf genau entgegengesetzte Art und Weise. Während er gedeckte Kleidung trug, war ihre ziemlich ausgefallen, und ihr breites Gesicht war ausdrucksvoll, seines eher streng. Sie hatte ebenfalls Narben. Eine zog sich über ihre Lippen. Eine weitere befand sich unterhalb ihres Augenwinkels, was Bruder Diaz an eine Träne denken ließ, und bildete einen seltsamen Kontrast zu dem amüsierten Ausdruck, der die ganze Zeit über auf ihren Lippen lag.
Sie zog einen goldgesäumten Hut und verneigte sich so tief, dass ihre dunklen Locken über die Fliesen strichen. Als sie sich wieder aufrichtete, überkreuzte sie die Füße, die in Stiefeln mit goldenen Schnallen steckten, und bot damit ein Bild der Lässigkeit, das angesichts von Bruder Diaz’ unaufhaltsam wachsender Panik geradezu beleidigend wirkte.
»Gehört sie … zu meinen Schäfchen?«, stammelte er.
Aus Baptistes amüsiertem Ausdruck wurde ein Grinsen. »Määääh«, sagte sie.
»Baptiste könnte man im einzigartigen Kontext der Kapelle als etwas bezeichnen …« Kardinalin Zizka hielt kurz inne und musterte die Genannte sinnend. »Das vielleicht einer Laienpriesterin gleichkommt.«
Jakob von Thorn gab ein seltsames Schnauben von sich. Wäre das Geräusch von jemandem mit einem anderen Gesicht gekommen, hätte Bruder Diaz es vielleicht als Kichern wahrgenommen.
»Ich habe einige Wochen in einem Nonnenkloster verbracht, näher bin ich einer Ordination nie gekommen.« Baptiste bemühte sich, ihren ungebärdigen Schopf wieder unter ihren Hut zu stopfen, was ihr nur unvollkommen gelang; einige Strähnen hingen weiter lose herab. »Das hat den Nonnen zwar nicht gefallen, aber sie brauchten das Geld.«
»Den Nonnen?«, fragte Bruder Diaz.
»Nonnen müssen trinken, Bruder, wie jeder andere Mensch auch. Vielleicht sogar noch mehr. Es war mir eine Ehre, mehreren ehemaligen Vikaren der Kapelle zu dienen, darunter auch Eurer Vorgängerin.«
»In welcher Weise?«, fragte Bruder Diaz, dem bereits vor der Antwort graute.
Jetzt wurde aus Baptistes Grinsen ein Lächeln. Hinter der Narbe, die über ihren Mund verlief, hatte sie zwei Goldzähne, oben und unten. »Wie auch immer es zweckmäßig war.«
»Ihr wirkt etwas überrumpelt«, sagte Ihre Eminenz.
Das war eine gewaltige Untertreibung. Bruder Diaz war sich nicht sicher, in was er hier hineingeraten war, aber was auch immer es war, er wollte wieder heraus, und ihn beschlich allmählich das Gefühl, dass es dafür zu spät sein könnte, wenn er sich jetzt nicht beeilte. »Nun ja, Ihr müsst wissen … meine Stärke liegt vor allem … in Verwaltungsaufgaben?« Die fensterlose Steinfront hinter Kardinalin Zizka wirkte auf ihn inzwischen wie die Mauer einer Gefängniszelle. »Ich habe Bücher neu sortiert. In unserer Bibliothek. Im Kloster. Das war mein großer … Beitrag.« Nachdem er sich monatelang bemüht hatte, seine Leistungen unglaublich aufzublasen, setzte er nun alles daran, sie möglichst kleinzureden. »Rechnungen. Papierkram. Ein paar Verhandlungen über Weiderechte und dergleichen. Tintenkleckserei.« Er kicherte, aber außer ihm lachte niemand, und daher starb seine Erheiterung einen ähnlich schmerzvollen Tod wie der Heilige Barnabus in seinem schlichten Bilderrahmen an der Wand. »Von daher, äh …« Er deutete auf Jakob von Thorn. »Ritter und …«, jetzt deutete er auf Baptiste, »äh …« Ihm dämmerte, dass er keine Ahnung hatte, als was er sie bezeichnen sollte, daher verstummte er kurz und stotterte dann weiter: »Und Teufel aus der endlosen Nacht jenseits der Welt …«
»Ja?«, fragte Kardinalin Zizka, die allmählich ziemlich ungeduldig wirkte.
»Das scheint mir alles ein wenig … jenseits meiner bisherigen Erfahrungen zu liegen?«
»Hatte die Heilige Evariste etwa Erfahrung, als sie mit nur fünfzehn Jahren den Speer ihres Vaters zur Hand nahm und den Dritten Kreuzzug gegen die Elfen anführte?«
»Aber wurde sie am Ende nicht auch … zumindest ein wenig …« Bruder Diaz wand sich sichtbar. »Bei lebendigem Leibe gefressen?«
Die Kardinalin runzelte die Stirn. »Wir kämpfen um unsere bloße Existenz und stehen gnadenlosen Feinden gegenüber. Um einen Krieg zu gewinnen, muss man manchmal zu denselben Waffen greifen wie sein Gegner. Wer Feuer bekämpft, muss bereit sein, Feuer einzusetzen.«
Bruder Diaz’ entsetzte Miene wurde noch entsetzter. »Aber würde man daraus nicht folgern, Euer Eminenz, dass man zum Kampf gegen Teufel … bereit sein sollte … mit Teufeln zu arbeiten?«
Jakob von Thorn lehnte sich mit einer schaukelnden Bewegung nach vorn, bleckte die Zähne und erhob sich steifbeinig. »Ihr habt’s erfasst«, sagte er.
»Dies ist eine enorme Gelegenheit. Für Euer eigenes Vorankommen. Für die Förderung der Interessen der Kirche. Aber vor allem …« Kardinalin Zizka stand auf, nahm ihre Amtskette von der Stuhllehne und warf sie sich schief über die Schultern, sodass der juwelenbesetzte Kreis in der Mitte hin und her schlenkerte. »Es ist eine Gelegenheit, Gutes zu tun.« Dann setzte sie sich ihren Kardinalshut auf und machte damit deutlich klar, dass diese Besprechung beendet war und das Ergebnis unverrückbar feststand. »Ist das nicht unser aller Grund, in die Kirche einzutreten?«
Bruder Diaz war von seiner Mutter in die Arme der Kirche getrieben worden, damit seiner Familie weitere Peinlichkeiten erspart blieben. Aber er bezweifelte stark, dass das Oberhaupt der Irdischen Kurie so etwas hören wollte. Und wenn es etwas gab, womit Bruder Diaz tatsächlich jede Menge Erfahrungen hatte, dann damit, anderen Leuten genau das zu sagen, was sie hören wollten.
»Natürlich«, erklärte er und brachte ein schwindsüchtiges Lächeln zustanden. »Um Gutes zu tun.«
Was zur Hölle das auch immer heißen mochte.
Alex stand am Fenster, spürte einen kühlen Luftzug an der Wange und ein warmes Feuer im Rücken, rieb sich die bandagierten Knöchel und sah zur Heiligen Stadt hinab.
Von so weit oben, wenn man nicht tief in ihren Eingeweiden schmorte, schien sie ein völlig anderer Ort. Sogar ein ziemlich schöner. Gärten und Paläste krönten die Hügelkuppen; Engelsstatuen krönten die Giebel. Breite Straßen und hohe Häuser zogen sich über die Hänge, viele Dutzend Kirchtürme und Schreine, an deren Spitzen der Kreis der Gläubigen prangte. Unten in den Tälern löste sich all das jedoch im planlosen Labyrinth der Elendsviertel auf, deren Hüttendächer vom Schneeregen, der bis eben noch gefallen war, feucht glänzten. Die Stadt war auf Ruinen, aus Ruinen und rund um Ruinen errichtet worden; hoch aufragende Steinblöcke, formlose Gesteinskleckse und umgestürzte, mit Schlingpflanzen überwucherte Mauerreste bildeten die letzten Spuren eines gefallenen Großreichs und ragten in die Luft wie die Knochen eines riesenhaften Leichnams. Die Bleichen Schwestern – zwei bröckelnde Säulen, die von einem riesenhaften Tempel übrig geblieben waren – bohrten sich wie Finger in den Himmel. Ein paar gerissene Priester hatten darauf zwei rivalisierende Glockentürme errichtet, die sich zu jeder Gebetsstunde hoch über der Stadt ihr Läuten entgegenschleuderten wie Zwillingsbabys, die schreiend um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter wetteiferten.
Von hier oben hätte man nie geahnt, wie viel Zank und Streit in ihren langen Schatten tobte; dort unten war man einer frischen Brise ungefähr so nahe wie eine Elfe dem Himmelreich. Wie Ameisen kletterte der menschliche Abschaum in den engen Gassen übereinander. Nur mit Lug und Trug und Brutalität kam man voran. Bruchstücke von Hymnen und der Lärm der Marktschreier drangen zu Alex herauf, abgeschwächt vom kalten Wind, die Bekundungen von Glauben und Zorn gedämpft von der Entfernung, als ob sie das alles jetzt plötzlich nichts mehr anging.
Ein Trupp Nonnen hatte sie gebadet, abgeschrubbt und sie dann in ein Gewand gesteckt, auf das mit Silberfaden die Gesichter von Heiligen aufgestickt waren. Der Pelzbesatz am Kragen war so warm an ihrer Wange, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihr eigenes Gesicht im Spiegel nicht mehr wiedererkannt. Und auch ihre eigenen Hände nicht, weil der Dreck unter den abgekauten Nägeln fehlte. Wahrscheinlich war sie noch nie in ihrem Leben so sauber gewesen, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Es machte sie immer noch nervös, wie sich ihr eigenes Haar jetzt anfühlte, nachdem die vielen Tausend Kletten herausgeschnitten worden waren und man es gekämmt hatte, bis es glänzte.
Den Kamm hatte man liegen gelassen. Er war aus Silber und hatte Intarsien aus Bernstein am Griff. Sie fragte sich, wie viel Beutelschneider-Gal dafür geben mochte und wie viel mehr das Ding tatsächlich wert war. Ihre Hand kroch immer wieder darauf zu; tapp, tapp, tapp klopften ihre Finger auf dem Fensterbrett. Nach ihrem Verständnis wäre es kein Diebstahl gewesen; sie nahm ja nur etwas, das andere offenbar nicht mehr wollten.
Wenn man nicht wollte, dass man beklaut wurde, dann ließ man so einen Kamm doch nicht bei einer Diebin zurück …
Ein Klopfen kam von der Tür, und sie zog die Hand hastig zurück. Ihr Herz schlug wie wild, und sie verspürte das verzweifelte Bedürfnis, aus dem Fenster zu springen und ein Fallrohr hinabzurutschen, weil eine hektische Stimme in ihrem Kopf kreischte, dass sie das Opfer einer groß angelegten Betrügerei geworden war und schon bald dafür büßen würde.
Aber es gab auch eine kältere, leisere Stimme in ihr, die ihr zuraunte, dass sie vielleicht mehr aus der ganzen Sache herausholen konnte als einen hübschen Kamm. Viel mehr. Dazu musste sie doch nur anderen etwas vormachen, und war sie nicht eine erfahrene Lügnerin? So viele Rollen hatte sie gespielt, dass sie schon gar nicht mehr wusste, was eigentlich ihre echte war. Sie war eine Zwiebel, die nur noch aus Häuten bestand, ohne irgendeine Mitte.
Also holte sie langsam Luft, lockerte ihre Fäuste und versuchte dann, nicht so verkrampft auszusehen wie üblich, sondern, als ob sie hierhergehörte. Sie probierte es mit einem gesäuselten »Herein«, wie eine Prinzessin es rufen mochte, aber dabei gurrte sie die erste Silbe wie eine Taube und quiekte bei der zweiten wie ein Schwein. Während die Tür aufschwang, schämte sie sich schon für diesen Auftritt.
Es war ihr unerwarteter Retter, der angebliche Herzog Michael. Er lächelte sie verlegen an, als ob er ihr nicht ganz traute, und das zeugte immerhin von einer recht guten Menschenkenntnis. Sie war schließlich eine verräterische Ratte, das wusste doch jeder.
»Na«, sagte er, »ist es so nicht besser?«
Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und hoffte, dass die Geste gewinnend wirkte; allerdings war ihr nicht ganz klar, was »gewinnend« eigentlich bedeutete, und dementsprechend unsicher war sie, wie sich so ein Eindruck vermitteln ließ. »Das Fischzeug ist aus meinen Haaren raus«, sagte sie schließlich.
»Hat man dich gut behandelt?«
»Besser jedenfalls, als wenn ich in die Hände dieser drei Arschlöcher auf dem Markt gefallen wäre. Ihr hättet die Kerle abmurksen und das Geld behalten sollen.« Oder, besser noch, es ihr gegeben.
»Der Allmächtige hat es nicht so mit dem Abmurksen«, erklärte Herzog Michael, »wenn ich mich recht an die Heilige Schrift erinnere.«
»Soweit ich weiß, macht er aber jede Menge Ausnahmen.«
»Das ist Gottes Vorrecht; es ist eher unwahrscheinlich, dass er auf einem Fischmarkt abgestochen wird.«
»Ihr hattet ein Schwert.«
»In den langen Jahren, die ich eine solche Waffe führe, habe ich eins gelernt – Männer mit Schwertern sterben ganz genauso leicht wie andere, in der Regel sogar viel früher. Davon abgesehen, konnte ich Eusebius nicht derart in Gefahr bringen. Neue Herzöge lassen sich mit einem Federstrich erschaffen, aber gute Dienstboten sind ein rares Gut. Darf ich eintreten?«
Alex wusste nicht genau, ob sie das jemals schon gefragt worden war. Noch nie zuvor hatte sie eine eigene Wohnung besessen. Davon abgesehen, hatten die Leute, mit denen sie gewöhnlich zu tun hatte, auch nicht die Angewohnheit, um Erlaubnis zu fragen. Von daher genoss die die kleine Pause, bevor die schließlich eine gönnerhafte Kopfbewegung machte und huldvoll erklärte: »Ihr dürft.«
»Vermutlich hast du … ein paar Fragen.« Herzog Michael schritt federnd ins Zimmer.
»Ein oder zwei.« Sie sah ihm geschäftsmäßig ins Gesicht. »Die erste wäre: Geht’s hier irgendwie um Sex?«
Er lachte laut auf. »Nein. O Gott, nein. Ganz und gar nicht.«
»In Ordnung. Gut.« Alex versuchte, ihre Erleichterung nicht zu deutlich zu zeigen. Aber so musste sie jedenfalls keine der Bedingungen aushandeln, die sie sich für diesen Fall schon zurechtgelegt hatte.
»Ich bin dein Onkel, Alex. Ich suche schon seit sehr langer Zeit nach dir.« Er trat einen Schritt näher. »Du bist jetzt in Sicherheit.«
»In Sicherheit«, murmelte sie und musste sich beherrschen, nicht einen Schritt zurückzutreten. Mit dem Konzept von in Sicherheit war sie noch weniger vertraut als mit darf ich eintreten. Da war also ihr reicher Onkel ganz plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und erzählte ihr jetzt, dass sie etwas Besonderes war. Für so etwas genügte nicht einmal der Ausdruck zu schön, um wahr zu sein. »Seid Ihr wirklich ein Herzog?«
»Das bin ich tatsächlich. Allerdings fehlt mir derzeit das Herzogtum.«
»Ein bisschen unvorsichtig, so ein Herzogtum zu verlieren.«
»Es wurde mir geraubt.« Er trat noch einen Schritt näher. »Weißt du irgendetwas über die politische Lage im Kaiserreich des Ostens?«
Sie hätte ihm eine treffende Schilderung der politischen Lage in den Elendsvierteln geben können, aber das Kaiserreich des Ostens war ihr stets vergleichsweise weit weg erschienen. »Da gibt es möglicherweise ein paar Lücken in meiner Schulbildung …«
»Du hast aber schon einmal von Kaiserin Theodosia der Gesegneten gehört?«
»Na klar«, log Alex.
»Sie hatte drei Kinder. Irene, Eudoxia und … mich.«
»Eure Mutter war eine Kaiserin?«
»Deine Großmutter war eine Kaiserin. Eine sehr bedeutende. Als sie starb, hätte meine ältere Schwester Irene gekrönt werden sollen, aber meine jüngere Schwester Eudoxia …« Er wandte sich ab, und ihm brach die Stimme. »Eudoxia ermordete sie und bemächtigte sich des Throns. Es gab einen Bürgerkrieg.« Nun starrte er ins Feuer und schüttelte den Kopf, als sei er von tiefem Bedauern übermannt. »Es kam zum Krieg, zu einer Hungersnot und schließlich zur Spaltung der Kirchen des Ostens und des Westens, und die große Feste Troja verfaulte von innen heraus. Irenes Bedienstete wollten die kleine Tochter ihrer Herrin in die Heilige Stadt bringen, damit die Päpstin sie beschützte. Aber auf dem Weg dorthin verschwand sie. Wurde umgebracht. Jedenfalls habe ich das lange Zeit geglaubt.« Er sah Alex an. »Sie hieß Alexia.«
»Und Ihr denkt … das bin ich?«
»Ich weiß es. Du hast dieses Muttermal am Hals, und die Kette, die du da trägst …« Er deutete auf das Metall, das unter dem schönen Pelzkragen hervorschaute.
Alex zog das Gewand schnell darüber. »Die ist nichts wert.«
»Da irrst du dich. Hängt vielleicht zufällig eine halbe Münze daran?«
Ganz langsam zog sie das Schmuckstück nun doch hervor. Von den Kettengliedern baumelte die helle halbe Kupferscheibe, vom jahrelangen Tragen auf ihrer Haut poliert, und die gezackte Bruchkante der Münze funkelte. »Woher wisst Ihr das?«
Er fasste an seinen Hals und zog ebenfalls eine Kette hervor, und Alex bekam große Augen, denn daran hing ebenfalls eine halbe Münze. Herzog Michael kam näher und hielt sein Bruchstück an ihres, und Alex merkte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten, als sie erkannte, dass die beiden perfekt zusammenpassten. Eine ganze Münze ergaben.
»Die hast du an dem Tag bekommen, als du Troja verließest. Von daher bestand kein Zweifel daran, wer du warst. Ich wusste es in dem Augenblick, als ich dich sah.« Er lächelte, und diesmal war keine Verlegenheit mehr dabei; es war ein so warmes, offenes Lächeln, dass es sie fast überzeugte. »Selbst mit Fisch in den Haaren und einer Hand an deiner Kehle. Du siehst genauso aus wie deine Mutter.«
»Ich …« Alex schluckte. »Ich erinnere mich nicht an sie.«
»Sie war die Beste von uns. Immer so tapfer. So sicher.« Damit nahm er ihre gesunde und ihre verbundene Hand und hielt sie fest. Große, starke Hände hatte er, und warm waren sie auch, und nachdem sie den Impuls niedergerungen hatte, sich loszureißen, hatte diese Berührung etwas seltsam Beruhigendes.
»Hört mal«, stieß sie dann hervor, »ich weiß aber überhaupt nichts darüber … wie man als Prinzessin so ist.«
»Ich will nichts weiter«, sagte er, »als dass du so bist, wie du bist.«
Alex bezweifelte stark, dass er das auch noch sagen würde, wenn er sie erst einmal besser kannte. Aber Beutelschneider-Gal sagte immer: Nie das Opfer unterbrechen, wenn es gerade einen Fehler macht. Herzog Michael sah jetzt trübsinnig zu Boden, von daher ließ sie ihn einfach weiterreden.
»Vor ein paar Wochen erfuhr ich, dass meine Schwester Eudoxia gestorben ist. Was niemand besonders bedauert. Manche sagen, es war Gift. Andere sprechen von einem Experiment, das schiefging … ein letzter Akt von Hexenkunst, gepaart mit großer Selbstüberschätzung …«
»Hexenkunst?«, wiederholte Alex zweifelnd.
»Was auch immer, ihr Thron ist verwaist!« Michaels Blick glitt wieder zu ihrem Gesicht hinauf. »Es ist Zeit für deine Rückkehr.«
Sie zog die Brauen höher als je zuvor. »Auf einen Thron?«
»Auf den Schlangenthron von Troja.«
Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie eine Prinzessin genannt. Bei der zweiten bot er ihr schon die Kaiserinnenwürde an. Wenn es in dem Tempo weiterging, würde sie am Nachmittag ein Engel und bei Einbruch der Nacht eine Göttin sein.
»Ich kann es nicht erwarten, dass du es siehst, Alex«, rief er mit leuchtenden Augen aus. »Die Säule von Troja, einst errichtet von den Zauberwerkern des alten Karthago, überragt die Stadt, sodass der ganze Hafen in ihrem Schatten liegt. Auf ihrer Spitze befinden sich die berühmten Hängenden Gärten, schöner, als man sie sich erträumen könnte, und bewässert von den Bergquellen, deren Wasser über den Großen Aquädukt heranfließt.«
Er fasste sie an der Schulter und streckte nun die andere Hand aus, als täte sich dieser Anblick gerade vor ihnen auf.
»Die Basilika der Engelserscheinung erhebt sich über dem Grün, und Pilger drängen sich dicht an dicht, um die Reliquien der großen Kreuzzüge zu sehen! Und dann der Palast und vor allem der Pharos, das größte Leuchtfeuer Europas, auf dessen Spitze Sankt Natalias Flamme brennt und leuchtet wie ein Stern, um die Söhne und Töchter Trojas nach Hause zu geleiten!« Er wandte sich zu ihr um, fasste sie auch an der anderen Schulter und hielt sie auf Armeslänge von sich. »Unsere Heimat, Alex!«
Sie sah ihn verständnislos an. Ihr ganzer Instinkt, den sie über die Jahre auf die harte Tour geschärft hatte, riet ihr, das alles als Lüge abzutun – und hatte es jemals eine lachhaftere Sammlung von Spinnereien gegeben als die Geschichte, die ihr da gerade aufgetischt worden war?
Und dennoch: Sie war hier. Im Himmlischen Palast. Sie fror nicht, zum ersten Mal seit Wochen. Hatte einen Kamm, der mehr wert war als ihre Hände. Und trug ein Gewand, das mehr wert war als ihr Kopf. Irgendwie wirkte dieser Dreckskerl auch verdammt glaubhaft. Allmählich konnte sie sich vorstellen, dass es stimmte, was er von sich selbst behauptete. Mehr noch: Fast schon war sie sogar davon überzeugt, dass es stimmte, was er von ihr behauptete.
Herzog Michael riss sich wieder zusammen und nahm seine Hände weg. »Ich weiß, dass das alles … erst einmal ziemlich überwältigend sein muss. Gewiss auch beängstigend. Aber ich werde an deiner Seite stehen, auf jedem Schritt deines Wegs.«
»Ich hatte nie … irgendeine Familie …« Sie wusste kaum noch, ob sie die Wahrheit sagte oder schon wieder eine Rolle spielte. War vielleicht auch besser so. Auf diese Weise ließen sich die besten Lügen erfinden.
»Es tut mir so leid, Alex. Dass ich so lange gebraucht habe, um dich ausfindig zu machen. Lange Jahre hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Lass mich das wiedergutmachen. Lass mich dir jetzt helfen.« Seine Augen schimmerten ein wenig feucht, und sie kam zu dem Schluss, dass ein bisschen Mitweinen jetzt nicht schaden konnte. Sich ein paar traurige Geschehnisse in Erinnerung zu rufen, damit ihr die Tränen kamen, fiel ihr nicht weiter schwer.
»Ich kann es versuchen.« Schniefend blinzelte sie, setzte ein schüchternes kleines Lächeln auf und war mit ihrer Vorstellung insgesamt recht zufrieden.
»Mehr kann ich nicht verlangen.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Es gibt so viel zu erledigen. Du musst Kardinalin Zizka kennenlernen! Sie kann uns helfen. Bald schon, Alex, werden wir wieder dort sein, wo wir hingehören!«
Er lächelte, diesmal ohne einen Hauch von Verlegenheit, verließ das Zimmer und schloss die Tür.