The endless love: Sammelband 4 - Miamo Zesi - E-Book
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The endless love: Sammelband 4 E-Book

Miamo Zesi

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Beschreibung

Nach seiner Flucht aus der Heimat strandet Sami in München. Sein Plan ist, in die USA weiterzureisen, jedoch lernt er in einer Notsituation Wolf kennen. Er ist die erste Person, die sich seiner, ohne Hintergedanken zu haben, annimmt und ihm einen Job in seinem Schwulenklub Gayfive anbietet. Dort lernt Sami Leon, Wolfs Bruder, kennen. Der ein überzeugter Junggeselle ist. Er lässt es nicht zu, dass er sich zu Sami hingezogen fühlt und ist doch bereits in seinem Bann. Sami hingegen, der sich in Leon verliebt hat, hält sich zurück. Denn er kann sich nicht einfach so einem Mann hingeben. Dazu ist seine Vergangenheit viel zu präsent. In seinem Herz sind Kerben, die zu heilen nicht unbedingt eine Kleinigkeit ist. Zudem ist sein Körper in einer Weise verunstaltet, die es ihm nicht einfach macht, sich einem Mann anzuvertrauen. Werden die beiden zueinanderfinden? Leroy Jeffersson, Sohn einer Milliardärsfamilie, lebt in verschiedenen Welten. In der einen ist er ein angesehener Navy-Seal. Verrichtet seinen Dienst aus Überzeugung und mit großer Leidenschaft. Liebt die Arbeit in seinem Team. Er hält sein Privatleben auch vor seiner Familie sehr bedeckt, was für ihn immer mehr zur Belastung wird. Seit Jahren möchte er bei seinen Geschwistern in der Firma mit einsteigen. Allerdings gibt es da etwas, was niemand weiß. In dieser anderen Welt ist Liam. Ihm dieses Versteckspiel aufzuzwingen, ist eine Situation, die für Leroy immer schwieriger wird. Aber wie soll es anders gehen? Wie immer mit Happy End und Taschentuchalarm. Viel Spaß damit!

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The endless Love

Sami – Elay

Sammelband 4

 

Ein Roman von Miamo Zesi

 

Copyright/Impressum

 

© Rechte, was Schrift, Wort und Bild angehen, liegen

ausschließlich bei Miamo Zesi.

Hintere Str. 28 – 88437 Maselheim

www.miamo-zesi.de

Namen und Handlungen sind alle fiktiv und haben mit keinen Personen oder Plätzen etwas gemeinsam.

Cover: D-Design Cover Art

 

ISBN: 978-3-947255-72-6

 

 

Autorin

„Miamo Zesi“ ist das Pseudonym einer Autorin aus dem schwäbischen Biberach. Dort lebt sie mit ihrem Mann, zwei erwachsenen Kindern und dem Hund Mex. Sie liebt lange Spaziergänge im Wald. Dabei fallen ihr die Geschichten zu ihren Büchern ein. Mit der Reihe „The endless love“ hat sie ihren Jungs Leben eingehaucht. Wird sie gefragt, wie sie darauf kommt, schwule Liebesromane zu schreiben, antwortet sie: „Keine Ahnung – weil es Spaß macht.“

Sie wünscht viel Freude mit den Geschichten!

 

Hinweis:

Dieser Roman enthält ausgedachte, fiktive Sexszenen. Sie sind nicht für Minderjährige geeignet und keine Handlungsanleitung. Einen Rat allerdings sollte jeder beherzigen:

Sei safe, mach es mit Kondomen!

 

Dieser Roman ist genau das. Eine Geschichte. Bitte nehmt nicht alles, was ich geschrieben habe, ernst. Vieles davon wird in der heutigen vernetzten und digitalen Zeit nicht funktionieren. Bücher laden zum Träumen ein und nicht alles, was geschrieben ist, kann oder wird jemals so geschehen. Lasst euch in meine Welt der Fantasie mitnehmen und begeistern!

 

 

 

 

The endless love: Sami

 

 

 

 

 

Widmung

 

Meinen Freundinnen

Vorbemerkungen

 

Es handelt sich hier um ein komplett fiktives Buch ohne Recherche, was Länder, Menschen oder Gesetze angeht. Es ist allein meiner Fantasie entsprungen und hat nichts mit Plätzen oder Personen gemeinsam. Die Geschichte hat keinerlei religiösen Hintergrund und ist keiner realen Erzählung nach entstanden.

Inhaltsverzeichnis

 

The endless love: Sami3

1. Sami9

2. Zehn Jahre früher12

3. Platz der Schmerzen und des Todes24

4. München30

5. Stefan33

6. Brief38

7. Wolf und der Tag in ein neues Leben42

8. Wolf45

9. München, vier Jahre später53

10. Weihnachtsfeier59

11. Sammy65

12. Büro Leon68

13. Am anderen Tag86

14. Sascha97

15. Wolf101

16. Ein Tag später108

17. Pokerabend114

18. Valentins Reise zu Jamie123

19. Leon128

20. Valentin131

21. Rune – Melton146

22. Eröffnung153

23. Sammy171

24. Riley177

25. Team Nathan180

26. Im Hotel: Sammy192

27. Gefängnis: Nikla201

28. Sammy206

29. Frieda209

30. Gefängnis215

31. München225

32. Flughafen: Nikla231

33. Nikla235

The endless love: Elay239

34. Case241

35. Elay259

36. In der Küche267

37. Küche281

38. Schlafzimmer284

39. Küche287

40. Im Schlafzimmer289

41. Rune318

42. Rune und Tamino328

43. Zwei Wochen später339

44. Bad349

45. Elay370

46. Case386

47. Wochen später389

48. Daniel und Oskar402

49. Elay und Case412

50. Elay427

51. Im Schlafzimmer435

52. In der Küche438

53. Drei Wochen später441

54. Die Hochzeit447

The endless love: Leroy451

55. Leroy453

56. Liam460

57. Team Cole Hunter471

Teil eins

1. Sami

Nicht bitte nicht! Das darf nicht sein. Kamil ich!!! ... Ein letzter Blick, ein letztes kurzes Zucken und er ist ... tot. Kamil ist tot. Sein Kopf liegt neben dem Schafott. Ich selber bin im Schock. Kann nicht atmen vor Entsetzen. Kann es nicht glauben. Jetzt zerren sie mich zum Henker. Vorbei an Kamil, seinem leblosen verstümmelten Körper, vorbei an seinem auf dem Boden liegenden Kopf. Ich bin erstarrt und meine Beine gehorchen mir nicht. Höre nicht, was gesagt wird, was die umliegenden Menschen rufen. Nichts ist da. Nur dieses Rauschen ist in meinem Kopf. Dieses unwirkliche Rauschen und die Tatsache, dass Kamil mein Freund tot vor mir in seinem eigenen Blut, im Dreck liegt. Ich werde auf etwas festgeschnallt, keine Ahnung auf was und der Mann hinter mir zerreißt mir das Hemd am Rücken und beginnt mich unvermittelt, mit einem Stock zu schlagen. Diese Schmerzen holen mich zurück ins Hier und Jetzt und sie hören nicht auf. Angefeuert durch die berauschte oder auch aufgewiegelte Menge, schlägt der Henker zu. Immer fester, immer mehr wird meine Rücken malträtiert. Neben mir steht mein geliebter Vater und betet irgendeinen Scheiß aus dem Gebetbuch. Daneben meine verstörte, weinende Schwester und der Vollstrecker, der mich züchtigt. Falsch, vermutlich totschlägt, denn überleben kann man diese Strafe niemals. Meine Schreie werden leiser, nicht weil der Schmerz weniger wird, sondern weil meine Stimme bricht. Heiser ist von meinen Schmerzensschreien. Blut und Schweiß laufen an mir herunter. Immer nur denke ich: Was ist hier los? Was ist falsch gelaufen? Warum ich? Warum Kamil und auch warum Mutter? Warum wurde ich hier geboren, in einer Welt, die so schrecklich ist, die unbeschreiblich hart, unbeugsam und grausam ist? Warum nur? Plötzlich wird alles schwarz um mich herum. Vermutlich bin ich weggetreten, was nicht erlaubt wird. Ein Eimer kaltes Salzwasser wird über mir geleert. Dieser beißende Schmerz holt mich unvermittelt wie gewünscht zurück. Sekunden danach geht es weiter. Wie lange? Keine Ahnung. Irgendwann ist es vorbei. Meine Schwester wird von Vater weggezogen und ich bleibe als Mahnmal für alle anderen auf dem Platz der Schmerzen und des Todes liegen. Niemand darf mich berühren oder mir helfen. Entweder ich schaffe es von alleine oder ich verrecke. Was ihnen am liebsten ist. Am Rande bekomme ich mit, dass sie Kamils Leichnam wegtragen. Das erlebe ich bewusst. Tränen verschleiern mir jedoch die Sicht auf ihn. Dieser Schmerz in meiner Brust ist fast nicht zu ertragen.

Es ist dunkel, als ich erneut aufwache. Der Platz ist leer. Nur ich liege alleine an derselben Stelle wie die Stunden zuvor. Ich spüre das Pochen auf meinem Rücken, der Schmerz ist grausam. Selbst das Atmen ist nicht richtig möglich. Ich muss länger weggetreten sein. Habe von früher geträumt. Damals, als die Welt angefangen hat, verrückt zu spielen. Damals, als Vater sich in ein Monster verwandelt hat.

2. Zehn Jahre früher

Ich war fünf. Kann mich aber noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre.

 

Meine Mutter war so wunderschön. Sie lachte viel und wir waren glücklich zu dieser Zeit. Vater verlangte von meiner Mutter nicht, dass sie sich verschleierte. Eine Kopfbedeckung, ja, das gehörte sich so. Aber ihr Gesicht durfte jeder sehen und alle erkannten auch die Fröhlichkeit darin. Das sind meine wundervollsten Erinnerungen, die ich an sie habe. Die ein Fünfjähriger haben kann. Die sich mir eingeprägt haben, denn es dauerte nicht lange und alles wurde anders.

 

Angefangen hatte es an einem Abend, als wir Besuch bekamen. Ein Cousin von Vater, den ich noch nie gesehen hatte. Er kommt zusammen mit zwei weiteren Männern, die mir Angst machten. Auch meine Mutter war anders an diesem Tag.

Sie schickte meine Schwester Nikla früh in unser Zimmer. Sie wollte das zuerst nicht, denn sie ist drei Jahre älter als ich, aber Mutter setzte sich durch und irgendwie war da etwas in ihrem Gesicht, das Nikla veranlasst hatte, zu gehorchen. Ich wurde an diesem Tag von Vater stolz präsentiert. Mutter stellte sich hinter mich und lächelte mir beruhigend zu. Das Einzige, was die Männer sagten, war: »Du hast erst einen Krieger? Taugt deine Frau nicht zum Gebären?« Ich verstand damals nicht, was die Männer meinten. War dazu noch viel zu jung. Fühlte aber an meiner Schulter, wie Mutter zusammenzuckte. Erst viel später kapierte ich, was an diesem Abend geboren wurde. Heute nenne ich es: das Böse.

Vater veränderte sich fast von einem Tag auf den anderen und ich war verwirrt sowie auch meine Schwester Nikla. Sie durfte nicht mehr ohne Kopftuch das Haus verlassen. Vater brüllte Mutter oft an. Verbot ihr sogar, raus auf die Straße zu gehen, sondern erlaubte es nur, wenn er dabei war. Bald schon war es an der Tagesordnung, dass die beiden stritten.

Die bösen Männer, wie Nikla und ich sie nannten, kamen immer öfter zu Besuch und etwa ein Jahr später schlug Vater meine Mutter vor den Männern, weil sie ihm wegen einer winzigen Kleinigkeit widersprochen hatte. Die Männer lachten Mutter aus und nickten Vater wohlwollend zu. Ab diesem Tag wurde es noch schlimmer für Mutter und meine Schwester. Mir selber ging es gut. Ich wurde von Vater immer mit offenen Armen und zu jeder Zeit empfangen. Meine Schwester wurde fortan völlig ignoriert und Mutter ebenso. Sie durfte nicht mehr zu ihren Eltern fahren, ohne dass Vater sie begleitete und er fuhr nie mit ihr. Wir mussten dauernd beten und in den Schriften lesen. Viel auswendig lernen. Es war eine Zeit, an die ich mich mit Abscheu erinnere. Es sollte noch schlimmer kommen.

Mutter hatte immer öfter Streit mit Vater, der meist mit Gebrüll und Schlägen endete. Eines Tages blieb Mutter im Bett liegen und eine Frau vom Dorf kam, um sich um sie zu kümmern. Ich durfte nicht zu ihr. Nikla erklärte mir später, dass sie ihr Baby, einen Sohn, verloren habe. Vater tobte. Beschimpfte sie. Er benutzte Wörter, die ich zuvor noch nie gehört hatte. Sein Verhalten verunsicherte mich immer mehr.

Auch meine Schwester wurde immer stiller.

 

Als ich acht Jahre alt war, kamen an einem Morgen Männer und zerrten meine Mutter aus dem Haus und nahmen sie mit. Sie weinte, flehte meinen Vater an, das nicht zuzulassen. Nikla heulte und schrie panisch nach ihr. Vater knallt ihr eine und sperrte sie in ihr Zimmer. Mich nahm er bei der Hand und folgte den Menschen, er betete den kompletten Weg über. Ich war völlig verwirrt.

»Vater, was ist mit Mutter?« Er antwortet nur: »Lerne Sohn. Es ist Allahs Wille. Deine Mutter ist eine Hure.« Ich verstand nichts mehr. Meine Mutter? Sie ist der liebste Mensch auf der Welt. Ich versuchte es nochmals.

»Vater!«

»Sei still, Sohn.« Mutter wurde vor ein Gericht geschleppt, das aus verschiedenen Männern bestand. Ich kannte einen von ihnen. Er war einer der Männer, die öfter zu Besuch bei uns gewesen waren. Was geredet wurde, verstand ich nicht. Vater betete und Mutter heulte wie ein verletztes Tier. Ich war nur noch verwirrt. Mutter weinte, wimmerte, wehrte sich. Versuchte, um sich zu schlagen. Freizukommen. Ich wollte zu ihr rennen. Aber mein Vater hielt mich fest und schrie mich an: »Lerne, Sohn, und sieh, was passiert, wenn die Gesetze nicht befolgt werden!« Ich war außer mir, wollte mich losreißen. Das, was hier passierte, erkannte sogar ich als Kind, war falsch, so falsch. Mutter wurde auf einen Platz geschleift. An den Platz, dessen Name alle nur mit Schrecken aussprachen. Nie war dort jemand freiwillig. Er wurde nie genutzt. Weder zum Spielen noch zu sonst etwas. Er wurde gemieden. Nur an diesem Tag kamen diese Männer mit Waffen und sie beteten. Mutter schrie und weinte. Ich kann niemandem schildern, wie schlimm das für einen Achtjährigen war, der Zeuge einer Tat wurde, die so unaussprechlich war, dass einem die Worte fehlten. Sogar die Vorstellung dazu fehlte. Der Mann trat zu Vater. Reichte ihm etwas und sagte zu ihm: »Beginne, das Urteil zu vollstrecken. Sie ist eine Sünderin, hat dich bloßgestellt. Ist fremdgegangen. Sie ist es nicht wert, dass du zögerst. Geh.«

»Vater!«, rief ich und wollte mich losreißen. Dieser andere Mann jedoch hielt meine Hand. Und begann zu reden: »Bete, Sohn. Bete und lerne.« Er zwang mich dazu, den Kopf zu der Szene vor mir zu richten. Ich war so im Schock, dass ich mich nicht wehrte. Im Gegenteil. Als der erste Stein, den mein Vater warf, meine Mutter am Kopf traf, er dabei schrei: »Du Hure!«, fiel ich glücklicherweise in Ohnmacht und musste nicht mit ansehen, wie Mutter starb.

Meine Mutter wurde an diesem Tag getötet und mein Vater war der Erste, der den Stein warf. Nichts war danach wie zuvor. Nikla und ich hassten den Mann, der sich als unser Vater bezeichnete.

Nach diesem Tag durften wir den Namen unserer Mutter nicht mehr nennen. Mir ging es besser als Nikla. Denn meine Tage waren gefüllt mit Lernen. Ich durfte, nein musste zur Schule und wurde unterrichtet. Nikla zuliebe strengte ich mich an. Sie sagte immer wieder, dass Mutter das sagen würde, sie feuerte mich an. Drängte mich zum Lernen.

»Das ist ein Ausweg. Unser Ausweg, Sami. Du musst für uns beide lernen. Nur so können wir irgendwann von ihm weg.« Meine Schwester musste den Haushalt führen. Mit elf! Sie war so gut. So erwachsen. So perfekt. Sie putzte, kochte, tat alles, was Vater von ihr forderte. Wie sie dem Druck und der Gehässigkeit meines Vaters standhalten konnte, weiß ich bis heute nicht. Abends im Bett lernte sie mit mir. Auch wenn sie nicht mehr in die Schule durfte, Nikla lernte. Sie nahm meine Bücher und las sie. Brachte sich vieles selber bei und zusätzlich auch mir, wenn ich etwas nicht verstand. Bald aber hatte auch ich begriffen, was sie damit meinte, dass dies ein Ausweg sein konnte. Mit zehn wurde ich sogar an einem Computer angelernt und musste für Vater bald die Korrespondenz erledigen und ich lernte vieles, erkannte die Chance, die mir der Umgang mit dem PC eröffnete. Nur erwischen lassen durfte ich mich niemals. Ich las vieles und besprach es mit Nikla. Leise oder wenn Vater nicht da war. Dann redeten wir darüber, was es wohl bedeutete. Diese andere Welt da draußen, in der Frauen keinen Schleier tragen mussten. Mir fielen fast die Augen aus, als ich die ersten Oben-ohne-Bilder im Internet sah. Diese Art der Freizügigkeit überforderte mich völlig. Aber als ich mit Nikla darüber redete und ihre Meinung dazu hörte, verstand ich einiges. Ich glaube, Vater wusste gar nicht, wie gut Nikla gebildet war, dass wir Englisch sprechen konnten. Er wäre ausgerastet. Nikla war unendlich intelligent, viel mehr noch als ich. Sie war so mutig. Immer schon und sie hasste meinen Vater und seine Freunde abgrundtief. Vater stieg immer höher in der Gunst dieser religiösen, fanatischen Männer und er wurde bald oberster Richter bei uns im Bezirk. Er ließ viele Männer und Frauen im Namen seines Gottes oder Rächers oder was weiß ich auf diesem Platz töten. Oder bestrafen. Mit Hieben oder mit unaussprechlichen Dingen. Die Furcht ging bei uns um. Keiner traute sich, dagegen aufzubegehren. Ich und meine Schwester Nikla hassten meinen Vater von Tag zu Tag mehr. Aber wir waren Kinder und konnten aus dieser Situation im Moment nicht fliehen. Trotz alledem redeten wir viel miteinander. Versprachen uns beide, dass wir auf uns gegenseitig aufpassen und wir uns selber nie verlieren werden. Dass wir niemals fanatisch wie Vater werden. So voller Hass dem Westen gegenüber und den Andersgläubigen, wobei das, was er glaubte, in meinen Augen nicht das war, was richtig war. Er war fanatisch intolerant und grenzte sich von unserer Regierung und religiösen Oberhäuptern komplett ab. Es war hier in der Gegend ein Gebiet, das irgendwie gesetzlos war, nein nur Gesetze von bestimmten Personen galten. Und hier waren die meisten arm und viele unwissend. Der Großteil der Menschen war noch nie weiter weg gewesen als bis zum nächsten Dorf. Dass ich anders bin, verdanken wir nur unserer Mutter und unseren Großeltern, die Mutter auf die Schule geschickt hatten und sie lernen ließen. Sie hat uns früh geprägt und andere Werte vermittelt.

Dass sie dort auf unseren Vater getroffen war und sich in ihn verliebte, hat sie glaube ich oft bereut.

 

Es folgten schreckliche Jahre, die lieblos und voller Angst waren. Mit uns sprach fast keiner, was wiederum für mich und Nikla nicht das Schlechteste war. Die Menschen hatten Angst, dass wir Vater irgendetwas erzählten. Dass sie uns gegenüber etwas Falsches sagten und wir es Vater petzten. Wie gesagt, er zögerte mit seinen Urteilen nie und hatte kein Verständnis. Für ihn zählte nur das, was in seinen Augen richtig war. Keine Gnade, Zahn um Zahn. Dass er nach Mutters Tod nicht mehr heiratete, verwunderte uns. Nikla bekam ein Gespräch mit, bei dem auch die Freunde von Vater ihn drängten, sich eine Frau zu nehmen und Krieger in die Welt zu setzen, dass dies seine Pflicht sei. Er zögerte jedoch und redete sich damit heraus, dass er sich auf die Aufgaben hier im Ort konzentrieren wolle und er sich nach einer geeigneten Frau umsehen würde. Als ich dreizehn wurde, war es so weit und Nikla wurde ein junges Mädchen als Frau von Vater vorgestellt. Wieder waren wir entsetzt. Sie war die Tochter einer der Freunde von Vater und so alt wie ich selber. Jünger noch als Nikla. Vieles wurde von nun an schwieriger. Nikla hatte nichts mehr zu sagen. Regelte aber trotzdem noch alles, wurde nun erst richtig als Dienstmagd abgestellt. Die junge Frau weinte sehr viel. Trotzdem konnten wir ihr nicht vertrauen. Sie schlief in Vaters Bett. Die ersten Wochen hörten wir sie oft weinen, wenn sich Vater ihr aufdrängte. Es wurde besser, als sie schwanger wurde, aber Vater hatte kein Glück oder war es seine Strafe? Die junge Frau starb während der Geburt, sie war viel zu jung, um ein Baby zu gebären, noch zu zierlich, als dass der Kopf des Babys ohne Probleme durch den Geburtskanal ging. Sie starb, mit ihr auch das Kind und Vater betete, während sie schreiend im Bett lag und im Prinzip auf den erlösenden Tod wartete.

Vater wurde immer fanatischer und ich spürte, dass bald etwas passieren würde. Ich hatte Angst um mich und um Nikla. Wir planten sogar, abzuhauen. Wussten jedoch nicht wie und vor allem wohin.

Mit vierzehn und ein paar Monaten machte ich einen Wachstumsschub. Wurde sozusagen zum Mann. Bartwuchs setzte ein. Na ja, es war mehr ein Flaum! Ich kam in den Stimmbruch. Wurde zwar kräftiger, aber meine Statur blieb eher sehnig. Ich schlug mehr nach meiner Mutter. Vater machte mich mit anderen Männern bekannt, die mich weiter ausbilden sollten. Er wollte, dass ich mich mit Waffen auskenne und schießen lernte. Im Prinzip, dass ich das Töten lernte. Ein Kämpfer für die Sache wurde. Was er damit meinte, keine Ahnung. Das Gebiet wurde nur durch Angst regiert. Was sage ich, regiert? So etwas gab es nicht. Warum ich selber anders dachte, kann ich noch nicht einmal richtig begreifen oder fassen, aber für mich selber war klar, dass dies so kein Leben war. Ich träumte von den USA oder Europa, Länder, die für mich Freiheit und Gerechtigkeit bedeuteten. Vielleicht war es so, dass ich durch das, was ich erlebt hatte, zügiger erwachsen wurde, denn trotz meines Alters war mir klar, dass es in diesen Ländern ebenfalls Probleme gab und vor allem dass ich nicht willkommen sein würde. Ich hatte von Anschlägen gelesen und sie wurden auch von Vater und seinen sogenannten Freunden gefeiert. Wer würde mich schon haben wollen, aber das waren Tagträume, denen ich nachging.

Den Umgang mit Waffen zu lernen, wollte ich mich weigern, zuerst, aber nach einer deutlichen Ansprache von Vater, die mit einigen blauen Flecken und einem blau-grünen Auge für mich endete, ging ich mit den jungen Männern in dieses Ausbildungscamp. Was für ein Glück, dass mich auf dem Weg dorthin eine Schlange biss und ich dem Tode nahe zurückgebracht wurde. Nikla pflegte mich tagelang, nein eher wochenlang war ich schwach und nicht wirklich auf der Höhe. In dieser Zeit lernte ich Kamil kennen. Immer wieder versuchte ich, mit meinem Bein zu gehen. Es zu bewegen, immer weitere Strecken zu laufen. Vater hatte nichts dagegen. Er hieß es sogar gut, damit ich wieder stark werden würde. Auf einer dieser Touren traf ich auf Kamil. Er war fast zwanzig. Ein wunderschöner Mann. Alleine bei der Tatsache, dass ich einen Mann schön fand, sollten bei mir die Sirenen losgehen. Taten sie aber nicht. Kamil faszinierte mich vom ersten Moment an. Es brodelte etwas in mir und machte mir Angst. Denn ich wusste, dass dies auf keinen Fall erlaubt war. Nein, gefährlich war. Ich noch nicht einmal in diese Richtung denken durfte. Trotzdem konnte ich es nicht lassen und surfte unbeobachtet von Vater in seinem PC durch verbotene, westliche Seiten. War mir unsicher und auch geschockt, wenn ich ehrlich bin. Einige Tage später erzählte ich Nikla von meiner neuen Bekanntschaft. Sie sah mich mit schreckgeweiteten Augen an.

Ich kann mich an das folgende Gespräch noch genauestens erinnern.

»Sami, du darfst ihn nicht mehr treffen!«

»Warum?«

»Weißt du das denn nicht?«

»Nein, was ist denn mit ihm? Er ist nett. Ich mag ihn.« Nikla sprach das aus, was ich insgeheim befürchtet hatte.

»Er wurde vor einigen Monaten erwischt, wie er einem Mann einen Kuss gegeben hat, und wurde von Vater zu dreißig Stockhieben verurteilt. Nur weil sein Vater einiges zu sagen und Geld gezahlt hat, wurde er nicht sofort getötet. Du weißt, dass Vater so etwas nie dulden wird in seinem Bezirk.« Unschuldig frage ich Nikla: »Was meinst du mit so was?«

»Er hat einen Mann geküsst!«

»Aber Nikla, das ist doch lächerlich.«

»Ist es nicht. Lächerlich meine ich. Sami, du weißt, wie Vater das auslegt. Bitte pass auf!«

Hätte ich damals nur auf sie gehört. Habe ich aber nicht. Im Gegenteil. Kamil zog mich geradezu magisch an. Nicht das Verbotene, sondern meine Gefühle, die in mir waren. Etwa drei Wochen später nahm er zum ersten Mal meine Hand. Er streichelte mich an der Wange. Küsste mich und in mir wurde etwas wach, das niemals sein durfte. Ich stand auf und ging.

Ich wusste, dass er mir traurig nachsah, er war mir aber nie böse. Wie auch. Er wusste um die Gefahr und um das, was nicht sein durfte.

Ich ließ mir Zeit. Nicht viel. Schlief unruhig, konnte mit den erwachten Gefühlen nicht umgehen und da war Vater, seine Ansichten, seine Religion, auf die er so pochte. Und wenn es stimmt, und ich niemals ins Paradies komme? Will ich dort überhaupt hin? Zu diesen Männern, die Mutter getötet haben? Frevlerische Gedanken, die ich nie laut aussprechen durfte, und es war ein Wunder, dass ich so dachte. Nicht bereits vergiftet war von dem, was man glauben musste. Eine Woche später wartete ich wieder an unserer Stelle auf ihn und wurde nicht enttäuscht. Wir sprachen lange miteinander. Kamil erzählte mir so vieles und das meiste machte mich nur traurig. Er war einsam, so unendlich einsam und es tat ihm gut, mit jemandem zu reden, der ihn nicht verurteilte, vor dem er sich nicht verstecken musste. Jemandem, dem es ähnlich ging wie ihm selber.

Nikla deckte mich und dafür werde ich ihr ein Leben lang dankbar sein. Eines Abends jedoch wurden wir erwischt. Ich küsste Kamil gerade zum Abschied auf den Mund. Es war nichts, was schlimm gewesen wäre. Es war ein Kuss. Ein verdammter, liebevoller Abschiedskuss. Kamil und ich haben nie miteinander geschlafen. Wir haben uns nur geküsst. Unschuldige, aber liebevolle Küsse. Nur leider wurden wir erwischt. Von einem jungen Mann, der die Schafe eintreiben sollte und sich eine heimliche Zigarette in unserem Liebesnest gönnen wollte. Er rannte los und lachte dabei. Kamil jedoch wurde mehr als nur blass.

»Sami, du musst mir etwas versprechen. Egal, was nun passiert. Ganz egal, was. Du sagst ihnen, dass du von mir dazu gezwungen wurdest.«

»Was redest du da, Kamil?«

»Sami, versprich es mir. Sag ihnen, dass du gezwungen wurdest.« Er nahm mich in den Arm.

»Bitte, Schatz, bitte. Du weißt, zu was dein Vater fähig ist, Kleiner. Du weißt es. Bitte. Ich werde die Schuld auf mich nehmen. Ich wurde bereits einmal erwischt. Sie werden mir glauben, dass ich dich dazu überredet habe.«

»Aber, Kamil, das kannst du nicht machen! Sie werden dich einsperren oder Schlimmeres, sie werden womöglich ... Kamil! Du weißt, was sie über uns denken.«

»Nicht über uns, Sami, nur über mich. Sie werden mich nicht nur vielleicht bestrafen. Sie werden mich umbringen. Das Gesetz, ihr Gesetz oder was auch immer sie dafür halten, gibt ihnen das Recht dazu. Mein Vater wird mich nicht retten können. Nicht zum zweiten Mal. So sehr er mich auch liebt. Ich bin eine Schande für die Familie. Eine Schande für den sogenannten Herrn, den sie anbeten. Du weißt, dass es verboten ist, Sami. Du weißt es doch!«

»Nein, Kamil, das darf nicht sein!« Ich weinte. Kamil nahm mich in den Arm. Sprach eindringlich auf mich ein. Leise und in einem Ton, der mich erzittern ließ.

»Doch, Sami, das werden sie und es ist o. k. Ich wusste immer, dass dieser Tag kommen wird. Abhauen war mir einfach nicht vergönnt, wohin auch?«

»Das kannst du nicht ernst meinen, Kamil. Du musst abhauen! Schnell, geh! Du musst verschwinden, Kamil.« Ich wurde total hektisch. Kamil jedoch stand nur da und lächelt mich an.

»Sami.« Er nahm meinen Kopf.

»Es ist zu spät. Viel zu spät für mich. Ich bin in einer falschen Zeit in einem falschen Land geboren. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass mich jemand liebt. Mich jemand liebt, wie ich bin. Du bist der erste Kerl, bei dem ich dieses Kribbeln gefühlt habe. Du bist der Mann, dem ich so viel von mir erzählt habe, und gerade dich habe ich in Gefahr gebracht. Gerade dich!« Eine Träne löste sich aus seinen Augenwinkeln.

»Darf ich dich ein letztes Mal küssen, Sami?« Mir war nicht bewusst, dass ich weinte.

»Das ist nicht richtig, Kamil. Nicht fair. Du kannst doch nicht dein Leben wegschmeißen. Aufgeben! Kamil, das ertrage ich nicht!«

»Nein, es ist nicht fair, aber du versprichst mir, du wirst genau das sagen, was ich zu dir gesagt habe. Ich bin schuld. Vielleicht hast du eine Chance, von hier wegzukommen, ein glückliches Leben zu leben. Mit jemandem an deiner Seite, der es wert ist, dich zu lieben. Egal, ob Mann oder Frau. Das ist nicht wichtig. Nur dass du glücklich bist. Das zählt. Für mich ist es zu spät.«

»Sag so was nicht!« Eine letzte Umarmung, dann ging Kamil einfach in die entgegengesetzte Richtung. Als ich zu Hause ankam, erwartete man mich bereits. Der Ekel und die Wut meines Vaters waren fast spürbar. Ich wurde weggeführt. Nikla weinte bitterlich. War leichenblass und stand an der Tür. Ich selber fühlte nichts mehr. Wurde in einem Loch eingesperrt. Tagelang. Ich wurde geschlagen, auch von Vater. Wurde verhört. Immer wieder vor Vater, dem obersten Richter, gezerrt, der mich wie einen Verbrecher behandelte. Er ekelte mich an. Ich sagte immer wieder die Worte, die mir Kamil gesagt hatte, und jedes Mal fühlte ich mich noch schlechter dabei. Ich glaubte nicht, dass sie mir abnahmen, was ich erzählte. Vater bestimmt nicht. Dann war es vorbei. Sie ließen mich für ein paar Tage in Frieden bis Freitag. Ich hatte Angst. Panische Angst, als die mich holten. Innerlich war ich erstarrt, sagte nichts, versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, bis zu dem Moment, als ich auf den Platz geführt wurde und Kamil dort stand. Ich zusehen musste, wie der Henker mit dem Schwert ausholte und seinen Kopf vom Körper trennte.

3. Platz der Schmerzen und des Todes

»Sami, hörst du mich. Bitte, Sami, wach auf. Du musst aufstehen. Ich darf nicht zu dir gehen. Du weißt das. Gleich kommt die Wache. Bitte Sami, versuche, zu dir zu kommen.«

War da eine Stimme? Ich hebe den Kopf an und lausche. Da stöhnt jemand. Schnell wird mir bewusst, dass ich es selber bin. Ich zittere. Es ist kalt. Ich liege auf dem Boden. So grausam heiß die Tage hier sein können, so kalt sind die Nächte. Heute jedoch ist es eine andere Kälte, die in mir ist. Ich blicke mich um. Unwillkürlich schaue ich an die Stelle, an der Kamil sein Leben lassen musste. Tränen schießen in meine Augen. Wieder höre ich leise, aber eindringlich jemanden meinen Namen rufen.

»Sami! Bitte komm zu mir. Steh auf! Du musst aufstehen!« Als ich den Kopf drehe, sehe ich Nikla dort im Schatten der Häuserwand warten. Etwas über fünfzig Meter entfernt. Eine Ewigkeit weg. Ich versuche, mich aufzurichten. Überall ist da Schmerz. Als ich stehe, knicken mir die Beine weg. Mir wird schwarz vor Augen und ich krache auf den rauen Boden. Stöhne leise.

»Sami, beeil dich! Er ist schon auf dem Rückweg. Bitte, Sami, komm zu mir. Man darf uns nicht zusammen sehen.« Mit letzter Kraft stehe ich auf, gehe zu ihr, falle in ihre Arme und weine.

»Sie haben ihn getötet, Nikla.«

»Ich weiß, Sami. Du musst weg von hier, sonst bist auch du bald tot. Hier trink.« Durstig und mit zitternden Händen nehme ich die Wasserflasche und trinke das lauwarme Wasser. Nikla muss bereits länger hier sein. Als ich aufsehe, erblicke ich in ihren Augen Tränen.

»Gehen die Schmerzen, Sami?«

»Keine Ahnung. Im Moment ... ich spüre sie nicht. Das Herz tut mir weh und das Atmen fällt mir schwer. Ich ... Nikla ... ich ...«

»Dreh dich um. Lass mich deine Wunden sehen. Oh Sami!« Sie weint. Bindet Stoffstreifen um meinen Rücken, meine Oberarme und gibt eine Salbe auf die offenen Stellen. Befestigt die notdürftigen Verbände mit einer Schnur. Mir ist schlecht vor Schmerz.

»Hier, zieh das an, Sami.« Sie gibt mir ein weites, langes Hemd, das mir fast bis an die Knöchel reicht.

»Von Vater?«

»Ja. Er wird es nicht vermissen. Es ist alt. Du blutest, Sami. Deine Wunden sind tief und ...« Wieder weint sie.

»... Du musst weggehen.« Leise flüstere ich: »Ich weiß, aber wohin soll ich nur gehen, Nikla?« Mit fester Stimme antwortet sie mir: »Nach Europa. Du musst dorthin und sofort losgehen. Dich tagsüber verstecken und nur nachts laufen. Dort werden sie dich aufnehmen, Sami, du hast nicht viel Zeit. Vater wird dich jagen. Er hasst über alle Maßen.«

»Aber, Nikla, was willst du tun?«

»Ich bleibe hier. Würde dich nur behindern und zu zweit fallen wir auf, Sami.«

»Das ist mir egal. Du darfst nicht hierbleiben. Irgendwann wird er dich verheiraten und dann?«

»Sami, stopp! Geh jetzt. Es ist gut. Ich bin schlau und kann mich wehren. Es wird gut gehen. Ich will, dass du es schaffst. Dass du wenigstens leben kannst. Eines, von dem wir beide immer geträumt haben, und auch Kamil! Sei ehrlich, er wollte, dass du glücklich wirst. Tu das für ihn. Werde du für ihn und auch für mich glücklich, Sami. Aber dazu musst du abhauen und das schnell. Nimm, das ist Geld, nicht viel. Ich habe es vor Jahren gefunden und immer wieder etwas dazugelegt ...«

»Aber ...«

»Mutter hat es versteckt an einem Platz, an dem Vater nie suchen würde. Nimm es und geh. Ich könnte es nicht ertragen, zu wissen, dass du tot bist, geh, Sami, jetzt.« Sie reicht mir eine Tasche.

»Da ist Wasser drin und etwas Brot, zudem das Geld.« Sie gibt mir einen letzten Kuss auf die Wange und verschwindet. Ich stehe da und weiß im ersten Moment nicht, was ich tun soll, wohin ich soll. Da höre ich, dass jemand aus der entgegengesetzten Richtung der Wächter kommt, und dies nimmt mir eine erste Entscheidung ab, ich verstecke mich und kauere mich hinter eine der Mauern, die den Platz umschließt. Als der Wachmann sieht, dass ich nicht mehr dort liege, blickt er sich um. Zückt sein Handy und ruft seine Kollegen an oder womöglich Vater, der sicher wissen will, wo ich abgeblieben bin. Ob mir jemand hilft. Nicht gut, überhaupt nicht gut. Ich habe jedoch Glück und er beginnt mit der Suche in der entgegengesetzten Richtung, an der ich stehe. So leise es geht, robbe ich zu den Häusern dort, kann ich mich weiter verstecken. Die Schmerzen an meinen Armen und Beinen sind höllisch, jeder Schritt ist eine Qual. Ich unterdrücke nicht nur einmal ein Stöhnen. Krieche schnell weiter, da ich im Hintergrund höre, dass weitere Personen auf den Platz rennen, vermutlich, um mich zu suchen. Warum sie dies mit so vielen Männern tun, verstehe ich noch nicht einmal. Vater steckt sicher dahinter. Ich weiß nur, dass ich wegmuss. Nikla hat recht, ich muss weg. Egal, wie groß meine Schmerzen sind, und egal, wie lange ich mich verstecken muss. Denn eines ist klar: Wenn die mich erwischen, sterbe ich wie Kamil. Vater will, dass ich nicht mehr lebe. Er möchte mich tot wissen. Die Schande, der schwarze Fleck in seinem Leben muss weg.

Entgegen dem, was ich gedacht habe, schaffe ich es in dieser ersten Nacht, nicht erwischt zu werden. Den Tag über verkrieche ich mich in einem leer stehenden Haus und auch die weitere Nacht. Ich habe Schmerzen, mein Rücken ist wundgeschlagen. Blutige Striemen überziehen meinen Körper und Fieber schüttelt mich. Ich bekomme höllische Kopfschmerzen und bin Stunden später dem Tode nah. Ich fantasiere und es ist ein Wunder, dass mich keiner entdeckt. Als ich mal wieder aufwache, ist es heiß und stickig in meinem Versteck und meine Zunge klebt am Gaumen, bei jeder noch so kleinen Bewegung flimmert es rot in meinem Auge. Mir ist zu jeder Zeit bewusst, dass mein Schlupfloch unsicher ist. Dass sie mich finden können. Aber ich habe Glück. Liege verletzt, fiebrig und völlig erschöpft drei Tage, ohne genügend Wasser zu haben, in dem Versteck, das keine tausend Meter von dem Platz entfernt ist, an dem Kamil starb und ich so schwer bestraft wurde. Für einen Kuss. Während meiner Fieberfantasien träume ich von ihm, von den Gefühlen, die er in mir ausgelöst hat. Von Dingen, die nicht sein dürfen, sich aber so richtig für mich anfühlen. Drei Tage später bin ich gezwungen, aus meinem Versteck zu kriechen, und das meine ich wortwörtlich, um Wasser und Essen zu finden, und das schnellstmöglich. Es ist dunkel, als ich die Tür öffne und ich mich vorsichtig umschaue, ob jemand in meiner Nähe ist. Ich habe erneut Glück. Niemand ist zu sehen. Noch bin ich ja in unmittelbarer Nähe meines Zuhauses und kenne mich aus, weiß, wo es Wasser gibt. Essen ist erst einmal nicht wichtig. Als ich meine Flaschen an einem kleinen Bach gefüllt habe und eine Jodtablette, die Nikla in weiser Voraussicht in den Rucksack gepackt hat, in die Trinkflaschen gegeben habe, wandere ich los in mein neues Leben.

Die ersten Tage sind schlimm. Es wird jedoch von Tag zu Tag besser. Ich gehe immer in der Nacht. Erst Tage später auch am Tag. Laufe weiter und weiter. Arbeite zwischendurch ein paar Tage, um Geld zu verdienen, und wandere danach wieder weiter. Immer im Untergrund. Die Grenzübergänge sind jedes Mal ein Abenteuer. Ich nehme den Landweg, mein Ziel ist Europa. Ich entscheide mich für Deutschland. Will unbedingt nach Hamburg zum Hafen, um von dort irgendwie in die USA zu gelangen. Weiter geht mein Plan nicht. Fast zweihundert Tage dauert meine Reise, meistens gehe ich, manchmal nimmt mich jemand auf einem Truck mit. Das ist Glück. Ich stelle fest, dass ich, je weiter ich nach Europa gelange, mehr Probleme bekomme mit meinem ausländischen Aussehen. Ich werde nicht nur einmal als Ausländer, sogar als Terrorist beschimpft und fortgejagt. Ich passe mich jedoch an. Schnell. Lerne. Ich lerne eigentlich immer. Zuerst, mich unauffällig anzuziehen, lasse mir keinen bei uns üblichen Bart wachsen, der mich als Muslim kennzeichnet. Sondern versuche mich, so oft es geht, zu waschen und zu rasieren. Lerne die Sprache im jeweiligen Land, in dem ich bin. Natürlich nur Grundworte, aber irgendwie ist das etwas, was mir sehr leichtfällt, und Verständigung ist fast nie ein Problem für mich. Ich versuche, die Gebräuche zu respektieren und anzunehmen. Versuche, jegliches Verhalten, das mir anerzogen wurde in meiner Kultur, zu vergessen und zu unterdrücken. Ich will nicht mehr dieser Sami sein. War ich auch nie. Es befreit mich, das tun zu können, was ich will. Das stimmt nicht völlig, denn ich passe mich auf der Reise oft an. Vieles ist mir total fremd. Der Umgang mit Frauen ist so anders, je näher ich nach Europa gelange. Und doch gefällt es mir. Wünsche mir für Nikla auch diese Freiheit.

4. München

Ich bin fünfzehn, als ich in Deutschland eintreffe. Genauer gesagt in München. Bereits nach einem Tag ist mir klar, dass ich hier nur bleiben kann, wenn ich die Sprache nicht nur verstehen, sondern perfekt sprechen kann. Einen Job bekomme ich hier, ohne dass ich Deutsch kann, nicht. Und selbst dann wird es schwierig werden. Jedoch mit Englisch komme ich diese ersten Tage gut durch. Es gibt Gesetze hier, so viele Vorschriften und Dinge, die ich lernen muss. Eines jedoch erfasse ich schnell. Ich bin minderjährig und habe keine Papiere. Diese zu erhalten, geht nicht so einfach. Da sind Aufenthaltsgenehmigungen, Asylanträge und Anträge, um Geld zu erhalten, notwendig. Zusätzlich bin ich minderjährig und somit schulpflichtig. Cool, in Deutschland muss man in die Schule. Das ist zwar genial, jedoch wird für mich schwierig. Eine Sachbearbeiterin, die für mich zuständig ist, erpresst mich dann. Ich fass es nicht, ist aber so. Sie will meinen Namen und den meiner Eltern. Meines Vaters! Erst danach werde ich Geld vom Amt und einen Pass bekommen. Den bekommt sie nicht! Ich lasse nicht zu, dass er mich findet. Ich verlasse das Amt gegen den Willen der Frau und tauche in München unter. München. Immer war Hamburg mein Ziel. Die USA. Aber München, was soll ich sagen, es gefällt mir hier. Sehr gut sogar. Hier unterzutauchen ist nicht schwer. Von den Obdachlosen und den Streetkids, wie sie sich nennen, lerne ich viel. Die Sprache, wo ich schlafen kann oder darf, wo es gefährlich für mich ist. Das Untertauchen und Geld für Essen aufzutreiben. Lerne, welche Polizisten gefährlich für mich sind und welche nicht. Bisher habe ich diese Gefühle, die Kamil in mir geweckt hat, unterdrückt. Denn wenn ich zulasse, dass ich daran denke, überrollt mich die Erinnerung und ich sehe ihn da liegen. Trotzdem mache auch ich erste Schritte in Sachen Sex. Lerne mich und meinen Körper kennen. Weiß sicher, dass ich nie eine Frau lieben werde. Sondern Gefühle für Männer habe. Ich bin vorsichtig mit dem Wissen. Vertraue mich auch hier instinktiv keinem an, das ist vielleicht etwas dumm ausgedrückt. Ist aber so. Die Streetkids erzählen mir, wie und womit ich Geld verdienen kann. Mit Sex Geld verdienen kann. Mein erster Blowjob ist nicht berauschend. Ich kotze danach und weigere mich auch nur daran zu denken, dass ich einem Kerl erlaube, mich zu ficken. Die Episode mit dem Blowjob vergesse ich sehr gerne und ich halte meinen Mund nie hin. Nur wenn ich wirklich keinen Ausweg habe und das passiert nicht oft. Sonst habe ich keinen Sex. Weder mit Frauen noch mit Männern. Ich arbeite lieber mal auf dem Bau oder als Aushilfe beim Bedienen. Dabei stelle ich mich nicht blöd an und lerne, noch besser Deutsch zu reden. Außerdem macht mir das Spaß.

Was ich werde, ist ein Freund der jüngeren obdachlosen Kinder und Jugendlichen und das sind nicht wenige. Es gibt auch hier in Deutschland Probleme, viele sogar. Mit Stefan, einem vierzehnjährigen jungen Mann, freunde ich mich schnell an. Er erzählt mir viel von sich, von seinem Leben und wir haben viele Gemeinsamkeiten trotz der unterschiedlichen Länder und Kulturen. Beide können wir die Erwartungen unserer Väter nicht erfüllen oder wollen sie nicht teilen. Er ist auch der Erste nach Kamil, dem ich anvertraue, dass ich schwul bin. Es stört ihn nicht. Im Gegenteil, er meint, dann würde es mir ja leichter fallen, damit Geld zu verdienen. Im ersten Moment verstehe ich nicht, was er damit meint, erst als er zu mir sagt: »Mensch, Sammy, den Arsch hinhalten, das ist für dich ja dann nicht so schlimm. Ich hasse es und es ekelt mich an.«

»Warum machst du es dann?« Er zuckt nur mit den Schultern. Stefan ist auf weichen Drogen, noch. Wobei ich mir fast sicher bin, dass Crystal Meth bereits dazugehört. Er verneint, aber ich kann ihm das nicht glauben. Auch wenn ich es möchte. Ich selber lasse die Finger davon. Von den Drogen meine ich. Das werde ich meiner Schwester nicht antun, niemals. Egal, was passiert, von Alkohol und Drogen lasse ich die Finger. Ich rauche noch nicht einmal einen Joint. Geld geht nur für Kleidung, essen und trinken drauf, mehr nicht.

5. Stefan

Mit Stefan teile ich mir bald eine warme Ecke. Etwa drei Monate lang, dann wird er geschnappt und nach Hause gebracht. Ich hoffe für ihn, dass er es schafft, glaube jedoch nicht daran. Das, was er mir von seinem Vater erzählt hat, klingt nicht unbedingt hoffnungsvoll. Ein halbes Jahr später ist er wieder da. Einfach so. Er redet nicht viel in diesen ersten Tagen, aber legt sich wieder zu mir auf die Matratze, als ob er nie weggewesen wäre. Sein Blick ist hoffnungslos, traurig und ich erwische ihn nur wenige Wochen später, als er sich eine Spritze mit Heroin setzt. Ich bin entsetzt.

»Stefan, nicht!« Müde lächelnd und bald zugedröhnt, sieht er mich an. Ich sitze neben ihm und heule.

»Du dummer, dummer Kerl. Das doch nicht!« Er bekommt von alldem nichts mit. Die Spirale ist nun am Laufen. Stefan braucht Geld für den nächsten Schuss. Von Woche zu Woche wird er weniger. Er geht auf dem Strich und lässt mit sich Dinge tun, die mir wehtun. Stefan ist so nett, so selbstlos, als er Maxwell eines Tages zu uns bringt, einen jungen Streuner. Gerade mal acht Jahre alt. Er lässt ihn schwören, dass er die Finger vom Alkohol und den Drogen lässt, dann, aber nur dann, würden wir ihm beistehen und ihm helfen. Er bittet mich darum, dem zuzustimmen. Was soll ich sagen. Stefan etwas abzuschlagen, geht nicht. Wir werden ein eingespieltes Dreiergespann. Wobei Stefan von Tag zu Tag mehr abstürzt. Er geht nun fast täglich auf dem Strich, um Geld für die Drogen aufzutreiben. Ich kann es nicht tun, nicht mehr, zu sehen, wie er kaputt dabei geht, tut mir weh. Jeden Tag versuche ich, Arbeit zu finden, irgendetwas, ganz egal und wenn es noch so schlecht gezahlt wird, und Maxwell bettelt. Ich versuche, Stefan zum Heimgehen zu bewegen, habe keine Chance, auch nicht damit, zum Jugendamt zu gehen, nichts, täglich entgleitet er uns mehr. Und jeden Tag gibt er Max sein übriges Geld. Lässt nicht zu, dass Max abstürzt. Dann wird er krank. Husten schüttelt ihn und er ist wirklich sehr krank. Ich schreie ihn an, will, dass er nach Hause geht. Versuche, ihn dazu zu bewegen, sich einem Streetworker anzuvertrauen, aber ich stoße auf Granit. Drei Tage vor Weihnachten ist er weg. Ich und Maxwell suchen ihn überall, sogar seinen bevorzugten Dealer frage ich, nichts, er ist weg. Er kommt am Heiligabend wieder und setzt sich zu uns in die Ecke. Lethargisch, redet nicht. Als Max schläft, beginnt er: »Ich war zu Hause.«

»Bei deinen Eltern?«

»Ja.«

»Und?«

»Mein Vater hat mir fünfzig Euro in die Hand gedrückt und gesagt, dass ich verschwinden soll. Er nicht zulassen wird, dass ich Versager auch nur in die Nähe meines kleinen Bruders komme. Verstehst du, Sammy? Sie haben mich ausgetauscht. Und lassen mich noch nicht mal den kleinen Mann sehen, geschweige denn, kennenlernen. Weißt du, was das Schlimmste ist?«

»Nein.«

»Er wird es bei ihm genauso machen wie bei mir. Er wird ihn wie mich mit seinem Ehrgeiz, seinen Vorstellungen vom Leben, von dem, was er werden soll, fertigmachen. Er wird ein weiteres Leben zerstören. Es tut mir für ihn so leid. Ich kann ihm nicht helfen. Ich bin viel zu kaputt. Damit hat Vater schon recht. Ich bin ein Versager. Nicht stark genug, gegen ihn anzukämpfen. Geh schlafen, Sammy. Und frohe Weihnachten.« Er legt sich hinter Maxwell auf die Matratze und ich kauere mich auch unter die dünne Decke und wärme mich und ihn. Schlafe zügig ein. Wenn ich gewusst hätte, was Stefan in dieser Nacht vorhat, niemals hätte ich auch nur ein Auge zugemacht. So aber passiert das, was geschieht. Als wir am Morgen aufwachen, ist Stefan tot. In seinem Arm steckt noch die Spritze. Maxwell ist außer sich und auch ich bin geschockt und kann immerzu nur denken: Nicht schon wieder, nicht schon wieder ein Freund, der von mir geht. Aber wie bei Kamil ist es zu spät. Stefan ist tot. Neben ihm liegt ein Brief in einem Umschlag, darauf mein Name. Ich nehme ihn zu mir, stecke ihn ein und gehe mit Max zu einem Streetworker. Wir melden, dass Stefan tot ist und wo er liegt. Danach verziehen wir uns, denn bald ist die Polizei an unserem Platz. Von Weitem sehen wir, wie sie Stefan wegbringen. Mir ist kalt und ich zittere. Alles kommt wieder hoch. Ich bekomme Heimweh nach Nikla. Wünsche mir so sehr ein normales Leben. Im Moment bin ich erneut an einem tiefen Punkt angelangt. Dann fühle ich den Brief, den Stefan geschrieben hat. Mit zitternden Händen öffne ich ihn.

 

Sammy, es tut mir leid, aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich weiß, dass du es nicht gutheißt. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich weiß auch, dass du der Einzige bist, der mich versteht. Kümmere dich um Maxwell, bitte. Er soll es schaffen. Hilf ihm und vielleicht, wenn du es schaffst, dann geh auf meine Beerdigung und lies den Brief vor oder gib ihm dem Priester, damit der ihn vorliest. Nur ein einziges Mal wäre es schön, wenn sie mir zuhören, wenn Vater mir zuhören würde, ohne mich zu unterbrechen oder ohne bereits mit den Gedanken woanders zu sein.

Verzeih mir, Sammy.

 

Stefan

 

Ein weiteres Blatt Papier ist da, ich lese es nicht. Aber ich werde es vorlesen, so wie es Stefans letzter Wunsch ist. Über den Streetworker erfahre ich, wo die Trauerfeier abgehalten wird, und gehe nach den Feiertagen in diese Kirche. Für mich ein eher ungewohnter Platz, aber es ist nicht viel anders als eine Moschee. Auch hier glauben sie an einen Gott und beten zu ihm. Mir ist es egal, an was sie glauben oder zu wem sie beten. Stefan hat mir gesagt, dass auch die katholische Kirche gleichgeschlechtliche Paare, diese Art der Liebe nicht gutheißt, allerdings gibt es einen Unterschied, hier wird man aufgrund dessen nicht geköpft. Deshalb habe ich keine Angst, wenn ich eine Kirche betrete. Um die Moscheen oder auch die muslimische Gemeinde in München mache ich einen Bogen. Ich habe selbst hier Gespräche mitgehört, deren Tenor mir nicht gefällt. Überhaupt nicht gefällt.

Mit kalten Fingern und etwas aufgeregt öffne ich die Tür. Es sind viele Menschen gekommen. Ob sie Stefan überhaupt gekannt haben oder nur die Familie, seinen Vater? Egal. Ein letztes Mal atme ich tief durch und betrete leise die Kirche.

6. Brief

Ich laufe nach vorne zu dem Bild von Stefan. Der Priester wird leise und hört auf zu reden. Beobachtet mich. Ich streiche über das Bild von Stefan. Es ist kein aktuelles Bild. Hier ist er mindestens drei Jahre jünger. Er wurde vergessen von seinen Eltern. Traurig vergieße ich eine Träne. Lasse mich nicht gehen, noch habe eine Aufgabe und diese ist, wie mir scheint, wirklich wichtig. Niemand hier hat Stefan gekannt oder ihn so wahrgenommen, wie er wirklich war. Der Priester ist still und auch die Menschen in der Kirche. Ich drehe mich um. Der Raum ist voll und man sieht mich zum Teil verärgert, jedoch auch neugierig an. Ich nehme das Blatt Papier, das mir Stefan gegeben hat. Es ist fleckig. Ich räuspere mich und beginne.

 

Vater, wenn du diese Zeilen hörst, ist es Sammy, dem besten Freund, den ich je hatte, gelungen, auf meine Trauerfeier zu gelangen, um meine letzten Worte, die ich sagen möchte, vorzutragen. Mir ist bewusst, dass es dir nicht recht ist. Aber es sind meine letzten Worte und diese will ich sagen dürfen und ich hoffe darauf, dass du sie dir auch anhörst. Du mir einmal zuhörst. Leider nie im Leben, aber im Tod.

 

Ein Raunen geht kurz durch die Kirche. Ich lese weiter.

 

Ich bin nicht der Sohn gewesen, den du dir gewünscht hast, das weiß ich, ist mir bewusst, aber du bist auch nicht der Vater für mich gewesen, den ich mir gewünscht habe. Ein sehr harter Vorwurf, ist mir klar, aber es ist so, leider. Ich kann mich nur an Druck von dir erinnern. Angefangen von »du musst artig sein« bis »Sohn, du musst dich anstrengen in der Schule, du musst besser sein als die anderen, du brauchst gute Noten, nein ich erwarte gute Noten. Und wenn du sie nicht lieferst, werden wir dir Nachhilfe ermöglichen. Du musst uns dankbar sein, Stefan. Wir unterstützen dich, wo wir nur können. Aber du musst dich anstrengen.« Mit acht habt ihr mir Ritalin gegeben, damit ich mich besser konzentrieren kann, um gute Noten zu erhalten. Ein gut war nie gut genug. Es musste ein sehr gut sein. Fußballspielen mit den Jungs aus meiner Klasse, nicht gut genug. Es musste Golf sein, was ich einfach nur hasste. Skifahren ist out, Stefan! Obwohl es mir Spaß machte, musste es ein Snowboard sein. Weil es dir so gut gefiel. Nie durfte ich tun, was mir gefällt, nie! Vater, du hast nie zugehört. Mit zehn habe ich zusätzlich Aufputschmittel zum Ritalin genommen. Mit elf angefangen, Joints zu rauchen und mit zwölf Amphetamine geschluckt, als ob es Bonbons wären. Ich wollte nicht auf das Gymnasium. Das wolltest du nicht hören. Dass es mir zu viel ist, schon gleich gar nicht. Ich wollte auf die Hauptschule, um einfach durchzuatmen, um mich selber zu finden, aber das war nicht akzeptabel. Ich musste weg, weg von dir, weg von dem, was du aus mir machen wolltest. Ja, es war nicht besser. Aber meine Entscheidung. Meine alleinige Entscheidung. Ihr habt mich gefunden oder die Polizei, aber wieder nicht mit mir geredet. Damals hatte ich die Hoffnung, dass du es tust, aber ihr habt mich mit Vorwürfen überhäuft, mir wieder nur erklärt, wie undankbar ich bin und vieles mehr. Ich habe es nicht ausgehalten, Vater. Nicht einmal hast du mir zugehört. Wieder nicht. Deshalb bin ich erneut gegangen, was dir ja recht war. Dass ich einen Bruder habe, wolltet ihr mir verschweigen. Heute musst du mir zuhören. Denn die letzten Worte eines Toten hört man an, auch wenn sie nicht nett sind. Das gehört sich so. Ich wünsche mir, dass du meinem Bruder zuhörst, Vater. Höre zu, was er dir zu sagen hat. Auch wenn er sich nicht zu dem Sohn entwickelt, den du gerne haben möchtest. Er ist dein Sohn. Töte nicht die Liebe, die er für dich empfindet, mit deinen Erwartungen, die du in ihn setzt. Mir ist bewusst, dass du denkst, dass ich dir so viel an den Kopf werfe wie noch nie zuvor, aber das stimmt nicht. Ich habe es immer wieder versucht. Doch du hast nie zugehört. Ich habe auf der Straße in den letzten Jahren einen Jungen beschützt. Er heißt Maxwell. Auch sein Vater hört ihm nie zu. Er musste mir versprechen, dass er keine Drogen nimmt. Keinen Alkohol trinkt. Nicht als Stricher sein Geld verdient. Ihm habe ich im Gegenzug versprochen, ihn zusammen mit Sammy zu unterstützen. Ich bin es, der auf den Strich ging, um das Geld für meine Drogen und Essen für Maxwell aufzutreiben. Sammy, der ging jeder Arbeit nach, die man ihn machen ließ. Er putzte Klos oder schuftete für ein paar Kröten auf dem Bau. Wenn ich einen letzten Wunsch äußern dürfte, und du ihn mir erfüllst, vielleicht, weil ich dein Sohn bin, dann bitte ich dich darum, dass ich meinen Hintern nicht umsonst für Maxwell hingehalten habe. Dann bitte ich dich darum, dass du ihm hilfst, nicht abzustürzen, und ich bitte dich darum, dass du meinem Bruder zuhörst, wenn er mit dir spricht.

 

Euer Sohn Stefan.

 

Stiller könnte es nicht sein, als ich fertig bin. Ich lege den Brief vor sie auf den Sarg und verlasse die Kirche. Die anwesenden Menschen blicken mich geschockt an und viele haben Tränen in den Augen. Stefans Eltern sind leichenblass, aber gefasst. Ich habe alles für meinen Freund getan, habe seinen letzten Wunsch erfüllt.

7. Wolf und der Tag in ein neues Leben

Der restliche Winter ist kalt, wird jedoch von einem schönen Frühjahr und einem tollen Sommer abgelöst. Maxwell kommt in eine Jugendeinrichtung und blüht dort auf. Ich glaube wirklich, dass er es schaffen kann. Wünsche es ihm. Stefans Vater hat mich und Maxwell gesucht und das war keinesfalls einfach. Ein Streetworker hat den Kontakt mit uns hergestellt. Zuerst wollte ich mich weigern, aber da war Maxwell. Mir wollte er Geld geben, was ich verweigert habe. Allerdings habe ich ihm Maxwell anvertraut. Was gut war. Vielleicht sehe ich ihn irgendwann einmal wieder. Er wird ein gutes Leben haben. Stefans Vater hat mir das versprochen. Für mich jedoch ändert sich nichts, immer noch wohne ich auf der Straße. Woche für Woche, Monat für Monat. Angekommen in der Freiheit und doch nicht.

Die Winter sind am schlimmsten und sehr nasskalt hier in München. Ich bekomme oft in diesen einsamen Stunden Heimweh. Erlaube mir, an Nikla zu denken, was ich sonst versuche zu unterdrücken. Mir geht es in Deutschland besser als dort, wo ich herkomme, jedoch gut ist etwas anderes. Das Leben im Untergrund wird zur Gewohnheit. Fast. Vier Jahre lang habe ich das Glück, nie geschnappt zu werden. Auch wurde ich nicht großartig krank. Bis auf Husten und eine immerwährende laufende Nase. Sexleben ist gleich null. Nur am Beginn meiner Anwesenheit hier in München erfolgten ein paar wenige Blowjobs in einer dunklen Straße. Liebevollen Sex mit einem Mann hatte ich noch nie. Auch wenn die Sehnsucht nach jemanden, der mich lieb hat, immer größer wird. Aktiv suche ich niemanden. Wer will auch einen Straßenjungen. Nach vier Jahren, ich bin nun neunzehn, ist der Herbst beschissen. Kalt, nass, widerlich. Der darauffolgende Winter eiskalt, schneereich und lang anhaltend. Die Obdachlosenheime sind in den schauderhaftesten Tagen brechend voll und meine üblichen trockenen und warmen Stellen besetzt. So auch heute, zudem habe ich seit Wochen diesen miesen Husten, ich kann nicht draußen übernachten und versuche, in einer der vielen Kirchen Unterschlupf zu finden, dort werde ich hinausgeworfen in die eiskalte Nacht. So viel zum Thema Nächstenliebe. Ach ja, mein Deutsch ist nun perfekt, gänzlich ohne Akzent, darauf bin ich stolz. Ich vermute, niemand wird erkennen, dass ich noch vor wenigen Jahren kein Wort dieser Sprache gesprochen habe. Es hat angefangen zu schneien und wird kalt. Auch das zweite Obdachlosenheim ist bei diesem miesen Wetter überfüllt. Nicht einmal hier bekomme ich einen Platz, obwohl ich dort oft aushelfe.

»Wir sind randvoll, Sammy, tut mir leid. Ich habe kein Plätzchen mehr frei.«

Sammy. Mit diesem Namen stelle ich mich jedem vor. Er klingt westlich. Außerdem ist Sami in Afghanistan geblieben. Mir ist es wichtig, angepasst zu sein. Wenn ich nur einen Unterschlupf finden würde, einen leeren Hauseingang, egal was, nur trocken und windgeschützt, das wäre super. In der Zwischenzeit ist es mir bitterkalt. Ich bin durchnässt bis auf die Haut, was ich sehr selten bin. Aber der anhaltende nasse Schneefall hat mich durchweicht. Unbewusst bin ich in eine Seitenstraße gegangen und stehe vor einem Klub. Gayfive. Ich bin bereits öfter hier entlanggelaufen, nur hineingekommen in den Klub bin ich noch nie. Er interessiert mich nicht nur, weil es hier gute Arbeit gibt, vor allem ... Hier gehen Männer ein und aus und dieses Verlangen in mir wird größer, auch die Neugier darauf. Der Türsteher hat mich ziemlich schnell als das erkannt, was ich bin, ein Streuner. Mich nie überhaupt in die Nähe des Personalbüros, geschweige denn in den Klub gelassen. Ich laufe im Schatten, damit mich niemand sieht, am Klub vorbei, weiß, dass dahinter dieses Vordach ist, vielleicht ist da ja noch eine Ecke frei. Das wäre klasse. Ich gehe die kleine Rampe hoch und verliere plötzlich das Gleichgewicht, rutsche an einer gefrorenen Stelle aus und knalle mit dem Hinterkopf auf den Teer, werde ohnmächtig. Vermute ich mal zumindest, denn als ich die Augen erneut öffne, bin ich nun wirklich auf Tage hinaus tropfnass. Langsam rapple ich mich auf, stöhne dabei und mir wird übel, verkrieche mich in die Ecke, die vom Regen, Wind und Schnee geschützt ist, und lege mich hin. Mir ist ziemlich schwindelig.

 

8. Wolf

Hölle, ist das heute ein Mistwetter. Ich fahre den Porsche unter das Vordach am Hintereingang von meinem Klub, dem Gayfive. Na ja, es ist nicht alleine mein Klub. Er gehört meinem Bruder Leon, unserem gemeinsamen Freund Peter und als stillem Teilhaber meinem kleinen Bruder Valentin. Klein ist er nicht unbedingt, aber einige Jahre jünger als wir. Es läuft gut. Den Klub meine ich. Aber das war und ist verdammt viel Arbeit. Heute ist einer der wenigen Tage, an denen ich mir einen freien Abend gönne und zum Pokern gehe. Was soll ich sagen, dieses miese Wetter heute hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Drei aus der Runde, die eine etwas längere Anreise haben, mussten wegen Schneefall und Glatteis absagen. Es machte keinen Sinn, deshalb bin ich nun wieder hier. Schnell renne ich zum Eingang, um nicht komplett nass zu sein, und rutsche fast aus. Kann mich gerade noch auffangen. Fluche fürchterlich vor mich hin, da der Hausmeister kein Salz gestreut hat. Als ich weitergehen möchte, höre ich ein Stöhnen. Wer zum Teufel ... Im Darkroom ist es doch viel wärmer und trockener. Ich drehe mich um und erkenne zuerst einmal niemanden. Mit der Handytaschenlampe leuchte ich in die Ecke und sehe eine Person, vermutlich einen Mann, liegen. Ein Obdachloser, ist mein erster Gedanke. Ich trete näher und sehe, dass dort, wo sein Kopf liegt, Blut auf dem Boden ist. Alarmiert beuge ich mich über ihn. Leuchte ihm ins Gesicht. Es ist ein junger Ausländer, ich würde vermuten, arabischer oder südländischer Abstammung. Rieche keine Alkoholfahne und er duftet auch nicht so, wie es vielen Obdachlosen tun. Er ist tropfnass, vor allem leichenblass und wimmert. Ob vor Kälte oder Schmerz kann ich nicht sagen. Ich nehme mein Handy und rufe Leon an, der im Klub ist.

»Wolf?«

»Leon. Ist Otto im Klub?«

»Otto? Keine Ahnung, warum?«

»Ich bin am Hintereingang, hier ist ein verletzter junger Mann. Ich glaube, er ist ausgerutscht.«

»Dachte, du bist pokern.«

»Ausgefallen wegen des Wetters.« Im Hintergrund höre ich laute Musik und Personen, die reden. Leon muss auf der Tanzfläche sein.

»Warte mal kurz, Wolf. Ich schau nach, aber ich meine nicht.«

»Schick ihn raus, wenn er da ist. Er soll aber aufpassen, es ist höllisch glatt. Ich probiere es auf dem Handy von ihm.«

»In Ordnung, Wolf.« Nur Sekunden später ist Otto am Telefon.

»Was gibt’s, Wolf?«

»Den Geräuschen nach im Hintergrund, die ich nicht höre, bist du zu Hause?«

»Nicht ganz. Habe Dienst.«

»Das passt ja. Kannst du mit dem Krankenwagen kommen? Ich hab hier einen Verletzten liegen.« Im selben Moment richtet sich der Mann auf.

»Ich bin schon weg. Keinen Krankenwagen. Bitte, ich bin weg.« Er richtet sich auf und übergibt sich fast im selben Moment.

»Otto, er kotzt. Hat eine Platzwunde am Hinterkopf, die sehr stark blutet.«

»Bitte. Lassen Sie es gut sein, ich bin schon weg.«

»Du bleibst jetzt sitzen.«

»Wolf, bei dem Wetter sind leider alle Fahrzeuge unterwegs. Allerdings hört sich das nach einer Gehirnerschütterung an, das sollte sich ein Arzt anschauen.«

»Ich fahr ihn zu dir, Otto.« Erstaunt höre ich ihn sagen: »Wolf?«

»Bin in einer dreiviertel Stunde bei dir.« Die Hintertür geht auf und Leon kommt heraus.

»Pass auf, es ist glatt, Leon!«

»Ist er das?«

»Ja. Hilf mir mal, ihn ins Auto zu verfrachten.«

»Ähm, Wolf. In den Porsche?«

»Ja. Siehst du hier noch ein anderes Auto?«

»Bin ja schon still. Hallo du. Ich bin Leon, dann mal hoch mit dir. Wolf, er hat ...«

»Ich weiß. Setz ihn ins Auto.«

»Dein Auto. Sag später nicht ...«

»Leon! Los jetzt hilf mir, ihn reinzusetzen. Du siehst doch selber, dass er verletzt und restlos vom Regen und Schnee durchweicht ist.« Wenig später ist er ohne weitere Gegenwehr angeschnallt. Er muss durch den Schlag auf den Kopf einiges abbekommen haben. Er zittert.

»Ist dir kalt? Oder tut dir noch etwas weh. Wenn dir nochmals übel ist ... ich meine, wäre nett, wenn du mich vorwarnen könntest. Eventuell klappt es mit dem Anhalten.«

»Warum?«

»Das dürfte doch klar sein oder was meinst du mit warum?«

»Ich meine, weshalb hilfst du mir?«

»Das ist doch offensichtlich. Du bist verletzt und vor allem hast du dich auf meinem Grund und Boden verletzt. Eine Anklage kommt nicht wirklich gut, wenn man Besitzer eines Nachtklubs ist.«

»Ach komm, quatsch keinen Scheiß. Dir ist doch klar, dass ich das nie tun würde, dich verklagen meine ich. Also warum?« Er stöhnt, als ich durch ein Schlagloch fahre.

»Deshalb. Du bist verletzt, nenn es meine gute Tat für heute. Wie heißt du eigentlich?«

»Sammy. Ich sag dir gleich, dass sie mich nicht behandeln werden. Ich habe keine Versicherung und ...«

»Bist nicht gemeldet. Ausreißer?«

»Nein.«