The Impossible Journey - Thor Pedersen - E-Book

The Impossible Journey E-Book

Thor Pedersen

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Beschreibung

Der inspirierende Bericht eines wahren Abenteurers Thor ist 34, als er sich auf seine größte Reise begibt. Das Ziel: als erster Mensch jedes Land der Welt bereisen und das alles, ohne ein einziges Flugzeug zu nutzen. Um das in etwa vier Jahren zu schaffen, arbeitet er einen logistisch nahezu perfekten Plan aus. Doch dieser bezieht weder Visaprobleme noch Stürme, korrupte Grenzbeamte, Krankheit und nicht zuletzt die Covid-Pandemie ein. Hartnäckig kämpft sich Thor durch alle Widrigkeiten und lernt dabei, dass es einfacher ist, Umstände zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen, als gegen sie anzukämpfen. Auf die Menschen kommt es an »Ein Fremder ist ein Freund, den man noch nie getroffen hat«, sagt Thor Pedersen heute, denn er weiß, dass es die hilfsbereiten Einheimischen sind, auf deren Unterstützung und Freundschaft es ankommt. Auch die Menschen zu Hause sind wichtig für seine Motivation – allen voran seine Freundin Le, die ihn unterwegs 27-mal besucht und die er unterwegs heiratet. »Reise der Superlative« Berliner Morgenpost Nach zehn Jahren unterwegs erreicht Thor sein letztes Reiseziel – die Malediven –, kehrt auf dem Seeweg nach Dänemark zurück und bricht dadurch den Rekord, als erster Mensch jedes Land der Welt bereist zu haben, ohne je dabei zu fliegen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Englischen von Ulrike Frey und Monika Keipert

Mit 39 farbigen Abbildungen und zwei Karten

Creep von Radiohead, geschrieben von Thom Yorke (1992), mit Credits für Albert Hammond und Mike Hazlewood. © Copyright EMI April Music Inc. und WB Music Corp. im Auftrag von Warner/Chappell Music Ltd. EMI April Music Inc.

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechterspezifische Schreibweise sowie auf eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen in diesem Buch sind somit geschlechtsneutral zu verstehen. Die verkürzte Sprachform des generischen Maskulinums hat rein redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

© Thor Pedersen, 2025

Titel der englischen Originalausgabe: »The Impossible Journey« bei Robinson, London, 2025

© der deutschsprachigen Ausgabe: 2025 Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Selena Wright

Bildteilfotos: Thor Pedersen

Karte: Marlise Kunkel

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen und Alternativtexten))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karten von Thors Reise

Prolog: Sie gehören nicht hierher

Kamerun, 31. Dezember 2015

Kapitel 1: Der See

Dänemark, Kanada, USA, Dänemark, Libyen, Thailand, 1979–2013

Kapitel 2: Das letzte große Abenteuer

Kopenhagen, Dänemark, Januar 2013

Kapitel 3: Ein Fremder ist ein Freund, dem man noch nicht begegnet ist

Warschau, Polen, November 2013

Kapitel 4: Mit leeren Händen

Reykjavík, Island, Mai 2014

Kapitel 5: Brauchen Sie ein Boot?

Puerto La Cruz, Caracas, Venezuela, Oktober 2014

Kapitel 6: Hier kommen ständig berühmte Leute vorbei

Havanna, Kuba, Februar 2015

Kapitel 7: C’est compliqué

Brazzaville, Republik Kongo, Oktober 2015

Kapitel 8: Das reicht nicht

Brazzaville, Republik Kongo; Libreville, Gabun; Douala, Kamerun; Kyé-Ossi, Kamerun, Oktober bis Dezember 2015

Kapitel 9: Heute Nacht schläfst du hier

Republik Kongo, Kamerun, Äquatorialguinea, Januar 2016

Kapitel 10: Die Frage

Mount Kenya, Kenia, November 2016

Kapitel 11: Deshalb hat jeder eine Waffe

Valletta, Malta; Tunis, Tunesien; Zuwara, Libyen, Mai bis Juni 2017; Syrien, Dezember 2017

Kapitel 12: Sisu

Ulaanbaatar, Mongolei, November 2018

Kapitel 13: Paradies, Loser

Singapur, Salomoninseln, Marshallinseln, Juni 2019 bis Dezember 2020

Kapitel 14: Die Eisscholle

Hongkong, Januar bis November 2020

Kapitel 15: Ein selbst geschaffenes Gefängnis

Hongkong, November 2020 bis Januar 2022

Kapitel 16: Timeless Tuvalu

Neuseeland, Tuvalu, Juni 2022 bis Februar 2023

Kapitel 17: Rückkehr zum See

Danksagung

Bilder von Thors Reise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für die netten Menschen auf der Welt.

Und davon gibt es viele.

Karten von Thors Reise

Prolog: Sie gehören nicht hierher

Kamerun, 31. Dezember 2015

Wir sind am Nachmittag losgefahren. Ich sitze in einem Taxi und werde damit hoffentlich in einem weiten Bogen durch Kamerun fahren, vorbei an der Hauptstadt Jaunde, dann nach Süden, zur Grenze mit der Republik Kongo. Wenn ich es über die Grenze schaffe, möchte ich anschließend versuchen, eine Schleife durch den Kongo zu fahren, dann weiter nach Gabun und schließlich – wenn alles gut läuft – nach Äquatorialguinea.

Während der letzten Monate war ich regelrecht besessen davon, in diesen winzigen, paranoiden Ölstaat zu gelangen. So sehr, dass ich fast daran zerbrochen wäre. Das hatte ich nicht so geplant. Ich dachte, mein Versuch, alle Länder der Erde zu bereisen, ohne zu fliegen, würde ein großes Abenteuer werden. Ich dachte, es würde Spaß machen. Aber so war es nicht.

Die Bürokratie, die allgegenwärtige Korruption, das wahnsinnige Chaos Zentralafrikas, dieses gewaltigen Seelenfressers, haben mich demütig gemacht. Mir geht allmählich das Geld aus, und die Beziehung zu der Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen möchte, ist fast am Ende. Ich fühle mich niedergeschlagen und innerlich leer.

Einige Stunden zuvor war ich an meinem absoluten Tiefpunkt angelangt und hatte beschlossen, das ganze Vorhaben aufzugeben. Tatsächlich fühle ich mich immer noch niedergeschlagen, aber ich habe auch erkannt, dass es nur einen Weg gibt: vorwärts. Es spielt keine Rolle, ob ich die Reise abbrechen will, ob ich inzwischen alles daran hasse. Ich kann nicht zurück. Ich muss weitermachen.

Wir fahren durch Städte und Dörfer, Wälder und Felder, während das Licht am Himmel rasch schwindet – der letzte Sonnenuntergang des Jahres 2015.

Fast alle Menschen, denen wir begegnen, feiern: Einige tanzen auf der Straße zur Musik – von Taylor Swift bis Afrobeat –, die ohrenbetäubend aus riesigen Lautsprechern auf Rädern dröhnt, andere rufen einfach nur ausgelassen »Bonne Année!« in den Himmel.

Die Dunkelheit bricht herein, und auf der Suche nach etwas Essbarem halten wir schließlich in einem Dorf an. Doch das Einzige, was ich finde, ist ein Stand, an dem eine Frau Suppe serviert. Sie reicht mir einen tiefen Teller davon. Die Brühe ist kalt, und im Schein einer Lampe kann ich einen Fischkopf erkennen, der mich von der Oberfläche anstarrt. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf: Davon wird mir schlecht werden. Aber mir ist zugleich klar, dass dies wahrscheinlich die vorerst letzte Gelegenheit ist, etwas zu essen.

Als ich fertig bin, steigen wir wieder ins Auto, wo wir weitere Kilometer hinter uns bringen. Der Untergrund wird immer schlechter, und als wir in den Dschungel gelangen, ist die Straße kaum mehr als eine Schotterpiste. Ich bemerke, dass sie für Asphalt oder Bitumen vorbereitet wurde, aber die Bauarbeiten sind noch nicht so weit fortgeschritten, und so bewegen wir uns auf einer Staubschicht vorwärts. Sogleich wirbeln die Reifen Wolken von Dreck auf, die von den Scheinwerfern des Autos angestrahlt werden. Und mit zunehmender Geschwindigkeit dringt trotz geschlossener Fenster immer mehr Staub ins Auto.

Er bildet eine Schicht auf dem Armaturenbrett und den Sitzen, legt sich auf unsere Kleidung und klebt an jedem Fleckchen unbedeckter Haut. Der Fahrer und ich kommen nicht mehr aus dem Husten heraus. Uns laufen die Nasen, die Augen tränen. Und der Fahrer wird immer wütender. Er hat sich das Auto von seinem Bruder geliehen, um, wie er dachte, leichtes Geld zu verdienen, aber jetzt erkennt er, wie viel Mühe es ihn kosten wird, das Fahrzeug anschließend wieder zu reinigen.

Immer wieder müssen wir anhalten, um die Türen zu öffnen, auszusteigen und tief Luft zu holen. Dann stehen wir einen Moment lang keuchend da, die feuchtwarme Dschungelluft legt sich schwer auf unsere Haut, und in unseren Ohren dröhnt unaufhörlich das Summen unzähliger verschiedener Insekten.

Wir fahren weiter, machen immer wieder Pause, um frische Luft in die Lungen zu bekommen, die sich von der roten Erde Afrikas geschwollen und verstopft anfühlen. Im Scheinwerferlicht sehen wir ab und zu etwas vor uns über die Straße huschen. Ein paarmal glaube ich, eine Raubkatze wahrzunehmen, die sogleich hinter der dichten Wand aus Büschen und Bäumen verschwindet, welche sich bedrohlich auf beiden Seiten der Straße über uns erhebt, aber der Staub, die Dunkelheit und die Geschwindigkeit, mit der wir fahren, machen es schwer, Genaueres zu erkennen.

Und dann, gegen 3 Uhr morgens, tauchen plötzlich drei schmale Schatten im Lichtkegel der Scheinwerfer auf. Ich erkenne die scharfen Umrisse eines Kontrollpunkts. Wir drosseln die Geschwindigkeit, bevor der Fahrer den Wagen anhält. Man schreit uns grob an, dass wir aus dem Fahrzeug aussteigen sollen. Wir treten in die Nacht hinaus.

Vor uns stehen drei Männer in Tarnkleidung. Sie halten Sturmgewehre im Arm und haben Pistolen um die Hüften geschnallt. Und an der Art, wie sie schwanken und lallen, sehe ich sofort, dass sie sturzbetrunken sind.

Doch nicht so betrunken, um nicht sogleich zu erkennen, dass ich ein weißer Europäer bin. Etwas verändert sich, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Der Mittlere von ihnen kommt auf mich zu. Als ich ihm ins Gesicht schaue, wird sein glasiger Blick plötzlich klar, und ich begreife: Dieser Mann hasst mich.

»Sie gehören nicht hierher«, stellt er fest. »Sie haben einen Fehler gemacht.«

Ich bin schon eine ganze Weile in Afrika unterwegs und mittlerweile an Grenzposten und Soldaten gewöhnt. Und im Allgemeinen bin ich in Bezug auf Waffen relativ entspannt, weil ich schon so viele davon gesehen habe. Die meisten Soldaten haben sie einfach nur an einem Riemen über der Schulter hängen oder lehnen sie lässig an eine Wand.

Es geht nicht wirklich eine Gefahr von ihnen aus, es ist eher ein Machtspiel – eine Gelegenheit für sie, zu demonstrieren, dass für diese paar Minuten deines Lebens sie das Sagen haben. Wenn sie Glück haben und dieses Spiel geschickt spielen, springt vielleicht sogar ein wenig Geld für sie dabei heraus.

Man weiß nie, wie lange sie schon in diesem Teil der Welt stationiert sind oder wie lange es noch dauert, bis sie abgelöst werden. Man weiß nicht, wie viel oder wenig an diesem Tag los war oder wie sehr sie sich gerade langweilen. Sie hingegen wissen, dass man als Reisender einen engen Zeitplan hat. Man muss einen Anschluss erwischen, Ansprechpartner ausfindig machen und bestimmte Orte erreichen, bevor das Visum abläuft. Sie haben alle Zeit der Welt, man selbst nicht. Und in der Diskrepanz zwischen diesen beiden Tatsachen liegt ihre wahre Macht.

Aber das hier ist anders. Die Situation ist bereits in beängstigender Weise außer Kontrolle geraten. Ich erinnere mich noch, wie ich während meines Wehrdienstes in der dänischen Armee lernte, auf bestimmte Dinge zu achten, wenn ich bewaffneten Männern gegenüberstehe. Wie gehen sie mit ihren Waffen um? Richten sie die Mündungen ihrer Gewehre sicher nach unten auf den Boden oder auf mich? Liegen ihre Finger am Abzug oder an den Seiten?

Die Männer, die schwankend vor uns stehen, recken ihre Gewehre nach vorn; ich erkenne, dass sie mit den Fingern bereits Druck auf die Abzüge ausüben, als wollten sie jeden Moment abdrücken. Mir ist nicht klar, was genau sie vorhaben, aber selbst wenn sie uns nicht töten wollen, ist es mitten in der Nacht, sie sind völlig betrunken, und alle scheinen von Emotionen beherrscht zu sein, die sie nicht begreifen oder kontrollieren können. Ein tragischer Unfall scheint erschreckend möglich in dieser Situation, die eine verschwommene Eigendynamik entwickelt hat.

Ich muss an eine Begegnung denken, die ich zu einem früheren Zeitpunkt meiner Reise in einem Zug in Kroatien hatte. An diesem Tag war alles gut gelaufen. Ich war der Einzige in meinem Abteil und streckte gerade begeistert den Kopf aus dem Fenster, als ein alter Mann hereinkam. Sein Redebedürfnis triumphierte letztendlich über mein Bedürfnis nach Ruhe. Er erzählte mir allerhand Geschichten; davon, dass er beruflich von Universität zu Universität fuhr und Bücher verkaufte, vom Leben im Sozialismus. Und dann erzählte er mir von der Nacht, als er an einem Grenzübergang von betrunkenen russischen Soldaten angehalten worden war. Sie hatten das Feuer auf ihn eröffnet. Bei diesen Worten zog er sein Hemd hoch und entblößte die Narben auf seinem Oberkörper, die ihre Kugeln hinterlassen hatten.

Diese Erinnerung verstärkt meine Angst nur noch.

Rasch huscht mein Fahrer ein paar Schritte zurück und bleibt hinter mir stehen, sodass er fast aus dem Blickfeld verschwunden ist. Ich bin ungeschützt und auf mich selbst gestellt; er hat mir soeben deutlich gemacht, dass dies allein mein Problem ist, nicht seins. Die Soldaten fragen nach meinen Papieren, und es beginnt die ewig gleiche Routine, die mir seit meiner ersten Einreise nach Zentralafrika vertraut geworden ist. Doch heute Abend liegt etwas Überhitztes, Bedrohliches in dem Hin und Her, das in einem Mischmasch aus Französisch und Englisch abläuft.

»Haben Sie einen Reisepass?«

»Ja.«

»Ist er gültig?« Die Männer sind noch etwa einen Meter von uns entfernt. Nah genug, dass ich den Geruch nach Alkohol und Schweiß, den sie verströmen, deutlich wahrnehmen kann. Ihre Gewehre sind direkt auf mich gerichtet, aber sie berühren oder schubsen mich nicht. Gelegentlich taumelt einer von ihnen ein Stück weg und kommt dann wieder zurück. Ich lasse sie allesamt keinen Moment aus den Augen. Mein Magen fühlt sich an, als hätte er sich verflüssigt, und ich bin so erschöpft, dass ich kaum noch stehen kann. In einem kurzen Anflug von Reue denke ich an die Suppe, die ich gegessen habe. Irgendetwas in mir fühlt sich zutiefst falsch an.

»Ja.«

»Haben Sie ein Visum?«

»Ja.«

»Ist es gültig?«

»Ja.«

»Haben Sie einen Impfpass?«

»Ja.«

»Haben Sie diese Impfung?« Hinter allem, was sie sagen, lauert eine latente Aggression. Ich weiß, dass sie mich drankriegen wollen, und wenn sie irgendeine Lücke finden – ein abgelaufenes Visum, eine Impfung, die ich verpasst habe –, werden sie das ausnutzen. Obwohl ihr Verstand völlig vernebelt ist, genießen sie die Macht, die sie über mich haben. Normalerweise ist klar, worauf das hinausläuft: Sie wollen Geld. Aber heute Abend habe ich das Gefühl, dass der Alkohol ganz andere Gelüste in ihnen geweckt hat. Plötzlich bin ich mir sicher, dass sie mich umbringen werden. Ich weiß nicht, ob ich noch Minuten oder Sekunden habe, aber ich weiß, ohne jeden Zweifel und völlig eindeutig, dass ich sterben werde.

»Ja.«

»Haben Sie diese Impfung?«

»Ja.« Diese müde Scharade frustriert mich, aber zugleich ist mir schmerzlich bewusst, dass ein unbedachtes Wort oder auch nur die Andeutung eines »falschen« Gesichtsausdrucks eine Kugel in meinem Kopf nach sich ziehen könnte, also zwinge ich mich, so unterwürfig zu bleiben, wie sie es ganz offensichtlich von mir erwarten.

»Haben Sie ein Einladungsschreiben?«

»Ja.«

»Ist es gültig?« Ich stelle mir vor, wie einer von ihnen plötzlich von den Emotionen und dem Zorn überwältigt wird, die sich in diesem Augenblick auf diesem kurzen Straßenabschnitt konzentriert haben, und ein komplettes Magazin mit Kugeln in meine Brust entlädt. Ich sehe schon, wie ich in die Knie gehe und dann in den Dschungel geschleift werde. Dies ist immerhin einer der Orte auf der Welt, wo Menschen einfach so verschwinden. Ich werde von den Kreaturen des Dschungels verschlungen werden, und niemand wird jemals meine Leiche finden. Ich habe niemandem gesagt, wo ich bin oder wohin ich gehe. Dieser Gedanke lässt mich frösteln. Einmal mehr fühle ich mich entsetzlich allein.

Jeden Augenblick kann einer von ihnen stolpern, versehentlich den Auslöser noch ein kleines Stück weiter herunterdrücken oder sich durch ein Geräusch im dunklen Wald erschrecken. Aber vielleicht ist es ja auch einfach eine kaltblütige Entscheidung. Der Hass in ihren Augen ist nicht nur durch den Alkohol oder die Umstände bedingt. Er liegt auch darin begründet, dass ich ein weißer Europäer bin. Irgendetwas an der Situation gibt mir das Gefühl, als würde in diesem Moment die gesamte Geschichte des Kolonialismus auf meinen Schultern lasten. Diese Männer wollen mich für die zahllosen Gräueltaten, die Gier, das zynische, entsetzliche Erbe von über hundert Jahren büßen lassen.

»Ja.«

»Wohin wollen Sie?«

»Kongo.«

»Haben Sie ein Visum für den Kongo?« Jetzt schreien sie mich geradezu an, ihre Stimmen rau vor Wut und von den nächtlichen Saufgelagen. Irgendwo in nicht allzu weiter Ferne höre ich Musik und Gelächter.

»Ja.«

»Ist es gültig?«

»Ja.«

Sie sehen sich meinen Pass genauer an. Einer von ihnen wirft mir einen triumphierenden, wölfischen Blick zu.

»Nein, ist es nicht.«

»Ich habe noch sieben Tage. Lassen Sie mich das einfach regeln, wenn ich die Grenze erreiche. Ich bin sicher, es ist in Ordnung.«

Ich bemühe mich, so ruhig wie möglich zu bleiben, auch wenn in mir Grauen und Reue um die Wette kochen. Ich weiß, dass ich einen dummen, möglicherweise tödlichen Fehler begangen habe. Ich hätte niemals in dieses Taxi einsteigen und diese Fahrt durch die Nacht unternehmen sollen. Doch andererseits: Was hätte ich sonst machen können? Mein Visum läuft ab, ich muss zur Grenze.

Meine Überlegungen geraten ins Stocken und weichen einer einzigen Frage: Wann wird es passieren? Wann wird es passieren?

Und dann brüllen sie uns plötzlich wieder mit der gleichen Aggressivität an, die sie bereits während der gesamten Konfrontation an den Tag gelegt haben. »OKAY, los. FAHRT. FAHRT!«

Der Fahrer und ich gehen ganz langsam zum Auto zurück. Unsere Nerven sind zum Zerreißen gespannt, denn wir sind überzeugt, sie werden jeden Augenblick das Feuer eröffnen. Ich werfe einen Blick auf mein Handy; es ist 45 Minuten her, seit wir zum Anhalten gezwungen wurden. Wir steigen – immer noch mit größter Beherrschung – ins Taxi und rollen in Richtung der Grenze zum Kongo davon. Einige Sekunden vergehen, während ich beobachte, wie ihre Silhouetten im Seitenspiegel verschwinden. Irgendwann drückt der Fahrer das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und wir rasen mit aufheulendem Motor in einer Staubwolke davon. Ich merke, dass ich die ganze Zeit über den Atem angehalten habe. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit atme ich wieder aus.

Ein paar Minuten später bitte ich den Fahrer anzuhalten. Ich stolpere zu einem großen Felsen am Straßenrand, neben dem Dickicht des Dschungels, und schlüpfe dahinter. Mit zitternden Händen ziehe ich meine Hose herunter und entleere mich. Ich habe heftigen Durchfall und kann nicht aufhören zu zittern. Danach verharre ich gut zehn Minuten lang auf dem Boden, noch immer zitternd. Schließlich reiße ich mich zusammen. Ich stehe auf, steige wieder ins Auto und sage: »Okay, fahren wir.«

Kapitel 1: Der See

Dänemark, Kanada, USA, Dänemark, Libyen, Thailand, 1979–2013

Als Kind träumte ich immer davon, eines Tages ein berühmter Entdecker zu werden. Ich wollte sein wie Hernán Cortés oder Ibn Battuta oder Roald Amundsen oder einer der anderen, von denen ich in dem Buch gelesen hatte, das mein Vater mir gekauft hatte. Es erzählte die Geschichte des fortwährenden, rastlosen Strebens der Menschen, in die entlegensten Winkel der Erde vorzudringen. Immer wieder las ich es, wie besessen, und besitze es auch heute noch. Mein Kopf war voll mit Bildern von dichten Wäldern, verlassenen Tempeln und untergegangenen Reichen in unentdeckten Gegenden. Ich beneidete diese Männer um die Prüfungen, die sie hatten bestehen müssen, die Expeditionen, die sie geprägt und ihre Stärken und Schwächen zum Vorschein gebracht hatten. Ich wünschte mir auch so eine Gelegenheit, ein Leben der Extreme zu führen.

Ich komme aus Dänemark, dem Teil der Welt, aus dem die Wikinger stammten. Durch meine Adern fließt ihr Blut, auch wenn es mit dem der vielen anderen Länder vermischt ist, durch die sie zogen: Wales, Schottland, das Baltikum.

Ich weiß, dass ich ihr Erbgut in mir trage, und habe mir schon manchmal vorgestellt, dass es lebendig ist und einen Einfluss auf meine Persönlichkeit hat, denn ich teile ihren Entdeckergeist, ihren Drang, in unbekanntes Terrain vorzustoßen (wenn auch nicht ihre Begeisterung für das Töten oder die Sklaverei). Wahrscheinlich könnte man am ehesten sagen, dass ich so halb daran glaube. Jedenfalls ist es ein reizvoller Gedanke, dass mein Entschluss, mich auf ein derartiges Abenteuer einzulassen, zu einem gewissen Teil darauf beruht, dass meine Vorväter vor tausend Jahren ein ähnliches Verlangen verspürten, über die Weltmeere zu fahren.

Was mich jedoch tatsächlich am meisten geprägt hat, sind meine Erziehung, meine Eltern, die Orte, an denen ich gewohnt habe, und das, was ich erlebt habe.

Den Großteil meiner Kindheit über lebten wir in einem geräumigen Haus in Bryrup, einem Dorf von kaum mehr als tausend Einwohnern ganz hinten in einem Tal mit einem großen See in der Mitte. Es war eine dieser Ortschaften, in denen alle wussten, was die anderen so trieben; wenn man am einen Ende etwas tat, bekamen es am anderen Ende alle fast im selben Moment mit.

Zu unserem Haus gehörte auch ein orangefarbenes Glasfaserkanu. Das war genau das Richtige für mich. Sobald ich alt genug dafür war, schob ich es – mit einem Stein auf dem Sitz am anderen Ende, damit es gut im Wasser lag – hinaus auf den See und brach zu meinen Abenteuerfahrten auf. Es wurde für mich unverzichtbar. Ich erkundete jeden Winkel des Sees und die kleinen Bäche, die aus ihm entsprangen. Einmal versuchte ich, einen mysteriösen Fisch zu finden, einen zwei Meter langen Hecht, der angeblich in den Tiefen des Sees lauerte und in der Lage war, einem den Arm abzubeißen.

Meistens aber ruderte ich zu einer der vielen Inseln hinüber, die so winzig waren, dass man nicht einmal darauf stehen konnte. An diesen Zufluchtsorten inmitten der unberührten Natur gab es niemanden außer mir. Ich liebte es, mich dorthin zurückziehen zu können. Es war nichts zu hören als das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Windes, der durch die Bäume fuhr. Ich machte es mir im Kanu gemütlich, sah in den Himmel hinauf, sog die frische, klare Luft ein und genoss die Gewissheit, dass mich hier niemand finden oder stören würde. Hier kam ich zur Ruhe, wenn ich wütend oder enttäuscht war.

War es einmal zu windig oder regnete zu stark, um das Kanu herauszuholen, dann zog ich los in den dichten Wald, der gleich hinter dem Haus begann. Ich wollte ihn so gründlich erforschen, wie es nur ging. Ich wusste alles über unsere Umgebung: über die Bäume, die Gewässer, die Moore. Auch der Wald wurde zu einem Ort, an dem ich meiner Fantasie freien Lauf lassen konnte. So stellte ich mir vor, dass ich auf Schatzsuche wäre oder sich im Gebüsch Feinde versteckten. Ich kletterte, baute Baumhäuser und stöberte auf dem Waldboden nach unterschiedlichen Arten von Ameisen und anderen Insekten.

Manchmal – warum, konnte ich damals selbst nicht genau sagen – lief ich von zu Hause fort. Ich ließ unseren Garten hinter mir, ging dann den Hügel hinauf und verschwand im Wald. Normalerweise war ich rechtzeitig zum Abendessen wieder da, aber mindestens einmal kam ich so weit, dass irgendjemand meinen Vater anrufen und ihn bitten musste, mich abzuholen.

Diese Begeisterung für das Abenteuer und für Fantasiewelten habe ich von meiner Mutter. Sie ging mit uns immer in den Wald, wo wir Pilze sammelten – sie kochte leidenschaftlich gern – und ihren Geschichten über ihre Kindheit in Finnland oder Gestalten wie Robin Hood und Ivanhoe lauschten. Damals hatte man keine teuren Spielsachen; dafür konnten die Kinder aus Tannenzapfen und ein paar Stöckchen ein Pferd, eine Kuh und andere Tiere basteln, bis sie einen ganzen Bauernhof beisammenhatten. Obwohl ich also, genauso wie alle anderen Kinder, die ich kannte, auch mit Lego und Transformers spielte, schätzte ich außerdem das einfache Leben, von dem mir meine Mutter erzählt hatte.

In unserem Haus gab es noch etwas Spannendes, und zwar im Keller. Dort stand eine riesige Modelleisenbahn, die den gesamten Raum einnahm, mit unzähligen Tunneln, Schienen und Bahnübergängen – der Traum aller Kinder. Ob sie funktionierte oder nicht, war jedoch Glückssache. An manchen Tagen klappte es, an anderen nicht. Meistens bildete ich mir ein, ich würde mich mit elektrischen Dingen besser auskennen, als es tatsächlich der Fall war, und zog an ein paar Kabeln, um die Eisenbahn wieder zum Laufen zu bringen. Fuhr sie dann wirklich, war es wie ein Wunder. Was der Sache einen zusätzlichen Reiz verlieh, war die Tatsache, dass es im Keller angeblich spukte. Manchmal, wenn ich dort unten saß und mit der Eisenbahn spielte, hatte ich plötzlich das untrügliche Gefühl, jemand würde hinter mir stehen und mich anstarren. Was oder wer es war, blieb eines der ungelösten Rätsel meiner Kindheit.

Ich war das erste von drei Kindern. Mein Vater Torben Pedersen und meine Mutter Ylva Cederlöf hatten sich kennengelernt, als sie dreißig waren. Torben war als Kaufmann bei einem dänischen Unternehmen beschäftigt, das Kissen und Bettdecken vertrieb. Ylva stammte aus Finnland und hatte als Reiseführerin gearbeitet – so waren sich die beiden begegnet.

Der Bettwarenhersteller expandierte rasch, auch international, weshalb ich schon sehr früh in meinem Leben umziehen musste: zuerst nach Vancouver, wo die Firma eine Niederlassung eröffnet hatte, dann nach Toronto. Danach, als ich vier war, ging es weiter in die Vereinigten Staaten, nach New Jersey, wo wir zweieinhalb Jahre blieben, bevor wir kurz vor meinem siebten Geburtstag nach Dänemark zurückkehrten und uns auf Fünen niederließen, der Insel in der Mitte des Landes. Nun war ich wieder hier – mit zwei Schwestern und großen Schwierigkeiten mit dem Dänischen, einer Sprache, die ich letztendlich völlig neu lernen musste. Diese frühe Entwurzelung mag auch der Grund dafür sein, weshalb ich mich in Dänemark nie ganz zu Hause fühlte. Eine Weile später zogen wir dann noch einmal um, nach Jütland, der Halbinsel, die das dänische Festlandgebiet bildet.

Ich war damals ein Kind voller Widersprüche: Einerseits war ich sehr schüchtern und hatte Angst vor Spinnen und der Dunkelheit, ein heikler Esser, ein Einzelgänger, der nur selten mehr als einen Freund gleichzeitig hatte. Außerdem glaube ich, dass ich in meiner geistigen Entwicklung in mancher Hinsicht etwas langsamer war als Gleichaltrige, sodass ich irgendwie immer einen Schritt hinterherhinkte.

Kein Wunder also, dass ich gemobbt wurde. Ich kann mich noch erinnern, welche Schwierigkeiten ich mit dem Buchstaben E hatte, als ich in Dänemark in die Schule kam. Ich verwendete immer die englische Aussprache anstatt der dänischen. Die anderen Kinder hänselten mich deswegen ziemlich, was ich zu nah an mich heranließ – wahrscheinlich, weil ich eben ein so sensibles, furchtsames Kind war. Allein die Vorstellung von Gewalt machte mir Angst, und selbst vage Drohungen setzten mir schrecklich zu.

Dadurch war es nicht schwer, mich herumzukommandieren und zu schikanieren. Schon bald fanden ein paar ältere Jungs Gefallen daran, mich zu jagen. Eine ganze Zeit lang verfolgten sie mich jeden Tag nach der Schule. Ich war immer zu Fuß unterwegs, während sie Fahrräder besaßen. Es gelang mir nie, ihnen zu entkommen. Manchmal versuchte ich, sie abzuschütteln, indem ich mich in einem Bachbett versteckte – dass meine Schuhe und Hosen dabei nass wurden, nahm ich gern in Kauf. Für eine Weile klappte das recht gut, bis sie auf die Idee kamen, mich mit Steinen zu bewerfen. Irgendwann fand meine Mutter heraus, was da vor sich ging, und kurze Zeit später hatte der Spuk ein Ende.

Das Schlimme an der Sache war nicht, dass mich die anderen Kinder schikanierten, sondern dass ich mich in dem Dorf, das ich immer als meinen Zufluchtsort gesehen hatte, nicht mehr sicher fühlte: Es war ein Verlust, der mir sehr zu schaffen machte.

Doch neben der Ängstlichkeit und Empfindsamkeit schlummerte in mir auch die feste Überzeugung, ich sei für etwas anderes geboren. Wahrscheinlich hätte ich damals gar nicht genau sagen können, was ich von meinem Leben erwartete, aber ich hatte einfach dieses Gefühl. Zum Teil war es auf ganz grundlegende Dinge zurückzuführen, in denen ich mich von anderen unterschied – zum Beispiel auf die Tatsache, dass meine Mutter Finnin war und ich aufgrund meiner frühen Kindheit in Nordamerika lange vor allen anderen fließend Englisch sprach. Das war für mich fast so eine Art Superkraft.

Die Ortschaft, in der wir wohnten, war klein, doch meine Mutter sorgte dafür, dass uns die Welt ringsherum riesig vorkam. Eines Tages, so erzählte sie mir immer, würden wir zusammen eine Reise rund um den Globus unternehmen. Ich glaube, das Feuer, das sie damit in mir entfachte, brennt heute noch. Wir waren stolz auf die großartige Gemeinschaft, in der wir lebten, und das geht mir immer noch so. Oft hörte man aber auch Witze darüber, dass es ein Ort war, von dem man nicht so leicht fortkam; dass es Menschen gab, die nicht mehr aus dem Tal herausfanden. Mir war jedoch schon früh klar, dass ich nicht hier hängen bleiben würde.

Oft tat ich auch ganz absichtlich etwas, um mich von anderen zu unterscheiden. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich nicht so wie sie war. Wenn sie Jeans trugen, trug ich andere Hosen. Wenn sie mit dem Bus zur Schule fuhren, nahm ich das Rad.

Das alles waren nur unbedeutende Dinge, und das war mir durchaus bewusst. Mein eigentliches Ziel bestand darin, mir mit irgendetwas Besonderem einen Namen zu machen. Als ich klein war, erzählte mir mein Vater einmal, dass John Lennon direkt vor seinem Haus erschossen worden sei, von Mark Chapman, der das nur getan habe, um berühmt zu werden. Er wollte als derjenige in die Geschichte eingehen, der John Lennon getötet hatte. Das war für mich eine schreckliche Vorstellung. Ich dachte mir: Wenn ich einmal berühmt werde, dann auf alle Fälle für etwas, worauf ich stolz sein kann.

Vielleicht antwortete ich deshalb auf die Frage, was ich später einmal werden wolle, immer: Ich möchte der König der ganzen Welt werden. Ich wollte derjenige sein, der mit klarem Verstand über alles herrschte, der die Entscheidungen traf, der für eine gerechte Verteilung der Ressourcen sorgte, der sicherstellte, dass kein Land und kein Mensch je einen Anlass hatten, einen Krieg zu führen. Das war damals mein voller Ernst, und als es irgendwann nicht mehr so war, wurde es zu einer Art Running Gag zwischen meinen Schwestern und mir. Und später erklärte ich den beiden immer, wenn ich ins Ausland reiste, ich müsse meine Kunden befragen, um herauszufinden, wo ich meine Firmenzentrale am besten ansiedeln sollte.

Und dann war da noch das Leben, das für mich nach Einbruch der Dunkelheit begann. Meine Eltern und ihre Freunde glaubten, ich sei ein höfliches, sensibles Kind, das ihnen immer bereitwillig zur Hand ging, niemals fluchte und brav seine Hausaufgaben machte, genauso wie mein Freund Niels, ein netter, ruhiger Junge.

Das stimmte zwar, aber ich hatte auch noch einen anderen Freund, Kristoffer, der bis heute mein bester Freund ist.

Kristoffer war anders. Er war zwar kein extremer Draufgänger und ich ebenso wenig, doch jedes Mal, wenn wir etwas zusammen unternahmen, gab es Ärger. Wir stachelten uns gegenseitig immer weiter an, und einer wollte verwegener als der andere sein. Sobald meine Familie schlief, kletterte ich aus dem Fenster meines Zimmers, lief über das Dach und ließ mich hinunter auf den Boden, wo Kristoffer schon auf mich wartete. Dann gingen wir in den Garten irgendeines Nachbarn, klauten ein paar Äpfel, warfen sie auf Autos, die unserer Meinung nach zu schnell fuhren, und rannten lachend davon, wenn sie abrupt bremsten oder ins Schleudern gerieten. Wir zündeten gewaltige selbst gebastelte Feuerwerke und ließen Briefkästen explodieren. Und im Winter warfen wir Schneebälle an die Türen der Nachbarn. Wahrscheinlich waren es dieselben Späße und Streiche, wie sie Jungen in der ganzen Welt aushecken – wir nahmen weder Drogen, noch begingen wir Diebstähle –, aber für mich war es wichtig, auch diesen anderen Teil meiner Persönlichkeit ausleben zu können, der mir eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten eröffnete. Wie der See war das für mich eine Art Zufluchtsort, der mir außerdem Raum für neue Abenteuer bot.

Mit zunehmendem Alter wurden diese Orte, an die ich mich zurückziehen konnte, immer wichtiger.

Meine Eltern waren in vieler Hinsicht ein bemerkenswertes Paar, brachten sie doch beide eine ganze Menge völlig gegensätzlicher Eigenschaften mit. Es ist für mich nicht schwer, zu erkennen, was ich von den beiden mitbekommen habe. Das Strukturierte in meinem Leben stammt voll und ganz von meinem Vater. Er verfügt über eine unglaubliche Zuversicht; bei ihm hat man ständig das Gefühl, er wäre einem einen Schritt voraus. Und vielleicht ist er das auch, zumindest im buchstäblichen Sinne: Er steht morgens immer früh auf, weil er den Tag so vor allen anderen beginnen kann. Er legt Geld beiseite, für schlechte Zeiten. Er ist äußerst strukturiert in seinem Denken und sehr organisiert. Es ist ihm wichtig, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, und noch wichtiger, dass man unter allen Umständen hält, was man versprochen hat. Wenn man sagt, dass man sich etwas vorgenommen hat, dann gibt es in seinen Augen absolut keinen Grund, es nicht zu tun.

Damit verbunden ist ein unverwechselbares Charisma. Mein Vater ist ein Geschäftsmann, weiß aber auch, wie man andere unterhält. Am Tag meiner Geburt legte er sich eine Gitarre zu, und schon bald hatte er sie überall mit dabei. Er brachte sie oft mit zu Partys und komponierte passend zu allen möglichen Anlässen Lieder.

Meine Mutter ist sehr wagemutig und fantasievoll. Rückblickend betrachtet ist mir klar, dass ich ganz sicher nicht imstande gewesen wäre, den logistischen Kraftakt einer Reise durch sämtliche Länder der Erde, noch dazu ohne Flugzeug, zu vollbringen, wenn ich nicht die Disziplin, den Weitblick und das strukturierte Denken meines Vaters geerbt hätte. Wäre ich nur das Kind meiner Mutter, dann würde ich vermutlich heute noch an irgendeinem Strand sitzen und auf der Gitarre herumzupfen.

Hätte mich dagegen nur mein Vater geprägt, dann weiß ich nicht, ob ich überhaupt auf die Idee gekommen wäre, mich auf den Weg zu machen. Dazu war jener Teil meiner Persönlichkeit gefragt, der neugierig auf die Begegnung mit anderen, fremden Kulturen und nie zuvor probierte Speisen ist – der Teil von mir, der sich unbedingt auf unbekanntes Terrain wagen möchte. Letztendlich aber war es meine Mutter, die den Wunsch in mir weckte, eines Tages zu den großen Entdeckern dieser Welt zu gehören. Es ist ein sehr unbescheidenes, für einen Dänen sehr untypisches Bestreben, aber ich kann nun mal nicht leugnen, dass es in mir steckt.

Manchmal frage ich mich, welche Rolle es spielt, dass ihr Name, Ylva, »Wölfin« bedeutet. Sie verfügt über etwas, das an russisches Roulette erinnert: Bei ihr kommt man sich immer vor wie bei einem russischen Roulette: Sie ist durchaus eine brillante Erzählerin, aber man kann im Voraus nie sagen, was für Geschichten sie einem auftischen wird. Als sie meinen Vater kennenlernte, arbeitete sie gerade als Reiseführerin, und auch heute, mit 76 Jahren, ist sie immer wieder in Italien unterwegs und erzählt ihren Reisegruppen etwas über die Römer, die Weingüter der Region und auch sonst alles Mögliche, was die Leute so wissen wollen.

Ich glaube auch, dass sie von meinen Eltern die Launischere ist. Mein Vater sagte immer, er wolle nicht, dass wir Angst vor ihm haben, aber wir sollten ihn respektieren. Trotzdem glaube ich, dass ich mich vor ihm fürchtete. Zumindest wollte ich ihn auf keinen Fall verärgern oder enttäuschen. Mit meiner Mutter war es anders. Zwischen uns kam es immer wieder zu schrecklichen, heftigen Streitereien. Ich erinnere mich, wie sie mir einmal – ich war nicht älter als zehn oder elf – eine Ohrfeige verpasste. Ohne nachzudenken, schlug ich zurück. Ein Freund von mir, der das zufällig mitbekam, konnte nicht glauben, was er gesehen hatte; er ging an diesem Abend traumatisiert nach Hause. Das Schlimme daran ist, dass es in unseren Augen wahrscheinlich gar kein so ungewöhnliches Vorkommnis war, kein Moment, der unsere Beziehung nachhaltig prägte. Es war einfach passiert.

Die Person, mit der meine Mutter jedoch am häufigsten stritt, war mein Vater. Als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, geschah das so gut wie jeden Abend. Es schien, als wären sie in einer Situation gefangen, die sich unaufhörlich wiederholte: Mein Vater stand ruhig da, während meine Mutter schrie und heulte. Manchmal schlich ich über den knarzenden Dielenboden aus meinem Zimmer und ein Stück die Treppe hinunter, wo ich mich ans Geländer klammerte und mein Gesicht zwischen die Streben presste, um mitanzuhören, was sich in den Zimmern unten abspielte. Sobald mir irgendetwas verriet, dass sie meine Anwesenheit bemerkt hatten, raste ich zurück in mein Bett. Dann kamen sie – einer nach dem anderen – herein und schauten nach, ob alles in Ordnung war, während ich dalag und so tat, als hätte ich die ganze Zeit geschlafen.

Für keines von uns Kindern kam es überraschend, als sie uns eines Tages eröffneten, dass sie sich scheiden lassen wollten. Ich war damals fünfzehn. Es war eher eine Befreiung, denn letztendlich war ihre Ehe schon lange in die Brüche gegangen. Doch trotz der jahrelangen Streitereien, die wir miterlebt hatten, waren wir, glaube ich, doch ein bisschen schockiert über die unschönen Folgen der Trennung, die vielen hässlichen, wütenden Emotionen, die um uns herumschwirrten. Eine meiner Schwestern bezeichnete es später einmal als einen Krieg. Meine Mutter übernahm das Sorgerecht für meine Schwestern und versuchte, auch mich zu sich zu nehmen. Ich glaube, sie wollte meinen Vater damit so tief wie möglich treffen. Sie war in ihren Gefühlen gefangen, und wir tun schreckliche Dinge, wenn Kränkungen oder Verletzungen unser Leben bestimmen. Ich beschloss jedoch, bei meinem Vater zu bleiben, und so wohnten wir noch eine Weile lang in dem riesigen Haus, das sich nun unglaublich leer anfühlte, bis es schließlich verkauft wurde.

Wir wussten, dass die Leute über uns redeten. Allerdings war es für die Klatschbasen im Ort ein paar Monate lang gar nicht so einfach, sich zu entscheiden, worauf sie sich zuerst stürzen sollten, da sich fast zur selben Zeit auch noch vier andere Paare trennten.

Schon bald nach der Scheidung lernte mein Vater eine andere Frau kennen, die bereits zwei Kinder hatte, zog bei ihr ein und hatte damit sehr schnell eine neue, aus meiner Sicht perfekte Familie gefunden. Für sein Leben ergab sich also ganz eindeutig eine Perspektive. Meine Mutter dagegen konnte nicht aufhören, immer wieder zu betonen, was für ein schrecklicher, hinterhältiger Mensch er sei.

Und ich blieb mir selbst überlassen.

Dadurch wurde mir etwas deutlich, was ich schon immer so empfunden hatte, aber vermutlich nie in Worte hatte fassen können. Mein Vater hatte sich stets um die organisatorischen Dinge gekümmert, um unsere finanzielle Absicherung, und das hatte seinen Preis. Mir wurde bewusst, dass er eigentlich nie so recht ein Teil meiner Kindheit gewesen war. Er verließ das Haus immer früh am Morgen und kam erst spät zurück. An manchen Tagen sah ich ihn gar nicht. Ich unterhielt mich fast nie mit ihm. Er war eher eine Bank als ein Vater. Ich kann mich noch erinnern, wie er fragte: »Brauchst du Geld? Gut, ich schreib’s mir auf. Du kannst es mir ja dann zurückgeben.« Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mir jemals gesagt hätte, dass er mich liebt, oder dass er mich umarmt hätte. Das war einfach nicht seine Art.

In der Zeit nach der Scheidung begann mir das richtig zuzusetzen. Ich fand es schrecklich, dass er so oft nicht da war, und begann deshalb, immer mehr Zeit in den Familien meiner Freunde zu verbringen. Manche von ihnen wurden für mich fast so etwas wie Ersatzeltern; sie füllten das Vakuum, das meine Mutter und mein Vater hinterlassen hatten. Die Frage, mit wem von beiden ich Weihnachten feiern würde, entwickelte sich zu einem wahren Albtraum, sodass ich die Tage irgendwann lieber mit meinen Freunden und deren Familien verbrachte.

Dann saß ich da, mit meinen Ersatzeltern, und ärgerte mich, dass meine Eltern nicht länger durchgehalten hatten. Im Leben der Menschen, an deren Tisch ich saß, hatte es bestimmt auch Höhen und Tiefen gegeben, aber sie waren immer noch zusammen. Warum war das meiner Familie nicht gelungen?

Mein Groll richtete sich vor allem gegen meinen Vater, der es in meinen Augen hätte besser wissen müssen. Meine Mutter hatte ich damals bereits abgeschrieben; ich hielt sie für einen absolut hoffnungslosen Fall. Zu diesem Gefühl trugen gleich mehrere Dinge bei, doch eine Sache brachte das Fass endgültig zum Überlaufen: Als ich sechzehn war, zog sie mit meinen Schwestern aus dem Haus, in dem sie lebten, aus, ohne mir Bescheid zu geben. Über eine halbe Woche lang hatte ich keine Ahnung, wo meine Mutter und meine Schwestern steckten. Dann endlich, nach vier Tagen, kam eine Postkarte mit ihrer neuen Adresse. Doch es war zu spät. Ich hatte beschlossen, dass es für mich einfacher wäre, wenn ich die Beziehung zu meiner Mutter abbrach. Ich nahm mir vor, nicht mehr mit dieser Frau zu sprechen, die in meinem weiteren Leben keine Rolle mehr spielen würde.

Drei Jahre vergingen, bis ich merkte, dass ich sehr wohl eine Mutter brauchte, und wir vorsichtig begannen, wieder Kontakt zueinander aufzunehmen. (Seltsamerweise fiel mir erst dann auf, dass sie Dänisch mit einem finnischen Akzent sprach.) Ich hatte ihr immer wieder vorgehalten, dass sie eine schlechte Mutter sei. Ich war so lange gemein zu ihr gewesen, vor allem als Teenager. Das bedauere ich. Mein Verhältnis zu ihr bekam allmählich eine andere Qualität, wurde beinahe väterlich. Nun sagte ich es ihr, wenn ich fand, dass sie mit ihrem Verhalten eine Grenze überschritten hatte, und entlarvte ihre dreistesten Lügen. Ich beschloss, dass es besser war, ihr zu verzeihen, zu akzeptieren, dass sie sich nicht mehr ändern würde, und zu versuchen, aus dem, was uns verband, das Beste zu machen. Die folgenden Jahre waren nicht einfach. Selbst heute noch empfinde ich so manches an ihr als verschroben oder seltsam, aber letztendlich hat jeder von uns nur eine Mutter.

Erst als ich erwachsen war und nach Libyen ging, um beim Bau einer Zementfabrik mitzuarbeiten, versöhnte ich mich endgültig mit meinem Vater. Irgendwann kam völlig überraschend eine E-Mail von ihm, in der er vorschlug, mich in Nordafrika zu besuchen. Ich war so perplex, dass ich sie dreimal lesen musste, um sicherzugehen, dass ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Unsere Beziehung war quasi nicht existent, und jetzt wollte er plötzlich hierherkommen und bei mir wohnen?

Ich antwortete ihm in distanziertem, geschäftsmäßigem Ton, er könne sehr gerne nach Libyen kommen. Eins führte zum anderen, und schließlich begannen wir mit der Reiseplanung. Nach seiner Ankunft beschloss ich, ein paar Tage Urlaub zu nehmen, um ihm die Umgebung zu zeigen. Ich mietete einen Toyota Land Cruiser und heuerte außerdem einen ortskundigen Führer an sowie jemanden, der fahren und für uns kochen sollte, dann ging es los, in die Wüste hinein. Irgendwann im Lauf der Reise, nach Tagen in der weiten Ebene, an denen der Anblick des Waw an-Namus – eines erloschenen Vulkans mit drei Seen, einem roten, einem grünen und einem blauen – den einzigen Höhepunkt darstellte, kam es dann zur Explosion. Bis zu diesem Moment war die Fahrt von eher nüchterner Höflichkeit geprägt gewesen. Wir verhielten uns weniger wie Vater und Sohn, sondern eher wie Kollegen. Gelegentlich hatte ich das Gefühl, als versuchte er, mich abzuschätzen, und ich, mich zu beweisen. Das bisschen Arabisch, das ich mir angeeignet, und der Posten, den ich mir verschafft hatte, schienen ihn zu beeindrucken. Während wir durch die triste Landschaft fuhren, über uns die endlose blaue Himmelskuppel, eine jener Gegenden, in denen man glauben konnte, Gott hätte sie vergessen, wagten wir uns in unseren Gesprächen zunehmend auf unangenehmeres Terrain. Wir fingen an, über unsere Familie zu reden, und es dauerte nicht lange, bis es zu einem heftigen Streit kam. Und nachdem er begonnen hatte, konnte keiner von uns mehr aufhören. Mein Vater zählte alles auf, womit ich ihn jemals enttäuscht hatte, und ich sagte ihm, was mich wütend gemacht und verletzt hatte. Keine Ahnung, was die beiden Libyer wohl von den verrückten Dänen hielten.

Irgendwann, während wir durch diese karge Landschaft aus Steinen und Staub brausten, kamen wir zu einer Art Übereinkunft. Was geschehen war, war geschehen, und daran ließ sich nicht viel ändern. Wir hatten beide Fehler begangen und konnten sie nicht ungeschehen machen, doch wir konnten zumindest versuchen, uns damit abzufinden. Es funktionierte. Jetzt, da ich meine Wut endgültig beiseiteschieben konnte, sah ich auch deutlicher, was für ein Mensch mein Vater war. Es fiel mir plötzlich leicht, seine Klugheit, Tüchtigkeit und Unerschrockenheit zu respektieren. Ich begriff, wie viel ich von ihm lernen konnte. Wir wurden beste Freunde oder zumindest so etwas in der Art. Mein Vater ist inzwischen auch viel emotionaler – es ist nicht schwer, ihn zum Weinen zu bringen oder zu erkennen, wie stolz er auf mich ist. Ich weiß, dass meine Mutter, die uns immer aus ganzem Herzen geliebt hat, ebenfalls stolz auf mich ist; sie zeigt es einfach nur auf ihre eigene Art.

Die Zeit in Libyen veränderte mich auch in anderer Hinsicht.

Die Schule durchlief ich überwiegend mit mäßiger Begeisterung. Ich hatte das Gefühl, als sei ich in einer Tretmühle, in der ich nie wirklich vorankam. Vermutlich wartete ich darauf, dass irgendein Fach oder Thema mein Interesse weckte und mich auf diese Weise zu einem anderen Menschen machte, doch das geschah nie.

Ich fühlte mich allein auf weiter Flur. In der Wirtschaftsschule merkte ich dann, wie angreifbar mich meine Einsamkeit machte. Wie sollte ich im Klassenzimmer überleben, wenn ich nicht bereit war, mit den Menschen darin in Kontakt zu treten? Letztendlich schaffte ich es, mich in jemanden zu verwandeln, der in jeder Clique Freunde hatte und zu jeder Party eingeladen war. Ich glaube, ich war so eine Art Klassenclown. Ich stellte fest, wie leicht es mir fiel, Witze zu reißen, lautstark aufzutreten und andere zu unterhalten. (Ungefähr zu dieser Zeit erfuhr ich, dass sich der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen den Ruf erworben hatte, mühelos zwischen den sozialen Schichten hin und her zu wechseln. Er verkehrte ebenso ungezwungen mit Königen und Königinnen wie mit Fabrikarbeitern. Als ich das hörte, kam mir sofort der Gedanke: So will ich auch werden.)

In meinem zweiten Jahr wurde eine Art Talentshow veranstaltet. Ich dachte mir ein Stand-up-Comedy-Programm aus, das ich vor mehreren Hundert Zuschauern präsentierte. Ich fühlte mich schrecklich dabei, fand aber schon bald Gefallen am Nervenkitzel der Aufführungen. Allerdings war mir noch nicht ganz klar, was ich mit diesem Gefühl anfangen sollte.

Nach meinem Militärdienst, den ich bei der Königlichen Leibgarde, einem der angesehensten Regimenter der dänischen Armee, abgeleistet hatte, war ich kurze Zeit bei den UN-Friedenstruppen. Die Monate, in denen ich das blaue Barett trug, öffneten mir die Augen. Es war meine erste Reise nach Afrika, und ich war mit einer Waffe am Horn von Afrika unterwegs, nicht beim Strandurlaub in Ägypten oder Kenia. Ich sah dort zum ersten Mal eine Leiche: einen Eritreer, der am Boden lag und dem das Blut aus dem Kopf in den Sand rann. Und ich hatte dort zum ersten Mal das unheimliche, unangenehme Gefühl, selbst ein Zielobjekt zu sein: Ich erinnere mich noch, wie es sich anfühlte, mitten in der Nacht durch die Täler zu fahren und mit ziemlicher Sicherheit zu wissen, dass gerade irgendjemand, den ich nicht sehen konnte, auf mich zielte. So nah war ich der Gewalt noch nie zuvor gewesen. Ich war damals fast noch ein Kind, außerstande, die Kultur oder Geschichte jenes Teils der Welt zu erfassen, in den man mich geschickt hatte.

Bei meiner Rückkehr nach Hause hatte ich das dringende Bedürfnis, den anderen von allem zu erzählen, was ich über Leben und Tod gelernt hatte. Meine Freunde hörten ein paar Minuten lang aufmerksam zu, doch dann drehte sich das Gespräch auch schon wieder um andere Dinge. Plötzlich ging es um den neuen Toaster, den sich einer von ihnen zugelegt hatte, und all die Erlebnisse, von denen ich berichten wollte, waren mit einem Mal kein Thema mehr. Seitdem sprach ich nie wieder mit irgendjemandem über diese Monate.

Meine Freunde interessierten sich nicht dafür, wie mich das, was ich gesehen hatte, verändert hatte, sondern wollten nur wissen, ob ich jemanden getötet hätte. Ich merkte, wie schwer es ist, das Interesse anderer wach zu halten.

Danach und nach einer Saison in Österreich als Skilehrer begann ich, in der Transport- und Logistikbranche zu arbeiten. Ich stellte mir vor, auf diese Weise ein durch und durch internationales Leben führen zu können. Kein Tag wäre wie der andere, und ich würde in Geld schwimmen.

Nichts von alledem trat ein. Ich verbrachte vier Jahre am Laptop, in Dänemark. Das Einzige, was daran international war, waren die Papiere, die über meinen Schreibtisch gingen. Erst nach einem Führungswechsel sah ich eine Chance auf Veränderung. Ich erklärte meinem neuen Chef, ich würde kündigen, wenn man mich nicht ins Ausland entsendete. Okay, meinte er, das lässt sich machen.

Ich rechnete damit, in Singapur oder London, New York oder Rio de Janeiro eingesetzt zu werden. Stattdessen schickte man mich nach Libyen. Libyen gehörte – wie Kasachstan, Bangladesch oder die Arktis – zu jenen Orten, die einem mehr Spielraum für Fehler boten, weil niemand anderes dorthin wollte. Ich wusste zwar von Leuten, die selbst dort einen Burn-out erlitten hatten, aber wenn ich durchhielt, hätte ich die Freiheit, mir auch mal einen Schnitzer zu leisten, ohne groß über mögliche Konsequenzen nachdenken zu müssen, da ich sehr eigenverantwortlich agieren konnte. Wir errichteten eine Zementfabrik, sodass ich eine Menge über Bauwesen, Logistik und Ähnliches mitbekam. Was mich jedoch grundlegend veränderte, waren die anderen Dinge, die ich in dieser Zeit lernte.

Damals vertiefte ich mich in die arabische Kultur – die Rituale des Händeschüttelns und Lächelns, bei denen manchmal die Wahrheit gesprochen wurde, manchmal aber auch nicht – und speicherte winzigste Details ab, die mir selbst zehn Jahre später noch von Nutzen waren. Dabei fand ich heraus, wie viel Tee man trinken und wie viele Zigaretten man rauchen musste, um Zugang zu einem Hafen zu bekommen oder einem Meeting mit einem Mann beiwohnen zu dürfen, auf dessen Unterstützung man angewiesen war.

Ich begann, den Koran zu lesen und Arabisch zu lernen. Ich befasste mich mit der Geschichte Libyens, um nachvollziehen zu können, wie sich das Land zu dem hatte entwickeln können, was es heute war. Ich nahm mir Oberst Gaddafis Grünes Buch vor, um die Denkweise dieses Mannes zu verstehen; er war als Held an die Macht gekommen, der Libyen von einem König befreit hatte, den niemand mochte, und hatte diese Macht dann vierzig Jahre lang nicht mehr aus der Hand gegeben.

Jene Zeit in Libyen ist auch der Grund dafür, dass ich bis zum heutigen Tag einen Bart trage. In den ersten Wochen dort wollte mir nichts gelingen. Niemand hörte auf mich oder tat, worum ich ihn bat. Dann fiel mir wieder ein, wie wir uns damals, bei der UN, auf eine Reise in den Libanon vorbereitet hatten. Damals hieß es, in manchen Ländern der Welt würde man bärtigen Männern mit mehr Respekt begegnen. Wir landeten letztendlich zwar in Eritrea, doch dieser Hinweis blieb mir im Gedächtnis.

Ich hörte also auf, mich zu rasieren, und tatsächlich öffneten sich mir schon bald die Türen. Ich weiß nicht, ob sich das unmittelbar auf meine Gesichtsbehaarung zurückführen ließ, aber eines erwies sich als wahr: Man kommt nur dann voran, wenn man versucht, sein Umfeld zu verstehen. Ich musste lernen, wie die Kultur funktionierte, was angemessen war und in welchen Situationen, wann ich andere vor den Kopf stieß, ohne es überhaupt zu merken. In manchen Ländern wie Dänemark oder Großbritannien lässt sich normalerweise recht leicht einschätzen, was jemand von einem hält, selbst wenn manche Empfindungen hinter einer Maske der Höflichkeit verborgen bleiben. In fast der gesamten übrigen Welt herrscht eine derart ausgeprägte Kultur der Gastfreundschaft, dass man einfach nicht sagen kann, ob der andere einen mag oder nicht. Ob er einen braucht oder nicht. Ob er einen für lustig hält oder nicht. Ob man höflich genug ist oder nicht. Wenn man eine Kultur nicht kennt, dann merkt man auch nicht, wenn man jemandem auf die Zehen tritt, weil das Gegenüber es einem nicht sagen wird.

Ich fand auch viel über mich selbst heraus. Nachdem ich zunächst so darauf gedrängt hatte, ins Ausland entsandt zu werden, sah ich mich jetzt einer ganzen Menge an Schwierigkeiten ausgesetzt. Der Hauptgrund, weshalb man mich hierhergeschickt hatte, lag darin, dass die Leute nicht taten, was sie tun sollten. Als ich merkte, dass ich meiner Aufgabe nicht nur gewachsen war, sondern sie sogar ziemlich gut erledigte, änderte sich etwas in mir: Ich gewann neues Selbstvertrauen. Ich entdeckte, was es bedeutete, mit einem Problem konfrontiert zu sein und dann nach einer Lösung zu suchen, ganz egal, ob es sich um eine technische Frage handelte oder ob es darum ging, jemanden zu finden, der einem helfen konnte.

Es war mir gelungen, mich in diesem unglaublich schwierigen Umfeld zu behaupten. Ich war regelrecht aufgeblüht. Ich fühlte mich, als wäre ich zu allem fähig.

***

Das Projekt in Libyen wurde durch Unstimmigkeiten zwischen meinem Unternehmen und der libyschen Regierung für eine Weile unterbrochen. Ich kehrte für kurze Zeit nach Hause zurück, nur um festzustellen, dass ich aufgrund komplizierter steuerlicher Gründe nicht in Dänemark bleiben konnte. Mein Arbeitgeber bot mir daher an, mir ein Flugticket in ein beliebiges Land zu besorgen. Zum damaligen Zeitpunkt war ich – abgesehen von meiner Entsendung nach Libyen – noch nicht viel in der Welt herumgekommen. Ich war zum Skifahren in Finnland und Österreich gewesen und zum Wandern in Schweden und Norwegen, doch alles andere war bislang nur ein Traum geblieben.

Was dann geschah, zeigt, wie blauäugig ich war. Ich wollte unbedingt einmal die kambodschanische Tempelanlage Angkor Wat besuchen und bat daher wie selbstverständlich um einen Flug nach Bangkok. Im Anzug und völlig ahnungslos kam ich am Flughafen an. Ich beschloss, mit dem Rucksack weiterzureisen, und wollte alles gleich dort besorgen, weil ich glaubte, mir so den Stress zu ersparen, mich in der Stadt nach einem Rucksack, einer Wasserflasche und dem ganzen anderen Kram umzusehen, den ich brauchen würde. Am Ende gab ich für diese Dinge einen Haufen Geld aus, ebenso wie für eine dreitägige Tour durch Bangkok und die Limousine, die mich zum Hotel brachte.

Das alles änderte sich, als ich irgendwann den Mut aufbrachte, ins überfüllte, neonbeleuchtete Straßenlabyrinth der Stadt einzutauchen, und dort mit einem australischen Backpacker namens Cam ins Gespräch kam, der bereits einige unglaubliche Reisen unternommen hatte. Nach drei gemeinsamen Tagen in Bangkok ging jeder von uns seiner Wege. Er fuhr weiter nach Indien, und ich ließ all die luxuriösen Aktivitäten, die ich gebucht hatte, sein und nahm den Bus nach Angkor Wat. Ich war zu Fuß unterwegs, sprach mit Einheimischen und fühlte mich wie Indiana Jones, als ich die Ruinen alter Tempel erkundete, Spinnen, Schlangen und Landminen sah und mir schließlich die Cholera einfing. Es war eine befreiende Erfahrung, ein Erlebnis, das mich veränderte. Mein Leben hatte plötzlich eine neue Wendung bekommen: Ich wollte mehr. Ich konnte förmlich spüren, wie dieser Rausch neuer Eindrücke in mir wirkte, wie er mich beinahe zu einem neuen Menschen machte.

Fast mein ganzes Leben lang hatte mich die Sorge gequält, es würde mir an Selbstbewusstsein mangeln. Ich war nur ein Durchschnittstyp, vielleicht sogar nicht einmal das. Ich interessierte mich nicht für die Dinge, die meinen Mitmenschen etwas bedeuteten. Daher hatte ich auch nie das Gemeinschaftsgefühl, das Menschen erleben, die beispielsweise Fans desselben Fußballvereins sind. Durch meine langen Reisen und anspruchsvollen Projekte im Ausland manifestierte sich jedoch etwas, was in mir geschlummert hatte, seit ich mit den UN-Friedenstruppen in Afrika gewesen war. Ich kann mich noch erinnern, wie kurz nach meiner Rückkehr aus Eritrea, als ich gerade als Skilehrer in Österreich arbeitete, ein Kollege mit seinem teuren neuen Audi mitten im Gebirge eine Reifenpanne hatte. Er kam zu mir herüber und sagte: »Hey, Thor, kommst du bitte mal? Du warst doch in Afrika, dann kannst du das bestimmt reparieren.«

Das war vielleicht etwas ungewöhnlich formuliert, aber es steckte etwas Wahres dahinter. Damals war es mir noch nicht so recht bewusst, doch ich war zu jemandem geworden, der an ungewöhnliche Orte reist, ungewöhnliche Dinge lernt und ungewöhnliche Dinge weiß. Das gefiel mir. Genau das war es, was man von einem echten Abenteurer auch sagen würde. Ich verfluchte mein Schicksal dafür, dass ich in einem Zeitalter lebte, in dem es keine Abenteuer mehr gab.

Kapitel 2: Das letzte große Abenteuer

Kopenhagen, Dänemark, Januar 2013

Im Lauf der Jahre verschwand dieses Gefühl nicht, im falschen Jahrhundert geboren zu sein. Im Gegenteil, es verstärkte sich sogar noch.

Ich hatte den Eindruck, in einer Zeit zu leben, in der kaum noch Platz für Geheimnisse war. Wir wissen, woher Blitz und Donner kommen. Es gibt keinen, absolut keinen Ort auf dieser Welt, zu dem man gehen kann, ohne dass vor einem schon ein anderer Mensch dort gewesen ist.

Wir leben auf einem Planeten, der von zahllosen Satelliten umgeben ist – es gibt keine unentdeckten Kontinente mehr. Wir haben alle Inseln gezählt. Neue Technologien ermöglichen es uns, an Orte zu gelangen, die einst als nahezu unerreichbar galten. Mithilfe von Lidar-Systemen, deren Licht selbst die dichtesten Baumschichten zu durchdringen vermag, kann man mit einem Flugzeug oder einer Drohne über den Amazonas-Regenwald fliegen und die Spuren alter Zivilisationen entdecken, ohne auch nur einen Fuß auf den Waldboden zu setzen.

Das alles ist unglaublich. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Dennoch macht es mich irgendwie traurig, dass Errungenschaften wie diese uns Menschen völlig von der Notwendigkeit befreien, uns einen Weg durch das Unterholz zu bahnen und gefährlichen Schlangen und Spinnen auszuweichen, während wir nach einer verfallenen Mauer oder nach zurückgelassenen Schmuckstücken suchen, die darauf hinweisen, dass an dieser Stelle einst Menschen gelebt haben.

Ich wünschte mir Abenteuer. Dieser Instinkt, diese Sehnsucht war in mir erwacht, als ich im Dschungelbuch von Mogli gelesen hatte, von Robin Hood und von Tarzan, oder als ich Indiana Jones gesehen hatte.

Als Junge konnte ich mich einfach in den Wald flüchten. Kristoffer und ich schlichen uns nachts davon und paddelten auf Kanälen und benachbarten Seen bis zum einzigen Fluss Dänemarks, der zum Meer führt.

In meiner Jugend hielt ich all die aufregenden Dinge, die ich in Büchern gelesen hatte, für möglich. Ich dachte, ich könnte eines Tages wie Amundsen die schneebedeckten Weiten der Antarktis erwandern oder tief in unbekannte Dschungelregionen vordringen wie Henry Stanley. Dann wurde ich erwachsen und erkannte, dass dem nicht so war. Ich war in einer Welt groß geworden, in der solche Dinge nicht mehr wichtig waren. Einst hatten Nachrichten von Dr. Livingstone aufgeregte Zeitungsberichte nach sich gezogen. Heute faszinierte es die Leute, wie schnell jemand durch Frankreich radeln konnte.

Ich versuchte, mir meine Begeisterung dennoch zu erhalten, auch wenn ich begriff, dass die Welt sich weitergedreht hatte. Ich erinnere mich an eine Nacht, als Kristoffer mich gerade in Libyen besuchte. Wir waren mit einem Fremdenführer und einem Fahrer zu einer Expedition in die Sahara aufgebrochen.

Die Sonne war längst untergegangen, und die anderen hatten sich bereits schlafen gelegt, aber es war erst 21 Uhr, und wir sagten uns, wer geht denn da schon schlafen?, und zogen los, hinaus in die Dünen. So weit draußen in der Wüste gibt es keine Lichtverschmutzung; man hat den Eindruck, alle Sterne des Universums wahrnehmen zu können. Wir liefen immer weiter, fasziniert von dem, was wir über uns sahen, bis wir bemerkten, dass wir ein Felsband überquert hatten – was bedeutete, dass wir die Fußspuren, anhand derer wir den Rückweg hatten finden wollen, nicht mehr erkennen konnten.

Wo war das Lager? Wir wussten, dass es sich in einem Umkreis von 300 Metern befinden musste, doch in dem dunklen, wenig markanten Gelände hatten wir die Orientierung verloren und somit keine Ahnung, in welcher Richtung es lag. Wenn wir uns für die falsche entschieden, wären wir möglicherweise mit einem Mal 600 Meter oder weiter davon entfernt. Das konnte uns zum Verhängnis werden.

Kristoffer war gerade erst Vater geworden; er plädierte dafür, zu bleiben, wo wir waren, und bis zum Morgen zu warten. Dann würden unsere Kameraden sicherlich unsere Abwesenheit bemerken. Ich jedoch wollte die Erfahrung voll auskosten, dass wir uns in der Sahara verlaufen hatten. Das hatte etwas in mir ausgelöst; ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mir soeben genau die Art von Abenteuer, von der ich immer in Büchern gelesen hatte, geradezu in den Schoß gefallen war. Wir könnten uns allein auf den Weg in die Wildnis machen! Mithilfe der Sterne navigieren! Am Ende taten wir weder das eine noch das andere. Kristoffer blieb mit eingeschalteter Handytaschenlampe an Ort und Stelle, während ich systematisch die Umgebung absuchte und schließlich das Lager ausfindig machte.

So begierig ich auch darauf war, Abenteuer zu erleben, das Problem war, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich welche finden sollte. Insgeheim befürchtete ich, dass das möglicherweise daran lag, dass es schlichtweg keine mehr gab.

 

Seit Monaten schon war ich untätig gewesen, als ich eines Tages die E-Mail erhielt. Das war im Januar 2013.

Vier Jahre zuvor hatte ich einen Ein-Mann-Betrieb gegründet und für Firmen als Logistikkoordinator gearbeitet. Ein paar Jahre lang lief alles gut. Es kam sogar der Punkt, an dem ich Aufträge ablehnen musste, weil ich nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein konnte. Ich begann, über eine Expansion nachzudenken.