The Love Experiment - Stephanie Perkins - E-Book

The Love Experiment E-Book

Stephanie Perkins

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Beschreibung

11 Jahre Beziehung, 1 Monat Dates mit anderen und die große Frage: Führt dieses Love Experiment zum Happy End? Die 29-jährige Ingrid ist Bibliothekarin in dem gemütlichen Bergstädtchen Ridgetop, North Carolina. Mit ihrem Partner Cory ist sie seit dem College zusammen. Über eine Hochzeit haben die beiden nie gesprochen, schließlich sind sie mit ihrer Beziehung rundum glücklich. Doch als Ingrids kleine Schwester an Weihnachten plötzlich ihre Verlobung bekannt gibt, stellen sich Ingrid und Cory die unvermeidliche Frage: Werden sie heiraten und Kinder bekommen?  Die Sache ist nur: Beide waren nie mit einer anderen Person zusammen. Wäre es da nicht fahrlässig, sich das Ja-Wort zu geben, ohne zu wissen, was sie verpassen? Da sie ohnehin füreinander bestimmt sind, kann eigentlich nichts schiefgehen, oder? Schnell steht der Plan fest: Cory zieht für einen Monat aus, in dem beide daten können, wen sie wollen, bevor dann die Hochzeitsglocken klingeln. Ingrid hat auch schon den perfekten Mann für das Experiment im Sinn: ihr Kollege in der Bibliothek, in den sie seit Jahren heimlich verknallt ist. Doch ganz so leicht scheint das mit dem unverbindlichen Daten nicht zu sein. Und als Ingrid und Cory sich nach einem Monat wiedersehen, müssen sie entscheiden: War ihr Love Experiment ein Erfolg? »The Love Experiment ist das Buch, auf das wir gewartet haben.« New York Times-Bestsellerautorin Christina Lauren »Magisch … Fängt wirklich das Gefühl ein, verliebt zu sein.« Cassandra Clare über Herzklopfen auf Französisch.

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Seitenzahl: 638

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Stephanie Perkins

The Love Experiment

Roman

Vanessa Lamatsch

Für Jarrod, meinen besten Freund und meine große Liebe

1

Ich hatte bereits vor ein paar Tagen eine katastrophale Entscheidung getroffen. Aber dass sie katastrophal war, wusste ich jetzt noch nicht. Genau wie ich nicht wusste, dass ich – bis Ende des Tages – eine weitere treffen würde. Als ich die Doppeltür öffnete und die kühle Luft draußen einatmete, füllte sich meine Brust mit Hoffnung. Alles roch frisch und sauber. Gleichzeitig leicht und schwer.

»Bald«, sagte ich. »Jeden Moment wird er runterkommen.«

»Das hast du schon vor einer Stunde gesagt.«

Ich sah über die Schulter zurück, um meinem Kollegen ein strahlendes Lächeln zu schenken.

»Schließ die Türen«, grummelte Macon. »Du lässt die ganze Wärme entkommen.« Aber ich sah das amüsierte Funkeln in seinen Augen, als er den Blick wieder auf den Computerbildschirm richtete.

Die Tür war alt, deshalb brauchte es Kraft, sie zu schließen. Holzrauch verdrängte den Duft des bevorstehenden Schneefalls. Im Hinterzimmer knisterten Flammen im steinernen Kamin. Eigentlich war offenes Feuer in Immobilien des County verboten, aber unsere Außenstelle der North-Ridgetop-Bibliothek war als historisches Gebäude registriert, also war der wunderbare Kamin von dieser Regelung ausgenommen.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl hinter dem Ausleihtresen sinken, wie immer erfreut, dass ich Macons griesgrämige Fassade geknackt hatte. Ich gehörte zu den wenigen Menschen, denen das gelang. An unserem robusten Tisch gab es zwei Arbeitsplätze. Den einen besetzte seit vier Jahren ich, der andere gehörte bereits seit elf Jahren ihm. Sowohl metaphorisch als auch im wahrsten Sinne des Wortes war er mein engster Freund bei der Arbeit.

Ein übergroßes Buch rutschte über den Tisch in meine Richtung.

»Mittagessen?« Das Buch war auf einer Seite aufgeschlagen, die eine Fotografie von einem weitläufigen Garten eines Cottage zeigte, mit einem schmiedeeisernen Tisch und mit auf charmante Weise nicht zusammenpassenden Stühlen.

»Auf keinen Fall«, antwortete ich. »Nicht heute.«

»Nein?« Er klang überrascht.

»Machst du Witze? Heute ist einer der guten Tage.«

Das war eines unserer Lieblingsspiele: einen Ort suchen, an dem wir lieber wären als bei der Arbeit. Aber heute war ein guter Tag. Für die höheren Lagen North Carolinas war Schneefall angesagt, und Ridgetop, unsere Kleinstadt, brummte vor Aufregung. Die Bibliothek war leer bis auf ein paar Gäste an den Computern. Alle anderen waren im Supermarkt, um vor der unvermeidlichen früheren Ladenschließung Brot und Milch zu kaufen und dann nach Hause zu eilen. Hier schneite es nur ein paarmal im Jahr, und die Reaktionen waren immer wunderbar übertrieben.

»Na gut«, meinte Macon, als ich das Buch zu ihm zurückschob.

Er legte es ins Rückgaberegal, um sich dann wieder einem ausführlichen Artikel über die statistische Wahrscheinlichkeit einer globalen Nahrungsmittelkrise zuzuwenden. Macon las gern Sachtexte über beängstigende Themen und dicke Klassiker, bei denen es Wochen dauerte, sie durchzuackern. Ich las eigentlich fast alles, was ich in die Finger bekam.

»Ich werde mich mit dir in diesem Garten zum Mittagessen treffen«, sagte ich und bezog mich damit auf das Bild, das er mir eben gezeigt hatte, »sobald der Schnee geschmolzen ist.«

»Soll eine Menge runterkommen.«

»Wird schön sein, morgen einen Tag freizuhaben.«

»Und heute früher nach Hause zu gehen.«

Wir redeten so, als führten wir dieses hypothetische Gespräch nicht bereits seit Stunden. Und wir unterhielten uns, als wäre alles zwischen uns vollkommen normal … Schließlich wusste nur ich, dass das nicht stimmte. Mein Magen verkrampfte sich. Egal wie viel wir auch über das Mittagessen sprachen, ich wäre während unserer Pause zu nervös gewesen, um auch nur einen Bissen runterzubekommen.

Ich wusste einfach nicht, wie ich es ihm sagen sollte. Das Thema beschäftigte mich schon seit Tagen – aber jetzt, da die Zeit endlich gekommen war, schien mir die Aufgabe unerfüllbar. Denn wie sollte ich der Person, die ich küssen wollte – von der ich mehr wollte als nur Küsse –, klarmachen, dass ich plötzlich single war, aber nur für einen Monat? Egal wie ich es in meinem Kopf formulierte, es klang absurd.

Das hätte mir den ersten Hinweis darauf liefern müssen, dass das ganze Konzept absurd war.

Die Türflügel wurden aufgestoßen, und ein kleiner älterer Mann begann zu singen: »Should auld acquaintance be forgot –«

»Frohes neues Jahr, Mr Garland«, sagte ich, als ich mit Schwung einen Krimi durch den Rückgabeschlitz auf meiner Seite des Schreibtisches beförderte.

Ich saß an diesem Platz, weil die meisten Kundinnen und Kunden zuerst hierhin gingen und ich freundlicher war als Macon. Ich grüßte herzlicher. Auch wenn ich wie die meisten Bibliothekare und Bibliothekarinnen eher introvertiert war, war ich nicht grundsätzlich schüchtern. Ich konnte gut zuhören, interessierte mich für andere Menschen und lachte gern. Macon nannte mich manchmal die quirlige Ingrid. Es war ein Seitenhieb, aber insgeheim mochte ich den Spitznamen, weil ich vermutete, dass er diese Eigenschaft an mir schätzte.

»Ingrid Dahl! Macon Nowakowski!« Mr Garland schenkte uns beiden ein strahlendes Lächeln. »Hatten Sie schöne Ferien?«

Ich erwiderte sein Lächeln. »Hatte ich, vielen Dank.« Es war der dritte Tag des neuen Jahres, ein Dienstag. Wir hatten sonntags und montags immer geschlossen, aber ich hatte mir länger freigenommen. Seit Weihnachten war ich nicht mehr hier gewesen. »Wie waren Ihre Feiertage? Wie ist der Weihnachtsbaumstammkuchen geraten?«

Er eilte bereits auf das Regal mit den Neuerscheinungen zu. »Kann mich nicht beschweren, kann mich nicht beschweren! Muss mir noch ein Buch holen, bevor der Sturm hereinbricht!«

Macons Miene versteinerte angesichts dieser Explosion von Energie in unserer Bibliothek. Obwohl er oft wirkte wie ein Mann kurz vor der Rente, war er erst neununddreißig. Zehn Jahre älter als ich. Ruhig und mürrisch. Macon sprach mit leiser Stimme und betrachtete die Welt mit beunruhigend intensivem Blick. Seine Garderobe war eintönig. Er trug ab Herbst und durch den gesamten Winter jeden Tag denselben Mantel, oft auch drinnen – einen weiten Dufflecoat mit großen Knebelknöpfen. Ein mürrischer Paddington, so nannte ich ihn neckend. Macon kam regelmäßig zu spät, neigte zu Schimpftiraden, und sein widerspenstiges dunkles Haar sah immer aus, als müsste er dringend zum Friseur. Es gab gewollte attraktive Zerzaustheit … Und es gab Macon.

Ich fand ihn entzückend.

Er wedelte mit der Hand in Richtung seines Namensschildes aus Messing und stieß es dabei mit dem Mantelärmel um. »Ich werde dem County nie vergeben, dass sie uns zwingen, diese Dinger aufzustellen.« Die öffentliche Bibliothek wurde von der County-Verwaltung finanziert, die uns regelmäßig neue Regeln verordnete. Die obligatorischen Namensschilder waren im letzten Frühjahr auf unseren Tischen erschienen, aber Macon war immer noch irritiert, wenn jemand ihn mit seinem vollen Namen anredete.

»So schlimm ist es gar nicht.« Mein leises Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Zumindest spricht Mr Garland deinen Namen immer richtig aus. Mason.«

»Wie kannst du es wagen!« Aber Macon genoss es, sich darüber aufzuregen.

Mein Nachname wurde quasi immer falsch ausgesprochen – außer in der Bibliothek, wo die meisten Gäste Roald Dahls wunderbare Bücher kannten, auch wenn sie keine Ahnung von seiner bedauerlichen Doppelmoral hatten. (»Wir sind nicht verwandt«, erklärte ich immer eilig, obwohl wir beide norwegische Wurzeln hatten und eine entfernte Verwandtschaft deshalb durchaus möglich war.) Mein Name wurde Daal ausgesprochen, aber das vernuschelte Doll machte mir auch nicht viel aus. Aber Now-a-kow-ski war für quasi jeden Kunden und jede Kundin zu kompliziert, besonders für diejenigen, die nicht wussten, dass man das polnische W wie das englische V aussprach. Und zu Macons anhaltender Irritation endete das Aussprachengemetzel nicht bei seinem Nachnamen. Die meisten Leute redeten ihn auch mit dem falschen Vornamen an.

»Ich bin weder ein mittelalterlicher Steinmetz, noch bin ich Teil einer Folkband aus Virginia«, grummelte er oft. Sein Name legte lediglich nahe, dass seine Familie aus dem Süden kam, wo Macon oft Städte oder Straßen benannte.

Mr Garland eilte zurück in unseren Raum.

»Das ging schnell«, meinte ich.

Er ließ ein gebundenes Buch auf den Tresen fallen, warf sich seinen eleganten Schal über die Schulter und zückte seine Bibliothekskarte. »Ich bin ein Mann, der weiß, was er will.«

Mr Garland war über achtzig und erinnerte mich mit seiner geringen Körpergröße, seinem abstehenden Haar und seiner maßgeschneiderten Kleidung immer an einen Kobold. Er lieh ausschließlich Krimis aus – und zwar immer nur ein Buch pro Besuch, weil er so einen Vorwand hatte, uns regelmäßig zu besuchen. Als sein Ehemann noch am Leben gewesen war, hatte Mr Garland ganze Stapel von Büchern mitgenommen, und wir hatten ihn erst wiedergesehen, wenn die Ausleihfrist abgelaufen war. Aufgrund dieser Tatsache bemühte ich mich immer, ihm meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Heute allerdings war ich in Gedanken woanders.

»Schwieriges Publikum«, sagte er theatralisch flüsternd.

Er redete mit Macon, nickte aber in meine Richtung, als ich ihm das Buch zurückgab. Der Zettel mit dem Rückgabedatum steckte bereits darin. Er hatte irgendeine Geschichte erzählt, und ich hatte die Pointe verpasst. Und die Geschichte auch.

»Tut mir leid.« Ich verzog das Gesicht. »Ich war Lichtjahre entfernt. So ist es schon den ganzen Tag.«

Mr Garland tat betroffen. »Solange es an Ihnen liegt und nicht an mir.«

Ich gönnte ihm das Lachen, auf das er spekuliert hatte. »Unterkühlen Sie sich da draußen nicht, okay?«

Er reagierte darauf, indem er dramatisch seinen Mantelkragen aufstellte, bevor er durch die Tür stürmte. »Bis zum nächsten Mal!«

»Das nächste Mal«, sagte Macon und stand auf, um die Türflügel richtig zu schließen, weil Mr Garland sie wie immer offen gelassen hatte, »werde ich unsere Pforten verriegeln, wenn ich ihn kommen sehe.«

»Er will doch nur ein wenig Aufmerksamkeit.«

Macon knallte die Türen fester zu als nötig.

»Er ist einsam«, sagte ich. Viele unserer Stammkundinnen und -kunden waren einsam. Bibliotheken waren sichere Rückzugsorte für Leute, die einsame Leben führten – einige der Bibliotheksangestellten eingeschlossen. Unter anderem Macon.

»Er singt jedes Mal, wenn er das Gebäude betritt.«

»Du liebst seinen Gesang.«

Macon ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und drehte ihn so weit, bis er mich anklagend anstarren konnte. »Lichtjahre entfernt.«

»Was?«

»Das hast du gerade gesagt … Und genau das bist du. Du hast den Mond schon hinter dir gelassen und bist auf dem Weg zum Mars.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, aber er ließ nicht locker. »Und du bist ständig am Fummeln.«

»Am Fumm–« Als mir klar wurde, worauf er sich bezog, ließ ich meine Kette los, an der ich gedankenverloren herumgespielt hatte.

»Du wirst noch einen Knoten machen, und dann muss ich das in Ordnung bringen. Mal wieder.«

Ich hob die leeren Hände. »Ich habe losgelassen!«

Aber ich musste lachen. Ich hatte tatsächlich die nervöse Angewohnheit, ständig an meinem Schmuck herumzufummeln. Glücklicherweise war Macon ein geduldiger, geübter Knotenentferner. Kopfhörerkabel, Ladekabel, Lichterketten. Die Wollknäuel für das Stricken bei der Märchenstunde. Mein Haar, wenn es sich in einer Spange verfangen hatte. Er konnte sich, so lange wie eben nötig, hinsetzen und sich konzentrieren, bis jede Verwicklung gelöst war.

»Was ist los?«, fragte er.

»Nichts«, antwortete ich zu schnell.

Angst durchfuhr mich. Ich hatte den ganzen Tag nach einem Aufhänger gesucht, und er hatte mir gerade eine Steilvorlage geliefert. Trotzdem spürte ich einen inneren Widerstand.

Er starrte mich nur abwartend an.

Frag noch mal, flehte ich stumm.

Aber der Moment war vorbei, und Macon drehte sich mit einem Achselzucken wieder zurück zum Tisch. Es lag nicht in seiner Natur, jemanden zu bedrängen oder Grenzen zu überschreiten.

Die Worte auszusprechen, war fast eine außerkörperliche Erfahrung. »Cory ist ausgezogen.«

Macon erstarrte. Er drehte seinen Stuhl wieder in meine Richtung.

Ich wickelte erneut meine Kette um die Finger. »Es ist über Weihnachten passiert.«

»Was ist über Weihnachten passiert?«

Die Frage erreichte uns, bevor die Sprecherin, eine Frau mit rundem Gesicht und runder Brille, um die Ecke hinter Macon trat. Wir zuckten beide zusammen. Alyssa war im Kinderbereich im hinteren Teil der Bibliothek gewesen, um einen Aufsteller mit winterlichen Bilderbüchern frisch zu bestücken, diesmal mit Schneemannbüchern.

Auf der verzweifelten Suche nach einer Antwort, die ehrlich war, ohne zu viel zu enthüllen, entschied ich mich für den Anfang der Geschichte. »Meine Schwester hat sich verlobt.«

Macon zog die Augenbrauen hoch.

»Verlobt!« Wie erwartet strahlte Alyssa. »Mit der Basketballspielerin?«

»Jap«, bestätigte ich.

Ein Blick zu Macon zeigte, dass seine Miene wieder ausdruckslos war. Er hatte verstanden, dass das Gespräch jetzt eine andere Richtung nehmen würde.

»Gott sei Dank.« Sue kehrte aus dem Anbau zurück. »Haben wir offiziell aufgehört zu arbeiten? Ich bin heute Nachmittag zu abgelenkt, um irgendetwas geschafft zu kriegen.«

»Ist die Mail angekommen?«, fragte Elijah und schob einen leeren Karren hinter den Tresen. Er war der Page der Bibliothek, was bedeutete, dass er die Bücher wieder in die Regale einsortierte. Sue war die Filialleiterin, und Alyssa war verantwortlich für die Kinderbuchbibliothek. Wir fünf stellten die gesamte Belegschaft dar.

»Noch nicht«, sagte Macon.

Die heiß ersehnte Mail würde vom Direktor der Hauptbibliothek in der Innenstadt verschickt und uns die Erlaubnis geben, die Filiale früher zu schließen.

»Wir werden die Mail nicht bekommen, bevor es nicht wirklich schneit«, erklärte Sue.

»Verdammt!«, entfuhr es Elijah, und er zog sich die Kopfhörer aus den Ohren, um vollständig am Gespräch teilnehmen zu können.

Er hörte bei der Arbeit gern wissenschaftliche Sachbücher und Science-Fiction-Romane. Er war der jüngste Angestellte und erst vor zwei Monaten einundzwanzig geworden. Er kannte die Vorschriften, war in seinem Alter aber noch optimistisch genug, um darauf zu hoffen, dass die Regeln plötzlich geändert werden könnten. Wie es bei den Namensschildern der Fall gewesen war.

»Ingrids Schwester hat sich verlobt«, sagte Alyssa.

Sue war sofort interessiert. »Mit der Basketballspielerin?«

Jess weckte immer das allgemeine Interesse. Die Verlobte meiner Schwester war Shooting-Guard in der WNBA und zweifache olympische Goldmedaillengewinnerin. Sie hatte meine Schwester Riley während der verkürzten Covid-WNBA-Saison getroffen, die im allgemeinen Sprachgebrauch The Wubble genannt wurde. Sie war mit allen anderen Spielerinnen in einer Basketballbubble eingeschlossen gewesen, und Riley hatte zu den Krankenschwestern gehört, die für die täglichen Tests verantwortlich gewesen war.

»Mit der Basketballspielerin«, bestätigte ich.

»Wie groß ist sie noch mal?«, fragte Elijah. Diese Frage stellten alle ständig.

»Normal groß. Einen Meter siebenundsiebzig.«

»Wer hat um wessen Hand angehalten?«, fragte Alyssa.

»Jess hat Riley gefragt. Sie haben sich über die Feiertage eine Disney-Kreuzfahrt gegönnt.« Das löste allgemeines Gelächter aus. Alle fanden es wunderbar, dass meine sachliche Schwester und ihre Freundin, die Profisportlerin, totale Disney-Nerds waren. »Aber anscheinend war Jess zu nervös, um zu bemerken, dass meine Schwester seekrank war. Sie ist genau in dem Moment auf ein Knie gesunken, als meine Schwester sich über die Reling gebeugt hat, um sich von ihrem Mageninhalt zu verabschieden.«

Die anderen lachten weiter, aber Alyssa wirkte wie vor den Kopf gestoßen.

»Die beiden fanden es auch witzig«, versicherte ich ihr.

»Wenn Tim um meine Hand angehalten hätte, während ich mich gerade übergebe, hätte ich nicht Ja gesagt.«

»Das ist unfair«, meinte Macon. »Armer Tim.«

Ich wechselte einen Blick mit Macon, und wir schafften es nur unter großer Anstrengung, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Wir mochten Alyssa, auch wenn wir kaum Gemeinsamkeiten mit ihr hatten. Sie war nur ein Jahr jünger als ich, aber ein wenig naiv. Und sie konnte überkritisch sein, besonders in Bezug auf ihren Ehemann – was sehr unangenehm war. Aber Tim war ihr charakterlich ziemlich ähnlich und noch dazu ein Langweiler. Alyssa war wenigstens unterhaltsam.

»Hättest du Dani gefragt, während sie sich gerade übergeben hat?«, fragte Alyssa Macon und bezog sich damit auf seine langjährige Freundin, die inzwischen berechtigterweise ein Ex vor dem Titel trug.

Macons Miene verfinsterte sich. »Unter keinen Umständen hätte ich um ihre Hand angehalten.«

»Schnee hin oder her«, sagte ich mit einem kurzen Seitenblick zu Macon und bemühte mich, das Gespräch wieder in sicherere Gewässer zu lenken, »ihr beide dürft in jedem Fall bald Feierabend machen.«

Ich sah Sue und Alyssa an, die wie üblich um sechs Uhr nach Hause gehen würden. Dienstags hatte unsere Filiale länger geöffnet. Und wenn der Schneefall nicht bald einsetzte, würden Macon, ich und Elijah bis acht Uhr arbeiten müssen.

Sue warf einen Blick zur Wanduhr und seufzte. »Nicht bald genug.«

Anders als Macon, der nur so tat, als würde er in zwei Jahren in Rente gehen, galt das für Sue wirklich – eine Tatsache, die sie quasi täglich erwähnte. Sie ging genauso gern nach Hause wie der Rest von uns, und ihre Einstellung zur Arbeit war in gleichen Teilen entspannt und effizient … Genauso führte sie auch unsere Filiale. Ich bewunderte sie und betrachtete sie insgeheim als örtlichen Mutterersatz – meine Mom in Ridgetop. Das war der Hauptgrund, warum ich ihr nicht erzählen wollte, was bei Cory und mir vor sich ging. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Außerdem hatte ich keine Lust, Alyssas hartes Urteil zu hören, und Elijah war einfach zu jung.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die drei wieder an die Arbeit machten. Sobald wir endlich wieder allein waren, wandte Macon sich mir zu, die Stirn in Falten gelegt. Aber ich schüttelte den Kopf. Ich wagte nicht, das Gespräch fortzuführen, bis Sue und Alyssa tatsächlich nach Hause gegangen waren.

***

 

Cory und ich waren vor sieben Jahren nach Ridgetop gezogen, am Tag nachdem wir das College beendet hatten. Geboren und aufgewachsen in Orlando, hatten wir in unserem Abschlussjahr einen Ausflug hierher gemacht – und schon beim ersten Atemzug der frischen Bergluft hatten wir uns mehr zu Hause gefühlt als jemals zuvor in dem schwülen Klima Floridas. Beide Städte lebten vom Tourismus, aber Ridgetop war eine Oase der Kunst und zog somit Träumende und Rastlose an. Der Ort war dafür bekannt, Neuankömmlinge mühelos – manche sagten sogar märchenhaft – willkommen zu heißen. Ridgetop gab einem einfach das Gefühl, alles würde sich fügen, und auf uns hatte das zugetroffen.

Also war es mir passend erschienen, dass uns der schicksalhafte Anruf erreicht hatte, als wir vor knapp einer Woche über die Feiertage zu Besuch in Orlando waren. Wir saßen am Weihnachtsmorgen in der Küche meiner Eltern und starrten einen glasierten Backschinken an, den keiner von uns essen würde – Cory war, was das Essen anging, sehr eigen, und ich war überwiegend Vegetarierin, auch wenn meine Eltern nie daran dachten oder vielleicht einfach davon ausgingen, dass wir diese Phase inzwischen hinter uns gelassen hatten –, als das Festnetztelefon klingelte. Riley und Jess lagen in Tortola im Hafen und baten darum, auf laut gestellt zu werden.

Nachdem sie die Neuigkeit verkündet hatten, hatte meine Mutter vor Freude gejauchzt und mein Vater befriedigt gegluckst. Der Rest des Tages verging in einem Wirbel aus Staunen, Spekulationen und Planungen. Erst am Abend, nachdem die selbst gebackenen Plätzchen als Dessert verteilt worden waren, fiel meinen Eltern auf, wie still Cory und ich geworden waren. Anspannung erfüllte die zuckergeschwängerte Atmosphäre.

Meine Eltern fragten nicht, was los sei … Aber das mussten sie auch nicht. Sie liebten Cory und behandelten ihn wie ein Familienmitglied. Aber ihr Motto war es, sich nicht einzumischen, also hatten sie nur ein einziges Mal eine potenzielle Hochzeit angesprochen, nachdem meine Mutter auf unserer Abschlussfeier zu viele blaue Margaritas getrunken hatte. Corys Familie dagegen war laut und übermütig und zog uns regelmäßig mit dem Thema auf. Seine Eltern lebten ebenfalls in einem Vorort von Orlando, und wir verbrachten die Hälfte der Ferien bei ihnen. Grundsätzlich waren sie entspannt und setzten uns unter keinen echten Druck.

Rileys frohe Nachricht war ein unerwarteter Schlag ins Gesicht. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unruhiger wurde ich. Es ging um meine Schwester. Meine kleine Schwester. Die erst seit zweieinhalb Jahren mit ihrer Freundin zusammen war. Klar, zweieinhalb Jahre waren ausreichend Zeit, um herauszufinden, ob man jemanden heiraten wollte. Nur dass …

Nur dass …

… Cory und ich bereits seit elf Jahren zusammen waren.

Wir hatten uns in der ersten Woche auf dem Community-College getroffen. In der ersten Minute der ersten Sitzung unseres ersten Kurses, wie wir oft angeberisch gegenüber Bekannten verkündeten. Er hatte sich im Einführungskurs Psychologie neben mich gesetzt. Und weil das College die perfekte Gelegenheit bot, auch mal etwas zu wagen, hatte er nicht gezögert, mich um eine Verabredung zu bitten. Ich war so überrascht gewesen, dass ich Ja gesagt hatte. Wir hatten am selben Tag zusammen zu Mittag gegessen, worauf weitere Mittagessen gefolgt waren, dann Abendessen. Alles war plötzlich ganz einfach, dabei war das Leben für uns beide bisher nie einfach gewesen. Wir waren in der Schule beide Außenseiter gewesen, die ständig gemobbt worden waren, ziemlich eigenbrötlerisch und einsam.

Cory war mein erster und einziger Freund, wie auch ich seine erste und einzige Freundin war. Aber trotz unserer mangelnden Erfahrung hatten wir immer eine beneidenswert gesunde Beziehung geführt. Wir hatten uns gegenseitig zum Lachen gebracht, stritten uns selten, hatten guten Sex. Und obwohl keiner von uns Kinder wollte, verstand sich von selbst, dass wir eines Tages heiraten würden. Aber aus irgendwelchen undurchsichtigen, unbehaglichen Gründen hatten wir nie über das Wann gesprochen. Selbst als unsere Freundinnen und Freunde auf die dreißig zugingen und alle um uns herum anfingen zu heiraten, hatten wir ihre neugierigen Nachfragen mit einem Achselzucken abgetan. Das machen wir, wenn wir ein Haus kaufen, hatten wir vage geantwortet. Aber dann hatten wir auch diesen Plan nie wirklich besprochen.

Ein paar Tage nach Weihnachten hatte ich endlich den Mut gefunden, das Thema bei Cory anzusprechen. Auf unserer langen und ungewöhnlich ernsten Heimfahrt hatte die Frage in mir gekocht und gegurgelt, bis es schließlich unangenehmer geworden war, die Worte nicht auszusprechen.

»Was glaubst du, warum wir nie geheiratet haben?«

Eins musste ich Cory lassen: Er blieb komplett ruhig. Er starrte einfach weiter auf die Straße vor uns, als versuchte er, ein für mich unsichtbares Rätsel zu lösen.

»Ich weiß es nicht«, sagte er, obwohl es klang, als hätte er sehr wohl eine Ahnung. »Vielleicht ist ein Teil von uns einfach nicht bereit, diese Art von Bindung einzugehen, bevor wir nicht noch andere Erfahrungen gemacht haben.«

Der Highway tat sich nicht vor mir auf, und er verschlang mich auch nicht im Ganzen. Auch zog nicht unser Leben als Paar an meinem inneren Auge vorbei. Es war, als hätte er ausgesprochen, was ich gedacht hatte, obwohl ich den Gedanken nie bewusst gehegt hatte.

»Erfahrungen mit anderen«, hatte ich ihn korrigiert.

***

 

Macon las ein Buchmagazin mit Rezensionen und markierte die Titel, die er unserer Sammlung hinzufügen wollte, aber er kam nicht besonders schnell voran. Mit seinem Stift trommelte er auf den Tisch. Und die Blicke, die er mir zuwarf, wirkten, als wartete er auf mehr als nur den angekündigten Schnee.

Die Zeit selbst schien aus den Fugen geraten zu sein. Die Minuten zogen sich in die Länge und krochen mühsam dahin. Rotes, grünes und goldenes Licht brachte die Bücherregale an der Westseite des Gebäudes zum Leuchten, während die Sonne langsam unterging. Ridgetop war berühmt für sein Buntglas, und die Fenster unserer Bibliothek waren besonders eindrucksvoll.

Der Mann, der dafür verantwortlich zeichnete, dieses Handwerk in die Stadt gebracht zu haben, war Arthur Frey Brisson. Er war ein so begabter Künstler, dass sein einziger Konkurrent in den USA Louis Comfort Tiffany gewesen war – auch wenn viele glaubten, Brisson habe den Ruhm mehr verdient. Er war außerdem der ergebene Ehemann von Mary Brisson, die im Jahr 1879 die erste öffentliche Bibliothek von Ridgetop gegründet hatte. Gelegen an einem kleinen, aber hübschen Gewässer namens Thistle Lake, mochte ihre Bibliothek – unsere Bibliothek – recht bescheiden sein, aber sie hatte eine hübsche Terrasse zum See, auf der Leute sich auf Schaukelstühlen niederlassen und so lange lesen konnten, wie sie wollten. Und natürlich gab es die Fenster.

Ganz unten hatte Arthur durchsichtige Scheiben eingesetzt, um genug Licht zum Lesen einzulassen – aber die oberen Fenster zeigten ein atemberaubendes opulentes Design, das Bücher und Buchrücken in dem Buntglas zeigte. Neben der Terrassentür gab es ein hohes Fenster, auf dem Mary in schillernden Farben abgebildet war. Darauf hielt sie ein Buch, als wäre es ein Baby, mit einem Heiligenschein aus beschriebenen Seiten über ihrem Kopf. Es war ein bemerkenswertes Porträt, ein blasphemischer Skandal und inzwischen eine kleine Touristenattraktion.

Das bunte Schauspiel war bereits verblasst, als Sue und Alyssa sich enttäuscht in den regulären Feierabend verabschiedeten. Weder der Schnee noch die Mail waren angekommen.

Macon schloss das Magazin und schob den Stift an seinen üblichen Aufbewahrungsort hinter seinem Ohr.

Ich hatte ihn einmal gefragt: »Ist das mit der Brille nicht unbequem?«, und er hatte geantwortet: »Nein.« Erst zwanzig Minuten später hatte er wie zu seiner Verteidigung hinzugefügt: »Ich habe große Ohren.«

Ich fand, sie waren nur ein kleines bisschen größer als die meisten anderen. Ich mochte sie, genauso wie den Stift.

Jetzt rollte er auf seinem Stuhl nach hinten, um zwischen die Regale zu spähen, dann bewegte er sich zufrieden wieder nach vorn. Näher zu mir als vorher. »Er ist verstöpselt«, erklärte er und bezog sich damit auf Elijahs Kopfhörer.

Vorhin war ich bereit gewesen, Macon alles zu erzählen. Jetzt fühlte ich mich absolut nicht bereit.

»Tut mir leid«, sagte er. Er klang mitfühlend, auch wenn seine Miene ausdruckslos blieb. »Trennungen sind hart.«

»Oh.« Das Missverständnis half mir dabei, meine Stimme zu finden. »Wir haben uns nicht wirklich getrennt. Wir machen eine Pause.«

Ich bemerkte seine fast unmerkliche Verwirrung erst, als sie bereits von ihm abfiel, doch sie spornte mich an weiterzusprechen.

»Meine Schwester hat sich verlobt, was uns vor gewisse Fragen gestellt hat, verstehst du? Wie zum Beispiel, wieso wir nie geheiratet haben. Dabei ist uns bewusst geworden, dass es wahrscheinlich etwas damit zu tun hat, dass keiner von uns je eine andere Person gedatet hat. Also machen wir einen Monat Beziehungspause, um andere Leute zu sehen.«

Seine Miene entglitt ihm nur noch mehr. »Und was passiert am Ende des Monats?«

»Er zieht wieder ein, und wir planen unsere Zukunft. Eine Hochzeit und all so was.«

»Hochzeit«, wiederholte er. Ohne jeden Enthusiasmus.

»Japp.«

»Und er ist bereits ausgezogen?«

»Wir haben seine Sachen am ersten Januar in ein Airbnb gebracht.«

Macon schüttelte langsam den Kopf. »Das ist mal ein krasser Neujahrsvorsatz.«

War es. Aber gleichzeitig auch nicht. Wir hatten unsere Entscheidung nach sorgfältigen pragmatischen Überlegungen getroffen. Es war die erwachsenste Entscheidung, die wir je gefällt hatten. Der Januar wäre ein Monat der Promiskuität ohne Konsequenzen. Aber es ging nicht ums Daten oder Küssen oder sogar um Sex. Im Grunde nicht. Es ging darum, das Unbekannte zu erkunden, damit wir endlich gemeinsam weitermachen konnten.

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass es klug wäre, bis Februar jeden Kontakt zueinander zu meiden. Dann würden wir entscheiden, ob wir uns trennen oder heiraten wollten – auch wenn wir uns sicher waren, dass es auf Letzteres hinauslief. Zum ersten Mal überhaupt hatten wir sogar über unsere Hochzeit gesprochen. Sie würde im Herbst stattfinden, unserer Lieblingsjahreszeit, nur im engsten Familienkreis. Vielleicht waren aber schon das zu viele Gäste. Keiner von uns mochte Hochzeiten besonders, also könnte es auch sein, dass wir einfach zu zweit ins Rathaus gingen.

Doch trotz meines generellen Optimismus verstand ich, dass sich dieser Plan etwas verblendet anhören musste. Ich konnte nachvollziehen, wie es für andere Leute aussehen musste.

»Tut mir leid«, sagte Macon jetzt. »Aber das klingt nach einem schrecklichen Plan.«

»Ich weiß.«

»Ach so?«

Ich zuckte lächelnd mit den Achseln. »Na klar.«

»Und das bereitet dir keine Sorgen?«

»Nee.«

Er zog den Stift hinter dem Ohr hervor, dann nahm er die Brille ab, um sich den Nasenrücken zu massieren.

»Das ist schon okay.« Ich lächelte beruhigend. »Letztlich muss das nur für mich Sinn ergeben. Und das tut es. Ich weiß, was ich tue.«

Unglücklicherweise war das der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tat. Trotz all der Szenarien, die ich seit meinem Abschied von Cory im Kopf durchgespielt hatte, hatte ich einen entscheidenden Punkt nicht bedacht: Wie sollte ich es anstellen, Macon nicht nur zu erzählen, dass ich andere Leute daten wollte, sondern dass ich ihn daten wollte? Dieses Versäumnis in meinen Überlegungen wurde in diesem Moment schmerzhaft offensichtlich. Außerdem wurde mir erst jetzt – zum ungünstigsten Zeitpunkt – bewusst, dass es wirken könnte, als würde ich ihn benutzen.

Vermutlich war ich davon ausgegangen, dass es einfach passieren würde. Dass er sich darauf einlassen würde. Weil er wusste – weil wir beide wussten –, dass unsere Freundschaft stets das Potenzial zu mehr gehabt hatte. Die Luft zwischen uns war schon immer geladen. Ab und zu versetzte sie uns kleine Funkenschläge, zu den unvorhersehbarsten Zeitpunkten. Es ging hier nicht um die Art Spannung, die entstand, wenn nur eine Person eine andere attraktiv fand. Diese Spannung beruhte auf Gegenseitigkeit. Es geschah, wann immer wir nach demselben Gegenstand griffen, uns aus Versehen anrempelten, uns berührten oder uns außerhalb der Arbeit begegneten. Wann immer wir an einem Ort auftauchten, an dem der andere nicht mit uns gerechnet hatte, begann unsere Welt zu funkeln.

Einmal, während einer Spätschicht vor ungefähr einem Jahr, war das gesamte Gebäude leer und wir übermütig gewesen. Und aus irgendeinem längst vergessenen Grund fragte ich mich laut, ob ich wohl immer noch ein Rad schlagen könne.

Macon sagte: »Versuch es.«

Und als ich mich erfolgreich vor dem Ausleihtresen um die eigene Achse drehte, jubelte er. Erfüllt von dem manischen Wunsch, ihn zu beeindrucken – keine Ahnung, wieso ich dachte, das würde ihn beeindrucken – versuchte ich in Richtung der Regale mehrere Räder hintereinander zu schlagen. Ich hatte gerade eineinhalb geschafft, bevor ich gegen den Aufsteller mit Hörbüchern knallte.

»O mein Gott«, hörte ich ihn sagen, und einen Augenblick später schwebte sein Gesicht über mir.

Schockiert blinzelte ich vom Boden zu ihm auf. Und dann fing ich wie verrückt an zu lachen.

Seine Angst verpuffte, und er packte mich mit beiden Händen. Als er mir auf die Beine half, kam ich ihm zu nahe, viel zu nahe – nahe genug, dass unsere Oberkörper sich berührten. Die Energie zwischen uns knisterte und baute sich immer weiter auf. Es hatte wahrscheinlich nicht länger als fünf Sekunden gedauert, bis wir auseinandergesprungen waren, aber jede dieser Sekunden schien eine Ewigkeit angedauert zu haben.

So bemerkenswert solche Vorfälle auch waren, zu diesem Zeitpunkt hatten sie eigentlich keine Rolle gespielt. Diese Spannung war nichts, worüber wir je sprechen würden – oder nach der wir handeln würden. Bis vor eineinhalb Jahren war er mit seiner Freundin, Danielle, zusammen gewesen, und ich war immer in einer Beziehung mit Cory gewesen. Keiner von uns beiden wäre jemals fremdgegangen. Außerdem waren wir der Typ Mensch, der einfach befreundet sein konnte.

Und doch. Trotz allem.

Als Cory und ich unsere ungewöhnliche Abmachung getroffen hatten, war mein erster Gedanke nicht, irgendeinen Fremden in einer Bar aufzureißen. Mein erster Gedanke galt Macon Nowakowski.

Ohne ein weiteres Wort setzte er die Brille wieder auf, schob den Stift hinters Ohr und rollte ermattet zurück auf seine Seite des Tresens.

Plötzlich fühlte es sich kälter in der Bibliothek an. Ich hatte den gesamten gestrigen Tag damit verbracht, mich auf heute vorzubereiten – hatte mir die Beine rasiert, meine Nägel lackiert, das richtige Outfit ausgewählt und ein Mittagessen eingepackt, das einen frischen Atem nicht verderben konnte. Ich hatte sogar eine Zahnbürste und eine Reisetube Zahnpasta in meine Tasche gepackt, um danach Mundhygiene zu betreiben – auch wenn ich das nicht gebraucht hatte, nachdem ich zu nervös gewesen war, um mein Sandwich mit Kichererbsenpaste überhaupt zu essen. Trotzdem hatte ich mir die Zähne geputzt.

Doch jetzt plötzlich wirkte mein einfacher Plan um einiges komplizierter.

Als ich mit meinen fröhlichen mohnroten Fingernägeln an meiner liebsten Vintagehose herumzupfte – die Hose, in der meine langen Beine, die mein bestes Feature waren, noch länger aussahen als ohnehin schon –, begann meine Tasche zu brummen. Ich zog mein Handy heraus, wusste aber bereits, von wem die Nachricht war.

Wie ist es gelaufen??

Kat war ebenfalls Bibliothekarin, in einer Küstenstadt in New South Wales, Australien, und damit in einer Zeitzone, die meiner vierzehn Stunden voraus war. Sie war wahrscheinlich gerade aufgestanden. Obwohl wir uns nie persönlich getroffen hatten, gehörte sie zu meinen besten Freundinnen. Sie war bis eben die Einzige, die über die Cory-Situation informiert war. Und sie war die absolut einzige Person, die von meinen Absichten in Bezug auf Macon wusste.

Ich habe keine Ahnung, antwortete ich.

Macon sah zu mir. Anders als der Rest der Welt war Macon nicht handyabhängig … Hauptsächlich, weil er dem Gerät nicht vertraute. Er hatte seine Handykamera mit schwarzem Klebeband verklebt. Gewöhnlich machte er einen lustigen Kommentar, wenn er mich beim Texten erwischte. Heute sagte er nichts.

Ich schob das Handy wieder in die Tasche, weil ich in meinem Verfolgungswahn fürchtete, er könne irgendwie die Worte auf meinem Display lesen.

Noch neunzig Minuten, bis die Bibliothek schloss. Mr Brember, ein Stammgast im Computerbereich, war der einzige Kunde, der sich noch im Gebäude aufhielt. Draußen war inzwischen die Nacht hereingebrochen.

Der Schnee ließ immer noch auf sich warten.

Hatte ich mich in Bezug auf Macon geirrt? Er wirkte aufgewühlt, war vielleicht sogar enttäuscht von mir. Oder er war einfach verwirrt, weil ich die Situation nicht ausführlich genug erklärt hatte. Auf jeden Fall hatte ich zu leichtfertig geklungen. Wie sollte er ahnen, dass ich daran interessiert war, mit ihm auszugehen, wenn ich es nicht aussprach – oder wenigstens mit ihm flirtete?

Meine Panik stieg, und meine Atmung wurde flacher. Meine Hände wurden feucht. Ich hatte noch nie jemanden angebaggert. Ich hatte genau ein erstes Date gehabt, und damals war ich achtzehn Jahre alt gewesen. Hatte Cory das Experiment schon in die Tat umgesetzt und bereits mit jemand anderem geschlafen? Wir waren beide gut darin, mit Fremden zu reden, aber er war extrovertierter als ich und ging gern aus. Ich hatte bisher keine Bar aufgesucht, weil ich auf den heutigen Abend gewartet hatte. Weil ich auf Macon gewartet hatte.

Zwei Uhren tickten gleichzeitig: Es waren noch achtundzwanzig Tage bis Februar und fünfundachtzig Minuten bis Dienstschluss. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.

Macons steife Haltung wies darauf hin, dass er mich immer noch beobachtete. Mir stockte der Atem. Ich senkte den Kopf und versuchte mich zu beruhigen.

Er drehte sich erneut auf seinem Stuhl in meine Richtung.

Ich zwang mich, das Kinn zu heben. Seinem Blick zu begegnen.

Seine Augen waren ernst und voller Wärme. »Geht es dir gut?«

Ich nickte, um Ja zu sagen. Dann schüttelte ich den Kopf, um Nein zu sagen. Ich wurde rot wie eine Jugendliche ohne jede Sozialkompetenz oder Selbstkontrolle.

»Das scheint ungefähr richtig«, sagte er. Und dann lächelte er.

Es war nicht so, als würde Macon nie lächeln, aber er lächelte nie aus reiner Höflichkeit, weshalb mich sein Lächeln immer tief berührte. Sein Strahlen drang bis in mein Innerstes, während das Lächeln anderer nur an meiner Hautoberfläche abglitt. Dieses hier war dazu gedacht, mich zu beruhigen, und auf wundersame Weise gelang das auch. Ich wischte mir eine Träne von der Wange, die sich irgendwie aus meinem Augenwinkel geschummelt hatte, und lachte über mich selbst.

»Also, wie habt ihr entschieden, wer bleibt und wer auszieht?« Er versuchte mich abzulenken, damit ich nicht völlig zusammenbrach.

»Aus unserer Wohnung? Die Entscheidung war einfach. Ich habe mehr Kleidung, Make-up und Zeug. Du weißt schon, alles, was eine Frau so braucht …«

»… um auf ein Date zu gehen.«

»Ja.« Ich schluckte schwer. »Also durfte ich bleiben. Für den einen Monat zahlt jeder seine eigene Wohnung.«

»Oh. Mist.« Seine Sorge hatte eine neue Quelle. »Ist das nicht sehr viel?«

Es störte mich nicht, dass er sich nach Geld erkundigte. Wir Bibliothekarinnen und Bibliothekare sprachen alle offen über unsere Finanznöte. Die Regierung zahlte nicht besonders gut – setzte das Wissen gegen uns ein, dass wir mit Büchern und deshalb mit Leidenschaft arbeiteten, und wer sein Hobby zum Beruf machte, sollte offenbar bereit sein, dies für wenig Geld zu tun –, also lebten wir alle notgedrungen recht sparsam.

»Ist nicht schlimm. Ich meine, toll ist es natürlich nicht. Aber ich habe genug.«

»Ist die Mail immer noch nicht gekommen?«

Eine barsche Stimme unterbrach uns. Wie Mr Garland war auch Mr Brember bereits über achtzig, aber er war bei weitem nicht so fröhlich. Er kam jeden Tag, um an den Plänen für seine Beerdigung zu arbeiten … Was tatsächlich weniger morbid war, als es erst einmal klang. Er war in einer guten Grundverfassung, wollte aber sicherstellen, dass ihm, wenn er denn starb, ein würdiger Abschied zuteilwurde. Als ich das letzte Mal auf seinen Bildschirm gespäht hatte, hatte das Dokument bereits über hundert Seiten gehabt, mit detaillierten Angaben zu Kränzen, dem gewünschten Chor, der Blaskapelle, dem Feuerwerk, den Erfrischungen und Clydesdale-Pferden.

»Noch nicht«, antwortete ich.

Er brummte. »Es wird gefährlich draußen. Stürmisch.«

Überrascht stellte ich fest, dass er recht hatte. Die Buntglasfenster klapperten. Mr Brember fuhr kein Auto, deshalb war ich dankbar, dass er gleich um die Ecke lebte. »Seien Sie vorsichtig da draußen.«

»Sie sollten schließen«, sagte er mahnend, als er Richtung Tür stakste. (Macon und ich hatten vor langer Zeit beschlossen, dass staksen das passendste Verb war, um zu beschreiben, wie Mr Brember sich bewegte. Und ich hatte das nie vergessen.) »Warten Sie nie darauf, dass jemand anders Ihnen sagt, was Sie tun sollen.«

Damit knallten die Türen durch einen heftigen Windstoß hinter ihm zu.

»Jemand wie er?«, meinte Macon trocken.

Dabei hatte Mr Brember durchaus einen Punkt. Macon würde niemals, nicht in tausend Leben, offen aussprechen, dass er daran interessiert war, meinen Monat der Offenheit auszunutzen. Wir waren bereits zu lange beste Freunde und Kollegen. Er war respektvoll. Professionell. Der erste Schritt müsste von mir kommen.

»Haben wir die Mail bekommen?«, rief Elijah vom anderen Ende des Raums.

Ich legte die Hände um den Mund. »Noch! Nicht!«

»Scheiß drauf.« Macon schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Wir sind leer.« Und dann rauschte er davon, um alles für das Schließen der Bibliothek vorzubereiten.

Das vertraute Klappern und Klirren verriet mir, dass er das Feuer im Hinterzimmer löschte, also begann ich die Regale nach abgelegten Büchern zu durchsuchen, die eingeräumt werden mussten. Das historische Gebäude war rechteckig, mit einer einzelnen Wand in die Mitte, die dafür sorgte, dass man sich quasi in einem großen O bewegte. Ich ging im Uhrzeigersinn durch die Neuerscheinungen, die Belletristik- und Young-Adult-Abteilung. Die hölzernen Regalbretter waren glatt geschmirgelt vom Alter und von unzähligen Händen, und in jeder verfügbaren Nische standen Topfpflanzen. Für die Pflanzen war Macon verantwortlich. Seine Zöglinge waren ohne Ausnahme gesund und prächtig, selbst diejenigen, deren Pflege als durchaus anspruchsvoll galt. Unsere Gäste baten ihn ständig um Ratschläge.

Insgesamt wirkte die Bibliothek überfüllt, aber auch ordentlich. Nachdem wir heute so wenig Gäste gehabt hatten, waren die Regale alle aufgeräumt – oder Elijah hatte die Arbeit bereits gemacht. Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem. Als ich an der Terrassentür vorbeikam, verneigte ich mich minimal vor dem Porträt von Mary Brisson. Das Buntglasfenster hatte sie in eine Schutzheilige für diejenigen verwandelt, die Menschen mit guten Büchern versorgten. Normalerweise spürte ich eine gewisse Seelenverwandtschaft mit ihr, doch im Moment war ich in Gedanken woanders. Meine Verneigung war reine Gewohnheit, entsprang vielleicht sogar einem gewissen Aberglauben.

Ich wanderte durch den hinteren Teil des Gebäudes, der in drei Abteilungen aufgeteilt war: den Kinderbereich mit einem Wollteppich und bequemen Stühlen; die Zeitschriftenabteilung mit ihren verkratzten Tischen und dem Kamin; und die Computerabteilung mit modernen Tischen und leuchtenden Bildschirmen. Macon sah von seiner Position am Kamin auf. Ich zuckte zusammen und starrte ihn viel zu intensiv an. Er wirkte plötzlich beunruhigt, also eilte ich mit dem Geruch von Rauch in der Nase davon.

Elijah räumte gerade Sachbücher ein. Er war schlaksig, leicht kurzsichtig und besaß überschwänglichen Charme. Wir nickten uns zu, dann starrte er überrascht irgendetwas hinter mir an. Ich hatte bereits die Hälfte der Medienabteilung durchquert – Hörbücher, Musik, Filme –, als er rief: »Es schneit!«

Und tatsächlich, endlich fielen die ersten winzigen Flocken vom Himmel. Meine Hoffnung erwachte wieder zum Leben.

»Sieht magisch aus, findest du nicht auch?«, meinte ich zu Elijah.

»Sieht kalt aus«, sagte Macon, als er an uns vorbeirauschte.

Nervosität durchfuhr mich.

»Und ein bisschen magisch«, räumte er ein, als er vorn angekommen war. Ich hörte das Klicken seiner Maus, vermutlich, um seine Mails abzurufen.

»Und?«, fragte Elijah, als wir zu Macon kamen. Er schob den leeren Karren an die dafür reservierte Stelle, dann setzte er sich darauf. Wir würden nicht mehr arbeiten, ob es nun offiziell war oder nicht.

»Nein«, sagte Macon. »Aber sie wird kommen.« Er tippte in die Vorlage für ein Türschild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN WEGEN SCHNEEFALL und schickte den Druckauftrag los.

»Schau noch mal nach«, forderte Elijah.

Der Drucker begann laut zu brummen, also machte ich mich daran, den Ausdruck zu holen.

»Nichts«, sagte Macon. Aber dann folgte: »Heilige Scheiße. Da ist sie.«

Mein Herz setzte kurz aus.

»Alle Colburn-County-Bibliotheken werden sofort schließen …«, las er laut vor, »Verwaltungsblabla, Verwaltungsblabla … und werden morgen zwei Stunden später öffnen.«

»Ja!« Elijah sprang von seinem Karren hoch. »Ihr braucht mich nicht mehr, oder?«

»Verschwinde«, meinte Macon.

Elijah salutierte, schnappte sich seine Sachen und sprang aus der Tür.

Die Zeit für meinen Move war fast gekommen. Mein Herz raste, und mir war ein wenig schwindelig. »Ich kümmere mich um die Eingangstür.«

»Ich mich um die Terrassentür und die Computer«, sagte Macon.

Mit zitternden Händen verriegelte ich das Schloss und klebte das Schild ans Glas. Elijahs Auto fuhr vom Parkplatz, sodass nur Macons und mein Wagen zurückblieben. Macon fuhr eine Volvo-Limousine, alt und praktisch, um die er sich herausragend kümmerte. Ich fuhr einen gelben Käfer, alt, aber unpraktisch. Er blieb ständig stehen, doch Macon sorgte immer dafür, dass der Motor startete, bevor er aufbrach. Er sorgte immer dafür, dass ich in Sicherheit war.

Alles in Ordnung, erinnerte ich mich selbst. Es ist nur Macon. Du kriegst das hin.

Der Parkettboden knirschte, als Macon von Computer zu Computer ging, um die Geräte auszuschalten. Ich schloss die Kasse. Das Kleingeld für Versäumniszahlungen, Fotokopien und Drucke bewegte sich über den Schreibtisch, als ich die Münzen zählte. Was ich zweimal tun musste. Ich trug das Bargeld in den Anbau – den einzigen Teil des Gebäudes, der neu war. Als ich aus Sues Büro zurückkehrte, hielt Macon mir bereits meinen Mantel und meine Tasche entgegen, zusammen mit unseren beiden Lunchdosen.

»Hast du irgendwas davon gegessen?«, fragte er, als er das Gewicht meiner Dose in seiner Hand abwog.

Ich gab ein unbestimmtes Geräusch von mir, als ich meinen Mantel entgegennahm. Das Zittern meiner Hände verstärkte sich, als ich versuchte, die Knöpfe zu schließen. Macon legte einen Schalter um, und es wurde dunkel in der Bibliothek. Nur eine einzige Notausgangleuchte erhellte den Raum und intensivierte mit ihrem schwachen Schein die bereits aufgeladene Atmosphäre.

Macon öffnete einen der Türflügel. Der wässrige, mineralische Duft von Schnee, frisch und zerbrechlich, drang in meine Nase. Ich nahm meine Tasche, dann duckte ich mich unter seinem Arm hindurch. Das hatte ich noch nie getan. Er lachte.

»Was war das?«, fragte er.

Als er die Bibliothek abschloss und sich umdrehte, sah er, dass ich nicht lachte. Ich stand direkt hinter ihm. Ohne mich zu rühren.

Seine dunklen Augen wurden groß.

Schneeflocken glänzten im Licht der Straßenlampen wie kleine Sterne. Als würden unzählige Wünsche um uns herumwirbeln. Der Schneefall wurde dichter. Weiße Punkte klammerten sich an unsere Mäntel und ruhten auf unserem Haar. Dies war der Moment.

Ich lehnte mich leicht nach vorn …

Schloss die Augen …

Öffnete die Lippen …

»Nein.« Macon stolperte zurück und krachte gegen die Tür. »Ingrid. Nein.«

Ich schlug beschämt die Hände vor den Mund. »O mein Gott … Ich …«

Das tut mir so leid. Das ist so falsch. Ich werde mich in den See werfen und ertränken.

»Nein, mir …« Aber auch ihm gelang es nicht, seinen Satz zu Ende zu sprechen.

Stattdessen rannte Macon zu seinem Auto. Seine Scheinwerfer leuchteten im selben Moment auf, in dem sich seine Scheibenwischer in Bewegung setzten und Schnee in alle Richtungen warfen. Eine Sekunde später hatte er bereits den Rückwärtsgang eingelegt, drehte bereits um, fuhr bereits davon.

2

 

Ich schaltete das Licht nicht ein. Ließ die Schlüssel nur aus reiner Gewohnheit auf den Tisch neben der Eingangstür fallen, wo sie hingehörten. Dann sank ich schlaff zu Boden. Rauer Teppich drückte sich gegen mein Gesicht. Ich hatte die gesamte Heimfahrt über geschluchzt und geschimpft – wie, zum Teufel, hatte ich das tun können? Wie konnte ich so verdammt unsensibel sein –, und jetzt verfiel mein Körper in einen Schockzustand. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gedemütigt oder beschämt gefühlt hatte. Wie hatte ich meine Beziehung zu Macon so falsch einschätzen können? Das war ein absoluter Anfängerfehler, fast schon pubertär.

Das Entsetzen in seinen Augen.

Meine Brust wurde eng, meine Arme taub. Ich fürchtete schon, einen Herzinfarkt zu erleiden, bis mir klar wurde, dass meine Gliedmaßen nur deswegen jedes Gefühl verloren hatten, weil ich mit meinem gesamten Gewicht auf ihnen lag. Ich zog sie langsam unter mir hervor und ließ sie quälend kribbeln. Ich genoss den Schmerz in meinem Körper, weil er perfekt zu meinem mentalen Zustand passte.

Der Boden vibrierte an meiner Wange. Unter mir lebte ein junges Paar, das aufs örtliche College ging, und entweder sie oder er lief gerade vom Schlafzimmer Richtung Küche. Der Kerl rief etwas, was nach einer Frage klang. Ich hörte auch die gedämpfte Antwort der Freundin.

Ich tastete nach dem Handy in meiner Tasche, die neben mir auf den Teppich gefallen war.

Es war übel, schrieb ich Kat. So übel. Werde-mir-einen-anderen-Job-suchen-müssen-übel.

Ich starrte aufs Display, wartete auf ihre übliche schnelle Antwort. Die nicht kam … Was bedeutete, dass Kat wahrscheinlich gerade zur Arbeit fuhr. Wir hatten uns vor fast zehn Jahren in den Buchkreisen auf Social Media kennengelernt und unterhielten uns oft, wenn wir beide wach waren. Trotz des riesigen Ozeans, der uns trennte, war Kat immer meine erste Verteidigungslinie, wenn ich etwas Unkluges tat oder sagte. Mein zweiter Rückhalt war Cory. Er war derjenige, der mich umarmte, der mir versicherte, dass alles in Ordnung käme – der mich an all die Male erinnerte, wo ihm etwas Ähnliches passiert war. Es fühlte sich bizarr an, dass er jetzt nicht für mich da war. Dass ich ihm nicht von meinem Tag erzählen konnte.

Meine Muskeln verspannten sich erneut, als ich mir den Moment noch einmal vor Augen führte. Macon ist vor mir geflohen. Ich begann wieder zu weinen: weil ich Kat wollte, Cory wollte, eine Zeitmaschine wollte.

Mein Display leuchtete auf, und sofort machte mein Herz einen Sprung. Kat!

Ist dein Auto angesprungen? Bist du zu Hause?

Macon.

Trotz allem vergewisserte er sich, dass ich sicher nach Hause gekommen war. Wieder spürte ich tiefe Scham. Ich wollte ihn ignorieren … Aber dann würde er wahrscheinlich zurück zur Bibliothek fahren, um im Anschluss meinem Nachhauseweg zu folgen, in der Sorge, mein Auto wäre abgesoffen und mein Handy leer. Er hatte mich schon mal am Straßenrand eingesammelt. Ich tippte und löschte, tippte und löschte, bis ich mich endlich für folgende Nachricht entschied: Ich bin zu Hause. Tut mir leid. Keine Ahnung, was ich mir gedacht habe. Ich kann nur sagen, dass es eine seltsame Woche war. Wenn es für dich okay ist, lass uns einfach so tun, als wäre das nie passiert.

Es dauerte eine volle Minute – ich sah auf die Uhr –, bis die drei Punkte erschienen. Anders als ich dachte Macon über seine Antwort nach, bevor er anfing zu tippen.

Schon okay.

Das war’s.

Gott. Was für eine Katastrophe.

Ich hatte nicht übertrieben, als ich Kat erklärt hatte, dass ich mir einen anderen Job suchen müsse. Die Vorstellung, bei der Arbeit vierzig Stunden die Woche neben ihm zu sitzen, war einfach nicht zu ertragen. Die Gedankenlosigkeit, mit der ich an die Sache herangegangen war, war nicht zu fassen. Es war nicht so, als hätte ich es für unmöglich gehalten, dass er mir einen Korb geben könnte, aber … Eigentlich war ich nicht davon ausgegangen. Wie hatte ich so überheblich sein können? So selbstgefällig in der Annahme, dass er meine Gefühle erwiderte? Auf welchem Planeten hatte ich all diese Monate gelebt? Eigentlich konnte ich Sue nicht mal einen letzten Arbeitstag zugestehen, ganz zu schweigen von den zwei Wochen Kündigungsfrist. Wie sollte ich ihr mein plötzliches Verschwinden erklären? Wo sollte ich einen anderen Job finden? Konnte ich in der Collegebibliothek arbeiten, oder brauchte ich dafür einen höheren Abschluss?

Erneut leuchtete mein Display auf.

WAS IST PASSIERT???

Ich kämpfte mich auf die Beine, schlurfte zur Couch und wickelte mich fest in eine Decke. Kannst du reden?, fragte ich, und sofort erhielt ich einen Anruf über FaceTime.

»Es war schlimm«, sagte ich, schon wieder schluchzend.

»Ich kann dich kaum sehen. Wo bist du? Bist du in Ordnung?« Kat stand vor ihrer Bibliothek.

Ihr Haar war zu ihrem üblichen praktischen Pferdeschwanz gebunden, und ihre bronzene Haut war gebräunt und mit Sommersprossen übersät. Sie leuchtete in der Morgensonne der Südhalbkugel.

Mein eigener Teint war fahl und blass, erleuchtet nur vom Licht meines Displays. »O Gott. Es war so schlimm.«

»Du wiederholst dich. Was ist passiert?« Sie verlor die Fassung an all den richtigen Stellen, als ich ihr die Geschichte erzählte. »Bist du dir sicher, dass er nicht nur überrascht war?«, fragte sie, auch wenn ihre Miene verriet, dass sie diese Möglichkeit für eher unwahrscheinlich hielt. »Vielleicht braucht er mehr Zeit, um darüber nachzudenken. Über dich.«

»Er hat zweimal Nein gesagt. Klarer hätte er nicht sein können.«

»Du hast recht. Nein heißt Nein und all das.«

In diesem Moment kam mir ein Gedanke. »Ich bin eines dieser Monster – eines dieser schrecklichen Monster, die ihre Kollegen sexuell belästigen.«

»Bist du nicht.«

»Bin ich wohl. O mein Gott, das bin ich.«

»Hast du sein Nein akzeptiert?«

»Natürlich, aber …«

»Würdest du so was jemals wieder probieren?«

»Natürlich nicht, aber …«

»Ende der Diskussion.«

Sekunden vergingen. Es fiel mir schwer, Kat anzusehen. »Ich habe Mist gebaut«, sagte ich schließlich.

»Jupp.«

»Die Arbeit wird jetzt so peinlich.«

»Jupp.«

Ich stöhnte. »Was soll ich nur tun?«

»In Bezug auf Macon?«

»Macon, meinen Job, alles.«

»Cory?«

»Was ist mit Cory?«, fragte ich.

Kat schien kurz nach den richtigen Worten für ihre nächste Frage zu suchen. »Bist du dir sicher, dass du das immer noch durchziehen willst? Diese Abmachung mit Cory?«

»Sicher. Ich dachte nur«, ich senkte meine Stimme, als würde ich etwas beichten, »ich dachte, es sei einfacher.«

Ihr Lachen kam unerwartet und klang scharf – Kat schien es sofort leid zu tun. »Sorry. Aber du weißt, dass das absurd ist, oder? Was glaubst du, wieso die Datingindustrie jedes Jahr Milliarden Dollar scheffelt?«

»Ich weiß, aber …«

»Wenn du das wirklich durchziehen willst, musst du dich zusammenreißen und rausgehen.«

»Sagt die verheiratete Frau«, konterte ich weinerlich. Kat war ein wenig älter als ich. Als wir uns kennengelernt hatten, war sie bereits verheiratet. Inzwischen hatten sie und ihr Mann ein Kind. Die Datingphase der beiden hatte ich nicht miterlebt.

»Nun, Cory sitzt ziemlich sicher nicht allein in seinem Airbnb und heult sich bei einem Kumpel aus.«

Diese Realität traf mich wie ein Schlag. Vor meinem inneren Auge sah ich Cory in einem überfüllten Raum mit wummerndem Bass im Hintergrund, wie er sich vorlehnte, um eine attraktive Frau anzuquatschen. Die Verführte erwiderte sein Lächeln und leckte sich die Lippen.

Mir wurde schwindelig und ein wenig übel.

»Du musst deine Wohnung verlassen«, Kats Ton war inzwischen richtig bossy, »und einen Mann kennenlernen, mit dem du nicht arbeitest.«

»Okay. Okay.« Ich nickte, obwohl mir immer noch der Kopf schwirrte. »Wie stelle ich das an?«

»Keine Ahnung. Geh in eine Kneipe oder irgendwas.«

»Allein?«

Sie riss entsetzt die Augen auf. »Nein. Du musst jemanden mitnehmen. Eine Freundin, die dir Gesellschaft leistet und dir hilft, die Mistkerle auszusortieren.«

»Richtig.« Ich schüttelte den Kopf. »Ist wirklich lange her, dass ich so was getan habe.«

»Du hast so was noch nie getan.«

»Stimmt. Ich habe so was noch nie getan.«

»Also, Folgendes wird jetzt passieren: Wasch dir das Gesicht, iss etwas zu Abend, geh ins Bett. Und während du schläfst, werde ich einen phantastischen Plan aushecken.«

Panik stieg in mir auf. »Nein. Ich muss heute ausgehen. Jetzt.«

»Du musst jetzt ins Bett gehen.«

»Ich meine das ernst. Ich kann nicht hierbleiben. Ich kann das nicht in mir brodeln lassen. Ich muss raus.«

»Wohin?«

»In eine Bar! Wie du gesagt hast!«

»Mit wem?«

Das war eine gute Frage, die mich kurz aus meinen panischen Gedankenspiralen riss. Sue und Alyssa kamen nicht infrage und die meisten anderen Leute, mit denen ich abhing, waren eigentlich Corys Arbeitsfreunde.

»Was, wenn ich allein gehe. Wie schlimm soll es schon werden?«, meinte ich. »Nur heute …«

»Auf keinen Fall. Du bist in katastrophalem Zustand.«

»Danke«, meinte ich und fühlte mich tatsächlich noch schlechter.

»Hör mir zu. Ich will damit sagen, dass es tatsächlich gefährlich für dich sein könnte, heute Abend allein auszugehen. Du bist psychisch angeschlagen. Ich will nicht, dass du etwas tust, was du später bereuen wirst.«

Diese Worte drangen zu mir durch. Ich gab nach. Sackte in mich zusammen.

Hinter Kat blitzte etwas auf. Eine Reflexion auf dem Wasser. Meine Bibliothek sah über einen großen Teich hinweg, Kats über einen ganzen Ozean.

»Was ist mit Brittany?«, fragte sie.

Ich zögerte. »Ich weiß nicht. Cory und ich sind beide mit ihr befreundet.«

»Aber bist du nicht enger mit ihr befreundet?«

»Vielleicht. Vermutlich.«

War ich. Unsere ehemaligen Nachbarn aus der Wohnung unter uns, Brittany und Reza Najafi, waren im letzten Herbst in ein Haus am anderen Ende der Stadt gezogen. Und ich war diejenige gewesen, die sich darum bemüht hatte, den Kontakt zu halten. Cory hatte sie nur einmal besucht, zur Einweihungsparty, aber ich war noch mehrfach bei ihnen gewesen, um beim Malern und Tapezieren zu helfen. Außerdem war ich mit Brittany über Flohmärkte gezogen, um Möbel zu finden, mit denen die beiden den leeren Platz in ihrem neuen Zuhause füllen konnten.

»Also«, sagte Kat, »beanspruche sie für dich, bevor Cory es tun kann.«

Bei dem Gedanken wurde mir kalt. Wir hatten uns noch gar nicht getrennt, und es wurden schon unsichtbare Linien gezogen. Aber Kat hatte durchaus recht. »Ich wünschte, du könntest mich begleiten«, sagte ich.

Ihre Miene verriet, dass sie sich das auch wünschte.

»Scheißaustralien«, meinte ich bedrückt.

»Scheißamerika.«

»Du musst zur Arbeit.«

»Muss ich. Schreib mir, wenn du mich brauchst, okay?«

Wir legten auf. Ich rief sofort bei Brittany an, ohne ihr vorher zu schreiben … So hatte ich keine Chance, meine Meinung zu ändern. Sie hob beim dritten Klingeln ab. »Was ist los? Ist alles okay?«, fragte sie besorgt.

Mich deprimierte, dass die meisten Leute davon ausgingen, dass ein Anruf schlechte Nachrichten bedeutete. Unglücklicherweise hatten sie damit oft recht. »Ja«, schniefte ich. »Ich meine, Nein. Aber irgendwie doch.«

»Weinst du? Ist dein Auto wieder stehen geblieben?«

Cory und Macon waren nicht die Einzigen, die mich schon am Straßenrand aufgelesen hatten. Reza hatte meinem Wagen einmal auf dem Parkplatz von Taco Bell Starthilfe gegeben.

»Ist sie okay? Wo ist sie?«, fragte eine Stimme im Hintergrund.

»Ich bin zu Hause.«

»Sie ist zu Hause«, wiederholte Brittany für ihren Ehemann.

Und dann brach die ganze komplizierte und beschämende Geschichte aus mir heraus. Obwohl ich mit Brittany sprach, war ich mir auch Rezas Anwesenheit bewusst. Die beiden waren sowohl über die Situation mit Cory schockiert als auch darüber, dass ich meinen Kollegen angebaggert hatte.

»Ihr müsst mir helfen«, flehte ich. »Geht mit mir aus.«

»In eine Bar?«, fragte Brittany.

»Ja! Ich habe keine Ahnung, wie das geht.«

»Und du glaubst, ich wüsste mehr?«

Das war eine berechtigte Frage. Unsere Freundschaft hatte unter anderem deswegen funktioniert, weil wir ungefähr im selben Alter waren und uns bereits in festen Beziehungen befanden, obwohl die meisten unserer Freunde noch ungebunden waren. Damals waren wir alle zweiundzwanzig gewesen und frisch vom College gekommen. Brittanys Eltern waren gläubige evangelikale Christen aus Alabama und Rezas Eltern gläubige Schiiten aus Pakistan – deshalb war eine Heirat der einzige Weg für die beiden gewesen, zusammen zu sein, ohne alle gegen sich aufzubringen. Also hatten sie sich das Jawort gegeben. Wie Kat auch, waren sie schon verheiratet gewesen, als wir uns getroffen hatten. Aber wie Cory und ich hatten auch die beiden keine Kinder.

»Bitte.« Ich räusperte mich, weil mir erneut Tränen in die Augen stiegen. »Ich kann das nicht allein.«

Ich hörte die Schicksalsergebenheit in ihrer Stimme, als sie sagte: »Schön. Einmal. Ich werde einmal deinen Wingman spielen. Deine Wingwoman. Deine unterstützende treue Begleiterin. O Gott. Ich muss nicht auch mit Fremden schlafen, oder?«

Dankbarkeit überschwemmte mich. »Ich habe keine Ahnung, was die allgemeinen Regeln sind. Aber meine Wingwoman muss das nicht tun.«

»Also suchen wir uns am Freitag eine Bar oder einen anderen Ort, an dem Singles dieser Tage hingehen?«

»Am Freitag?« Meine Dankbarkeit verpuffte. »Das ist erst in drei Tagen.«

»Oookay. Wir gehen morgen …«

»Bis dahin vergehen noch ganze vierundzwanzig Stunden!«

»Tut mir leid«, meinte Brittany. Tat es nicht. »Du willst, dass ich heute Abend mit dir ausgehe?«

»Bitte.« Ich stand kurz vor der Hysterie. Das lange Schweigen am anderen Ende verriet mir, dass Brittany und Reza gerade auf irgendeine Weise kommunizierten.

»Ich kann nicht«, sagte sie nach einer Minute. »Du kannst nicht. Zum einen schneit es.«

»Die Leute in Minnesota fahren jeden Tag im Schnee, und sie kommen klar.«

»Alles wird geschlossen sein.«

»Auf keinen Fall. Es gibt immer Leute, die Alkohol brauchen. Irgendwas wird schon offen haben.«

Erneutes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Vermutlich eine weitere stumme Kommunikation.

Dann erklang Rezas Stimme. »Hey, Ingrid.« Er hatte immer noch einen leichten Akzent aus seiner Kindheit in Karatschi. »Wir verstehen deinen Notfall, also sieht unser Angebot folgendermaßen aus: Brit will im Schnee nicht fahren, also werde ich dich abholen kommen …«

»Fahren macht mir nichts aus. Es schneit kaum.« Es schneite ordentlich, aber wen interessierte das schon?

»Sicher. Aber verstehst du, mir macht es etwas aus, wenn du in deinem heruntergekommenen VW herumfährst, während die Straßen vereist sind. Mein Subaru hat Allradantrieb. Also werde ich dich und Brit hinfahren, wo auch immer ihr hinmüsst. Ich werde mich im Hintergrund halten und nüchtern bleiben. Und dann, wenn du bereit bist, werde ich euch nach Hause fahren.«

»Geht es bei der ganzen Sache nicht darum, dass ich mit jemand anderem nach Hause gehe? Oder dass irgendwer mit mir nach Hause kommt?« Ich war mir nicht sicher.

»Sie hat recht«, erklärte Brittany im Hintergrund.

»Das ist ein Albtraum«, sagte Reza.

***

 

Brittany schrieb mir, als sie angekommen waren. Reza fuhr einen Paketlaster von UPS, also legte er viel Wert auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Angst durchfuhr mich. Während ich mich hergerichtet hatte, war mir klar geworden, dass Kat recht gehabt hatte – ich hätte ins Bett gehen und mich selbst in den Schlaf weinen sollen. Die ganze Aktion war Wahnsinn. Das konnte alles bis morgen warten. Aber ich hatte Brittany und Reza bereits angefleht. Die beiden waren unterwegs, um mir zu helfen. Ich konnte keine Rückzieher mehr machen.

Schneeflocken wirbelten hinter mir ins Auto, als ich auf den Rücksitz stieg. Reza starrte mich im Rückspiegel an.

»Nur fürs Protokoll, ich halte das immer noch für eine schlechte Idee. Ich bin nur hier, um sicherzustellen, dass du nicht mit Ted Bundy nach Hause gehst.«

»Verstanden«, sagte ich.

»Ich meine, das ist alles übel. Diese vorübergehende Trennung ist eine schreckliche Idee. Die schrecklichste Idee, die ich je gehört habe.«

Brittany drehte sich zu mir um. »Hör nicht auf ihn. Wir sind nur … ein wenig verwirrt. Wir unterstützen dich – du weißt, dass wir dich und Cory unterstützen. Aber …«

»Ich weiß«, sagte ich, damit sie den Gedanken nicht ausführen musste.

Reza schüttelte den Kopf, fuhr aber los. »Wo geht es hin?«

Ich schämte mich, weil ich keine Antwort parat hatte.

»Noch ein Punkt fürs Protokoll«, sagte er. »Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wegen des Schneefalls alles geschlossen haben wird. Ich will das lieber jetzt schon sagen … damit ich später, wenn ich recht habe, nicht zu schadenfreudig sein muss.«

»Oh, und wie du schadenfreudig sein wirst«, meinte Brittany.

»Absolut«, antwortete er.

Zum Glück hatte Brittany sich vorbereitet und eilte mir zu Hilfe. »Wie wäre es mit dem Cider House am Fluss? Das mit dem riesigen Wandgemälde von Bruder Tuck. Ich war noch nie da, aber davor stehen immer massenweise Autos. Ich wette, der Laden hat offen.«

»Er wird nicht offen haben«, sagte Reza, sah aber fragend zu mir.

»Das geht in Ordnung.« Ich nickte heftig. »Klingt perfekt. Danke.«

Die zahlreichen Apfelplantagen in der Umgebung hatten zu Ridgetops ungewöhnlichem Alkoholgeschmack geführt. In der Stadt gab es sieben miteinander konkurrierende Ciderproduzenten. Ortsansässige und Durchreisende drängten sich das ganze Jahr über in den entsprechenden Kneipen, aber ich betrat sie eigentlich nur, wenn wir uns mit Corys Freunden trafen. Ich ging lieber in ein Restaurant als etwas trinken. Noch besser fand ich es, wenn ich gar nicht ausgehen musste.

Nervös spielte ich an den großen Knöpfen meines Mantels herum. Ich hatte meine Arbeitsklamotten ausgezogen. Ich würde sie verbrennen müssen – das Entsetzen in seinen Augen, als er rückwärts gestolpert war: Nein. Ingrid. Nein. Stattdessen hatte ich ein hübsches Kleid angezogen und mit meinem schicksten Mantel kombiniert. Meine Paranoia flüsterte mir ein, dass wir überall auf sorglose Jugendliche in lässigen Jeans treffen würden. Aber ich wollte dennoch lieber over- als underdressed sein.

Brittany schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Du siehst toll aus.«