The Moment I Lost You - Lost-Moments-Reihe, Band 1 - Rebekka Weiler - E-Book

The Moment I Lost You - Lost-Moments-Reihe, Band 1 E-Book

Rebekka  Weiler

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Beschreibung

It Takes Courage To Forgive. It Takes Forgiveness To Love. Vier Jahre. So lang ist es her, dass Mias bester Freund auf einer Party gestorben ist. Aber trotzdem ist sie nicht für den Moment gewappnet, als Nathan Dawson plötzlich vor ihr steht. Der Mensch, der ihren besten Freund auf dem Gewissen hat. Ihre Wege kreuzen sich immer häufiger, und allmählich entwickeln sich zaghafte Gefühle. Doch egal, wie sehr Mia und Nathan sich dagegen zu wehren versuchen – zwischen ihnen entsteht etwas, das alte Wunden heilen könnte … oder neue verursacht. Eine Leseprobe aus "The Moment I Lost You": »Ich habe schon meine Zukunft ruiniert. Das Letzte, was ich will, ist, auch deine zu zerstören.« »Nathan …« Ich lasse seine Finger los und lege meine Hände stattdessen in seinen Nacken. Zuerst weicht er meinem Blick aus, doch schließlich treffen seine Augen auf meine. Der Ausdruck darin stößt einen Dolch mitten in mein Herz. Das Braun seiner Iriden hat das Strahlen verloren. Er wirkt so gebrochen wie seit Tagen nicht mehr. »Du hast es noch nicht kapiert, oder?«, flüstere ich und ziehe seinen Kopf so weit zu mir herunter, dass ich meine Stirn gegen seine lehnen kann. »Hör auf, mich von dir zu fernzuhalten, nur weil es gerade schwierig ist. Ich halte das aus.« Meine Daumen streicheln seine Wangen. »Ich werde nicht weglaufen.« Vielleicht geht es nicht mehr um das, was uns fehlt, sondern darum, was wir immer noch haben. Und das ist einander.

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Seitenzahl: 574

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TRIGGERWARNUNG:

Dieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können.

Deshalb findet ihr auf hier einen Hinweis zum Inhalt.

ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

Originalausgabe

Als Ravensburger E-Book erschienen 2022

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

© 2022, Ravensburger Verlag GmbH

Text © 2022, Rebekka Weiler

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München

www.erzaehlperspektive.de

Cover- und Umschlaggestaltung

unter Verwendung von Motiven von Nero Rosso, Crazy Lady, LivDeco,

Ichpochmak, janniwet (alle von Shutterstock)

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-473-51131-0

www.ravensburger.de

Für die Menschen in meinem Herzen.

Nah und fern.

Lebendig und tot.

Und ganz besonders für Mama, Papa, Nick, Lotte und Mario.

Ich liebe euch!

Playlist

Wish You Were Here – Delta Goodrem

Flüsterton – Mark Forster

Coldest Water – Walking On Cars

How To Save A Life – The Fray

Lost – Dermot Kennedy

You Don’t Know – Westlife

Looking Too Closely – Fink

Waves – Dean Lewis

Heavy – Delta Goodrem

Le Onde – Ludovico Enaudi

Learn To Let Go – Weshley Arms

Don’t Look Back In Anger – Oasis

Hearts On Fire – Gavin James

It Is What It Is – Lifehouse

Hold My Girl – George Ezra

Peer Pressure – James Bay

Deep End – Daughtry

Read All About It – Emeli Sandé

Forever – Mumford and Sons

Walk With Me – Måns Zelmerlöw & Dotter

All Of My Friends – Delta Goodrem

Better Man (Orchestra Version) – Westlife

Rescue – James Bay

When We Were Kids – Walking On Cars

Sekundenglück – Herbert Grönemeyer

Breathe Me – Sia

Play – Delta Goodrem

Visiting Hours – Ed Sheeran

Prolog

Der Bruchteil einer Sekunde kann alles verändern.

In einem Moment lache ich mit meinen Freunden, trinke einen Schluck Bier aus einem Plastikbecher, bewege den Kopf im Takt des Liedes hin und her und singe den Text leise vor mich hin.

Ich bin glücklich.

Aber dann verstummt die Musik auf einmal, und die Menschen um mich herum hören auf, sich zu unterhalten. Verwundert drehe ich mich um. Alle Blicke liegen plötzlich auf mir. Und sie erdrücken mich beinahe, als das Gemurmel beginnt.

»Brant und Nate.«

»Komm schnell.«

»Es ist Brant.«

Brant. Brant. Immer wieder sein Name. Brant.

Ich weiß nicht, wie mir geschieht.

Eine Hand umfasst meinen Arm, zieht mich mit. Automatisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Mache Schritt für Schritt für Schritt, stolpere fast durch die Tür dieser fremden Küche.

Sofort ist mir klar, dass ich die marmorierte Arbeitsfläche nie wieder vergessen werde, genauso wenig wie die weißen Schränke. Vermutlich ist die Farbe nicht einmal pures Weiß, sondern so etwas wie Diamantweiß oder Magnolie. Ich habe keine Ahnung, aber es spielt auch keine Rolle.

Mein Gehirn braucht einen Augenblick, um zu realisieren, was ich vor mir sehe.

Rote Flecken.

Überall.

Einen einzigen Herzschlag lang glaube ich, es sei Saft. Kirsche vielleicht. Oder Johannisbeere. Eventuell auch Himbeere. Aber Himbeere wäre wohl zu pink.

Und dann begreife ich, was hier wirklich vor sich geht.

Die vielen Flecken, die Spritzer, die große rote Lache auf den Küchenfliesen. Das ist kein Saft. Das alles ist Blut. Brants Blut.

Mein bester Freund liegt auf dem nackten Boden. Seine Kleidung ist fast vollständig durchtränkt, und in seinem Bauch klafft eine tiefe Wunde.

Mein Blick wandert nach oben, bis zu seinen weit aufgerissenen Augen. Er sieht mich an, bringt kein Wort hervor, weil er es nicht kann. Und trotzdem weiß ich genau, was er mir sagen möchte.

Hilf mir! Hilf mir, Mia!

Das ist der Sekundenbruchteil, der mich aus meiner Starre erwachen lässt. Ich reiße mich von der Person los, die mich in die Küche gezerrt hat, und stürze zu ihm. Ich merke den Aufprall in den Knien kaum, als ich mich neben ihn fallen lasse. Und es ist mir vollkommen egal, dass nun auch an meiner Haut Blut klebt.

Meine Finger tasten nach Brants, seine Brust hebt und senkt sich schnell. Er atmet flach, hat Panik. Ich habe keinen Schimmer, was ich tun soll, wie ich ihm helfen kann oder was passiert ist. Ich weiß nur eins mit absoluter Sicherheit: Ich werde ihn nicht allein lassen.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich schüttle sie ab, beuge mich näher zu Brant. Irgendjemand sagt, dass ein Krankenwagen unterwegs ist.

Ein Junge, den ich nicht kenne, drückt mit beiden Händen fest auf Brants Bauch. Mir ist klar, was er tut. Er versucht, die Blutung zu stoppen, aber seine Finger sind vor lauter Rot, Rot, Rot fast nicht mehr zu erkennen.

Ich halte die Hand meines besten Freundes, und obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, fange ich stumm an zu beten. Ich bete und bange und hoffe.

Bleib bei mir, Brant. Bitte.

In Gedanken versuche ich, den Menschen, mit dem ich aufgewachsen bin, am Leben zu halten. Wir sind Mia und Brant. Brant und Mia. Die besten Freunde, seit ich denken kann.

Wir haben zusammen Fahrradfahren gelernt, sind auf Bäume geklettert, haben Fische in dem Bach, der direkt hinter seinem Haus vorbeifließt, gefangen und wieder freigelassen. Und als wir zwölf Jahre alt waren, haben wir uns geküsst. Nur einmal, aber danach wussten wir beide, dass aus uns niemals mehr werden würde.

Brants Atmung wird immer hektischer. Ich lasse seine Hand nicht los, umklammere sie, so fest ich kann. Mein Blick ruht auf der kleinen Narbe über seiner linken Augenbraue, an der ich schuld bin. Vor vielen Jahren habe ich ihm im Streit eine Fernbedienung an den Kopf geworfen. Er hat geweint, dann habe ich geweint, und am Ende saß ich die ganze Zeit an seiner Seite, als der kleine Riss im Krankenhaus genäht wurde. Ein bisschen wie jetzt, nur ist hier so unendlich viel mehr Blut als damals.

Meine Kehle ist staubtrocken, und dennoch versuche ich, beruhigend auf ihn einzureden.

»Alles wird gut.«

Meine Stimme ist brüchig und kaum zu hören, doch ich sage immer und immer und immer wieder dasselbe zu ihm. Drei Worte, zwölf Buchstaben. Eine Bedeutung.

Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut.

Ich glaube daran. Mit allem, was ich habe. Mit allem, was ich bin. Ich muss einfach. Mit jeder Faser meines Körpers glaube ich an meine Worte. Und das aus genau einem Grund: Es ist die einzige Wahl, die ich habe.

Die Sekunden vergehen. Ich höre das Getuschel der Leute, registriere die Sorge und die Furcht in ihren Stimmen. Jemand weint. Doch alles, worauf ich mich konzentriere, ist Brant. Sein Bart gefällt mir, auch wenn ich ihn immer deswegen aufziehe. So wie Freunde das nun einmal tun.

Falls das überhaupt möglich ist, drücke ich seine eisige Hand noch ein wenig fester und wiederhole mein Mantra. Ob für ihn oder für mich, weiß ich nicht.

»Alles wird gut.«

Meine Sicht verschwimmt. Ich blinzle ein paarmal, um die aufsteigenden Tränen in Schach zu halten. Ganz kurz wage ich es, den Blick von Brant abzuwenden und in Richtung Decke zu heben. Er soll die Angst in meinen Augen nicht sehen. Ich brauche einen Moment, um die tausend Nadeln, die sich gnadenlos in mein Herz bohren, irgendwie zu ertragen. Weil ich intuitiv weiß, dass das hier nicht gut ausgehen kann.

Als ich den Kopf schließlich wieder senke, sehe ich ihn. Er steht nicht weit von uns weg. Einen halben Meter. Vielleicht ist es auch ein ganzer. Er starrt mich an, seine Lippen sind leicht geöffnet, und der Ausdruck in seinem Gesicht lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Seine Augen sind leer. Einfach nur dunkel und versteinert und kalt.

Doch es ist nicht seine Mimik, die mich panisch nach Luft schnappen lässt. Es ist das Messer in seiner Hand. Ein scharfes, großes Küchenmesser. Die Spitze ist rot. Blut tropft auf den Boden.

Brants Blut.

Und mit einem Mal weiß ich genau, was passiert ist.

Vier Jahre später

1

Der Schnee knirscht unter meinen Sohlen, während ich durch den eisigen Wind laufe. Meine Finger stecken in dicken Handschuhen, um meinen Hals ist ein weicher Schal gewickelt, und trotzdem ist mir kalt. Das ist immer so, wenn ich diesen Weg entlanggehe, denn an seinem Ende erwartet mich Brants Grab. Und nichts könnte falscher sein als diese Tatsache.

Auch nach all den Jahren erfasst mich jedes Mal aufs Neue tiefste Wut, wenn ich auf seinen Grabstein blicke und das Bild sehe, das seine Mutter in regelmäßigen Abständen erneuert, weil die Sonne es verblassen lässt. Er lacht und sieht glücklich aus, und es ist einfach nicht fair, dass er nicht mehr da ist. Seine Eltern haben ihn damals einäschern lassen, und ich weiß noch, wie verblüffend ich es fand, dass eine Urne so klein ist, obwohl sie so etwas Wichtiges, so etwas Großes beinhaltet.

Bei dem Gedanken fröstele ich und ziehe den Schal noch enger um meinen Hals. Trotz des Winters und des hartnäckigen Schneefalls steht ein großer Blumenstrauß in einer gläsernen Vase neben dem Grabstein. Seit drei Monaten wird alle zwei Wochen ein Strauß weißer Callas geliefert. Einmal war ich zufällig dabei, als die Blumen gebracht wurden. Es war ein Lieferservice, der mir nicht sagen durfte, um wen es sich bei dem Absender handelt. Aber wer auch immer es ist, die Person weiß genau, was weiße Callas bedeuten.

Ich gehe vor dem Grab in die Hocke, wie ich es immer tue, wenn ich Brant besuche. Inzwischen komme ich nicht mehr so häufig her wie früher, aber es vergeht trotzdem kaum eine Woche, in der ich nicht vorbeischaue. Manchmal dauern meine Besuche nur ein paar Minuten. An anderen Tagen sitze ich fast eine halbe Stunde auf dem Friedhof und erzähle Brant aus meinem Leben. Ich weiß, dass ich dafür nicht hierherkommen müsste, aber manchmal brauche ich es einfach, um mich ihm nahe zu fühlen.

Heute ist mein Besuch kurz. Ich bin eigentlich nur da, weil der Friedhof auf der Strecke liegt, die ich mit Luna, meiner Hündin, laufe. Ich habe sie vor dem Eingang neben dem eisernen Tor angeleint. Einmal habe ich es gewagt, sie mit zu Brants Grab zu nehmen. Eine ältere Dame hat mich freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass Tiere auf einem Friedhof nichts verloren hätten. Seither wartet Luna draußen auf mich, wenn ich sie dabeihabe.

Einzelne Schneeflocken tanzen vor meiner Nase, und die dunklen Wolken am Himmel verraten mir, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis es wieder heftiger zu schneien beginnt. Ich muss mich beeilen, wenn ich es rechtzeitig nach Hause schaffen will.

»B plus und A minus«, sage ich und lächle.

Obwohl er nicht mehr da ist, höre ich Brants Stimme glasklar in meinem Kopf.

Streberin. Ich wusste es. Herzlichen Glückwunsch.

Dann hätte er mich umarmt und abends auf irgendeine Party geschleppt, um auf meinen Erfolg anzustoßen. Seit jener Nacht gehe ich kaum mehr feiern. Nicht weil ich nicht gefragt werde, sondern weil es einfach keinen Spaß macht, ohne ihn unterwegs zu sein.

Du bist jung, Mia. Genieß dein Leben für mich mit.

Wenn es so leicht wäre, würde ich genau das tun. Aber nichts ist mehr einfach, seit er vor meinen Augen gestorben ist. Die Rettungssanitäter haben noch versucht, ihn wiederzubeleben, doch es war zu spät.

Brant ist auf diesen kalten Fliesen verblutet, weil ihn jemand abgestochen hat. Das, was ich bis zu diesem Zeitpunkt nur aus Filmen kannte, ist meinem besten Freund passiert. Es ist uns passiert.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich damals in dieser Küche saß und seine Hand hielt, als es schon viel zu spät war, um ihn zu retten. Ich habe keine Erinnerung daran, wie die Polizei kam und sich unsere Namen für die Zeugenbefragung notierte. Das Einzige, was sich vollkommen klar in mein Gedächtnis eingebrannt hat, ist der Moment, als sich eine weitere Hand auf meine Schulter legte. Ich war herumgewirbelt und hatte in das besorgte Gesicht meines Vaters gesehen. Jack hatte ihn angerufen und erzählt, was passiert war.

Ich schrie und tobte, während mein Dad mich von Brant wegziehen wollte, und ich hörte erst auf, mich zu wehren, als Brants Mom mit einem herzzerreißenden Laut neben ihrem Sohn zusammensackte und ihren Kopf auf seinen leblosen Körper sinken ließ. Ich werde nie vergessen, wie mir die Geräusche, die sie von sich gab, durch Mark und Bein gingen. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich einen Menschen so sehr schluchzen gehört wie Helen.

Bis heute weiß ich nicht, wie sie in das Haus kam. Mein Dad hatte sie nicht mitgenommen, als er den Anruf von Jack erhielt. Es muss jemand anderes gewesen sein, der sie informierte, aber Helen spricht nicht darüber. Brants Tod hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Noch mehr als mich, und ich habe zwei Jahre bei einer Psychotherapeutin auf der berühmten Couch verbracht. Die Couch ist eigentlich ein Sessel und ziemlich unbequem, aber die Therapie hat mir geholfen. Sie hilft mir noch heute. Und ich hoffe, dass sie irgendwann auch Brants Mom helfen wird.

Eine ganze Weile betrachte ich das verschneite Grab. Mittlerweile liegen einige Zentimeter Schnee auf dem hellen Stein. Die weiße Pracht sieht aus wie ein samtweiches Kissen, das dazu einlädt, den Kopf abzulegen und einfach nur zu schlafen. So lange, bis man erholt aufwacht und alles wieder gut ist.

Alles wird gut.

Vielleicht war es naiv von mir, doch damals habe ich wirklich daran geglaubt, dass Brant wieder gesund werden würde. Es war überhaupt keine Option für mich, dass er sterben könnte, obwohl ich tief in mir drin wusste, wie schlimm es um ihn stand. Niemand verliert so schnell so viel Blut, wenn es nur eine oberflächliche Wunde ist. Es war kein kleiner Kratzer, der ihn das Leben gekostet hat. Das Messer hatte sich viel zu tief in seinen Körper gebohrt und die falschen Adern erwischt.

Mühsam richte ich mich wieder auf. Inzwischen schneit es dicke Flocken. Mein Zeichen, mich auf den Weg zu machen. Bis zur Dämmerung dauert es nicht mehr lange, und dann möchte ich definitiv nicht mehr unterwegs sein.

»Grüß mir die Sterne«, murmle ich und versuche mich an einem Lächeln. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich damit angefangen habe, mich mit diesen Worten von ihm zu verabschieden. Sie erschienen mir passend. Das tun sie nach wie vor, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Seele eines Menschen genauso zu Staub zerfällt, wie der Körper es tut. Also muss Brant irgendwo bei den Sternen sein. Und wenn nicht dort, dann sind die Sterne vielleicht winzig kleine Löcher, durch die er auf die Erde zu mir herunterschauen kann. Vermutlich ist an diesem Gedanken nichts richtig, aber ich finde ihn irgendwie tröstlich. Und solange er mir hilft weiterzumachen, werde ich daran festhalten.

Luna wedelt aufgeregt mit dem Schwanz, als sie mich durch das knarzende Tor treten sieht. Ihr kastanienbraunes Fell hebt sich dunkel von der schneebedeckten Fläche ab. Nur ihre vier Pfoten und ihr Hals sind genauso weiß wie die Flocken. Sie kommt zu mir gelaufen, ich binde sie los und gemeinsam machen wir kehrt, um den Rückweg zur großen Straße anzutreten.

Sterling ist eine typische Kleinstadt, deswegen brauche ich nicht lange, bis ich zurück im Zentrum bin, wo meine Zweizimmerwohnung liegt. Als ich mit dem Studium angefangen habe, bin ich ausgezogen, doch anstatt wie viele meiner Mitschüler auf eine der großen Unis zu gehen, habe ich mich dazu entschieden, hierzubleiben. In Sterling bin ich aufgewachsen, hier kenne ich mich aus, und das College hat einen guten Ruf. Meine Eltern wohnen nicht weit entfernt am Rand der Stadt, und den Friedhof kann ich zu Fuß erreichen. Ohne Brant irgendwohin zu gehen, hätte sich falsch angefühlt, war der Plan doch immer der gewesen, die Welt zusammen zu entdecken. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, diese Reise allein anzutreten. Auch jetzt nicht, obwohl nur noch ein Semester vor mir liegt. Danach muss ich mich entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen möchte, und jeder Tag, der vergeht, bringt mich diesem Zeitpunkt unweigerlich näher. Denn ich weiß immer noch nicht, was ich dann tun will.

Luna bellt einmal, während ich das Tor aufschließe, hinter dem sich der Apartmentkomplex befindet, in dem meine kleine Wohnung liegt. Unter dem Vordach, bevor es die Stufen nach oben geht, hängt ein altes Handtuch, mit dem ich ihr braunes Fell trocken zu rubbeln versuche. Dann gehen wir wie immer in den ersten Stock, aber dieses Mal bleibe ich überrascht stehen, als wir dort ankommen. Jemand lehnt an der Wand neben meiner Tür. Um seinen Hals hängt eine Kamera, ohne die er so gut wie nie anzutreffen ist.

»Jack, hi.« Ich bin erstaunt, ihn zu sehen. Er taucht selten unangekündigt bei mir auf, weil er genau weiß, dass ich das nicht mag. Der einzige Mensch, bei dem ich das kommentarlos akzeptiere, ist mein Bruder.

»Hey, Mia«, begrüßt er mich, ehe er sich nach unten beugt, um Luna zu streicheln, die sich freudig auf seine Füße setzt und mit ihrem Schwanz den Boden fegt. Sie reicht ihm bis kurz übers Knie.

»Hallo, mein Mädchen«, sagt er lachend und reibt ihr über den Hals.

Die Bitte in Lunas Blick ist nicht zu übersehen: Überschütte mich mit Aufmerksamkeit. Jack kommt ihrem Wunsch nur zu gern nach. Er liebt meine Hündin genauso sehr wie ich.

»Was machst du hier?«, frage ich und trete neben ihn, um die Tür aufzuschließen.

»Dein Nachbar hat mich mit reingenommen. Er hatte Mitleid mit mir, glaube ich.« Jack befreit Luna von ihrer Leine, sie stürzt in die Wohnung, und wir folgen ihr etwas langsamer. Ich hänge meine Jacke auf, bevor ich mich zu ihm umdrehe. Unschlüssig steht er in dem kleinen Eingangsbereich.

»Nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen, aber … alles okay?«, hake ich nach.

»Ja.« Er nickt und fährt sich durch die Haare.

Lange kann er noch nicht gewartet haben. Ich entdecke ein paar Schneeflocken, die immer noch nicht geschmolzen sind. Wahrscheinlich hat er wieder Fotos vom Schnee gemacht. Ich liebe seine Bilder, sie sind unglaublich ausdrucksstark. Nur Jack schafft es, den richtigen Moment so einzufangen, dass jedes Foto seine ganz eigene Geschichte erzählt.

»Wie stehst du zu einem spontanen Ausflug?«

»Jetzt sofort?« Automatisch wandert mein Blick in Richtung Fenster. Hat er vergessen, wie sehr es schneit?

»Nein.« Er lächelt. »So spontan auch nicht. Heute Abend.«

»Wohin?«, frage ich misstrauisch.

Jack kennt meine Abneigung gegen Partys. Er war derjenige, der mich zu Brant in die Küche gezogen hat. Dafür werde ich ihm immer dankbar sein. Er hat dafür gesorgt, dass ich meinem besten Freund so lange wie möglich beistehen konnte.

»Wo du willst. Ins Joe’s vielleicht?«

»Diese alte Spelunke?«

Joes Kneipe ist eine dunkle, verschrobene Bar, in die man eigentlich erst nach Mitternacht geht, wenn alles andere allmählich zumacht oder nur noch auf Hauspartys etwas los ist.

»Warum nicht? Du kannst dir sicher sein, dass wir dort unsere Ruhe haben werden.« Er zuckt mit den Schultern, legt die Kamera behutsam auf meiner Kommode ab und knöpft seine Jacke auf. Mit einer lässigen Handbewegung wirft er sie auf einen der beiden Stühle, die vor meinem kleinen Esstisch in der Kochnische stehen.

»Wer kommt mit?«

»Heißt das, du bist dabei?« Seine Augen beginnen zu funkeln.

»Das entscheide ich, wenn du mir erzählt hast, wer noch kommt«, versuche ich, ihm die Hoffnung zu nehmen.

»Aber du hast nicht sofort abgelehnt. Das ist ein Fortschritt«, erwidert er.

Ganz unrecht hat er damit nicht. Meistens ersticke ich jede Frage diesbezüglich sofort im Keim.

Ich nehme eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank und befülle zwei Gläser. Eins davon reiche ich Jack, ehe ich zu meiner Couch gehe.

»Sarah und Peter würden mitkommen, und wenn du willst, kann ich auch noch meine Schwester fragen, ob sie Lust hat.« Jack folgt mir und setzt sich an das andere Ende meines Sofas.

Ich ziehe die Beine an und vergrabe sie unter einer kuscheligen Decke, während ich an meinem Saft nippe und über seine Worte nachdenke. Ich weiß, warum er mich ausgerechnet heute danach fragt. Wir haben endlich unsere Noten bekommen und wissen nun auch offiziell, dass unserem letzten Semester am Sterling College nichts mehr im Wege steht. Er möchte feiern gehen, und während ich bis zum Ende meiner Zeit an der Highschool sofort bei jeder Form von Party dabei gewesen wäre, fühlt es sich seit Brants Tod einfach nicht mehr richtig an, Spaß ohne ihn zu haben.

»Ich weiß nicht …«, sage ich zögernd. Wie immer. Und meistens lässt Jack mich dann in Ruhe. Aber heute sehe ich ihm an, wie wichtig es ihm ist, dass ich mitkomme.

»Du musst auch nichts trinken«, sagt er schnell. »Ich werde dafür sorgen, dass dich die anderen nicht damit nerven. Wir wollen dich einfach nur dabeihaben, Mia.«

In diesem Moment springt Luna zwischen uns auf das Sofa und stupst Jack an. Sie ist so aufgeregt, dass sie sein Glas zum Überschwappen bringt. Der Orangensaft ergießt sich über seine Hand und breitet sich auf seinem Pullover aus.

»Fuck!«, entfährt es ihm. Er springt hastig auf, doch es ist bereits zu spät. Die halbe Vorderseite seines Oberteils ist komplett durchnässt.

Ich kann nicht anders, als loszulachen.

»Sorry«, gluckse ich, schiebe die Beine von der Couch und stehe ebenfalls auf. »Meine Hündin ist schlecht erzogen.«

Das ist eine Lüge, und das wissen wir beide, aber ich kann nicht leugnen, dass Luna sich mit dieser Aktion nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Ganz im Gegensatz zu Jack, der soeben aus seinem Pullover schlüpft. Auch das kurzärmlige T-Shirt, das er darunter trägt, ist nass geworden. Seufzend zieht er es gleich mit aus.

»Darf ich deinen Föhn benutzen?«, fragt er und läuft bereits auf das Badezimmer zu.

»Warte!« Ich beeile mich, ihm hinterherzukommen. Kurz vor der Tür hole ich ihn ein, nehme ihm seine Klamotten ab und husche an ihm vorbei in den Raum, um nach dem Lichtschalter zu tasten. Doch anstatt Jack anschließend den Föhn zu geben, schmeiße ich die beiden Oberteile in das Waschbecken und drehe den Wasserhahn auf.

»Öhm, Mia?« Jack steht verwundert neben mir. »Was machst du da? Sollten wir die Klamotten nicht besser trocknen?«

»Du willst die Sachen ernsthaft föhnen, ohne den Saft vorher auszuwaschen?« Ich schüttle den Kopf. »Kommt nicht infrage. Das Zeug klebt doch fest.«

Ich greife nach der Seife auf der kleinen Ablage vor dem Spiegel, rubble damit energisch über den Stoff und halte ihn dann unter den Wasserstrahl. Nach ein paar Minuten habe ich das T-Shirt so weit bearbeitet und ausgewrungen, dass ich es Jack reichen kann.

Mit einem Kopfnicken deute ich ihm an, wo sich der Föhn befindet. »Im Schrank. Oben rechts.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich streckt und nach dem kleinen Gerät angelt. Er steckt es ein und beginnt zu föhnen. Ungefähr dreißig Sekunden lang hält er den warmen Strahl auf sein T-Shirt, bevor ich den Wind auf meinem Gesicht spüre und Jack mir die heiße Luft in die Haare pustet.

»Hey!« Ich kneife die Augen einmal kurz zusammen, ehe ich ihn vorwurfsvoll ansehe.

Jack ignoriert meinen Protest, grinst breit und föhnt statt des T-Shirts weiterhin mich. Ich mache ein paar ausweichende Bewegungen mit dem Kopf, kann aber nicht verhindern, selbst zu lachen. Wir sind so laut, dass Luna angerannt kommt und neugierig zwischen unseren Beinen umhertapst.

»O nein, Missy«, sage ich kopfschüttelnd und schiebe sie mit einem Bein wieder hinaus. »Du hast schon genug Unheil angerichtet, Schätzchen.«

Mit diesen Worten schließe ich die Tür und schaue auf. Jack sieht mich auf eine Art an, die ich so von ihm nicht kenne. Seine Augen wirken mit einem Mal viel dunkler, als sie eigentlich sind. Das nasse T-Shirt hält er in der einen, den eingeschalteten Föhn in der anderen Hand, doch nichts davon scheint ihn zu interessieren. Sein Blick liegt nur auf mir und beobachtet mich ganz genau dabei, wie ich zurück vor das Waschbecken trete.

»Was ist?«, frage ich, als ich nach seinem zweiten Shirt greife und das Wasser erneut anschalte. Mit einem Mal schlägt mir das Herz bis zum Hals.

»Nichts«, antwortet er, doch in seiner Stimme schwingt eindeutig etwas anderes mit.

Ich spüre seinen Blick immer noch auf mir, und es kostet mich alle Mühe, ihn nicht anzusehen und mich stattdessen auf das Kleidungsstück in meiner Hand zu konzentrieren. Plötzlich bin ich mir deutlich bewusst, wie er hier neben mir steht. Oben ohne, mit einem Dreitagebart und nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Ich müsste nur die Hand ausstrecken und schon könnte ich über seine nackte Brust fahren. Seinen Bauch berühren, die Muskeln, von denen ich weiß, dass sie hart wie Stahl sind. Jack trainiert. Nicht jeden Tag und nicht übertrieben, aber seine regelmäßigen Workouts genügen für ein deutlich definiertes Sixpack.

»Mia …« Das Geräusch des Föhns erstirbt, und Jacks raue Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Nun sehe ich ihn doch an.

»Ja?«

»Komm heute Abend mit«, sagt er leise. »Bitte.«

Und obwohl ich mir wirklich nicht sicher bin, ob das eine gute Idee ist, merke ich, wie ich nicke. Ich kann nicht anders, wenn er mich so anschaut. Irgendwo in den Tiefen meines Kopfes glaube ich, Brants Lachen zu hören.

Genieß dein Leben einfach für mich mit, Mia.

2

Jack hält mir die Tür auf und wartet, bis ich an ihm vorbeigegangen bin und mir die weißen Flocken aus den Haaren geschüttelt habe. Es schneit noch immer, was den Weg zum Joe’s deutlich erschwert hat. Die Straßen sind wieder einmal schlecht geräumt, dabei hat der Wetterbericht die neuen Schneefälle seit Tagen angekündigt.

Das Licht ist gedimmt, als wir die urige Kneipe betreten. Trotzdem entdecke ich Sarah und Peter sofort, die in ein Gespräch vertieft an der Theke sitzen. Es ist nicht viel los, nur ein paar Tische sind besetzt, woraufhin ich mich sofort etwas entspanne. Menschenmassen erschlagen mich und geben mir oft das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es ist besser geworden, seit ich bei Dr. Sullivan in Behandlung bin. Aber an schlechten Tagen kostet es mich immer noch Überwindung, das Haus überhaupt zu verlassen und in meine Kurse zu gehen, obwohl ein voller Vorlesungssaal nicht ansatzweise mit dem Trubel auf einer Party vergleichbar ist.

Heute ist einer von den guten Tagen. Ich lächle Sarah an, als sie aufblickt und uns entdeckt. Ehe ich michs versehe, springt sie von ihrem Stuhl, kommt auf mich zu und schließt mich innig in die Arme.

»Mia!« Sie blickt begeistert zwischen Jack und mir hin und her. »Wie hast du es geschafft, unsere kleine Elfe aus dem Haus zu locken?«

»Das bleibt mein Geheimnis.« Er zwinkert ihr zu, bevor er sie begrüßt und mit Peter einschlägt. »Hey, Mann.«

Er setzt sich neben ihn auf einen freien Barhocker, während Peter mich ebenfalls umarmt. Wortlos. Mehr ist von ihm nicht zu erwarten, er ist eher einer von der ruhigen Sorte. Es dauert, bis er mit Menschen warm wird, und da er und Sarah erst seit ein paar Wochen zusammen sind, kennen wir einander noch nicht besonders gut. Aber er ist mir sympathisch und der Erste von Sarahs Freunden, der kein Problem mit ihrem etwas ausgefallenen Geschmack hat. Seit ein paar Tagen trägt sie ihre Haare pink.

Energisch zieht meine Freundin mich von den beiden Jungs weg auf ihre andere Seite, wo sich ebenfalls ein unbesetzter Hocker befindet. Weil ich nicht sehr groß bin, ist es fast schon ein kleines Kunststück, mich so elegant wie möglich auf dem Ding niederzulassen. Sarah winkt eine Kellnerin heran, die ich bei meinen seltenen Besuchen hier noch nie gesehen habe. Ihr rechter Arm ist voller Tattoos, und in ihrem Gesicht steckt mehr Metall, als gesund sein kann. Erstaunlicherweise sieht es trotzdem gut aus und steht ihr. Ich bestelle ein Wasser und drehe mich dann zu Sarah, deren Blick kritisch auf mein Glas gerichtet ist.

»Echt jetzt?«, fragt sie mit hochgezogener Augenbraue.

Bevor ich eine Chance habe, zu reagieren, streckt Jack seinen Kopf sofort an Peter vorbei zu uns.

»Lass sie in Ruhe, Sarah«, sagt er nachdrücklich und nickt mir zu. »Mia muss sich nicht für ihre Getränkewahl rechtfertigen.«

»Okay.« Sie hebt abwehrend die Hände. »Entschuldige. Ich dachte nur … Wir wollten doch feiern und …«

»Schon gut«, unterbreche ich sie und lege eine Hand auf ihren Unterarm. »Wir feiern ja auch.« Ich hebe mein Glas in die Luft. »Nur ich eben mit Wasser.«

»Und da es völlig egal ist, womit man anstößt …« Jack tut es mir gleich und greift nach seinem eigenen Getränk, auf dessen Oberfläche eine kleine Schaumkrone tanzt. Bier. Ohne Zweifel. »Cheers. Auf uns.«

Wir lassen unsere Gläser klirrend aneinanderstoßen und trinken auf die erfolgreich bestandenen Prüfungen. In zwei Wochen startet das neue Semester, und anscheinend sind meine Freunde gewillt, ihre letzten vierzehn Tage »in Freiheit« – Sarahs Worte, nicht meine – mehr als nur zu genießen, bevor sie sich wieder mit kommunikationswissenschaftlichen Themen beschäftigen und Peter sich in sein Wirtschaftsingenieurstudium vertiefen muss. Obwohl ein Kurztrip ans Meer toll klingt, bin ich froh, vor Unibeginn nichts Großes mehr vorzuhaben. Dennoch ist es schön, die Freude in Sarahs Augen zu sehen, als sie mir von Peters Überraschung erzählt.

»Ich habe nichts geahnt, kannst du dir das vorstellen? Rein gar nichts.« Immer wieder nippt sie an ihrem Gin Tonic und futtert Erdnüsse aus der Schale, die Andy, die Kellnerin, vor uns abgestellt hat. »Er hat an Neujahr einfach einen Umschlag aus der Jackentasche gezogen und mir kommentarlos hingehalten.«

Während Sarah weiterplappert, wandert mein Blick an ihr vorbei zu Peter. Er unterhält sich mit Jack und scheint sich wohlzufühlen. Ich gebe zu, dass ich ihn zunächst falsch eingeschätzt hatte. Seine zurückhaltende Art bedeutet nicht, dass ihm Sarah nicht wichtig ist. Ganz im Gegenteil. Er ist einfach nur kein Mann vieler Worte. Und das ist mir wesentlich lieber als jemand, der ständig große Sprüche klopft und seinem Umfeld auf die Nerven geht. Die beiden passen gut zusammen, und ich hoffe sehr für sie, dass ihre Beziehung hält. Peter tut ihr gut, macht sie ausgeglichener und besonnener.

Im Hintergrund dudelt Musik aus den Boxen, die meinen Geschmack zwar um Längen verfehlt, aber trotzdem wippen meine Füße automatisch im Takt mit. Je später es wird, umso mehr füllt sich die Kneipe, und ich merke, wie ich unruhig werde. Ein Engegefühl breitet sich in meiner Brust aus. Ich blicke auf meine Hände und beginne, langsam zu zählen.

Eins. Daumen. Zwei. Zeigefinger. Drei. Mittelfinger. Vier. Ringfinger. Fünf. Kleiner Finger.

Dann mache ich das ganze Spiel rückwärts. Es ist ein Trick von Dr. Sullivan, um bei mir selbst zu bleiben. Ich spüre meinen Herzschlag deutlich und höre das Rauschen in meinen Ohren. Meine Hand liegt auf meinem Schoß, den Blick halte ich gesenkt. Sarah redet die ganze Zeit weiter und merkt mir nichts an. Ich habe diese kleine Übung schon so oft benutzt, dass ich eine Meisterin darin geworden bin, sie so unauffällig wie möglich auszuführen.

Ich wiederhole das Zählen zweimal. Daumen. Zeigefinger. Mittelfinger. Ringfinger. Kleiner Finger. Und wieder zurück. Als ich am Ende ankomme, legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich sehe auf und erkenne Jack.

»Lust auf eine Runde Billard?« Ist alles in Ordnung?

Ich nicke. Ja. »Gern«, sage ich und rutsche von meinem Hocker.

Sarah folgt mir mit ihrem Glas in der Hand, während Peter die Kugeln bei Andy organisiert.

»Machen wir Mädels gegen Jungs?« Sarah grinst mich verschwörerisch an.

»Auf keinen Fall«, mischt Jack sich ein, ehe ich antworten kann. »Mia spielt mit mir.«

»Vielleicht möchte Mia selbst entscheiden, mit wem sie spielt«, entgegnet Sarah herausfordernd.

Sie sieht nicht böse aus, ich kann den Schalk, der ihr im Nacken sitzt, mühelos erkennen. Sie hat kein Problem damit, wenn ich mit Jack spiele. Nein, sie diskutiert einfach nur gern. Was eine ihrer Eigenschaften ist, die ich weniger mag, aber die ich nach so vielen Jahren unserer Freundschaft akzeptiert habe. Vor allem, weil sie auch praktisch sein kann. Zum Beispiel wenn wir auf irgendwelchen Flohmärkten unterwegs sind und Sarah anfängt zu verhandeln.

»Okay.« Jack seufzt, dreht sich zu mir um und setzt seinen besten Hundeblick auf. »Wer soll deine zweite Hälfte sein, Mia?«

Wie soll ich da widerstehen? Ich seufze. »Es tut mir leid, Sarah …«

»Du brichst mir das Herz, Mia.« Sie fasst sich theatralisch an die Brust. »Aber gut. Ich hoffe, du weißt, was das bedeutet.«

Sie sieht sich suchend nach Peter um. Der steht bereits am Billardtisch und ordnet die bunten Kugeln in einem Dreieck an.

»Nein?«, tue ich unwissend.

»Du wirst verlieren«, verkündet sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

»Das wird sich zeigen, Ms Harper.« Jack lässt die Finger knacken und nimmt einen der Spielstöcke von der Wand. Wie ein Profi reibt er die Spitze mit blauer Kreide ein, bevor er mir den Stab reicht. »Eröffnest du?«

»Klar.« Ich umrunde den Tisch und suche mir eine gute Position für den ersten Spielzug. Hier im hinteren Teil der Kneipe ist es ruhiger. Weniger Menschen, und auch die Musik ist nicht mehr zu hören. Ich bin ziemlich froh drum.

Nach meinem Stoß rollen die Kugeln in alle Himmelsrichtungen. Nummer fünf verschwindet in einer der Taschen. Ein Glückstreffer, aber ich grinse zufrieden und setze erneut an. Wir spielen eine Weile. Irgendwann kommt Andy vorbei und fragt, ob sie uns neue Getränke bringen soll.

Nachdem Jack und ich zweimal gewonnen haben, mischen wir die Paarungen durch. Ich bilde ein Team mit Peter, Jack schnappt sich Sarah. Es ist lustig, den beiden beim Diskutieren zuzusehen. Ich glaube, Jack ist heilfroh, als er sie nach der Runde wieder abgeben kann und Peter sein neuer Partner wird.

»Tu nicht so, als sei es meine Schuld, dass wir verloren haben.« Sarah schiebt die Kugeln für eine weitere Runde zusammen. »Du hast es nicht geschafft, beim Eröffnungsstoß eine Kugel zu versenken.«

»Du hast mich angerempelt!«, protestiert Jack.

»Habe ich nicht.« Sie schnaubt empört und sieht zu mir. »Sag ihm, dass ich ihn nicht angerempelt habe, Mia!«

Ich runzle nur die Stirn. Mein Blick sagt alles.

»Ach.« Sie wirft sich die langen Haare über die Schulter und nimmt ihren Gin Tonic in die Hand. Bevor sie davon trinkt, höre ich sie irgendetwas nuscheln, das wie »schlechter Verlierer« klingt.

Ich kann nicht anders, ich muss grinsen. Sarah ist und bleibt eine Drama-Queen, und Jack ist tatsächlich schlecht darin, nicht zu gewinnen. Mein Blick fällt auf ihn, und ich sehe, wie er sich mit Peter wild gestikulierend berät. Obwohl er schon mal gewonnen hat, scheint es sein neu erklärtes Ziel zu sein, Sarah bei der nächsten Runde nicht den Hauch einer Chance zu geben.

Kopfschüttelnd nippe ich an meinem Wasser und lehne mich neben meine Freundin an die Wand.

»Dir ist klar, dass nun Krieg herrscht?«

»Und wenn schon.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Jack ist dreiundzwanzig. Es wird Zeit für ihn zu lernen, dass man nicht immer gewinnen kann.«

»Da kenne ich noch eine, die das lernen sollte.« Ich stoße mit meiner Schulter leicht gegen ihre.

»Ich bin erst zweiundzwanzig.« Sarah rümpft die Nase und wirkt damit eher wie zwölf. »Ich darf kindisch sein.«

»Wenn du meinst.« Schmunzelnd sehe ich wieder zu den Jungs, die sich immer noch angeregt unterhalten. Wobei vielmehr Jack spricht und Peter einfach nur zuhört und an den offenbar richtigen Stellen nickt.

»Vielleicht sollten wir uns auch eine Taktik zurechtlegen«, schlage ich vor und stelle mein Glas zur Seite. »Ich nehme nicht an, dass du große Lust darauf hast, dir den restlichen Abend heroische Geschichten über ihren Sieg anzuhören, oder?«

»Oh, ganz sicher nicht.« Würde Sarah einen Pullover tragen, wäre nun der Moment, in dem sie ihre Ärmel nach oben krempelt. Da sie sich heute aber für eine hübsche schwarze Bluse mit unzähligen Blumen darauf entschieden hat, begnügt sie sich damit, die Hände diabolisch aneinanderzureiben. Sie nimmt die Herausforderung an.

»Wenn sie Gentlemen sind, lassen sie uns den Vortritt«, sagt sie und grinst mich an. »Wir müssen einfach nur Kugel um Kugel versenken und sie gar nicht erst zum Zug kommen lassen. Und et voilà. Gewonnen.«

Dieser Plan erscheint mir zwar lückenhaft und viel zu sehr vom Zufall abhängig, als dass man ihn wirklich als Taktik bezeichnen könnte, doch Sarah wirkt, als sei sie sich ihrer Sache sehr sicher. Mir ist es egal, ob wir gewinnen oder nicht. Es ist nur ein Spiel. Hauptsache, wir haben Spaß dabei.

Jack lässt uns anfangen, und Sarah legt los. Erstaunlicherweise schafft sie es, wie vorhergesagt, eine Kugel nach der anderen einzulochen. Sie ist hoch konzentriert, wie eine Frau mit einer Mission.

Irgendwann entferne ich mich ein Stück von ihr und trete neben Jack. »Das war nicht besonders klug von dir«, sage ich leise und nicke mit dem Kopf in Sarahs Richtung. »Sie nimmt euch auseinander.«

»Falls wir überhaupt noch zum Zug kommen«, stimmt er mir zu und fährt sich mit den Fingern durch die Haare.

Dieser wilde Look steht ihm. Ich fand Jack schon immer sehr attraktiv, trotzdem habe ich nie mehr von ihm gewollt. Und auch als Kumpel ist er kein Ersatz für Brant, und das wird er auch nie sein. Niemand wird meinen besten Freund jemals ersetzen können. Aber irgendwann zwischen Weihnachten und seinem ersten Todestag im September habe ich erkannt, dass ich mich nicht vor der ganzen Welt verschließen kann, wenn ich nicht zugrunde gehen möchte. Es war nicht leicht, doch nach einigen Monaten habe ich angefangen, zunächst Sarah und schließlich auch Jack wieder in mein Leben zu lassen. Sie konnten mein Herz genauso wenig zusammensetzen wie meine Eltern, aber dank ihnen verlasse ich immerhin wieder das Haus. Und spiele Billard, wenn Sarah nicht gerade beschließt, einen Alleingang hinzulegen.

»Da sie mich ganz eindeutig nicht braucht … Willst du noch mal Nachschub?« Ich deute auf Jacks fast leeres Bier. »Dann bringe ich dir auf dem Rückweg von den Toiletten eins mit.«

»Ja, gern.« Er nickt, setzt ein letztes Mal an und trinkt den Rest auf einmal aus, bevor er mir die Flasche gibt. Meine Fingerspitzen streifen seine, als ich sie ihm abnehme.

»Bin gleich zurück«, murmle ich und mache mich auf den Weg in den vorderen Teil der Bar. Ich gebe Andy das leere Bier, bitte sie um ein neues für Jack und ein Wasser für mich und gehe weiter zu den Toiletten.

Keine fünf Minuten später bin ich zurück, und die Getränke stehen bereits auf der Theke der Bar. Ich will gerade nach ihnen greifen, als ich eine Stimme höre, die zu singen beginnt. Ich wirble herum und entdecke einen Musiker auf der kleinen, improvisierten Holzbühne neben einer steinalten Jukebox, die nicht so aussieht, als würde sie überhaupt noch funktionieren.

Wie gebannt starre ich zu dem Mann hinauf. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, er hält den Blick eisern auf die Gitarre in seinen Händen gesenkt. Er streicht über die Saiten, als seien sie ein Schatz, den er gerade erst entdeckt hat. Doch sein Spiel ist nicht das, was mich am meisten fasziniert. Es sind auch nicht die schwarzen Jeans oder das dunkle Langarmshirt, das ihm ausgesprochen gut steht. Nein, es ist seine Stimme, die sich klar und hell und doch irgendwie rauchig und tief im ganzen Raum ausbreitet. Er singt die Töne sanft, erzählt von verlorenen Träumen, vergangenen Momenten und Sekundenbruchteilen, die ein Leben verändern können. Und ob ich will oder nicht, ich erkenne mich darin wieder.

Ich merke nicht einmal, wie ich leise seufze und die Augen schließe, während seine markante Stimme die kleine Bar geradezu durchflutet und ich mir für ein paar Sekunden einbilde, er würde nur für mich singen. Es ist mir egal, dass meine Freunde auf mich warten, und ich nicht nur mein Getränk in der Hand halte. Ich brauche diesen Moment für mich. Dieses Lied, diese Stimme, diese Melodie. Alles ist perfekt, und mir wird klar, dass es die richtige Entscheidung war, Jack für heute zuzusagen. Ohne sein Bitten hätte ich einen weiteren Freitagabend auf meiner Couch verbracht. Luna hätte sich wie eine Wärmflasche über meine Beine gelegt, den Kopf so auf meinem Oberschenkel platziert, dass ich sie mit meiner Hand problemlos hinter den Ohren kraulen kann. Vielleicht hätte ich mir ein Eis gegönnt, während wir uns irgendeine unrealistische Schnulze auf Netflix angeschaut hätten. Keine schlechte Vorstellung, doch die Realität gefällt mir in diesem Augenblick um einiges besser. Die Musik gefällt mir besser.

Ich lausche den Worten, die er von sich gibt, und spüre in jedem einzelnen davon, wie ernst er sie meint. Ich weiß nicht, woher oder warum, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass er das, wovon er singt, selbst erlebt hat. Er spricht aus Erfahrung, und ohne ihn zu kennen, bricht er mir mit seinem Lied das Herz.

There is a darkness inside of me

A secret to keep

I long for forgiveness

Don’t know what it means

Just living half a life

Being only kind of there

Only kind of there

Als die letzten Töne verklingen, öffne ich meine Augen und sehe direkt in das Gesicht des Musikers. Er erwidert meinen Blick, zeigt keinerlei Regung, doch diese Augen … Diese Augen würde ich überall erkennen.

Es sind seine.

Nathan Dawsons.

Er ist zurück.

Brants Mörder ist zurück in der Stadt.

3

Die beiden Getränke drohen mir aus den Händen zu fallen, als mich die Übelkeit erfasst. Meine Finger zittern, ich schaffe es kaum, die Flasche und mein Glas auf der Theke abzustellen, ehe ich davonstürze. Zurück in den kleinen, dunklen Flur, der zu den Toiletten führt. Ich stoße die Tür auf und verschwinde in der ersten Kabine. Vor der Kloschüssel gehe ich in die Knie und erbreche meinen Mageninhalt.

Es wundert mich nicht mehr, dass ich mich in diesem Lied wiederfinden konnte. Er hat es über den Abend geschrieben, der unsere beiden Leben für immer verändert hat. Und er konnte nur so perfekt darüber schreiben, weil er selbst da war. Ich kann nicht fassen, wie sehr mich die Zeilen berührt haben, wie intensiv dieser Moment war. Heiße Tränen fließen über meine Wangen. Mit einem Mal habe ich das Gefühl, zu ersticken. Ich kann nicht mehr atmen, schnappe nach Luft, huste und würge wieder. Was passiert hier? Warum ist er wieder zurück? Er sitzt im Gefängnis. Es ist nicht möglich, dass er in Sterling ist. Es ist einfach nicht möglich. Und trotzdem habe ich ihn gerade gesehen. Auf dieser Bühne, im gedimmten Licht, mit einer Gitarre und einem Lied, das mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat.

Ich presse eine Hand auf meinen Bauch und versuche, nicht durchzudrehen. Es ist so lange her, dass ich ihn gesehen habe. Damals bin ich davon ausgegangen, dass es das allerletzte Mal war und ich ihm nie wieder begegnen muss. Jahrelang war es genau dieser Gedanke, der mir zumindest in Ansätzen so etwas wie Frieden beschert hat. Ich werde Brant nie wiedersehen, aber das Gleiche gilt auch für den Menschen, der ihn umgebracht hat.

Galt.

Bis heute. Bis vor wenigen Minuten.

Am liebsten möchte ich mich hinlegen und zu einer Kugel zusammenkauern. So lange, bis die Übelkeit nachlässt und ich nicht mehr vor Ekel und Scham im Boden versinken will. Das schlechte Gewissen, weil ich sein Lied gemocht habe, erdrückt mich beinahe. Wie kann mein Kopf es wagen, zu Zeilen, die ausgerechnet aus seinem Mund kommen, eine Art Verbindung aufzubauen? Es sind die Worte eines Verbrechers.

Ich reibe mir über die Stirn, über die geschlossenen Augenlider, über die Schläfen. Mit einem Mal fühle ich mich kraftlos und leer, mein ganzer Körper schmerzt. Ich sitze schon viel zu lange hier und versuche, meine Atmung zu beruhigen und mein schnell pochendes Herz unter Kontrolle zu kriegen. Es wird mit Sicherheit nicht mehr lange dauern, bis Sarah kommt, um nachzusehen, wo ich bleibe.

Im nächsten Moment geht die Tür auf.

»Mia?« Es ist tatsächlich die Stimme meiner Freundin. »Bist du hier?« Sie klingt besorgt. Hat sie Nathan ebenfalls gesehen und eins und eins zusammengezählt? Sitzt er immer noch auf dieser Bühne und spielt seine Lieder?

Ich balle die Hände zu Fäusten, als ich mich mühevoll aufrapple und Ja sage. Ich hoffe, Sarah merkt nicht, wie kratzig meine Stimme klingt. Nachdem ich auf die Spülung gedrückt habe, wische ich mir mit einem Stück Klopapier den Mund ab und bete, dass meine Wimperntusche den Tränen standgehalten hat. Dann verlasse ich die Kabine.

Sarah steht neben dem einzigen Waschbecken, auf das ich nun zugehe. Sie sieht mir wortlos dabei zu, wie ich den Wasserhahn öffne, meine Hände darunter halte und eine kleine Kuhle forme. Anschließend führe ich sie zu meinem Mund und spüle ihn aus. Den unangenehmen Geschmack werde ich trotzdem nicht los.

Als ich in den Spiegel sehe, ruhen Sarahs Augen immer noch auf mir. »Was ist los?«, fragt sie und legt behutsam eine Hand auf meinen Rücken. »Alles in Ordnung? Du bist so blass …«

Ich nicke. Nur einmal, und bestimmt nicht sonderlich überzeugend, aber ich schaffe es, dabei nicht wieder in Tränen auszubrechen. Mir ist immer noch schlecht, und ich möchte einfach nur nach Hause.

»Können wir gehen?«, frage ich und drehe den Wasserhahn wieder zu. Ich trockne mir die Hände ab, während ich Sarahs Blicken weiterhin ausweiche. Ich will nicht, dass sie sieht, wie durcheinander ich bin.

»Aber … warum? Die Jungs wollen eine Revanche. Ich habe gewonnen. Wir haben gewonnen.« Sie hält inne. »Was ist in den letzten Minuten passiert, Mia?«

Ihre Frage irritiert mich. Sie ist doch nicht blind, sie weiß ganz genau, wer Nathan Dawson ist. Fragt sie mich gerade ernsthaft, warum ich nicht im selben Gebäude wie er bleiben möchte?

»Hast du den Musiker gesehen?«, frage ich und schmeiße das nasse Papiertuch in den Mülleimer.

»Nur gehört«, antwortet sie. »Er klang gut, oder? Schade, dass er nur ein Lied gespielt hat. Bist du deshalb so lange weggeblieben? Weil du ihm zugehört hast?«

Ich schüttle den Kopf, nicke, schüttle ihn wieder. Sarah hat keine Ahnung, in wessen unmittelbarer Nähe sie sich befindet. Das hat niemand da draußen. Doch eine Information in ihren Sätzen lässt mich aufhorchen.

»Er spielt nicht mehr?«, frage ich. »Er hat nur ein Lied gespielt? Ein einziges?«

Sarah nickt, und ich sehe ihr deutlich an, dass sie meinen Gedankensprüngen nicht folgen kann. »Ja. Es war nur das eine. Warum ist das wichtig? Hier treten ständig irgendwelche mittellosen Musiker auf, das weißt du doch.«

»Aber die meisten spielen mehr als nur einen Song.«

»Na und?« Sie ist immer noch verwirrt. »Vielleicht hat er nur dieses eine eigene Lied. Mia, was ist …«

»Es war Nathan«, platzt es in dieser Sekunde aus mir heraus. »Nathan Dawson.«

Ich erkenne genau den Moment, in dem sie begreift, was ich ihr gerade gesagt habe.

»Was?«, wispert sie, und das Blut weicht aus ihrem Gesicht. »Was redest du da? Nathan ist im Gefängnis.«

»Ist er nicht.« Ich lege wieder eine Hand auf meinen unruhigen Magen. »Er ist da draußen und spielt auf seiner Gitarre, als hätte er nicht erst vor ein paar Jahren jemanden umgebracht.« Ich verschweige ihr, wie gut ich sein Lied fand. Dieses Wissen werde ich mit in mein Grab nehmen.

»Aber … Wieso lässt Joe ihn überhaupt auftreten?« Sarah hat sich wieder gefangen, und auch das Feuer in ihren Augen ist zurück. Nur bedeutet es diesmal nichts Gutes. »Er weiß doch, was passiert ist. Die ganze Stadt weiß es, verdammt noch mal.«

Sarah hat nicht unrecht. Brants Tod wurde damals in den Medien regelrecht ausgeschlachtet. Tagelang gab es kein anderes Thema als sein tragisches Schicksal. Abgestochen auf einer Party, kurz vor Beginn seines Studiums, gestorben vor den Augen seiner besten Freundin. Sämtliche Reporter und Fotografen aus Sterling und Umgebung haben bei meiner Familie geklingelt, wollten mich sprechen, ein Bild von mir machen, ein Statement bekommen. Ich habe ihnen alles verweigert, sodass sie schließlich irgendwelche anderen Menschen in der Stadt nach Brant und mir ausgefragt haben. Auch über Nathan wurde so viel wie möglich herauszufinden versucht. Den Mann, der nach seiner Tat von der Party flüchten wollte. Ich erinnere mich noch an die Geschichte über seinen verstorbenen Hasen und die Schlagzeile dazu.

Nathan Dawson: Hat die kriminelle Energie schon immer in ihm gesteckt?

Sie haben ihm unterstellt, sein Haustier getötet zu haben, während Brant zu einem Heiligen erhoben wurde. Aber ich wusste damals wie auch heute, dass er kein Heiliger war und auch kein perfektes Leben hatte. Brant war einfach nur Brant, einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Oft wollte er nicht darüber reden, aber in manchen Nächten, in denen wir stundenlang auf dem kleinen Vordach vor meinem Zimmerfenster saßen, hat er angefangen zu erzählen. Von seinem Vater, der ihn dazu drängte, später einmal die Kanzlei zu übernehmen. Seiner Mutter, die ihren Stress auf der Arbeit mit zu viel Rotwein bekämpfte. Und dann war da auch noch Clara gewesen, seine kleine Schwester und das Prinzesschen der Familie, die ihm manchmal den letzten Nerv geraubt hatte.

Mit niemandem konnte ich so viel Spaß haben, aber auch so gut diskutieren wie mit ihm. Wenn ich Angst hatte, irgendetwas zu tun, hat er so lange nachgebohrt, bis ich über meinen Schatten gesprungen bin. Er war mein Antrieb, und ich war diejenige, zu der er kam, wenn er den Druck seiner Eltern wieder einmal nicht ausgehalten hat.

»Was denkt Joe sich bloß dabei?« Sarahs Frage reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich weiß genauso wenig eine Antwort darauf wie sie.

»Lass uns gehen«, sage ich schließlich. »Du kannst gern noch hierbleiben, aber ich muss hier raus.«

»Machst du Witze?« Sie sieht mich entgeistert an. »Wir holen die Jungs, und dann verschwinden wir von hier.« Ein entschlossener Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht. »Dawson kann froh sein, wenn die beiden ihn nicht vor die Kneipe zerren und verprügeln.«

»Wem würde das etwas nützen?« Ich schüttle den Kopf und folge Sarah aus den Toiletten. »Am Ende bekommen Jack und Peter noch eine Anzeige wegen Körperverletzung.«

Und ganz abgesehen davon kann ich mir Peter wirklich nicht in einer Schlägerei vorstellen. Jack durchaus, er ist kräftig genug dafür und kann es mit Leichtigkeit mit einem potenziellen Gegner aufnehmen. Aber das bedeutet nicht, dass ich von ihm verlangen würde, sich zu prügeln. Vor allem nicht mit Nathan Dawson.

Als wir zurück in die Bar treten, ist nichts mehr von ihm zu sehen. Die Bühne liegt verlassen vor uns, und es wirkt nicht so, als hätte vor Kurzem noch jemand darauf gestanden und Gitarre gespielt. Wenn ich Glück habe, ist Nathan bereits gegangen. Wenn nicht, dann lungert er hier noch irgendwo herum. Zum Zerbersten angespannt, folge ich Sarah zu Jack und Peter und scanne dabei aus den Augenwinkeln die ganze Kneipe durch. Keine Spur von Nathan. Und ich bin mir nicht sicher, ob mich das erleichtert oder beunruhigt.

Es schneit schon wieder, als ich am nächsten Morgen meinen Dienst im Wild Lily’s antrete. Graue, schwere Wolken hängen über Sterling, und ich beeile mich, den kleinen Laden zu betreten, in dem ich die nächsten sechs Stunden verbringen werde. Noch habe ich keine Vorlesungen und deshalb meine Kollegin, die gleichzeitig auch meine Chefin ist, gebeten, mir ein paar zusätzliche Schichten zu geben. Über mir ertönt das melodische Läuten einer kleinen Glocke und kündigt mein Erscheinen an. Alice steht hinter dem Tresen und schaut von den Blumen auf, die sie in ihrer Hand hält und gerade zu einem Strauß anordnet.

»Mia, hey.« Sie lächelt und setzt unbeirrt ihre Arbeit fort.

Kurz lasse ich meinen Blick umherschweifen. Ich liebe das Wild Lily’s. Alice hat den Laden nach ihrer verstorbenen Großmutter Lilian benannt und ihn genau so eingerichtet, wie es ihr gefallen hätte. Die großen Vasen, in denen sich die Schnittblumen befinden, sind alt und verschnörkelt, der Holztresen mit der Kasse ist an den Seiten mit kunstvollen Schnitzereien verziert, und die Tische und Hocker, auf denen Gestecke und bunte Sträuße verteilt sind, hat sie in Antiquariaten zusammengesammelt und selbst restauriert. Das Lily’s ist eigentlich viel zu vollgestopft. Aber genau das macht seinen Charme aus.

Außer Alice ist niemand im Laden, und ich husche nach einer kurzen Begrüßung an ihr vorbei in den Personalbereich, um meine Jacke, die Tasche und den Regenschirm abzulegen. Als ich zurückkomme, trage ich eine dunkelgrüne Schürze über meinen Klamotten und habe meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Uniform ist der einzige Nachteil an meinem Job. Grün steht mir nämlich überhaupt nicht. Einzig die kleine gestickte Lilie auf der aufgenähten Schürzentasche ist süß.

»Was kann ich tun?«, frage ich Alice und greife nach einem Wischer, um den Boden zu trocknen. Wegen des Schnees sind die Fliesen an manchen Stellen glitschig, und ich möchte nicht, dass jemand ausrutscht. Bevor sie mir antworten kann, ertönt die Glocke, und ich blicke auf.

»Hallo«, begrüße ich den neuen Kunden, stelle mein Putzzeug beiseite und streife meine Hände einmal an der Schürze ab. »Was kann ich für Sie tun?«

Der ältere Herr erzählt mir, dass er seine Ehefrau überraschen möchte und Hilfe bei der Auswahl passender Blumen braucht.

»Ich könnte Ihnen einen klassischen Rosenstrauß binden«, beginne ich und deute auf eine Vase voll roter Rosen, das universelle Symbol für Liebe und Leidenschaft. »Damit können Sie nichts falsch machen«, versichere ich ihm.

Ich nehme ein weißes und rosafarbenes Exemplar in die Hand. »Wenn Sie etwas Zarteres wollen, können wir auch diese Farben hier mischen. Rosa steht für Schönheit und Weiß für Treue.«

Alice hat mir viel beigebracht, seit ich bei ihr arbeite. Ich kenne die Bedeutung aller gängigen Arten und bin inzwischen gut darin, entsprechende Blumen und Gestecke für jeglichen Anlass zusammenzustellen. Es macht mir Spaß, mir immer neue Kreationen zu überlegen.

»Weiße Nelken wären noch eine Idee. Sie stehen ebenfalls für Treue. Genau wie Tulpen. Oder vielleicht bunte Gerbera?« Ich zeige ihm auch diese Sorten und beantworte ausführlich all seine Fragen. Ich mag es, dass er so interessiert ist und mir keine Zeit zum Nachdenken lässt. Bis wir bei den weißen Callas ankommen. Den Trauerblumen.

Bevor ich ihm auch deren Bedeutung erklären kann, geht er zurück zu den Rosen und bittet mich um eine bunte, fröhliche Mischung. »Meine Frau liebt Farben«, sagt er.

»Dann werden wir ihr diesen Wunsch erfüllen«, erwidere ich und ziehe ein paar der Blumen hervor. »Wie viele hätten Sie denn gern?«

»Fünfzehn? Oder ist das zu viel?«

»Nein, das ist kein Problem.« Ich drehe mich um und zähle weitere Rosen aus der großen Ausstellungsvase ab. »Mit Grün drum herum? Und ein bisschen hiervon?« Ich deute auf handtellergroße, saftige Blätter, die sich gut zum Fixieren der Blumen eignen.

Der Mann nickt, und ich bitte ihn, kurz zu warten. Mit den Rosen in der Hand verschwinde ich in den angrenzenden Raum im hinteren Teil des Ladens, wo ich anfange, sie zusammenzubinden. Hier hat Alice einen großen Tisch aufgestellt, unter dem sich unzählige Vasen mit grünen Pflanzenteilen befinden, die zur Dekoration der Sträuße genutzt werden. Meine Hände vollführen mittlerweile jede Bewegung automatisch. Es ist kein Problem mehr für mich, Blumen so zu sortieren, dass der Strauß am Ende gut aussieht. War der Nebenjob zu Beginn meines Studiums als reines Mittel zum Zweck gedacht, ist er im Laufe der Zeit zu einer Leidenschaft geworden, von der ich nicht gewusst habe, dass sie in mir schlummert.

Normalerweise würde ich zu lange Stängel abzwicken und ein Band zur Fixierung darumbinden, ohne darüber nachdenken zu müssen, doch an diesem Morgen will es mir nicht gelingen. Es ist Monate her, dass ich einen Strauß noch einmal von Neuem binden musste, weil ich einfach nicht zufrieden damit war. Allem Anschein nach ist nun mal wieder so ein Moment. Meine Finger zittern, als ich Blume für Blume in etwas Grünzeug einarbeite und arrangiere.

Ich weiß genau, warum es mir heute so schwerfällt, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Die Callas haben mich an Brants Grab erinnert und unweigerlich dazu geführt, dass ich an seinen Tod und damit an Nathan denken muss. Seit ich ihn gestern Abend auf dieser Bühne gesehen habe, habe ich Magenschmerzen. Es fühlt sich an, als hätte ich die Kontrolle verloren, und das gefällt mir nicht. Ich will nicht, dass er zurück ist. Ich will nicht einmal in derselben Stadt wie er sein. Und vor allem will ich nicht, dass er sich wieder in meinen Kopf schleicht.

»Fuck.« Ich habe so energisch an einem der Rosenstängel gezogen, dass mir die Blüte abgefallen ist. Ergeben lasse ich den halb fertigen Strauß sinken und besorge mir aus dem Lager ein neues Exemplar. Dann beginne ich zum dritten Mal mit dem Binden.

Meine angekündigten fünf Minuten überschreite ich um Längen, bis ich mit einem Strauß zurückkomme, der meinen Ansprüchen genügt und den ich guten Gewissens verkaufen kann. Der ältere Herr steht noch genauso da, wie ich ihn verlassen habe. Er scheint tief in Gedanken versunken zu sein und bemerkt mich zunächst nicht. Vielleicht hat er etwas angestellt und die Blumen sind eine Art Entschuldigung für seine Frau. Er nimmt mich erst wieder wahr, als ich vor ihm stehen bleibe und ihm den Strauß entgegenhalte.

»Okay so?«, frage ich und drehe die gebundenen Blumen sorgfältig hin und her. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Alice in unsere Richtung blickt und anerkennend nickt. Ihr gefällt mein Werk.

Der Mann bejaht. »Sehr schön, vielen Dank.«

»Gern.« Ich bemühe mich um ein Lächeln, obwohl mir nicht danach ist. »Dann … packe ich ihn mal ein, in Ordnung?«

Er nickt, und ich reiße hinter dem Tresen ein großes Stück Papier von der Rolle und wickle die Blumen darin doppelt ein, um zu verhindern, dass sie bei der Kälte kaputtgehen. Zum Schluss befestige ich unsere Visitenkarte mit einem Tacker daran und lege den eingepackten Strauß vorsichtig neben der Kasse auf der Theke ab.

Nachdem er bezahlt und ich ihm einen schönen Tag gewünscht habe, verlässt er den Laden. Doch bevor die Tür hinter ihm wieder zuschlagen kann, kommt ein halber Schneemann hereingestapft. Offensichtlich ist das Wetterchaos draußen immer heftiger geworden.

»Hey, was machst du denn hier?«, frage ich und lache, während ich Jack dabei zusehe, wie er sich von den dicken Flocken zu befreien versucht. Auch Alice kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Hallo, Jack«, sagt sie und nickt ihm zu. Sie ist mittlerweile damit beschäftigt, die neuen Blumensträuße im Schaufenster zu arrangieren. Wie immer macht sie eine Wissenschaft daraus, aber ich muss zugeben, dass sie ein Händchen dafür hat.

»Alice.« Er tippt sich an den nicht vorhandenen Hut, ehe er sich wieder mir zuwendet.

Abwartend schaue ich ihn an.

»Wie geht es dir?«, fragt er, und ich weiß intuitiv, dass mehr hinter seinen Worten steckt als nur das Interesse an meinem Wohlbefinden. Er spielt auf gestern Abend an. Sarah ist vor mir bei ihm und Peter angekommen, und bis ich dazugestoßen war, wussten sie beide schon Bescheid. Ohne zu zögern, haben sie mit uns das Joe’s verlassen. Ich bin Jack dankbar, dass er keine weiteren Fragen gestellt hat.

»Gut«, antworte ich automatisch und senke den Blick. Wir wissen beide, wie gelogen das ist.

»Mia …«, beginnt er, doch ich unterbreche ihn sofort.

»Es geht mir … den Umständen entsprechend, okay?« Ich spreche leise, damit Alice nichts von unserer Unterhaltung mitbekommt.

Obwohl ich sie mag und wir uns gut verstehen, habe ich ihr nie erzählt, dass ich mit Brant befreundet bin. Befreundet war. Ich brauche einfach einen Ort in meinem Leben, an dem ich nicht jede Ecke mit ihm in Verbindung bringe. Und das Wild Lily’s ist ein Laden, in dem wir nie gemeinsam waren. Ganz im Gegensatz zu Jack und mir. Er hat mich schon unzählige Male hier besucht, macht immer wieder neue Fotos für die Homepage und ist im Laufe der Zeit eine Art Stammkunde geworden. Nämlich immer dann, wenn Alice ihn rauswerfen will, weil er nicht vorhat, etwas zu kaufen. An diesen Tagen gehe ich meistens mit einem Strauß loser Blumen nach Hause, die Jack bezahlt hat.

»Wenn du willst, frage ich Joe nach ihm und finde heraus, warum er …«

»Nein«, lehne ich entschieden ab und streiche mit den Händen ein paar imaginäre Krümel von der Fläche neben der Kasse. »Das musst du nicht tun. Es ist nicht wichtig, warum Joe ihn singen lässt. Vielleicht war es auch nur eine einmalige Sache.«

Ein Blick in Jacks Gesicht verrät mir unmissverständlich, dass er mir nicht glaubt.

»Oder er weiß überhaupt nicht, wer Nathan wirklich ist«, gibt er zu bedenken. »Wenn er ihm einen falschen Namen genannt hat, kann Joe keine Verbindung zu Brant ziehen.«

»Meinst du?« Daran habe ich bisher nicht gedacht. Es könnte eine Erklärung sein, denn ich gehe nicht davon aus, dass Joe tatsächlich einen vorbestraften Ex-Häftling auftreten lassen würde.

»Es wäre möglich, oder? Ich kann mich umhören.« Jack ist der Sohn der Bürgermeisterin und in Sterling bekannt wie ein bunter Hund. Wenn jemand etwas über Nathans Rückkehr in Erfahrung bringen kann, dann er.

Ich merke, wie ich nicke. »Okay. Das wäre toll. Danke.«

»Nichts zu danken«, entgegnet er, und ein sanftes Lächeln lässt seine Gesichtszüge weich werden. Es steht ihm.