The Others - Sie wollen dein Blut - Jess Haines - E-Book

The Others - Sie wollen dein Blut E-Book

Jess Haines

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Beschreibung

Blut geleckt?

Das waren noch schöne Zeiten, als Shiarras einziges Problem darin bestand, ihr New Yorker Detektivbüro zu führen. Seit sie unfreiwillig zur Vampirjägerin befördert wurde, haben es gleich zwei der blutrünstigen Kreaturen auf sie abgesehen. Shiarra kämpft mit allen Mitteln — doch als ein übermächtiger Gegner sie auf die Seite ihrer Feinde zwingt, beginnen die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Hass zu verschwimmen …

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Jess Haines| The Others: Sie wollen dein Blut

Jess Haines im Gespräch

Wie sind Sie auf die Idee zu der Urban Fantasy Reihe The Others gekommen?

Eigentlich hatte ich gerade eine High-Fantasy-Geschichte zu Ende gebracht, die mich richtig gequält hat. Ich hatte alles bis ins kleinste Detail geplant, mit Aufzeichnungen, Entwürfen und Diagrammen. Ich wollte ein episches Werk schreiben, das in die Annalen der Fantasy eingehen würde, ein Opus Magnum! Stattdessen war es leider ziemlich schlecht. Also habe ich es zur Seite gelegt und beschlossen, dass ich etwas ganz anderes machen muss. Und dann ist mir auf einmal alles förmlich zugeflogen.

Ihre Hauptfigur ist Shiarra Waynest, eine Privatdetektivin, die unversehens in den Kampf der Mächte gerät. Können Sie uns sagen, wie Shiarra tickt? Und wie genau wird ihr Name eigentlich ausgesprochen?

Ganz einfach: »Schie – ah – raa«. Shiarra ist eine unkomplizierte, junge Frau. Sie mag es, mit ihren Freunden abzuhängen und Kaffee trinken zu gehen. Sie wollte schon immer etwas anderes und ein bisschen Verrücktes machen, um ihrer Familie zu beweisen, dass sie genauso erfolgreich sein kann, wie ihre beiden Brüder, ein Feuerwehrmann und ein Anwalt. Als sie in die Machenschaften des Circle verstrickt wird, muss sie einige harte Entscheidungen treffen und wird mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert …

Über die Autorin

Jess Haines arbeitete als Drehbuchautorin und Redakteurin und schrieb Kurzgeschichten, bevor sie mit The Others: Sie sind unter uns ihren ersten Roman veröffentlichte. Die gebürtige New Yorkerin lebt heute in Los Angeles. The Others: Sie wollen dein Blutist der zweite Band um Privatdetektivin Shiarra Waynest, der auch unabhängig vom ersten Teil gelesen werden kann.

The Others Sie wollen dein Blut

Jess Haines

The Others

Sie wollen dein Blut

Roman

Aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

Taken by the Others bei ZEBRA Books, New York

Deutsche Erstausgabe 08/2011

Copyright © 2011 by Jess Haines

Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP.,

New York, NY, USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion | Kathrin Stachora

Herstellung | Helga Schörnig

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-05719-0

www.diana-verlag.de

Kapitel 1

Normalerweise halten mir die Leute keine Waffen unter die Nase – oder überhaupt nur in meine Richtung. Ich bin Privatdetektivin, also weiß ich genau, dass zumindest ein paar Menschen mit dem Gedanken gespielt haben, mich zu erschießen, nachdem ich ihre illegalen Aktivitäten wahlweise meinen Klienten oder den Cops gemeldet hatte. Aber in den Lauf einer Fünfundvierziger zu schauen stellte eine neue Erfahrung für mich dar.

»Jack, können wir uns vielleicht ohne die Pistole unterhalten?«

Jack sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, schlank, mit kurz geschorenem blonden Haar und den kältesten Augen, in die ich jemals geblickt hatte. Die langen Ärmel seines Flanellhemdes waren bis über die Ellbogen aufgekrempelt, und am Hals stand es offen, sodass er leicht sein Schulterholster erreichen konnte. Er ist adrett, sieht aus wie das Covermodel eines spießigen Männermagazins und ist total verrückt. Er gehört zu einer extremistischen Gruppierung von bürgerwehrartigen Jägern, die sich selbst »Die Weißhüte« nennt.

Er verzog seine dünnen Lippen zu einem höflichen Lächeln, aber in der leeren Maske seines Gesichts zeigte sich kein echtes Gefühl. Ich hoffte inständig, dass er nur wieder eine seiner irren Verängstigungstaktiken einsetzte. Im Moment bereute ich zutiefst, dass meine eigenen Pistolen in meinem Schlafzimmer am anderen Ende der Stadt lagen. Dort halfen sie mir wirklich weiter! Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass unsere Empfangsdame die Klienten von nun an filzte, bevor sie in mein Büro durften.

»Shiarra, ich bin tief enttäuscht. Ich habe dir diverse Einladungen hinterlassen, für uns zu arbeiten. Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet? Bist du Royce nach dem kleinen Debakel in diesem Frühling verfallen?«

Das schon wieder! Vor ein paar Monaten hatte ich einen Job angenommen, von dem ich verdammt noch mal hätte wissen sollen, dass es besser gewesen wäre, die Finger davon zu lassen. Aber wenn das Geschäft gerade untergeht und jemand einem eine Menge Geld anbietet, begeht man manchmal ziemliche Dummheiten. Zum Beispiel einen Job anzunehmen, bei dem man ein mächtiges Artefakt finden soll, das ein Vampir vor einer Gruppe von Magiern versteckt. Ich nehme an, man könnte es selbstmörderisch nennen, so einen Job anzunehmen. Inzwischen bezeichne ich es nur noch als schlechte Geschäftsentscheidung.

»Nein, ich habe Royce seit dem Kampf in seinem Restaurant nicht mehr besucht.« Eine kleine Notlüge konnte nicht schaden. Er war zu mir gekommen, nicht andersherum. Ich ging Royce angestrengt aus dem Weg, seitdem er mich am Tag meiner Krankenhausentlassung besucht hatte, um sich zu entschuldigen und sich auf seine ganz eigene Art dafür zu bedanken, dass ich ihm den Arsch gerettet hatte. »Hör zu, ich mache solche Scheiße nicht mehr! Einmal war mehr als genug.«

»Du hast Klienten angenommen, Aufträge von Übernatürlichen, seitdem du wieder gesund bist. Du hast starke Verbindungen zu den zwei mächtigsten Werwolfrudeln in New York City. Du bist an den einflussreichsten Vampir des Staates gebunden. Wir brauchen deine Kompetenz und deine Kontakte.«

Der einzige Grund dafür, dass die Moonwalker-Sippe etwas mit mir zu tun hatte, war, dass ich sie genauso wie Royce vor einem machthungrigen Zauberer gerettet hatte. Sie schuldete mir etwas. Der einzige Grund dafür, dass die Sunstriker-Sippe etwas mit mir zu tun hatte, lag darin, dass der Anführer des Rudels mein Freund war. Abgesehen davon und von einem gelegentlichen (ungefährlichen) Auftrag bemühte ich mich, meine Verbindungen zu allen Gestalten mit Pelz oder Reißzähnen so weit wie möglich einzuschränken.

Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, während ich darüber nachdachte, wie zum Teufel ich Jack aus meinem Büro schaffen und dafür sorgen konnte, dass er seine Knarre mitnahm. Er hatte es schon einmal mit dieser Taktik versucht. Ich fragte mich, warum er nie darauf gekommen war, dass mit einer Waffe vor jemandem herumzuwedeln keine schlaue Idee darstellte, um denjenigen dazu zu bringen, für längere Zeit mit ihm zusammenzuarbeiten. »Du weißt, dass ich Vampire nicht mag. Ich habe auch mit Werwölfen nicht mehr viel zu tun. Ich nehme keine Aufträge an, die irgendetwas mit dem Übernatürlichen zu tun haben, egal, was die Zeitungen über mich behaupten.«

»Du besitzt die Ausrüstung und die Kontakte, um als Jägerin zu arbeiten.« Er runzelte die Stirn. »Wir brauchen dich. Ich werde nicht zulassen, dass du zu ihnen überläufst – dich auf ihre Seite schlägst!«

»Hey, wer hat das denn behauptet?«

Er kniff die Augen zusammen, und etwas, das ich nicht deuten konnte, flackerte in seinem Blick auf. »Es gibt einen neuen Mitspieler. Es wird von ihm oder Royce abhängen. Oder von uns.«

Ich starrte ihn verständnislos an. »Wer?«

»Man hört auf der Straße, dass Max Carlyle in die Stadt kommen wird.« Er starrte erwartungsvoll zurück.

Schweigen. Nachdem er nicht weitersprach, hakte ich nach. »Und das ist wer?«

»Du weißt es wirklich nicht?«

»Würde ich fragen, wenn ich es wüsste?«

Er grinste; das Strahlen seiner weißen Zähne in dem bleichen Gesicht war beunruhigend. Raubtierartig. Den Dingern zu ähnlich, die er jagte – Vampiren.

»Sieh an, sieh an! Ich würde dir nur ungern die Überraschung verderben.« Er rieb sich mit einer Hand das glatt rasierte Kinn, während er mich weiter anstierte. Nach einem langen Moment des Schweigens hob er die Waffe, sicherte sie und schob sie wieder in das Holster unter seinem Hemd. »Ms. Waynest, wieder einmal muss ich mich für meine Methoden entschuldigen. Unglücklicherweise bringt Ihr Ruf mich dazu, mir Sorgen darüber zu machen, wie man sicherstellen kann, dass Sie auf der richtigen Seite spielen.«

Wenn jemand in mein Schlafzimmer einbrach, um mir dann ein Messer an die Kehle zu halten, löste das nicht gerade wohlige Gefühle in mir aus, und mir mitten am Tag mit einer Pistole zu drohen war auch nicht besser. Ich hoffte, dass meine Miene eher neutral als angesäuert wirkte, aber letztendlich war es mir egal.

»Also, zum letzten Mal – ich will nichts mit den Others zu tun haben. Ich rede nicht mit Royce, es kümmert mich einen Dreck, was die Weißhüte treiben, und ich habe nicht vor, mit Wesen zu spielen, die mich zum Frühstück verspeisen könnten. Ich bin Privatdetektivin, und das war’s. Jemand ist verschwunden? Du denkst, dass deine Freundin dich betrügt? Super! Ich werde ihn suchen oder sie beschatten. Aber ich werde mich nicht«, ich lehnte mich über meinen Schreibtisch und wedelte drohend mit einem Finger in seine Richtung, »dazu zwingen lassen, mich noch mal mit Vampiren oder Werwölfen zu beschäftigen. Einmal fast zu sterben reichte. Du kannst mir einfach nicht genug zahlen, um mein Leben in Gefahr zu bringen. Nicht noch mal.«

»Oh, machen Sie sich mal keine Sorgen, Ms. Waynest! Sie werden früh genug bei Ihnen auftauchen. Und sobald sie das tun, wirst du zu uns gerannt kommen und um Hilfe betteln.«

Ich stand auf, und Furcht zog mir eine kalte Spur über den Rücken, während ich gleichzeitig richtig sauer wurde. Ich zeigte auf die Tür. »Raus aus meinem Büro! Halt dich von mir fern!«

Jack öffnete die Tür und schlenderte mit einem kühlen, arroganten Lachen hinaus. Ich starrte ihm böse hinterher, bis seine Silhouette hinter den Milchglasscheiben unserer Eingangstür nicht mehr zu erkennen war.

Jen drehte sich auf ihrem Stuhl, um mit weit aufgerissenen Augen durch ihre Brille in meine Richtung zu schauen. »Jesses, Shia, was war das denn?«

Ich schüttelte den Kopf und ging um meinen Schreibtisch, um die Tür zu schließen. »Nichts. Aber wenn er zurückkommt oder noch einmal versucht, einen Termin auszumachen, dann bin ich nicht im Büro. Nein, ich bin sogar außer Landes!«

Sie zuckte mit den Achseln, murmelte etwas und drehte sich wieder weg, um weiter den Papierstapel vor sich zu bearbeiten. Ich starrte noch lange Zeit auf die Milchglastür mit der goldenen Inschrift H&W-Ermittlungen, obwohl Jack längst verschwunden war.

So wütend ich auch war, überwiegend hatte er mir Angst eingejagt. Oder vielleicht hatte es mir Angst gemacht, dass er behauptet hatte, die Others würden mich suchen kommen. Zur Hölle, ich fand, ich durfte ein wenig verunsichert sein, nachdem jemand mir mit einer Pistole vor dem Gesicht herumgefuchtelt hatte! Irritiert und besorgt drehte ich mich um und rief über meine Schulter: »Keine Anrufe! Wenn jemand nachfragt, bin ich schon nach Hause gegangen.« Dann schloss ich die Tür.

Ich musste in Bezug auf diesen Max Carlyle vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Ich ging zu meinem Schreibtisch, setzte mich in den quietschenden Bürostuhl und rollte nach vorn, um ganz hinten in der obersten Schublade graben zu können. Nachdem ich eine Ansammlung von alten Post-its, Büroklammern, Stiften und Zetteln durchwühlt hatte, fand ich schließlich das ledergebundene Notizbuch, in dem ich geschäftliche Visitenkarten aufbewahrte.

Ich blätterte durch die Seiten, bis ich die Visitenkarte von A. D. Royce Industries fand. Darauf standen alle Informationen, die ich brauchte, um Alec Royce zu kontaktieren, den Vampir, dem ich seit mehreren Monaten bestmöglich aus dem Weg ging. Denjenigen, an den ich vertraglich gebunden war, der mir Einladungen zu Theaterabenden geschickt hatte, die – zumindest vermutete ich das – noch zu ganz anderem führen sollten. All das hatte ich konzentriert ignoriert – bis jetzt.

Durch das Fenster hinter meinem Schreibtisch fiel immer noch Sonnenlicht, aber ich nahm an, dass ich eine Nachricht hinterlassen konnte, falls er nicht dranging. Ich schnappte mir mein Handy, zog die Karte aus ihrer kleinen Plastikhülle und wählte die handgeschriebene Nummer auf der Rückseite.

Ich klemmte mir das Telefon zwischen Kopf und Schulter und richtete meine Augen auf das gerahmte Foto von Chaz und mir, das auf dem Schreibtisch stand. Wir lehnten zusammen am Ende des Piers von Greenport, und er hatte seine Arme um mich geschlungen. Während ich auf den Klingelton lauschte und schließlich ein Klicken hörte, versuchte ich, nicht darüber nachzudenken, was Chaz dazu sagen würde, dass ich den Vamp anrief. »Sie sind verbunden mit dem Anrufbeantworter von Alec Royce. Ich bin momentan nicht da, aber wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, werde ich gerne zurückrufen.«

Diese milde, freundliche Stimme verursachte mir eine Gänsehaut, schlimmer als alles, was Jack gesagt oder getan hatte. Wollte ich den Vampir wirklich noch einmal kontaktieren? Auch wenn wir sozusagen keine Feinde mehr waren, handelte es sich vielleicht nicht um eine besonders gute Idee. Vielleicht würde er den Grund für meinen Anruf in den falschen Hals bekommen. Ich schluckte schwer und zögerte noch ein wenig länger, bis mir aufging, dass ich ja eine Nachricht hinterlassen sollte und ein paar Worte hervorpresste.

»Ja, Mr. Royce … ähm, hier ist Shiarra Waynest. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Es könnte sein, dass ich bei etwas Ihre Hilfe benötige.« Ich hinterließ ihm meine Handynummer und wollte schon auflegen, dann zögerte ich kurz und sagte schließlich: »Danke.«

Ich legte auf und fragte mich, ob ich das Richtige getan hatte. Zur Hölle und zurück – ich brachte mich wieder in Gefahr, indem ich Kontakt zu ihm aufnahm! Aber trotzdem musste ich wissen, wer Max Carlyle war und was für eine Art von Gefahr er darstellte. Nachdem Jack eigens Royce erwähnt hatte, als er über Max sprach, hoffte ich darauf, dass Royce irgendeine Idee hatte, was vor sich ging. Schließlich war er ein alter einflussreicher Vampir. Er verfügte über jede Menge Kontakte, die ihn vorzeitig informierten, wenn jemand es auf ihn abgesehen hatte oder etwas plante, das Einfluss auf ihn oder seinen Besitz haben konnte. Zumindest so viel wusste ich durch meine bisherigen Erfahrungen mit ihm.

Je nachdem, was Royce mir mitteilte, würde ich mich vielleicht für ein paar Tage bedeckt halten oder die Stadt verlassen müssen. Oder auch für ein paar Monate. Was auch immer ich tun musste, um meinen Arsch zu retten.

Kapitel 2

Ich blieb lange im Büro. Sara, meine Geschäftspartnerin, befand sich bis Sonntag nicht in der Stadt. Jen war schon vor Stunden nach Hause gegangen. Das Büro war dunkel, und das einzige Licht kam von einer Lampe, welche die Bilder beleuchtete, die ich auf meinem Schreibtisch verteilt hatte. Da es Freitag war, hatte ich vor, mich mit meinem Freund zu treffen, aber erst später, wenn ich die Arbeit erledigt hatte. Chaz würde gegen acht Uhr in meine Wohnung kommen und Abendessen mitbringen. Bis dahin wollte ich mich beschäftigt halten, statt herumzusitzen und mir Sorgen um das große böse Monster zu machen, das diesmal in die Stadt geschneit kam.

Die Bilder vor mir waren in Serien angeordnet und sorgfältig neben einer Inventarliste aufgereiht. Eine Versicherungsagentin hatte mich angerufen, um gegen einen ihrer Kunden zu ermitteln. Jeremy Pryce behauptete, das Lagerhaus seiner Firma, in dem ein großer Posten Designerkleidung gelagert gewesen war, wäre bei einem unverschuldeten Brand zerstört worden. Die Brandermittlung hatte den Fall mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass während eines Gewitters eine defekte Elektroleitung Funken gesprüht und damit das gesamte Gebäude in Flammen gesetzt hatte.

Die Agentin, Cheryl Benedict, war davon überzeugt, dass Pryce das Feuer irgendwie gelegt hatte. Ich wusste nicht, wer ihr den Tipp gegeben hatte, aber sie hatte recht. Die Bilder vor mir hatte ich in den letzten zwei Wochen aufgenommen, und sie zeigten Mr. Pryce dabei, wie er verschiedenen schönen Frauen etwas schenkte – Frauen, bei denen es sich definitiv nicht um seine Ehefrau handelte. Es überraschte wenig, dass die Geschenke aus Kleidung – Designerstücken, um genau zu sein – bestanden. Viele passten genau zu der Inventarliste des Lagerhauses, das vor zwei Monaten mit angeblich allem darin abgefackelt war.

»Erwischt!« Ich grinste und markierte sorgfältig alles auf der Liste, was angeblich zerstört worden war, jetzt aber auf den Fotos auftauchte.

Mein Telefon fing an, Beethovens Fünfte zu spielen, als ich ungefähr die Hälfte der Arbeit erledigt hatte. Ein unbekannter Anrufer.

Ich hob ab, sah aus dem Fenster und bemerkte, dass die Sonne schon fast untergegangen war. Die letzten Strahlen überzogen alles mit einem goldenen Schimmer und erzeugten tiefe Schatten zwischen den Gebäuden.

»Hallo?«

»Ms. Waynest.« Royce’ Stimme hörte sich glatt und freundlich an. »Sie haben ein bestechendes Zeitgefühl. Ich fing schon an zu glauben, dass Sie mir aus dem Weg gehen.«

Ich wand mich. Himmel, wie scharfsichtig von ihm! Ich biss mir auf die Zunge, um mich davon abzuhalten, es laut auszusprechen. War es nicht viel zu früh für ihn, um schon wach zu sein? »Ein kleiner Vogel hat mir heute ins Ohr geflüstert, dass jemand in die Stadt kommen wird, der uns beide interessiert. Wissen Sie etwas darüber?«

Er lachte leise, und das klang gleichzeitig reizvoll und furchtbar. Etwas Böses sollte nicht so wunderbar klingen. »Ich nehme an, jemand hat Ihnen von Max Carlyle erzählt?«

»Ja. Wer ist er?«

»Niemand, über den man am Telefon spricht. Ich werde Ihnen alles Nötige sagen, wenn Sie sich mit mir treffen.«

Oh-oh! »Wissen Sie was, das war ein Fehler. Ist egal. Ich werde es selbst herausfinden.«

Bevor er noch etwas erwidern konnte, legte ich auf und schaltete dann mein Handy aus. Vampire waren manipulative Bastarde, und Royce war der schlimmste unter ihnen. Er machte kein Geheimnis aus seinem Interesse an mir, obwohl er wusste, dass ich einen Freund hatte. Noch übler: Royce hatte mich dazu gezwungen, einen von diesen Verträgen zu unterschreiben, sodass er jetzt legal mein Blut trinken, mich in einen Vampir verwandeln oder umbringen konnte, ohne gerichtliche Folgen befürchten zu müssen. Alles wunderbare Gründe dafür, mich so weit wie möglich von ihm fernzuhalten.

Das einzig Gute an diesem Vertrag bestand darin, dass er so formuliert war, dass ich ihn ebenfalls verletzen oder umbringen konnte, sollte es so weit kommen. Meine Partnerin Sara hatte mir dabei geholfen. Nur gab es da das Problem, dass ich mir keineswegs sicher war, dass ich ihn ohne Hilfe verletzen oder töten konnte. Aber wahrscheinlich sollte ich mich nicht beschweren. Die meisten Verträge boten solche Freiheiten überhaupt nicht, und die Menschen, die sie unterschrieben hatten, steckten in der schrecklichen Situation, vonseiten ihres Herrn mit dem Tod – oder Schlimmerem – bedroht zu werden. Wenn sie versuchten, sich zu wehren, weil sie beschlossen hatten, dass sie die Rolle des Mitternachtshäppchens nicht mehr ausfüllen wollten, konnten sie sich auf Gefängnis und eine heftige Geldbuße einstellen.

Manche Leute (also jeder außer mir) wären davon begeistert, in meiner Lage zu sein, nachdem es sich bei Alec Royce um einen der prominentesten Vampire der Vereinigten Staaten handelt. Er hat eine Machtposition inne, die den größten Teil von New York, New Jersey und Connecticut einschließt. Jeder Vampir in seinem Territorium muss seine Erlaubnis einholen, bevor er sich auch nur schnäuzen darf. Okay, vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, aber sie müssen seine Erlaubnis einholen, wenn sie außerhalb ihres Reviers jagen, jemanden in einen Vampir verwandeln oder irgendetwas anderes tun wollen, das man als Machtgewinn auslegen könnte. Er überwacht alle Grundstückskäufe und -verkäufe und auch alles, was sonst an Wertvollem gehandelt wird. Und natürlich besitzt er auch eine Reihe der angesagtesten Nachtclubs und Restaurants der Stadt. Es gibt wahrscheinlich noch andere Geschäfte, bei denen er mitmischt, aber in der Öffentlichkeit ist er für seine Clubs und Restaurants bekannt.

Royce veröffentlicht sogar einen Terminkalender auf seiner Webseite, auf dem man ablesen kann, wann er selbst sich in seinen verschiedenen Restaurants aufhält. Ja, ein Vampirpromi mit Webseite, was für ein Novum! Bei unserem ersten Kontakt hatte ich das benutzt, um ihn aufzuspüren. Jetzt benutzte ich es, um ihm aus dem Weg zu gehen, wenn ich in der Clubszene unterwegs sein musste, um nach betrügerischen Freunden oder zwielichtigen Geschäftspartnern zu suchen.

Manch ein Verrückter, wie zum Beispiel Jack der Weißhut, benutzte das sicherlich, um nach Wegen zu suchen, ihn in eine Ecke zu drängen und zu verletzen. Die Polizei beschützte die Others in den letzten Jahren besser und griff hart gegen übereifrige Gruppen wie die Weißhüte durch. Zusätzlich hatten Royce und ein paar andere Übersinnliche diejenigen mit Prozessen überzogen, die sie angriffen oder diskriminierten, und hatten damit so wunderbare Weißhut-Beschäftigungen wie Geschäfte-Niederbrennen, Aufstände, Prügelattacken und sogar Mord weiter eingegrenzt. Das hielt natürlich nicht alle auf, aber langsam beruhigten die Dinge sich, und die Anti-Others-Bewegungen wirkten nach und nach schlimmer als die Kreaturen, die sie so sehr hassten.

Manchmal lieferten die Others der menschlichen Bevölkerung auch gute Gründe, Angst vor ihnen zu haben. Trotz ihrer Natur besaßen sie jetzt Rechte und konnten wie jeder andere auch hocherhobenen Hauptes auf der Straße gesehen werden. Aber ihre Bürgerrechte änderten gar nichts daran, dass Werwölfe und Vampire und sogar Magier letztendlich Monster direkt aus dem Märchen darstellten. Werwölfe konnten einen mit bloßen Händen in Stücke reißen, selbst wenn sie nicht verwandelt waren. Vampire überlebten, indem sie Blut tranken. Magier konnten die Realität nach ihren Wünschen biegen und verschieben.

Nichts davon hatte etwas mit menschlichen Fähigkeiten zu tun, und selbst wenn man sein Bestes tat, um diese Fähigkeiten außer Acht zu lassen, blieben sie doch immer gefährlich und unmenschlich.

Vor sechs Monaten hatte ich aus erster Hand erfahren, wie entsetzlich unmenschlich sie waren. Ich würde bis zu meinem Lebensende Narben auf meiner Brust und meinem Bauch tragen, und das hatte ich der Tatsache zu verdanken, dass ich gegen einen verrückten Zauberer, sein Vampirflittchen von Freundin, den Führer des Moonwalker-Rudels und zu guter Letzt auch gegen Royce gekämpft hatte.

Mit anderen Übernatürlichen wollte ich nichts zu tun haben. Und es steckte mehr dahinter als nur die Narben von meiner letzten hautnahen, persönlichen Begegnung mit ihnen. Diese Kreaturen waren beängstigend. Manche von ihnen fraßen gerne Menschen. Man ließ sich nicht mit solchen Monstern ein, außer man war sich sicher, dass man die Oberhand behalten konnte. Und selbst dann war man nicht ganz dicht, zumindest meiner Ansicht nach.

Während ich so darüber nachdachte, schien es mir plötzlich nicht mehr die beste aller Ideen zu sein, nach Geschäftsschluss noch allein im Büro zu sitzen. Ich entschied, dass der Rest der Arbeit bis Montag warten konnte, schob die Pryce-Papiere zusammen, steckte sie wieder in ihren Umschlag und warf ihn dann in den Ablagekorb an einer Ecke des Schreibtisches. Im Gebäude befanden sich noch andere Firmen, aber bei den meisten handelte es sich um Marketingfirmen oder Zahnarztpraxen, und ich bezweifelte, dass so spät an einem Freitag noch jemand hier war.

Ich schnappte mir Tasche, Handy und Autoschlüssel, schaltete alle Lichter aus sowie die Alarmanlage an und ging zu meinem Auto. Als ich auf dem Parkplatz ankam, den Kopf gegen die Kälte tief in die Jacke gezogen, dachte ich über Chaz nach. Er war mein Freund, ja, aber er war auch ein Werwolf. Wollte ich nach heute Abend wirklich mit einem Werwolf allein in meiner Wohnung sein?

Ja. Ja, wollte ich. Anders als ein Mensch hatte Chaz mich vor manchen Bedrohungen beschützt, die einen Türriegel oder eine Alarmanlage überforderten. Es hatte auch Vorteile, ein Monster auf seiner Seite zu wissen.

Nicht, dass ich ihn jemals persönlich Monster genannt hätte.

Egal, wie gut er sich auch benahm, ich wusste trotzdem, dass es da war. Ich hatte es gesehen. Berührt. Hatte meine Finger durch den Pelz geschoben, hatte das Gewicht dieses nichtmenschlichen, aber auch nicht vollkommen wölfischen Körpers gefühlt. Hatte gewusst, dass ich ohne seine Kontrolle über das Rudel, das er anführte, für den Rest von ihnen nicht mehr gewesen wäre als eine Mahlzeit. Ich hatte ihn auch beobachtet, wie er mit einem anderen verwandelten Werwolf kämpfte – einem Werwolf, der größer und beängstigender war als er selbst –, um ihn lange genug von mir fernzuhalten, dass ich allen den Arsch retten konnte.

Chaz hatte sich auch schon einige Male nützlich gemacht, indem er die Zielpersonen meiner Klienten aufspürte. Nach dem Showdown gegen David Borowsky und seine Bande aus versklavten Werwölfen hatte eine ganze Menge anderer Others H&W kontaktiert, um unsere Dienste in Anspruch zu nehmen. Sara und ich hatten entschieden, die Aufträge anzunehmen, solange sie nicht zu riskant wirkten – anders als die meisten Privatdetekteien, die mit Fällen von Others generell nichts zu tun haben wollten. Ich habe inzwischen weniger Probleme als früher damit, Werwölfen und Magiern zu helfen, obwohl Vampire sich immer noch ganz hinten anstellen müssen. Und überwiegend verkehrte ich auch nicht mit Others, nachdem ich die meisten von ihnen beängstigender finde als Michael Myers mit einer Machete und schlechter Laune.

Chaz bildet die Ausnahme von meiner »Halt dich so weit wie möglich von allem mit Fell oder Reißzähnen fern«-Regel. Nachdem er mir das Leben gerettet hatte, fiel es mir schwer, ihn als Bösewicht zu sehen. Und wir waren schon vorher miteinander ausgegangen, bis er mir nach vier oder fünf Monaten enthüllte, was er war, ich austickte und ihn rausschmiss. Das war zugegebenermaßen eine dumme Reaktion von mir gewesen. Das ging mir auf, als ich endlich über meine blinde Dummheit hinwegsehen und erkennen konnte, dass ich ihm wichtig war und es einen Vertrauensbeweis dargestellt hatte, mir seine wahre Natur zu zeigen. Natürlich musste er, um mich zu überzeugen, mich erst retten und dabei helfen, Sara aus den Händen des verrückten Zauberers zu befreien – aber hey, zumindest konnte ich jetzt über den Pelz hinwegsehen! Richtig?

Wir hatten keinen Vertrag geschlossen. Ich weigerte mich, die Papiere zu unterschreiben, die es möglich machten, mich in einen Werwolf zu verwandeln. Das bedeutete zwar, dass wir nicht den horizontalen Tango tanzen konnten, aber das störte mich nicht so sehr. Chaz hatte den Mut nicht gefunden, das Thema noch einmal anzusprechen, und ich verschob nur allzu gern eine Entscheidung unendlich hinaus, welche die Gefahr beinhaltete, zu einem Other zu werden.

Verträge waren das Einzige, was Menschen davor rettete, wahllos von Others gefressen oder verletzt zu werden. Die Gesetze, denen die Verträge unterlagen, machten auch absolut klar, dass kein Other es riskieren durfte, einen ungebundenen Menschen in einen Other zu verwandeln, ob nun aus Versehen oder nicht. Wenn man die Leidenschaft betrachtete, die bei Sex und Ernährung eine Rolle spielten, hielt es auch jeden Other davon ab, mit einem Menschen intim zu werden, bevor alles wasserdicht geregelt war.

Mit anderen Worten: Chaz und ich konnten uns umarmen oder küssen, aber falls wir in die Kiste springen wollten, hätte das eine viel tiefere Verpflichtung ihm gegenüber bedeutet, als ich im Moment einzugehen bereit war. Verabredungen waren eine Sache – die Art von Mut, die ich gebraucht hätte, um mein Leben in die Hände eines anderen zu legen, war etwas völlig anderes.

Während ich darüber nachgrübelte, ging mir auf, dass Chaz vielleicht etwas über diesen Max Carlyle wissen konnte. Er sprach nicht oft davon, aber ich wusste, dass er die übernatürliche Gemeinde immer genau im Blick behielt. Ich beschloss, ihn danach zu fragen, wenn er später am Abend vorbeikam.

Auf der gesamten Fahrt nach Hause fragte ich mich, wer dieser Max war und was er von mir wollen könnte. Und warum beschäftigte ich Jack so sehr? Auch wenn mein Beruf eine tolle Deckung für die meisten illegalen Aktivitäten der Weißhüte gewesen wäre, erklärte es trotzdem nicht, warum er mich immer wieder belästigte oder mich als Bedrohung sah. Welche Verbindung hatte er zu diesem Max Carlyle? Bestand überhaupt eine Verbindung zu ihm? Wo war die Verbindung zwischen diesem Neuankömmling und Alec Royce?

Keine dieser Fragen war schnell zu beantworten, was meine Laune nicht gerade verbesserte. Als ich schließlich in meinen Parkplatz zu Hause einfuhr, hatte ich mir geschworen, dass heute ein stressfreier Abend mit meinem Freund sein sollte und ich mir um den Rest erst morgen Gedanken machen wollte.

Kapitel 3

Gegen halb zehn wurde ich langsam sauer. Chaz hätte vor Stunden auftauchen sollen. Er nahm nicht ab, wenn ich ihn anrief. Ich hatte mein Handy wieder angeschaltet, kaum dass ich zu Hause war – keine Anrufe, Mailboxnachrichten oder SMS. Und auch auf dem Anrufbeantworter zu Hause – nichts. Ich hatte sogar meine E-Mails abgeholt – nichts außer Spam. Das war dann das zweite Mal in diesem Monat, dass er nicht anrief und nicht auftauchte.

Wo steckte er?

Das letzte Mal, als es passiert war, hatte er erklärt, es wäre um Rudelangelegenheiten gegangen. Nichts, um das ich mir Sorgen hätte machen müssen. Etwas Unvermeidliches. Ein bisschen wie damals, als er seine Rudelgefährten zusammengerufen hatte, um dabei zu helfen, mit dem Ausnahmezauberer David Borowsky und seinem unwilligen Rudel von Schoßwerwölfen fertig zu werden. Nichts, womit ich mich beschäftigen oder wovon ich auch nur wissen wollte.

Nach einer gewissen Zeit bestellte ich mir chinesisches Essen, weil ich es müde war, zu warten, und setzte mich vor meinen Computer. Meine Neugier gewann die Oberhand, und ich startete eine Websuche nach Max Carlyle. Ich fand nichts außer Treffern, von denen ich mir ziemlich sicher war, dass sie nichts mit der Person zu tun hatten, über die Jack geredet hatte. Eine Filmfigur? Sicherlich nicht.

Ich lehnte mich im Stuhl zurück und starrte an die Decke. Royce wusste etwas über diesen Kerl. Jack wusste etwas über diesen Kerl. Aber die Vorstellung, mit einem von ihnen reden zu müssen, war nicht gerade verlockend. Chaz wusste vielleicht etwas, aber ich war mehr als nur ein wenig angefressen wegen seiner Unfähigkeit, das Telefon in die Hand zu nehmen und einfach zu sagen: »Tut mir leid, Schatz, ich komme zu spät.« Oder auch nur: »Wir haben einen Notfall, ich kann nicht kommen.« Für ihn wäre es jetzt besser gewesen, irgendwo in der Gosse zu verrotten, sonst würde ich ihm nämlich den Arsch aufreißen, wenn ich ihn das nächste Mal sah.

Von diesen drei Möglichkeiten schien Royce diesmal noch das kleinste Übel darzustellen. Chaz würde es hassen, dass ich Royce angerufen hatte. Er würde es noch mehr hassen, wenn ich mich mit ihm traf.

Ich griff nach meinem Handy.

»Also, das ist wirklich mal eine Überraschung!«, erklang die trockene, amüsierte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja, ich weiß. Was ich gesagt habe, tut mir leid, und auch, dass ich vorhin einfach aufgelegt habe.«

»Eine Entschuldigung?«, fragte er, und das leise Lachen in seiner Stimme brachte mich dazu, die Zähne zusammenzubeißen. »Ich muss zugeben, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet.«

»Hören Sie mal, ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Sie müssen nicht darauf herumreiten. Sind Sie immer noch bereit, sich mit mir zu treffen oder nicht?«

»Natürlich. Wir lassen diesen kleinen Fauxpas einfach hinter uns. Mir ist klar, dass es für Sie vielleicht ein wenig spät ist, aber ich würde vorschlagen, dass wir uns so bald wie möglich treffen, damit Sie sich darüber im Klaren sind, womit Sie es zu tun haben werden, sobald Max in die Stadt kommt. Wann würde es Ihnen passen?«

Ich sprach, ohne groß nachzudenken. »Sie wissen, wo meine Wohnung liegt. Warum kommen Sie nicht einfach vorbei?«

»Ich muss mich noch im Büro um ein paar Dinge kümmern, aber in einer Stunde kann ich da sein.«

»Okay. Bis dann.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, starrte ich auf das Telefon in meiner Hand. Ich hatte gerade Alec Royce, den ältesten und mächtigsten Vampir der Vereinigten Staaten, in meine Wohnung eingeladen.

Wahrscheinlich war das besser, als darauf zu warten, dass Chaz auftauchte.

Mit diesem Gedanken stand ich auf und fing an, ein wenig aufzuräumen. Ich stopfte die verstreuten Papiere auf meinem Schreibtisch in eine Schublade und schaltete den Computerbildschirm aus. Anschließend räumte ich das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, packte mir meine Schuhe neben der Tür und meine Jacke vom Sofa und warf beides in den Schlafzimmerschrank. Das musste auch für den pingeligen Royce reichen.

Ein Teil von mir wollte sich vor den Spiegel stellen, um zu sehen, ob ich gut aussah. Der Rest von mir wusste, dass es dumm war und es hier um inoffizielle Dinge ging, nicht um einen Klienten oder auch nur um einen Freund. Außerdem wollte ich nicht, dass Royce falsche Schlüsse zog. So gut der Vampir auch aussah, er war ein Vampir. Sie kennen die Sorte: der typische große, dunkle gut aussehende Mann, der zufällig auch ein böses, blutsaugendes Monster der Nacht ist. Nicht die Art von Mann, die man seiner Mutter vorstellt. Nicht wie Chaz.

Ich entschied, dass ein wenig Vorsicht nicht schaden konnte, und grub mich auf der Suche nach einer meiner Pistolen durch meine Kommode. Ich hatte sie vor langer Zeit gekauft, als ich geglaubt hatte, Royce wollte mich umbringen. Damals stellte sich heraus, dass er versuchte, mich zu seiner lebenden Sklavin zu machen, während jemand anders darauf aus war, mich zu töten. Schon witzig, wie die Dinge sich manchmal entwickeln.

Während ich in der Schublade herumwühlte, berührten meine Finger den Ledergürtel mit den drei silbernen Pflöcken, die jeweils in einer Scheide steckten. Ich konnte tatsächlich fühlen, wie von dem Ding Unzufriedenheit aufstieg.

»Tut mir leid«, sagte ich und empfand diesem leblosen Gegenstand gegenüber mehr den Drang, mich zu entschuldigen, als vor ein paar Minuten dem Vampir gegenüber. »Vielleicht hole ich dich raus, wenn Royce weg ist, aber im Moment nicht.«

Ich spürte ein kurzes Aufflackern von Wut, aber dann verschwanden die schlechten Schwingungen und die Unzufriedenheit. Trotzdem konnte ich ihn etwas grummeln hören. Der Geist, der in dem Gürtel lebte, war nicht glücklich damit, zusammengerollt in meiner Kommode zu liegen. Manchmal holte ich ihn heraus, wenn ich allein war, und trug ihn in der Wohnung. Der Geist konnte das Leben nur durch denjenigen erleben, der ihn trug, und ich war die erste Person, die in den letzten fünfzehn Jahren oder so überhaupt Notiz davon nahm, was er wollte. Es war schon eine Weile her, dass ich ihn das letzte Mal hervorgeholt hatte. Ich fühlte mich schlecht dabei, ihn zwischen meinen Winterklamotten liegen zu lassen, aber ich konnte ja nicht mit um die Hüften geschlungenen tödlichen Waffen durch die Stadt flanieren.

Allerdings befanden wir uns hier in New York.

Wie auch immer. Um die Gefühle des Gürtels würde ich mir später Sorgen machen, wenn ich mit Royce fertig war. Ich schob die Schublade wieder zu, ging ins Wohnzimmer und legte die Pistole auf einen Beistelltisch. Nur für den Fall, dass der Vampir auf dumme Gedanken kommen sollte. Ich war ohne Gürtel keine besonders gute Schützin, ging aber davon aus, dass die sichtbare Bedrohung besser wirken würde als alles, was ich sagen konnte. Abgesehen davon, dass ich wirklich in der Scheiße säße, sollte ich die Pistole gegen Royce einsetzen müssen.

Als Nächstes kam das Parfüm. Ich ging ins Badezimmer und fingerte unter dem Waschbecken herum, bis ich eine der kleinen Glasphiolen mit der nach Zimt und Nelken riechenden Flüssigkeit darin gefunden hatte. Im Neonlicht leuchtete sie fahlgolden. Ich trug ein paar Tropfen auf meine Handgelenke auf, massierte sie ein und tupfte mir dann noch etwas auf den Hals, direkt über der Schlagader.

Das Amber-Kiss-Parfüm war vor ein paar Jahrhunderten von einigen Alchemisten entwickelt worden, um Others davon abzuhalten, den Geruch des Trägers aufzunehmen. Es unterdrückt auch den Appetit eines Vampirs. Letztendlich roch ich damit einfach weniger nach Essen. Mir gefiel, wie das Zeug duftete, aber Chaz mochte es nicht und hatte sich immer wieder beschwert, dass es ihn zum Niesen brachte. Natürlich brauchte ich es nicht, um mich gegen ihn zu schützen, aber ich würde es tragen, wenn es bei Vampiren und anderen hungrigeren Werwölfen funktionierte. Glücklicherweise waren meine Begegnungen mit solchen Kreaturen selten genug, dass meine Vorräte ein paar Jahrhunderte halten sollten.

Als Letztes rückte ich das kleine schwarze Amulett zurecht und steckte es unter meine Bluse. Laut Arnold hielt der Zauber darin Vampire und Magier davon ab, meinen Geist zu manipulieren.

Arnold, Saras momentaner Freund, hatte mir all das Zeug gegeben, das ich benutzte, um mich gegen Others zu schützen. Zufällig war er der Chef der Sicherheitsabteilung des Circle, dem führenden Hexenzirkel von praktizierenden Magiern an der Westküste.

Ohne die ganze Hilfe, die Arnold mir in den letzten Monaten hatte zukommen lassen, wäre ich, ehrlich gesagt, nicht mehr am Leben. Mithilfe seiner Magie, seiner Ideen und seiner Waffenwahl hatte ich es geschafft, als Sieger aus dem Kampf gegen den Borowsky-Jungen und seine Freundin hervorzugehen. Ich war auch glücklich, dass Sara und Arnold zusammengekommen waren. Die letzten zwei Wochen hatten sie im Urlaub verbracht. Sie hatten es beide nötig gehabt, hielten sich in Saras Haus auf den Hamptons auf und sollten Sonntag zurückkommen. Ich würde ihn nicht mit Fragen belästigen, bevor sie nicht zurück waren. Wenn ich Glück hatte, wäre Royce entgegenkommend genug, dass ich genau wusste, was vor sich ging, bevor ich darauf zurückgreifen musste, Arnold auszufragen. Aber so, wie ich den Vampir kannte, durfte ich nicht zu viel erwarten.

Ich wusste, dass Royce’ Vorgehensweise gewöhnlich diesem Muster folgte: »Erst manipulieren, später Fragen stellen«. Er würde meine Kontaktaufnahme als Chance sehen und sie bis zum Letzten ausnutzen. Die einzige Frage war, wie er vorgehen wollte. Ich würde auf Zack sein müssen, um sicherzustellen, dass ich auf keinen seiner Tricks hereinfiel.

Ob es uns gefiel oder nicht, wir waren immer noch vertraglich gebunden. Soweit ich wusste, befanden wir uns nicht in einer Gefahrenlage, in der er mich oder meine Fähigkeiten brauchte. Allerdings würde er vielleicht trotzdem versuchen, mich dazu zu überreden, für ihn zu arbeiten. Ich hatte das Gefühl, dass er Angst vor mir hatte und deswegen ständig auf der Suche nach einer Möglichkeit war, mich an die Kandare zu nehmen. Es war besser, das zu beherrschen, was man fürchtete, als sich davon beherrschen zu lassen, richtig? Spielte ich ihm direkt in die Hände, indem ich ihn zu mir einlud?

Na ja. Ja.

Allerdings wusste ich dieses Mal – im Unterschied zu unseren ersten paar Treffen – genau, wozu er fähig war. Ich würde wachsam bleiben. Ich hatte mich seinen Manipulationen schon früher widersetzt, also konnte ich es mit ein wenig Einfallsreichtum, Glück und Wachsamkeit gegenüber seinen Tricks auch wieder schaffen.

Während ich die letzten Tropfen Amber Kiss in meine Haut einmassierte, hörte ich im anderen Zimmer mein Handy piepen. Eine SMS.

Als ich das Gerät aufklappte, sah ich, dass sie von Chaz stammte. Ich schaute zur Tür. Es war bereits nach elf. Bastard!

Sorry für heute n8. Rudelnotf. Rufe später an. Verschoben auf Samst? Liebe dich.

Aufgebracht warf ich das Telefon wieder auf den Tisch. Er war drei Stunden zu spät dran! Ich würde ihm antworten, wenn ich mich dazu bereit fühlte.

Ich grummelte vor mich hin, während ich um die Couch herumging und mich setzte. Ich schaltete den Fernseher an, beachtete ihn dann aber überhaupt nicht, sondern starrte nur vor mich hin. Ich war mir nicht sicher, warum ich so sauer war. Ich meine, es passierte ständig etwas in der Arbeit, was dafür sorgte, dass ich zu spät zu unseren Verabredungen kam. Es war nicht besonders fair, wütend auf Chaz zu sein, weil er seine Verantwortung gegenüber dem Rudel an die erste Stelle setzte – aber ich konnte meine Wut auch nicht verdrängen.

Ungefähr fünf Minuten nachdem ich mich hingehockt hatte, hörte ich ein Klopfen. Ich erinnerte mich an das chinesische Essen, das ich vor einer gefühlten Ewigkeit bestellt hatte, und mein Magen knurrte wie aufs Stichwort.

»Eine Sekunde, bin gleich da!« Ich sprang auf und eilte zur Tür. Auf dem Weg schnappte ich mir meine Tasche, um den Lieferanten zu bezahlen.

Ich riss die Tür auf und fand mich den glühenden roten Augen und entblößten Reißzähnen eines sehr wütend aussehenden Vampirs gegenüber.

Kapitel 4

Ich schrie und sprang nach hinten, als der Vamp nach mir griff. Ich stolperte und landete auf dem Hintern, während er von den magischen Schilden, die Arnold fürsorglich für mich installiert hatte, zurückgeworfen wurde.

»Scheiße!«, schrie die Kreatur und steckte sich angesengte rote Finger in den Mund.

Ich konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren und mich fragen, woher zum Teufel dieser Kerl gekommen war. Von seinen übersinnlichen Fähigkeiten einmal ganz abgesehen, war er gebaut wie ein Footballspieler und wirkte, als hätte er mich schon, während er noch am Leben war, einfach in der Hälfte durchbrechen können. Der Gedanke daran, wie stark er jetzt mit seiner vampirischen Kraft war, ließ mich erschaudern.

»Wer zur Hölle bist du?!«

Er sah von seiner verletzten Hand auf und starrte mich böse aus Augen an, die rot leuchteten. Ich zuckte zusammen, als er eine Faust von der Größe meines Kopfes hob und gegen die Barriere schlug, sodass sie aufblitzte. »Komm zu mir!«, verlangte er und starrte mir dabei direkt in die Augen.

Ich konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. »Bist du verrückt? Ich bleibe genau hier. Na ja, nicht genau hier.« Ich kämpfte mich so elegant wie möglich auf die Beine und wich zur Sicherheit noch ein Stück von der Tür zurück. Ich vertraute Arnolds Fähigkeiten, aber ich war mir einfach nicht sicher, welcher Kraft seine Barriere widerstehen konnte. Es war das erste Mal, dass sie sich gegen Eindringlinge beweisen musste, und ich wollte ein wenig Abstand zwischen uns gewinnen, falls sie zusammenbrach. »Verschwinde! Lass mich in Ruhe!«

Er verzog verwirrt das Gesicht, und die Wut in seinen Augen ließ nach. »Ich habe gesagt, komm zu mir! Warum gehorchst du mir nicht?«

»Himmel, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich dich für einen ausgetickten Irren halte?«

Seine Schultern sackten nach unten, und seine Augen nahmen ein warmes Schokoladenbraun an, ein wenig dunkler als sein Haar. Er trug es kurz geschnitten, aber er fuhr sich mit einer nervösen Geste über den Kopf, als wäre er daran gewöhnt, dass es länger war. »Also, das ist noch nie passiert. Ähm. Schau mich an! Genau so, schau mir in die Augen! Jetzt – komm her!«, befahl er wieder, diesmal mit einer gehörigen Portion Verzweiflung in der Stimme.

Es wäre ja abgeschmackt und witzig gewesen, hätte ich nicht genau gewusst, dass er gerade versuchte, mich vollkommen illegal so zu bezaubern, dass ich seinen Befehlen folgte. Ein Hoch auf den Anhänger, den mir der Circle gegeben hatte, ihre kleinen magischen Herzen mochten gesegnet sein!

»Nein«, erwiderte ich ausdruckslos und gewann ein wenig von meinem Selbstbewusstsein zurück, nachdem sowohl der Schild als auch mein Zauber anscheinend wunderbar funktionierten. »Wer bist du? Was willst du?«

Er kratzte sich verwirrt am Kopf. Ich schob mich langsam auf den Tisch zu, auf dem mein Handy und meine Pistole lagen.

»Mist! Ich wollte das wirklich nicht machen. Dachte, das wäre nur eine schnelle unkomplizierte Entführung.«

Gereizt wiederholte ich meine Fragen. »Hallo? Wer hat dich geschickt? Was willst du von mir?«

»Max Carlyle will dich. Ich bin einer seiner Assistenten, Peter. Er hat mich geschickt, um dich zu holen.« Seine Laune besserte sich ein wenig, und mit hoffnungsfroher Stimme fragte er: »Ich nehme nicht an, dass du freiwillig mitkommen willst, oder?«

Mein Gott, dieser Mann war dümmer als ein Sack voll Steine!

»Nicht nach diesem kleinen Temperamentsausbruch.«

»Verdammt!«

»Also, schaff deinen Hintern hier weg! Verschwinde! Wenn Max Carlyle mit mir reden will, dann kann er wie jeder andere auch in meinem verdammten Büro anrufen und sich einen Termin geben lassen«, erklärte ich und packte mein Handy. »Wenn du in den nächsten zehn Sekunden nicht verschwunden bist, rufe ich die Polizei.«

»Sie können mir nichts anhaben. Kein Mensch ist stark genug, um etwas gegen mich auszurichten.«

»Schön für dich«, murmelte ich und schüttelte gleichzeitig den Kopf über seine Naivität. Er musste frisch verwandelt sein. Ganz frisch verwandelt, bei diesem Maß an Dämlichkeit. Ich nahm an, er hatte noch nicht mitbekommen, dass Kreuze und Weihwasser inzwischen zur Standardausrüstung der Cops gehörten.

Ich konnte quasi sehen, wie eine matte Glühbirne über seinem Kopf aufleuchtete, als seine Miene plötzlich hinterhältig wurde. Seine Stimme nahm einen süßlichen, heimtückischen Tonfall an. »Du musst da irgendwann rauskommen. Warum gehst du nicht einfach gleich mit und machst es für uns alle einfacher?«

Genau, als hätte er mich einwickeln können, nachdem er seine Reißzähne hatte aufblitzen lassen! »Jetzt mach mal halblang! Schau mal, Zahnjunge, ich bin nicht interessiert. Wenn du nicht vampirisch geworden wärst, hätte ich dir vielleicht sogar zugehört. So wie die Dinge stehen, rufe ich jetzt die Polizei.« Ich fing an zu wählen, während ich die freie Hand in meine Hüfte stemmte und ihn anstarrte, bis jemand abnahm. Es dauerte nicht lange.

»Hi, ich habe hier einen Vampir, der mich bedroht und versucht, in meine Wohnung einzubrechen.« Seine wütenden Worte und die schlagenden Geräusche mussten für die Vermittlungsdame am anderen Ende der Leitung wirklich seltsam klingen. »Könnten Sie schnell jemanden vorbeischicken? Ich könnte wirklich Hilfe brauchen. Hier ist die Adresse …«

Ich legte auf, während die Vermittlungsdame immer noch vollkommen außer sich etwas von »Ruhig bleiben« und »Hilfe ist unterwegs« murmelte. Ich war sehr viel mehr daran interessiert, was Peter jetzt vorhatte. Ich neigte meinen Kopf zur Seite und betrachtete den Vampir, der abwechselnd über seine schmerzenden Hände fluchte und weiter versuchte, eine Schwachstelle in der magischen Barriere zu finden.

»Du bist nicht gerade der Hellste, hm?«

Er starrte mich an, und in seine Augen kehrte ein Hauch von Rot zurück. »Halt den Mund! Max hat gesagt, du wärst eine Unruhestifterin. Er hat nichts von Miststück gesagt.«

»Ich nehme an, er hatte nicht gehört, dass ich New Yorkerin bin.«

Peter wurde plötzlich nach hinten von den Füßen gerissen und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich lehnte mich vor, um in den Flur hinauszuschauen und herauszufinden, was vor sich ging.

»Was hat das zu bedeuten?«, ertönte Royce’ glatte Stimme. Sie klang warm vor Wut, während er den viel bulligeren Peter im Nacken hielt. Er hob ihn hoch, als wöge er nicht mehr als eine Hauskatze, und warf ihn quer durch den Flur. Bei diesem Spektakel berührten meine Brauen fast meinen Haaransatz. Ich wusste, dass Royce stark war, aber ich hatte ihn diese Stärke noch nie so unverhohlen einsetzen sehen. Außer, als wir dieses eine Mal auf Leben und Tod gekämpft hatten – aber ich schweife ab.

»Du erdreistest dich, meinen Besitz ohne meine Erlaubnis zu berühren?« Bei dieser Aussage kniff ich die Augen zusammen. Ich war also Besitz, hm? »Geh zurück zu Max, und sag ihm, dass ich für diese Kränkung entschädigt werden will. Sofort!«

Peter knurrte etwas, das ich nicht verstand, dann trampelte er in Richtung der Treppen davon. Seltsam. Ich hatte bei noch keinem Vampir so deutlich die Schritte gehört. Gewöhnlich waren sie leichtfüßig, still und schnell wie Katzen. Wie Raubtiere.

Royce zum Beispiel konnte sich mit einer Geschwindigkeit und Grazie bewegen, die gegen alle physikalischen Regeln verstieß, und dabei nicht ein einziges Geräusch verursachen. Das eine Mal, als ich es gesehen hatte, hatte es mir eine Höllenangst eingejagt. Zusammen mit Peters dummen Handlungen verstärkte das nur meinen Eindruck, dass Letzterer frisch verwandelt worden sein musste.

Royce richtete seinen Blick auf mich, und für eine Sekunde hatte ich den Eindruck, denselben zwingenden Drang zu empfinden, mit dem Peter so offensichtlich und verzweifelt versucht hatte, mich zu sich zu holen. Es kostete mich mehr Kraft, meinen Blick abzuwenden, als es bei einer so einfachen Sache gerechtfertigt war.

»Danke, dass Sie ihn losgeworden sind.«

Er nickte, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf meinen Türrahmen. Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er einen Finger über den Rahmen gleiten ließ und damit leuchtende Wellen über den sonst unsichtbaren Schild jagte, der jeden Other draußen hielt bis auf die, die ich persönlich einließ. Ein dünner Faden weißer Rauch stieg von seinem Finger auf, der langsam rot wurde, so wie es auch bei Peters Händen geschehen war. »Das ist neu.«

»Ja, na ja, einige Kreaturen der Nacht kapieren es einfach nicht«, sagte ich, während ich vortrat und meine Hand ausstreckte. Ich ergriff sein Handgelenk unter dem Ärmelaufschlag seines elegant geschneiderten Anzugs und zog ihn durch die Barriere.

Er widersetzte sich nicht, auch wenn die Berührung ihn zu überraschen schien. Die Barriere klebte an ihm wie Frischhaltefolie, viel widerwilliger, als es bei Chaz das erste Mal der Fall gewesen war. Anscheinend wollte sie den Vampir nicht passieren lassen. Wahrscheinlich war der Schild klüger als ich, weil er versuchte, gefährliche Kreaturen draußen zu halten, statt sie zu einem Schwätzchen einzuladen.

Sobald Royce daran vorbei war und der Widerstand verschwand, ließ ich ihn los, schloss die Tür und wich zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. »Sie haben ein gutes Timing. Wollen Sie mir erzählen, worum es da ging?«

»Dieser Vampir, den Sie gerade getroffen haben, ist ein Geschöpf von Max Carlyle. Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, warum er hier ist.«

»Ja, aber das habe ich nicht gemeint. Was fällt Ihnen ein, mich als Besitz zu bezeichnen?«

Sein Lächeln hätte noch das kälteste Herz zum Schmelzen gebracht. »Nicht mehr und nicht weniger, als ich gesagt habe. Sie und ich sind vertraglich gebunden, statt durch Blut oder eine echte Bindung, aber die alten Regeln gelten trotzdem. Bevor solche Verträge und Gerichte entstanden sind, hatte jeder Vampir damit, dass er einen Menschen gebunden hatte, auch ein Revier abgesteckt, das die anderen Vampire akzeptieren mussten. Man trinkt ohne Erlaubnis nicht von einem gebundenen Menschen, und man fügt ihm auch keinen Schaden zu. Sie würden niemals den Hund oder die Katze einer Nachbarin nehmen und dem Tier Schaden zufügen. Vielleicht spielt man damit, aber auf keinen Fall würde man es umbringen oder dem Besitzer ohne Erlaubnis wegnehmen. Verstehen Sie?«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Miene meine Ungläubigkeit demonstrierte. Er verglich menschliche Diener mit dem Familienhund? Er seufzte bei meiner wortlosen Reaktion und fuhr fort.

»Ich sage ja nicht, dass es richtig oder fair ist, Menschen auf diese Art zu betrachten. Aber so wurde es einfach immer gehandhabt. Außerdem wird es als Ehre angesehen, an einen von uns gebunden zu sein. Es bedeutet, dass diese Person den Schutz desjenigen genießt, der sie erwählt hat, und dass sie als Kandidatin für eine mögliche Verwandlung gilt. Nachdem wir durch den Vertrag gebunden sind, sind Sie ›mein Revier‹, um es einmal so auszudrücken. Das macht Sie als Nahrung oder Spielzeug für jeden anderen tabu, nachdem Sie, unseren Gesetzen zufolge, mein Eigentum sind.« Er schwieg nachdenklich, bevor er kurz auflachte, anscheinend amüsiert von seinen eigenen Gedanken. »Obwohl in diesem Fall der Besitzanspruch wahrscheinlich in beide Richtungen funktioniert, wenn man die kleinen Veränderungen mit ins Kalkül zieht, die Sie am Vertrag vorgenommen haben. Ein interessantes und neuartiges Konzept, obwohl ich nicht sehe, welche Vorteile Sie davon haben.«

Toll, einfach toll! Ich schüttelte den Kopf, stiefelte zur Couch, setzte mich und verschränkte meine Arme über den Knien, als ich mich vorlehnte, um ihn zu beobachten. »Okay, ich werde die Sittlichkeit dieses Themas nicht mit Ihnen diskutieren, aber ich will eine Sache absolut klarstellen: Wir haben lediglich eine Arbeitsbeziehung. Ich werde mich niemals auf eine andere Art als auf dem Papier an Sie oder jemand anders binden lassen. Verstanden?«

Er musterte mich eine Weile nachdenklich, den Kopf ein wenig seitlich geneigt. Der Blick in diesen schwarzen Augen war intensiv genug, dass ich mich fragte, ob er mich jetzt als das sah, was ich wirklich war: nicht nur eine Bedrohung oder Eroberung. Er nickte und näherte sich langsam, bevor er sich mit dieser bewundernswerten, in Jahrhunderten perfektionierten Grazie auf der anderen Seite der Couch niederließ. »Ich verstehe.«

Ein wenig besänftigt lehnte ich mich in die Kissen zurück. Er war vieles, aber kein Lügner. Nachdem er meine Einstellung zu respektieren schien, traute ich ihm zu, sich für den Moment anständig zu benehmen. »Gut. Also, was können Sie mir über Max Carlyle sagen? Irgendeine Idee, warum er seinen Lakaien auf diesen Ausflug geschickt hat?«

»In seinen Augen sind Sie für den Tod einer seiner letzten Schöpfungen verantwortlich. Und für Ihre Handlungen macht er auch mich verantwortlich.«

Ich starrte ihn ratlos an. Royce zeigte auf die Pistole auf dem Tisch, die ich schon fast vergessen hatte. »Sie erinnern sich doch sicher an Anastasia Alderov?«

»Was?« Ich war verwirrt. »Sie meinen, er hat sie zum Vampir gemacht? Wie kann er mich dafür verantwortlich machen, wenn Sie sie doch den Werwölfen vorgeworfen haben? Und mal abgesehen davon, dass sie vollkommen durchgeknallt war: Sie hat ihn verraten, als sie sich mit David Borowsky zusammentat. Das war nicht mein Fehler!«

Er lächelte dünn, aber vollkommen ohne Humor. »Ja, er machte sie zum Vampir. Vielleicht weiß er nichts von ihrem Verrat. Seine Informationen über die Geschehnisse dieser Nacht sind wahrscheinlich auf die Zeitungsberichte oder das Internet begrenzt. Vielleicht hat er auch den Polizeibericht gelesen. Sie sollten wissen, dass wir beim besten Willen keine Verbündeten sind. Nachdem ich der einzige andere anwesende Vampir war und quasi garantieren kann, dass kein Werwolf, der in dieser Nacht anwesend war, auch nur ein Sterbenswörtchen über die Sache verloren hat, war es ihm unmöglich, einen Augenzeugenbericht zu bekommen. Aus den verfügbaren Informationen hat er vermutlich geschlossen, dass Sie Anastasia getötet haben. Besonders, nachdem jetzt öffentlich bekannt ist, dass Sie an mich gebunden sind, und einige Bilder in den Zeitungen Sie in der Kleidung einer Jägerin gezeigt haben. Er hätte den Gürtel, den Sie getragen haben, als das erkannt, was er ist, und denkt sicherlich, dass Sie auf meinen Befehl gegen Anastasia gekämpft haben. Und, wie ich schon sagte, ich bin mir nicht vollkommen sicher, dass er verstanden hat, dass Anastasia ihn verriet. Selbst wenn er es weiß, kann ich Ihnen den Tipp geben, dass er jeden Vorwand nutzen wird, um meine Autorität und meinen Ruf zu schädigen.«

»Einfach fantastisch! Also, warum hat er Stein-statt-Hirn geschickt, um mich wegzuschleppen? Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass eine Person, die ein Vampir für sich beansprucht, unter seinem Schutz steht und andere sich fernhalten müssen?«

»So ist es auch. Die Ausnahme von dieser Regel ist, wenn ein Vampir Gewalt gegen einen anderen ausübt, egal, ob diese Gewalt berechtigt ist oder nicht. Nachdem er denkt, dass Sie oder ich Anastasia getötet haben, will er Entschädigung für seinen Kummer. Ihnen Schaden zuzufügen betrachtet er als diese Entschädigung. Allerdings hat er sich mit dem Versuch, Sie zu entführen, viel zu weit aus dem Fenster gelehnt. Sehen Sie, er hat keinen echten Beweis dafür, dass einer von uns für den Tod seiner Schöpfung verantwortlich ist. Er kann sich nur sicher sein, dass wir irgendwie daran beteiligt waren. Aufgrund dieser Tatsache wollte er Sie wahrscheinlich entführen, um Sie als Druckmittel in Verhandlungen gegen mich einzusetzen und mich damit dazu zu bringen, ihm zu geben, was er will.«

Ich verdrehte die Augen. »Sicher, das ergibt irgendwie Sinn. Vampirpolitik ist ziemlich lächerlich, wissen Sie das?«

Er lachte und lehnte sich auf der Couch zurück. Mit einer Hand strich er sich die schulterlangen Strähnen aus dem Gesicht, um mich ansehen zu können, während er den anderen Ellbogen auf die Rückenlehne und den Kopf auf seine Faust stützte. In seinen Augen funkelte Humor. Er wirkte, als würde er für ein Fotoshooting posieren. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, er flirtete. »Mir ist bewusst, dass andere es so sehen könnten. Wir neigen dazu, an unseren Regeln festzuhalten, nachdem sie schon so lange dazu beitragen, den Großteil von uns am Leben zu halten.«

Ich schürzte nachdenklich die Lippen und fragte mich, warum er so entgegenkommend war und was für ihn dabei heraussprang. Er war heute Nacht viel zu lässig und viel zu nett. Was erwartete er im Gegenzug dafür von mir?

»Bilden Sie dann die Ausnahme von der Regel?«, wollte ich wissen und hoffte inständig, dass das ein sicheres Thema darstellte. »Sie sind derjenige, der beschlossen hat, dass es eine gute Idee ist, in Rohrik Donovans Fußstapfen zu treten und den Leuten die warme, weiche Seite der Vampire zu zeigen.«

Ich war immer neugierig gewesen, warum Royce der Welt die Existenz von Vampiren offenbart hatte. Rohrik Donovan, der Anführer von New Yorks größtem Werwolfrudel, war der erste Other gewesen, der sich offen als solcher zu erkennen gegeben hatte. Er und sein Rudel, die Moonwalker-Sippe, hatten nach dem 11. September 2001 dabei geholfen, in den Trümmern nach Überlebenden zu suchen. Kurz darauf hatte Royce in einer Pressekonferenz eine ähnliche Nummer abgezogen und demonstriert, dass er kein Möchtegern mit Reißzahnkappen vom Zahnarzt und zu viel Rollenspielerfahrung ist. Es war ihm gelungen, eine Massenpanik zu vermeiden, indem er große Wohltätigkeitsspenden leistete und den Familien Hilfe anbot, die von der Terrorattacke getroffen worden waren.

Bei Royce handelte es sich um einen der wenigen älteren Vampire, die sich der Öffentlichkeit stellten und auch einmal Interviews gaben. Man fand ihn oft auf Spendengalas, Theater- oder Restauranteröffnungen, politischen Kundgebungen oder anderen Events mit großer Medienpräsenz. Das machte ihn natürlich nicht weniger gefährlich, aber seine Handlungen schienen das generelle Bild von Vampiren zu verbessern. Doch wenn ich bedachte, was ich über ihn wusste, war es seltsam, dass er sich einem solchen Risiko aussetzte. In der Öffentlichkeit aufzutreten bedeutete, dass Jäger wie zum Beispiel die Weißhüte ihn viel leichter finden konnten.

Er öffnete den Mund, um mir zu antworten, aber ein Hämmern an der Tür stoppte ihn. »Polizei! Öffnen Sie die Tür!«

Ich seufzte. »Los geht’s!«

Kapitel 5

Es ist okay, der Böse ist verschwunden!«, schrie ich, während ich aufsprang und zur Tür lief.

Zwei von New Yorks Besten warteten mit den Händen an ihren Waffen auf der anderen Seite. Sie waren wachsam, wirkten aber auch erleichtert. Wahrscheinlich dankten sie gerade ihren Schutzengeln, dass sie sich nicht mit einem Vampirangriff auseinandersetzen mussten.

»Ist hier alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte einer.

»Ja. Danke fürs Kommen, aber Sie haben den Aufruhr verpasst«, antwortete ich. Ich bemerkte, dass er überrascht die Augen aufriss, und sah über meine Schulter zurück, nur um zusammenzuzucken, als ich sah, wie nah Royce hinter mir stand. Jesses, er bewegte sich wie ein Geist! Ein schneller Geist. Verursachte mir Gänsehaut. Beide Beamten zogen sofort ihre Waffen und richteten sie auf ihn.

»Hände hoch! Sofort weg von ihr!«

»Los!«

Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Schnell breitete ich meine Hände aus und versuchte, laut genug zu brüllen, um ihr Geschrei zu übertönen. »Moment, Moment! Das ist nicht der Vampir, der mich angegriffen hat! Stopp!«

Royce folgte ihren Befehlen und hob seine Hände, während er sich langsam von mir zurückzog. Er wirkte eher amüsiert als aufgeregt oder verängstigt, und das machte mich wütend. Hätte er sich nicht so an mich herangeschlichen, wäre die Polizei nicht kurz davor gewesen, ihn zu erschießen. Seine Erheiterung über ihre Reaktion nervte mich. Nahm er denn jemals etwas ernst?

Einer der zwei Beamten, auf dessen Namensschild D. Bowman stand, schob sich an mir vorbei in die Wohnung und richtete seine Waffe weiter unverwandt auf Royce. Er war ein großer Mann, aber er bewegte sich recht geschmeidig und wusste offenbar, was er tat. Ich trat zur Seite, um dem anderen Beamten Platz zu machen, während ich gleichzeitig betete, dass sie nicht so nervös waren, dass ihr Finger am Abzug zuckte. »Das ist nicht derselbe Vampir, sagten Sie? Warten Sie einen Moment. Ich kenne Sie.«

»Nein, es ist nicht derselbe Vampir«, bestätigte ich, und trotz meiner guten Vorsätze konnte man meiner Stimme anhören, dass ich genervt war. »Das ist Alec Royce.«

Der zweite Cop blinzelte, drehte sich langsam zu mir um und senkte seine Waffe. »Haben Sie Alec Royce gesagt?«

»Ja«, schaltete Royce sich ein, und immer noch lag dieses amüsierte Lächeln auf seinen Lippen. »Der bin ich.«

»Jesses, Derek, nimm die Waffe runter!«, rief der erste Cop aus und steckte seine Waffe schnell weg. »Die Verwechslung tut uns schrecklich leid, Mr. Royce. Ist hier alles in Ordnung?«

Der andere Beamte wirkte verwirrt – aber dann dämmerte es ihm. Seine Kinnlade fiel nach unten, und er musste zweimal ansetzen, um seine Waffe in das Holster zu bekommen. Er starrte den Vampir nur an, während sein Partner schnell schaltete und versuchte, die Situation PR-tauglich zu retten.

Royce senkte seine Hände und tätschelte dem neben ihm stehenden Beamten die Schulter. So, wie der Mann zusammenzuckte, hätte der Vamp ihn genauso gut mit einem glühenden Eisen berührt haben können. »Kein Problem, Sie machen nur Ihren Job. Ich mache gerne eine Aussage und kooperiere gerne, wie Sie es für nötig halten.«

Ich beobachtete das alles vollkommen perplex. Royce hatte auch das New York Police Department in der Tasche? Ich wusste, dass er einflussreich und bekannt war, aber das hier mutete einfach nur verrückt an. So, wie die zwei sich benahmen, hätte man meinen können, sie hätten mit der Waffe auf den Bürgermeister gezielt. Plötzlich schalteten sie von kampflustigen Beschützern der bedrohten Jungfrau, die nicht mehr wirklich bedroht wurde, auf aalglatte Politiker um, die versuchten, den großen bösen Vampir zu beruhigen, der vielleicht verärgert sein könnte.