The Sounds of Life — Die verborgene Welt der Tiere und Pflanzen - Karen Bakker - E-Book

The Sounds of Life — Die verborgene Welt der Tiere und Pflanzen E-Book

Karen Bakker

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Beschreibung

Technologie lenkt uns oft von der Natur ab, aber was wäre, wenn sie uns stattdessen hilft Tiere und Pflanzen wirklich zu verstehen oder sogar mit ihnen zu sprechen? In der Natur wimmelt es von Klängen, von denen viele außerhalb des menschlichen Hörbereichs liegen: Es ist die verborgene Kommunikation der Tiere und Pflanzen. Wissenschaftler setzen bahnbrechende digitale Technologien ein, um diese erstaunliche Kommunikation zwischen unseren Mitgeschöpfen zu entschlüsseln. The Sounds of Life erzählt faszinierende Geschichten über nichtmenschliche Klänge, beruhend auf den neuesten Erkenntnissen der Bioakustik. Wir erfahren, wie künstliche Intelligenz nichtmenschliche Geräusche entschlüsseln kann, lernen Forscher kennen, die Wörterbücher für den Ostafrikanischen Elefanten und den Pottwal erstellen oder lauschen digital vermittelten Dialogen mit Fledermäusen und Honigbienen. Und wir treffen Wissenschaftler, die Klänge zum Schutz und zur Regeneration bedrohter Arten einsetzen, vom Great Barrier Reef über die Arktis bis zum Amazonas. Und was wäre, wenn wir nicht nur mit Tieren kommunizieren könnten – sondern sogar mit Pflanzen? Denn Forscher sind dabei, sogar dies möglich zu machen. So könnten wir unsere Zimmerpflanzen zukünftig fragen, ob sie Durst haben und die Bedürfnisse der Wälder besser verstehen, um sie zu schützen. Eine hoch spannende Lektüre über eines der letzten bisher ungelösten Rätsel unseres Planeten: Die bisher verborgene Sprache der Tiere und Pflanzen.

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Seitenzahl: 653

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Karen Bakker

The Sounds of Life

Die verborgene Welt der Tiere und Pflanzen

Wie revolutionäre Technologien uns helfen die Sprache der Natur wirklich zu verstehen

The Sounds of Life

Die verborgene Welt der Tiere und Pflanzen

Wie revolutionäre Technologien uns helfen die Sprache der Natur wirklich zu verstehen

Karen Bakker

Übersetzung aus dem Englischen von Anja Lazarowicz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2023

© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2022 bei Princeton University Press unter dem Titel The Sounds of Life. How Digital Technology Is Bringing Us Closer to the Worlds of Animals and Plants. © 2022 by Karen Bakker. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Anja Lazarowicz

Redaktion: Christiane Otto

Korrektur: Dr. Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Donlawath S; Shutterstock.com/SaltedLife; Shutterstock.com/MERCURY studio; Shutterstock.com/Hangoverr

Satz: abavo GmbH, Buchloe

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-715-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-369-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-370-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für den Peace River

Wenn wir der Wildnis lauschen, werden wir Zeugen von Gesprächen in einer uns fremden Sprache.

Robin Wall Kimmerer, Braiding Sweetgrass

INHALT

Einleitung

1 Sounds of Life

2 Der singende Ozean

3 Leises Donnergrollen

4 Die Stimme der Schildkröte

5 Riffe und ihre Wiegenlieder

6 Pflanzenpolyphonien

7 Fledermausgebrabbel

8 Wie man Honigbienisch spricht

9 Das Internet der Erdlinge

10 Dem Baum des Lebens lauschen

Danksagung und Liste der Interviewten

Anmerkungen

Appendix A Wie man mit dem Zuhören beginnt

Appendix B Kurzer Überblick über die Forschung zur Bio- und Ökoakustik

Appendix C Weiterführende Lektüre und Bibliografie

EINLEITUNG

Verglichen mit unseren Verwandten auf dem Baum des Lebens sind wir Menschen schlechte Hörer.1 Unterhalb des menschlichen Hörvermögens beginnt der tiefe Infraschall: das Reich von Donner und Wirbelstürmen, Elefanten und Walen. Viele Lebewesen fühlen und kommunizieren über Infraschall, der mühelos große Entfernungen durch Wasser und Luft, Erde und Stein zurücklegen kann. Bei einem der berühmtesten Paarungsrituale im Tierreich senden männliche Pfauen, wenn sie ein Rad schlagen, kräftige Infraschallwellen; was der Mensch für eine visuelle Vorführung hält, ist in Wirklichkeit eine akustische Verführung.2

Den tiefsten Infraschall erzeugt unser Planet aber selbst. Könnte man sich in den Infraschall der Erde einwählen, würde man vielleicht das Rumpeln kalbender Eisberge, das Brüllen eines Vulkans oder das Tosen eines Taifuns vom anderen Ende der Welt hören.3 Tiefer als alles andere schwingt der regelmäßige Infraschallpuls der Erde unter unseren Füßen und in der Luft. Wenn Ozeanwellen über Kontinentalplatten aufeinanderprallen, lassen sie die Erdkruste rhythmisch vibrieren – das ist der trommelnde Herzschlag unseres Planeten.4 Erdbeben erschüttern die Erdoberfläche und erzeugen so Infraschallbeben in der Luft, die unsere Atmosphäre wie eine leise Glocke zum Schwingen bringen.5

Der Infraschallchor des Planeten umgibt uns ständig mit seinem Klang. Viele Tiere wie Felsentauben und Schlangen, Tiger und Bergbiber sind in der Lage, diese niederfrequenten Töne zu hören, nicht aber die Menschen.6 Unser Hörvermögen ist in der Regel auf einen relativ schmalen Frequenzbereich zwischen 20 Hz und 20 kHz beschränkt, der mit zunehmendem Alter noch enger wird. Wenn überhaupt spüren wir Infraschall ganz selten als eine Art Herzklopfen oder als ein beunruhigendes Gefühl von Unwohlsein.7

Am anderen Ende des Spektrums, über der Obergrenze des menschlichen Hörvermögens, beginnt der Ultraschall: hochfrequente Töne, die so schnell schwingen, dass wir sie nicht hören können. Erstaunlich viele verschiedene Spezies wie Mäuse und Motten, Fledermäuse und Käfer, Maispflanzen oder Korallen senden für Menschen nicht wahrnehmbare Ultraschalltöne.8 Vielleicht waren unsere Vorfahren früher einmal in der Lage, diese Hochfrequenztöne zu hören; Koboldmakis und Zwerglemuren, unsere kleineren Verwandten unter den Primaten, können immer noch mithilfe von Ultraschall kommunizieren9, eine Fähigkeit, die der Mensch jedoch heute verloren hat.10

Wieder andere Arten verwenden Ultraschall, um ihre Welt zu visualisieren: Sie navigieren damit, finden damit Partner und verfolgen ihre Beute. Mit der sogenannten Echoortung oder Echolokation erschaffen Fledermäuse und Zahnwale Bilder von ihrer Umgebung, indem sie Ultraschallstrahlen aussenden und die zurückkehrenden Echos analysieren. Biosonar (wie Echoortung auch genannt wird) funktioniert so ähnlich wie ein akustisches Blitzlicht, das im Laufe der Evolution so optimiert wurde, dass es genauso präzise wie unsere empfindlichsten medizinischen Geräte arbeitet. Einfachere Arten von Echoortung benutzen zum Beispiel auch Mauersegler und Ölvögel, Nachtspitzmäuse und Ratten; sie alle sehen die Welt ebenfalls mithilfe von Tönen.11 Und obwohl ihre Rufe zu den lautesten im Tierreich gehören, die je aufgezeichnet wurden, sind sie für uns unhörbar.12 Sehr wenige aufmerksame Menschen können mit einiger Übung manchmal das ganz leise Klicken am unteren Ende der Echoortung von Tieren hören; und in ganz seltenen Fällen entwickeln blinde Menschen tatsächlich die Fähigkeit, sich über Echo zu orientieren. Aber für die meisten unter uns ist selbst der lauteste Ultraschallton, der einem direkt ins Ohr geblasen wird, weiter nichts als ein scheinbar sinnloser, gespenstischer Windhauch.

Der Blackfoot-Philosoph Leroy Little Bear erklärt es so: »Das menschliche Gehirn funktioniert wie eine Station auf einer Radioskala; wenn es auf einen Sender eingestellt ist, ist es taub für alle anderen Stationen … Tiere, Bäume und Felsen hingegen senden quer über die gesamte Bandbreite gleichzeitig.«13 Unsere Physiologie – und vielleicht auch unsere Psyche – begrenzen die Fähigkeit, unsere nichtmenschlichen Verwandten zu hören. Doch nun beginnt die Menschheit, ihr Hörvermögen zu erweitern. Die digitalen Technologien, die so oft mit der Entfremdung von der Natur in Verbindung gebracht werden, bieten uns die Möglichkeit, die Nichtmenschen deutlich zu hören und so unsere Beziehung zur Natur mit neuem Leben zu erfüllen.

In letzter Zeit haben Wissenschaftler begonnen, digitale Abhörgeräte in fast allen Ökosystemen der Welt zu installieren, von der Arktis bis zum Amazonas. Diese Mikrofone sind computergestützt und voll automatisiert und mit digitalen Sensoren, Drohnen und Satelliten derart perfekt vernetzt, dass sie sogar hören können, wenn eine Walmutter in den Tiefen des Ozeans ihrem Kalb etwas zuflüstert. Forscher haben Honigbienen und Schildkröten mit winzigen Mikrofonen ausgerüstet und Horchposten an Korallenriffen und Bäumen angebracht. Vernetzt man diese »Hörgeräte« miteinander, kann sich ihre Reichweite über ganze Kontinente und Ozeane erstrecken.14 Auch Amateure lauschen den Tönen der Natur mithilfe von preiswerten Abhörgeräten wie zum Beispiel Audio-Moth (ein Open-Source-Gerät von der Größe eines Smartphones); die billigste Build-it-yourself-Version kostet zurzeit deutlich unter 100 Euro.15 Kombiniert funktionieren diese digitalen Geräte wie ein Hörgerät mit planetarischer Reichweite, das uns Menschen in die Lage versetzt, die Töne der Natur über die Einschränkungen unserer sensorischen Fähigkeiten hinaus zu beobachten und zu studieren.

Dieses Buch erzählt von den Wissenschaftlern, die diese digitale Technik einsetzen, um die verborgene Welt der nicht von Menschen gemachten Laute und die erstaunlichen Töne, die sie hören, zu entschlüsseln. Die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen haben gezeigt, dass zahlreiche Spezies überraschend vielfältige Töne produzieren, die zum größten Teil für den Menschen unhörbar sind – und deshalb bis vor kurzem unerwartet und unbeachtet blieben. (Für dieses Buch habe ich die entsprechenden Daten für mehr als 1000 Arten ausgewertet, die aber nur einen kleinen Bruchteil der wissenschaftlichen Ergebnisse der Bioakustik darstellen, dem Fachterminus für die Wissenschaft, die den nichtmenschlichen Organismen zuhört.) Belugas und Delfine, Mäuse und Präriehunde bedienen sich einer jeweils unverwechselbaren Vokalisation (wie charakteristischen Signaturpfiffen), um sich untereinander auszuweisen, ganz ähnlich wie wir das mit unseren Eigennamen tun.16 Fledermausbabys »brabbeln« mit ihren Müttern, die ihren Jungen wiederum, wie wir Menschen, in »Motherese«, also »Mutterisch« antworten. Schildkrötenjunge, die bis vor kurzem noch als stumm galten, stimmen den Augenblick ihres Schlüpfens untereinander ab, indem sie sich durch ihre Eischalen hindurch etwas zurufen. Tiere machen Töne, um sich gegenseitig zu warnen, zu beschützen und zu ködern; um einander etwas beizubringen, zu amüsieren oder einen Namen zu geben.

Hört man der nichtmenschlichen Welt aufmerksam zu, offenbart sich einem die komplexe Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Arten, und gleichzeitig wird damit der Anspruch der Menschheit, als einzige Spezies eine Sprache zu besitzen, infrage gestellt. Diese Behauptung mag plausibel klingen, wenn es um Primaten oder Vögel geht. Aber die Digitaltechnik bringt etwas anderes zum Vorschein, nämlich das große Ausmaß akustischer Kommunikation überall in der Natur. Mithilfe von digitaler Bioakustik haben Wissenschaftler dokumentiert, dass Spezies ohne Ohren oder irgendwelche anderen feststellbaren Hörorgane komplexe Informationen auswerten und beantworten können, die durch Töne übermittelt wurden. Sich selbst überlassen im offenen Ozean sind Larven von Fischen und Korallen (wenige Millimeter große Lebewesen ohne zentrales Nervensystem) in der Lage, den besonderen Klang ihres Heimatriffs an der Kakofonie des Ozeans zu erkennen und dann nach Hause zu schwimmen, um dort für immer zu bleiben. Pflanzen senden deutlich hörbare Ultraschallgeräusche aus, wenn sie dehydriert sind oder unter Stress stehen. Blumen beantworten das Summen der Bienen wie in Vorfreude mit einem Schwall süßen Nektars. Die ganze Erde befindet sich ständig im Gespräch. Und jetzt bietet die Digitaltechnik den Menschen neue Möglichkeiten, den lebendigen Tonlandschaften überall um uns herum zuzuhören und unsere Ohren den geheimnisvollen, nicht menschengemachten Klängen der Natur zu öffnen.

Resonanzboden Erde

Die bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen, um die es in diesem Buch geht, stammen in erster Linie aus zwei Forschungsbereichen: der Bioakustik und der Ökoakustik. Zusammen gewähren diese wissenschaftlichen Disziplinen den Menschen digital vermittelten Zugang zu den verborgenen Konversationen, die überall in der Natur, selbst in den entlegensten Winkeln der Erde stattfinden. Die folgenden Kapitel erörtern, wie enorm dadurch unsere Fähigkeit zunimmt, Organismen und Ökosysteme zu erforschen und Umweltveränderungen zu entdecken. Einige Wissenschaftler experimentieren auch mit dem Einsatz von Bioakustik und Ökoakustik zur Rettung von Ökosystemen; sie haben gelernt, dass Töne aus der Natur zur Heilung von Pflanzen und Tieren, einschließlich uns Menschen, eingesetzt werden können. Ihre Untersuchungen zeigen auch ganz klar, dass Umweltlärm eine exponentiell zunehmende Verletzung der Natur und eine der größten Umweltverschmutzungen darstellt. Deshalb gehört es mit zu den wichtigsten Umweltschutzaufgaben unserer Zeit, den menschengemachten Lärm abzustellen.17

Aber was genau ist eigentlich Bioakustik? Einfach ausgedrückt ist es die Erforschung der Töne, die von lebenden Organismen erzeugt werden.18 Hierfür braucht es Meister der Kunst wie auch der Wissenschaft des Hörens. Stellen Sie sich einen Feldbiologen mit einer Zusatzausbildung zum Gehörspezialisten, den Kenntnissen eines Informatikers und der musikalischen Sensibilität eines Komponisten vor, dann haben Sie ungefähr die Hälfte der Kompetenzen vor sich, die Bioakustiker heute vorweisen.19 Bioakustik verhilft zu tiefen Einblicken in die Erforschung der Wildnis; mit ihrer Hilfe wurden vollkommen neue Arten entdeckt und andere wiedergefunden, von denen man gedacht hatte, sie wären ausgestorben. Eine Kamera kann nur die Tiere sichten, die den Waldweg benutzen, aber ein digitaler Rekorder hört sie auch, wenn sie sich im Gebüsch verstecken.

Ökoakustik, auch akustische Ökologie, Umweltakustik oder Klanglandschaftsökologie genannt, bedeutet das Hören von Umweltgeräuschen, die von ganzen Landschaften erzeugt werden.20 Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich mitten in einem tropischen Wald: Vielleicht hören Sie raschelnde Blätter, Vogelgesang, einen tosenden Wasserfall. Zusammengenommen bilden diese Geräusche eine sogenannte Klanglandschaft.21 Klanglandschaften verraten viel über den funktionalen Zustand von Ökosystemen, weil ein angeschlagenes oder zerstörtes Ökosystem ganz anders als ein gesundes klingt. So wie man mit einem Stethoskop Herzgeräusche hört, kann die Ökoakustik die Anwesenheit oder Abwesenheit gesunder Töne feststellen. Jede Landschaft besitzt eine eigene, unverwechselbare Klanglandschaft, gleichsam eine akustische Visitenkarte mit allen charakteristischen Tönen dieser Landschaft, einschließlich der dort vorkommenden Tiere (Menschen eingeschlossen), Pflanzen und sogar der geologischen Beschaffenheit.22 Allein durch Hören vermag einem ein Ökoakustiker den Unterschied zwischen einer Baumschule und einem Wald zu erklären oder erste Anzeichen der Schädigung in einem vermeintlich intakten Ökosystem auszumachen. Mithilfe von Ökoakustik können wir jetzt unberührtes Gelände kartografieren, ohne je einen Fuß dorthin zu setzen.23 Ökoakustiker lauschen Landschaften wie Radiologen ein MRT-Ultraschallbild betrachten, wobei sie die winzigsten Anzeichen für Gesundheit oder Krankheit erkennen.

Eine neue Generation digitaler Aufnahmetechniken hat in letzter Zeit die Bio- und Ökoakustik derart verändert, dass wir inzwischen aus der Ferne und vollautomatisiert zuhören können.24 In den Anfängen der analogen Aufnahmen von Tönen aus der Natur war die Technik noch sperrig, umständlich und teuer. Heute gibt es anstelle schwerer Magnetbandspulen tragbare, leichte, preiswerte und langlebige Digitalrekorder. Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, dass man mit der Ausrüstung für Außenaufnahmen einen Minivan füllen konnte; moderne Digitalrekorder passen in einen Rucksack oder sogar in die Hosentasche. Diese digitalen »Hörgeräte« lassen sich so gut wie überall installieren und funktionieren pausenlos. Außerdem haben sie eine größere Reichweite zur Erfassung von Tönen als eine Kamera zur Aufnahme von Bildern. Wissenschaftler bekamen so die Möglichkeit, Töne aus den entlegensten Gegenden der Welt und überall auf dem Baum des Lebens zu hören. Rund um den Erdball empfangen inzwischen Laien und Experten die Töne der Natur.

Die Digitalisierung löst auf jedem Gebiet einen Datentsunami aus. Um dieser Datenflut Herr zu werden, haben Wissenschaftler mithilfe von Künstlicher Intelligenz neue Techniken entwickelt, um ihre akustischen Digitalaufnahmen zu analysieren.25 Algorithmen, die ursprünglich für die menschliche Sprache entwickelt worden waren (wie die Sprache-zu-Text Algorithmen von einem Smartphone), wurden so umfunktioniert, dass man damit die Stimmen anderer Arten analysieren und interpretieren kann.26 Diese bioakustischen Algorithmen wurden in den letzten paar Jahren dermaßen optimiert, dass sie heute verschiedene Arten und sogar einzelne Tiere identifizieren können, ganz ähnlich wie eine Software für Stimmerkennung.27 Dennoch sollte man die aktuelle Leistung dieser Algorithmen nicht überbewerten, weil sie noch nicht sehr gut verallgemeinern können und nicht selten manuell überprüft werden müssen.28 Probleme mit der vor Ort verwendeten Hardware, wie zum Beispiel die Leistungsbegrenzung der Sensoren, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Sollten diese Probleme aber behoben werden, stünde die Menschheit kurz vor der Erfindung einer zoologischen Version von Google Translate.29 Die Wissenschaft ist gerade dabei, diese digitalen Hörgeräte mit Künstlicher Intelligenz zu kombinieren und so nichtmenschliche Töne zu entschlüsseln und zu speichern. Einige Wissenschaftler arbeiten mit Künstlicher Intelligenz an der Erstellung von Wörterbüchern für Ostafrikanisches Elefantisch, Südaustralisches Delfinisch oder Pazifisches Pottwalisch. Einigen wenigen ist bereits ein Zwiegespräch mit Nichtmenschlichen gelungen, vermittelt durch Roboter und Künstliche Intelligenz. Die Digitaltechnik erlaubt es ihnen heute, das charakteristische Kommunikationsmuster eines Organismus nachzuahmen. Auch wenn unsere Stimmbänder keine Klicklaute wie ein Delfin oder das Summen einer Biene erzeugen können – unsere Computer und Roboter können das sehr wohl. Dieselben Techniken, die wir im Internet der Dinge verwenden, werden jetzt für eine vollkommen neuartige Kommunikation mit anderen Arten weiterentwickelt.

Und diese Techniken ermöglichten wissenschaftliche Entdeckungen, die unser Verständnis und unsere Einsicht in die Natur revolutioniert haben. In den folgenden Kapiteln will ich von diesen Entdeckungen erzählen, wobei ich drei Punkte besonders hervorheben möchte: Weit mehr Nichtmenschen, als die Forschung bisher angenommen hat, können Töne erzeugen und wahrnehmen; viele Spezies verfügen über deutlich komplexere Kommunikation und Sozialverhalten als bislang vermutet; und diese Ergebnisse liefern neue Möglichkeiten für den Umweltschutz wie auch für die artenübergreifende Kommunikation. Manchen dieser Erkenntnisse begegnete man zunächst mit Skepsis. Viele Wissenschaftler lehnten die Vorstellung anfangs ab, dass Nichtmenschen Töne außerhalb des menschlichen Hörvermögens erzeugen könnten (heute wissen wir, dass viele Arten dazu in der Lage sind und dass sogar noch mehr Arten diese Töne hören können). Viele Forscher machten sich auch über die Idee lustig, nichtmenschliche Wesen könnten subtile Töne zur Übermittlung komplexer Informationen erzeugen; man dachte, diese Fähigkeiten wären den Menschen vorbehalten (auch wenn wir heute wissen, dass das Gegenteil der Fall ist). Die Wissenschaftler, deren Arbeit auf diesen Seiten vorgestellt wird, konnten den Widerstand ihrer Fachkollegen oft nur durch besonders akribische Forschungsarbeit überwinden. Ihnen gebührt die gemeinschaftliche Entdeckung der nun allgemein anerkannten Bedeutung der Töne für die nichtmenschliche Welt, wofür sie Jahrzehnte benötigt haben.

Will man diese Erkenntnisse zur Verfügung stellen, sollte man aber unbedingt auch den hohen Stellenwert traditioneller Hörweisen würdigen. Deep Listening ist eine ehrwürdige, althergebrachte und wirkungsvolle Kunst, die nach wie vor praktiziert wird, um die wahren Geheimnisse der Natur zu enthüllen. Tatsächlich sind viele »Entdeckungen«, von denen dieses Buch berichtet, in Wirklichkeit nur Neuentdeckungen alten Wissens über unsere Umwelt. Die Pflanzenökologin Robin Wall Kimmerer vom Volk der Potawatomi sagt dazu: »Ich muss immer ein bisschen lächeln, wenn ein Kollege sagt, er hätte x oder y entdeckt. Das ist in etwa so, wie Kolumbus die Entdeckung Amerikas für sich beansprucht hat. Experimente sind nicht dazu da, etwas zu entdecken, sondern um das Wissen anderer Wesen anzuhören und zu entziffern.«30 Kimmerer will uns daran erinnern, dass uns die Natur die Antworten liefert, wenn wir klare, unvoreingenommene Fragen stellen und ihr geduldig Aufmerksamkeit schenken. Auf diese Weise kann man sehr viel lernen, und traditionelles ökologisches Wissen kann uns in dieser Hinsicht sehr viel beibringen. Deep Listening bietet auch die dringend benötigten Wegweiser in der neuen Welt der digitalen Bioakustik; es sorgt für eine fest verwurzelte moralische Verantwortlichkeit, ohne die unsere neuen digitalen Tools die Menschen dazu bewegen könnten, andere Spezies weiter auszubeuten und zu domestizieren, anstatt sie zu schützen und sich mit ihnen zu verständigen.

Ein Planet zieht sich Ohren an

Vor über 50 Jahren lieferte der Philosoph Pierre Teilhard de Chardin eine mystische Beschreibung der Zukunft mit EDV. Seine poetische Metapher für die zunehmende Allgegenwart von Computernetzwerken war sehr weitsichtig: Unser Planet »zieht sich ein Gehirn an«.31 Marshall McLuhan baute später in seinem Bestseller The Gutenberg Galaxy32 de Chardins Theorie noch weiter aus. Jahrzehnte vor der Erfindung des World Wide Web sah McLuhan eine digitale Revolution voraus, bei der die Verkoppelung von Computernetzwerken einem planetaren Nervensystem entsprach. Darüber hinaus prophezeite er, dass die Entstehung dieses digitalen Netzwerks neue Formen eines globalen Bewusstseins hervorrufen würde. McLuhan zufolge sind Technologien nicht einfach nur Werkzeuge, die der Mensch verwendet, sondern unsere Erfindungen verändern vielmehr sowohl unser individuelles als auch unser kollektives Verhalten und Bewusstsein. Als Johannes Gutenberg um 1450 die beweglichen Lettern erfand, war das der entscheidende Auslöser in der Entwicklung von standardisierter, einheitlicher und schließlich automatisierter Verbreitung kulturellen Wissens über gedruckte Massenmedien wie Bücher und Zeitungen.

Im Zentrum von McLuhans Argumentation stand das Zusammenspiel der Technik mit unseren Sinnen. Der Siegeszug der beweglichen Lettern veränderte die Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen, behauptete er. Indem mündliche und handschriftliche Überlieferung durch Drucktechnik ersetzt wurde, verstärkte das die Bedeutung unserer visuellen Sinne; die Alleinstellung der oralen und auditiven Wahrnehmung verschwand. Informationen mussten nicht länger weitererzählt und erinnert, sondern von da an eher gesammelt und geordnet werden. Vorbei war die Zeit, als man lange Gedichterzählungen rezitierte, wodurch man die Kunst des Erinnerns trainierte. An ihre Stelle trat die Segmentierung von Informationen, wodurch die Spezialisierung auf bestimmte Wissensgebiete trainiert wurde. Lese- und Schreibkompetenz lösten die mündliche Überlieferung ab, die Dewey-Dezimalklassifikation verdrängte Homers Odyssee.

McLuhan sah aber auch ein Wiederaufleben der mündlichen Kultur vorher. Während mit der Drucktechnik der Geschichtenerzähler durch das Zwischenschalten eines fixen Texts (ein Buch) von seinem Publikum getrennt wird, ahnte er, dass die digitale Kommunikation zu einer Rückkehr der oralen Form des interaktiven Geschichtenerzählens führen würde: dem Wechselspiel zwischen Geschichtenerzähler und Hörerschaft, Call-and-Response-Interaktionen (Ruf und Antwort) und mimetischer, gemeinschaftlicher Entwicklung von Handlungssträngen. Der Höhenflug von Internetphänomenen wie TikTok oder interaktiven Computerspielen scheint McLuhans Theorie zu bestätigen (einschließlich seiner Prophezeiung eines neuen Tribalismus). Was McLuhan und de Chardin allerdings nicht prophezeit haben, war die Ausdehnung dieser digitalen, vernetzten Kulturen auf die Einbeziehung von Nichtmenschen. Was hätten die beiden wohl aus digitaler Bioakustik und der potenziellen Interaktion zwischen den Arten via Internet gemacht?

Geschichten von Menschen, die mit Tieren sprechen, sind so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Im Pazifischen Nordwesten erzählen indigene Gemeinschaften, wie Txeemsim (Raven) – ein Schwindler in verschiedener Gestalt, ein Schlingel und Schamane – die Menschen natürliches Gleichgewicht und Harmonie lehrt, während sie in einer Natur leben, die menschliche Wesen sowohl hervorbringt als auch erhält.33 In dem persischen Nationalepos Shahnameh unterrichtet Simurgh, der Phönix der Vögel, den ausgesetzten Prinzen Zal in Weisheit, um ihn auf die Rückkehr in die Welt der Menschen vorzubereiten.34 In der christlichen Überlieferung spricht der heilige Franziskus mit Wölfen und Vögeln über Buße und Liebe. In mittelalterlichen Schriften und Fabeln wimmelt es nur so von sprechenden Tieren. In Bestiarien aus dem Mittelalter kommen Tiere als Bauchredner menschlicher Moral, Zeugen menschlicher Fehlbarkeit und göttlicher Gnade und Heuchelei der Menschen über ihren Umgang mit der Natur vor.35 All diese Geschichten erinnern uns daran, dass die Natur sehr lehrreich ist; wir müssen ihr nur wieder zuhören.

Dennoch vertreten viele westliche Wissenschaftler auch die Ansicht (die sie angefangen bei Aristoteles und Augustinus über Thomas von Aquin und Descartes bis zum heutigen Tag verteidigen), dass »allein die Menschen unter den Tieren eine Sprache besäßen« und demzufolge ausschließlich sie vernunftbegabt seien.36 Diese Meinung wird gerade von einer neuen Generation wissenschaftlicher Erkenntnisse verworfen. Dennoch bleibt die menschliche Haltung zum Thema Tiersprache ambivalent und ist gekoppelt an die Unsicherheit über unseren Status: Sind wir ein Tier unter anderen oder unterscheidet uns etwas (Sprache, Einsatz von Werkzeugen, logos) wirklich von ihnen?37 Debatten über Tiersprache sind Prüfsteine für die Unsicherheit von uns Menschen über unsere Rolle im Kosmos.

Diese Unsicherheit bewirkt sogar eine Ambivalenz in Bezug auf unser Verhältnis zur Natur. Obwohl in den Entstehungsgeschichten vieler Kulturen erzählt wird, dass Menschen mit Tieren sprechen können, berichten uns die Sagen auch, dass diese Stimmen zum Schweigen gebracht wurden. Obwohl in Griechenland die allmächtigen Orakel in heiligen Hainen lebten und lebendige Erdgötter um Rat baten, wurden dort die Wälder erbarmungslos abgeholzt. Und während ihre Mitbürger die Inseln kahl schlugen, schrieben die griechischen Dichter, das Fällen eines Baumes käme einem Mord gleich.38 Früher haben wir alle – Menschen wie Tiere – dieselbe Sprache gesprochen, erklärt Robin Wall Kimmerer. Als dann aber die Siedler der Kolonialzeit kamen, verstummten die nichtmenschlichen Stimmen, schreibt John Borrows, Professor der Rechtswissenschaften und Angehöriger der Anishinaabe.39 Der Wunsch, die verloren gegangene Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Arten wiederzuerlangen, wühlt große Gefühle auf, von erbitterter Skepsis bis hin zur Sehnsucht nach Wiedervereinigung. Die Geschichten in diesem Buch erforschen diese Spannung. Indem ich mir vor Augen halte, dass Töne mehr sind als nur digitale Daten, versuche ich mehrere Wahrheiten gleichzeitig zu behaupten und zu bewahren: Ton bedeutet Daten und Information, Ton bedeutet Musik und Sinn, Ton ist Sprache und die wahre Sprache von Orten und nichtmenschlichen Völkern. Hören ist sowohl eine wissenschaftliche Methode als auch eine Art von Zugeständnis, dass wir nur als Gäste auf diesem Planeten anwesend sind und unsere Verwandtschaft mit anderen Spezies auf dem Baum des Lebens mit offenen Armen annehmen.

Oft wird die Digitaltechnik im Verein mit der Wissenschaft als eine Methode und ein Mindset beschrieben, die uns von anderen Spezies unterscheiden. Dieses Buch bietet eine andere Sichtweise: Erweitert um die Digitaltechnik und verflochten mit dem Deep Listening verfügt die Wissenschaft über das Potenzial, uns auf eine Reise zur Wiederentdeckung der Natur mitzunehmen. Auf diese Weise sorgen wir uns vielleicht mehr um Gemeinschaft als um Herrschaft und fühlen uns mehr als Verwandte denn als Besitzer der Erde.

Beginnen wollen wir mit der Frage, wie die Iñupiat ihr überliefertes Wissen mit abendländischen Wissenschaftlern teilten, die mithilfe von Digitaltechnik wiederentdecken wollten, was die arktischen Völker seit langem kannten: die Schwingungen der Walgesänge in einem Ozean, den man einmal für still und stumm gehalten hatte.

1

SOUNDS OF LIFE

Herbert L. Aldrich entdeckte die Walmusik gewissermaßen auf seinem Totenbett. Als er von Tuberkulose gepeinigt die Prognose bekam, er habe höchstens noch ein Jahr zu leben, traf er eine spontane Entscheidung: Er wollte die Walfangflotte von New England auf ihre Jagd nach Grönlandwalen in die Arktis begleiten. Er arbeitete als Journalist für den New Bedford Evening Standard und war bis dahin noch nie an Bord eines Schiffs gewesen. Man schrieb das Jahr 1887 und Aldrich war 27 Jahre alt.1

20 Jahre zuvor hatte die New York Times New Bedford, das Zentrum der amerikanischen Walindustrie, als den »wahrscheinlich reichsten Ort« der Vereinigten Staaten beschrieben.2 In der Alten und in der Neuen Welt befeuerte Walöl die Industrialisierung, indem es die Straßen beleuchtete und Kolben, Webstühle und Kugellager schmierte. Waltran machte Seife, Margarine und Lippenstifte weich; Walbarten formten die Korsettrundungen unter den Kleidern.3 Noch bevor der Goldrausch die Berge in Yukon mit Goldgräbern überschwemmte, überschwemmte ein Walrausch das Nordpolarmeer mit Schiffen.4 Mit einem einzigen Wal ließ sich damals über 1 Million Dollar machen (auf heute umgerechnet); erfolgreiche Walfänger konnten sich nach wenigen Expeditionen als reiche Männer zur Ruhe setzen.5

Doch als Aldrich zu seiner Reise aufbrach, waren die goldenen Jahre des Walfangs vorbei. In der östlichen Arktis hatte man die Wale so bejagt, dass sie vom Aussterben bedroht waren, und in der westlichen Arktis sah es kaum besser aus.6 Die Fangflotte sollte es nur noch wenige Jahre geben. Die Lokalprominenz von New Bedford unterstützte die Fahrt des jungen Mannes quasi in memoriam: Ein sterbender Mann dokumentiert ein sterbendes Gewerbe.

Walfang in der Arktis war nichts für Zartbesaitete.7 Jedes Jahr gingen Schiffe im Packeis verloren. Ein Eisstau konnte in kürzester Zeit höher als die Schiffsmasten werden und den hölzernen Rumpf der Schiffe zerquetschen. Aldrich beschrieb ein Gefühl extremer Verletzbarkeit, angewiesen auf ein Schiff aus Holz, das »so zerbrechlich war wie eine Eierschale, eingequetscht zwischen Eisschollen«.8 Es war erst ein Jahrzehnt her, dass das Eis eine ganze Flotte von 40 Schiffen verschlungen hatte und über 1000 Männer, Frauen und Kinder in kleinen Ruderbooten fliehen mussten.9 Oder wie Ismael in Moby Dick sagt, »Der Tod lauert im Walfang, gewiß – ein unwahrscheinlich schneller Aufstieg des Menschen Hals über Kopf in die Ewigkeit.«10

Doch allen Gefahren zum Trotz waren Wale eine unwiderstehliche Beute. Als ihre Zahl zu schrumpfen begann, fuhren die Walfänger bis in die entferntesten und gefährlichsten Ecken des Ozeans. Hier war die Jagd sogar für die Inuit und Iñupiat, die Meisterjäger waren, ein Tanz mit dem Tod. Ittuangat Aksaarjuk beschreibt die Jagd auf Wale in Qikiqtaaluk (Baffin Region) entlang der zurückweichenden Kante einer riesigen Eisscholle.11 Die Männer fuhren im offenen Wasser an der sich ständig verändernden Kante entlang, zogen bei Sturm ihre offenen Kähne aufs Eis und drehten sie auf den Kopf, um darunter Schutz zu suchen, immer in der Hoffnung, das Eis würde nicht abbrechen und sie vom Festland wegtreiben.

Als Aldrich Anfang März an Bord der Young Phoenix aufbrach, war das Eis vor der Küste von Alaska noch dick und die Sonne schob sich nur langsam über den Horizont. Trotz dichten Nebels folgte die Flotte aus über 30 Schiffen schmalen Spalten im Eis, die sich meist gleich wieder hinter ihnen schlossen. Sobald sich eine neue Spalte auftat, fuhren die Schiffe weiter. Sonst blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten und zuzusehen, wie die Eisschollen sich in die Lücken drückten. Der Weg von einem Wassergefängnis zum nächsten war wie eine lebensgefährliche Schachpartie gegen einen ständig seine Stellung wechselnden Kontrahenten. Aldrichs Kapitän Edmund Kelley hatte sein Schiff Seneca erst wenige Jahre zuvor verloren, und auch die Young Phoenix sollte am Ende vor der Küste von Alaska einem Sturm zum Opfer fallen, der mehrere Schiffe zerstörte.12

Während sie oft lange auf eine neue Spalte im Eis warten mussten, vertrieben sich die Seeleute die Zeit mit der Jagd auf Walrosse und Robben, Spielen und Geschichtenerzählen. Aldrich wechselte von einem Schiff zum nächsten, von der Eliza auf die Hunter, von der Balaena auf die Thrasher, wobei er die Reise mit seiner Scovill Detective Camera dokumentierte.13 Die meiste Zeit allerdings war er frustriert. Eines Nachts versuchte Kapitän Kelley ihn mit Geschichten von »singenden« Walen zu trösten. Aldrich hielt das zunächst für einen Scherz, mit dem man sich über ihn lustig machen wollte, einen naiven Außenseiter und den ersten Schreiber, der eine Walflotte in die westliche Arktis begleitete. Doch eines Tages hörte auch er die Walmusik, als die Schiffe ihrer Beute folgten.

Aldrich berichtet, dass Kelley verspottet wurde, als er zum ersten Mal von seiner Entdeckung der Walgesänge erzählte, doch angesichts seines Mutes bei der Jagd hörte das Gestichel schließlich auf. Kelley trieb die Flotte an, selbst den leisesten Tönen zu folgen, die er angeblich als ein Vibrieren im Schiffsrumpf hören konnte. »Wenn Kapitän Kelley den Anker lichten ließ und Segel setzte, taten es ihm alle Schiffe nach«, erzählt Aldrich.14 Die Kapitäne der anderen Schiffe nahmen das zur Kenntnis und begannen, Tag und Nacht Wache zu stehen auf der Suche nach einem Walgesang.

Wenn ein Wal harpuniert worden war, legte Kelley sein Ohr an das straff gespannte Schlepptau und lauschte, berichtete Aldrich später:

Kelley hörte, wie der getroffene Wal ein tiefes, heftiges und qualvolles Stöhnen von sich gab, wie ein Mensch mit großen Schmerzen. Bei Grönlandwalen klingt der Klagelaut in etwa so wie das Hoo-oo-oo des Streifenkauz, aber gedehnter und eher wie ein Brummen als ein Eulenruf. Er beginnt mit einem f, wird höher, g, a, b, manchmal c, bevor er dann wieder zum f zurückfällt. Der Klagelaut der Buckelwale ist viel feiner und klingt oft wie die E-Saite einer Violine.15

Auf ihrem Weg durch die Beringstraße, dem engen Meereszugang zur riesigen Beaufortsee, konnte Kelley die Grönlandwale an ihren Stimmen ausmachen und zur Strecke bringen. In diesem Jahr war die Fangquote der Flotte erstaunlich hoch; die Walfänger hatten rund 300 Tonnen Barten erbeutet, der größte Fang für Jahrzehnte.16

Für die Walfänger waren die Gesänge ein gratis Hinweis bei der Jagd, aber Aldrich fragte sich, was für einen Zweck sie eigentlich hatten.17 Bedeuteten die Gesänge vielleicht »eine Art Ruf oder Signal für die Wale, wenn sie die Passage durch die Beringsee machten, um einander zum Beispiel mitzuteilen, dass sie Richtung Nord unterwegs waren und die Meerenge vielleicht eisfrei sei?«18 Die Seeleute im Ausguck der Schiffe berichteten, dass andere Wale in der Nähe stets von den Schmerzenslauten eines harpunierten Wales verängstigt wurden. Zwei Jahre zuvor hatten Kelleys Leute einen Pottwal verletzt, und »sofort machte sich die ganze Schule, die drei Meilen weit oder mehr entfernt war, zu ihrem verletzten Gefährten auf den Weg und bildeten einen engen Kreis um ihn, als wollten sie von ihm erfahren, was passiert war.«19 Aldrich fragte seine Begleiter nach der Bedeutung der Walgesänge, aber die Seeleute waren so von der »pittoresken Spannung« der Jagd gefangen, dass sie seine Grübeleien über die Verständigung der Wale nicht interessierten.

Am 31. August erreicht die Young Phoenix Point Barrow, die nördlichste Spitze der Vereinigten Staaten, beinahe 500 Kilometer nördlich des nördlichen Polarkreises. An diesem strategisch günstig gelegenen Ort verbreitert sich die Beringstraße, die an ihrer schmalsten Stelle nicht einmal ganz 5 Kilometer breit ist, zur Beaufortsee. Aldrich ging von Bord und stellte fest, dass das Ufer noch eisbedeckt war. Er blickte Richtung Pol und beschrieb die Szene: »So weit das Auge reichte, konnte man im Norden und ostwärts nichts als Eis sehen, dickes, blaues Eis, und genauso undurchdringlich wie wenn das alles Granit wäre.«20 Die Iñupiat, die dort zu Hause waren, nannten den Ort Utqiaġvik, gutes Land, um wilde Wurzeln (utqiq) zu sammeln. Aber ihre Hauptnahrungsquelle bildeten Grönlandwale, die sie von ihren umiat aus jagten, Booten aus Seehundfell, mit denen sie die schmalen Wasserstraßen befahren konnten, für die die Schiffe der fremden Walfänger zu groß waren. Obwohl keine Wale gesichtet wurden, wollten die Iñupiat den Tieren weiter Richtung Norden folgen. Die Walfangflotte konnte aber nicht weiter; das Eis schloss sich bereits hinter ihnen, als sie Richtung Süden nach Hause segelten.

Diese Fahrt der Young Phoenix sollte eine der letzten der Walfangflotte sein. Man hatte die Grönlandwale nahezu ausgerottet. Aldrich kommentierte die Zerstörung: »Bevor die Walfänger dort auftauchten, konnten die Einheimischen Wale, Robben und Walrosse im Überfluss und direkt vor ihrer Tür jagen. Jetzt müssen die Jäger weite Strecken zurücklegen und kommen selten erfolgreich wieder. Die Wale werden von Jahr zu Jahr scheuer, sehr zum Nachteil der Einheimischen und der Walfänger.«21

Aldrich – der wieder gesund und 88 Jahre alt werden sollte – kehrte nach Hause zurück, veröffentlichte einen Reisebericht und hielt viele Vorträge über den Walfang und die Arktis. Aber seine Erzählungen von Walgeräuschen fanden wenig Aufmerksamkeit und gerieten bald vollkommen in Vergessenheit.22 Wie der Anthropologe Stefan Helmreich feststellt, galten die Ozeane allgemein als Orte der Stille. Von Jacques Cousteaus Buch Le monde du silence bis hin zu Kiplings poetischer Darstellung des Ozeans (»Es gibt keinen Laut, nicht einmal das Echo eines Lautes in den Wüsten der Tiefe.«) hielt man die Weltmeere für schalltote Zonen, in denen Grabesstille herrschte.23 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts konnten die Schiffsmannschaften dann keine Walmusik mehr hören; der Lärm der Motoren und Schiffsschrauben übertönte sie. Aber Kapitän Kelleys Technik sollte sich als sehr vorausschauend erweisen, indem er unbeabsichtigt zu einem Pionier der Wissenschaft von der marinen Bioakustik wurde: der Erforschung der Töne, die Meereslebewesen erzeugen.24

Störgeräusche

Kaum waren die Mikrofone erfunden, begannen sie mehr oder weniger zufällig das Quäken und Pfeifen von allen möglichen Lebewesen aufzunehmen, was jedoch kaum jemand beachtete. Bioakustische Forschung wurde größtenteils von als verschroben geltenden Wissenschaftlern wie dem slowenischen Biologen Ivan Regen betrieben, der Aufnahmen von Insektentönen anderen Insekten vorspielte und ihre Reaktionen sorgfältig beobachtete. Bei einem seiner bekanntesten Experimente verwendete Regen eine zu der Zeit brandneue Technik, damit ein männliches Insekt nach einem Weibchen derselben Spezies rufen konnte – nämlich ein Telefon.

Damals interessierte sich kaum jemand für diese esoterischen Experimente – mit einer Ausnahme: dem Militär.25 Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Armeen aller Herrenländer geheime Forschungsarbeiten über die Geräusche in den Meeren für neue Grundlagen zur U-Boot-Abwehr. Die Militärs hatten schnell erkannt, dass die Unterwasserakustik einen Schatz an wertvollen Informationen barg. Das Interesse der Marine galt vor allem einer speziellen Schicht im Ozean, die unter dem Namen Deep Sound Channel bekannt ist.26 Durch diesen Kanal, der zwischen 500 und 1500 Metern unterhalb der Oberfläche eines Ozeans in mittleren Breiten liegt, können Schallwellen Tausende von Kilometern zurücklegen. Dieser Kanal, der in den 1940er-Jahren entdeckt und SOFAR getauft wurde (sound fixing and ranging channel), rückte in den Mittelpunkt militärischer Interessen, weil man mit ihm Töne von Schiffssonaren aufspüren konnte, einem akustischen Unterwasseräquivalent zum Radar.27 Das Militär entdeckte, dass man mit einem Hydrofon (einem Unterwassermikrophon), wenn man es in den SOFAR-Kanal sinken ließ, U-Boote hören konnte, die Hunderte Kilometer entfernt waren.

Im Kalten Krieg gehörte die Ausbeutung des SOFAR-Kanals zu den Hauptaufgaben der Geheimdienste. Angesichts einer rapiden Aufrüstung der sowjetischen Unterwasserflotte, baute die US-Marine ein geheimes weltweites Netzwerk von fest installierten Horchposten auf dem Grund der Ozeane auf, genannt SOSUS, einem Akronym für Sound Surveillance System. Das SOSUS-Netzwerk bewährte sich. Es war in der Lage, sowjetische U-Boote quer durch alle Weltmeere ausfindig zu machen und zu verfolgen. Die Instrumente waren so empfindlich, dass sie das Auslösen eines Torpedos oder sogar das gedämpfte Geräusch einer Schiffsschraube auffangen konnten.28

SOSUS wurde zur amerikanischen »Geheimwaffe« im Kampf gegen feindliche U-Boote. Allerdings beklagten sich die Spezialisten der Navy, die mit SOSUS arbeiteten, häufig über leise stöhnende oder grollende Hintergrundgeräusche, die ihre Aufnahmen beeinträchtigten. Die Wissenschaftler der Navy waren ratlos. Handelte es sich dabei um Geräusche von hydrothermalen Schloten? Oder von Erdbeben? Manche der Töne ließen sich leicht mit Geräuschen von U-Booten oder anderen militärischen Unterwassergeräten verwechseln. Das bedeutete ein hohes Risiko für falschen Alarm in der ohnehin angespannten Lage des Kalten Kriegs.

Weil die Navy vermutete, ein Teil der Geräusche könnte von Meeresorganismen stammen, stellte man mehrere Bioakustiker ein, darunter auch Dr. Marie Poland Fish mit ihrem vielversprechenden Namen. Dr. Fish arbeitete mehr als 20 Jahre für das Office of Naval Research, vorwiegend mit Experimenten an in Gefangenschaft lebenden Meeresorganismen, die sie mit einer Art Elektroschockern für Rinder schikanierte. Sie zeichnete die so entstandenen Töne auf, damit die U-Boot-Jäger der Navy lernen konnten, wie sich Töne lebender Meeresorganismen von denen von U-Booten unterscheiden ließen.29 Nachdem sie über 300 Arten untersucht hatte – von Meeressäugetieren bin hin zu Muscheln – berichtete sie abschließend, dass eine Vielzahl dieser Spezies Töne erzeugen kann. Biologen stellten später fest, dass viele der Töne durch gewaltsam erzeugte Muskelkontraktionen entstanden und nicht repräsentativ waren für die Töne, die die Tiere unter normalen Bedingungen von sich geben.30 Das mag der Grund dafür sein, dass Dr. Fishs Experimente weder im großen Stil reproduziert wurden noch besondere Wertschätzung fanden (vielleicht aber auch, weil ihre Experimente an Folter erinnerten).31

Trotz dieser frühen Experimente entzogen sich die seltsamsten Töne, die die Spezialisten der Navy hörten und die aus den tiefsten Tiefen der Ozeane kamen, noch jeder Erklärung: Klicken, Ächzen, Stöhnen, Grunzen und Geheul. Seltsamerweise konnten manche dieser Töne von mehreren Lauschposten gleichzeitig empfangen werden, auch wenn sie weit voneinander entfernt in großen Meeresgebieten stationiert waren. Die Techniker gaben diesen geheimnisvollen Tönen Namen von Maschinen und fiktiven Ungeheuern: A-train, Jezebel (oder Jeze) Monster, Commas oder Barnyard Chorus. Irgendwann begriffen die Forscher der Navy schließlich, dass diese monströsen Rufe die charakteristischen Stimmen der Wale waren, mit denen sie sich unterscheiden ließen.32 Die Wale tauchten durch die Weltmeere und kommunizierten miteinander über den SOFAR- Kanal, über den ihre Gesänge Hunderte und sogar Tausende von Kilometern ungehindert zurücklegen konnten. Die Wale hatten vor langer Zeit perfektioniert, was das Militär eben erst entdeckt hatte.

Und während sich das Wissen der Navy über die Walgesänge nach dem Zweiten Weltkrieg rasant weiterentwickelte, wurde der erste öffentlich zugängliche Forschungsbericht zu dem Thema erst 1957 veröffentlicht. Die Autoren waren inspiriert von eigenen Begegnungen mit Walen, die sie während ihrer Militärzeit erlebt hatten. Bill Schevill, eigentlich Paläontologe von der Harvard Universität, hatte Walgesänge ausgemacht, als er im Krieg für die US Navy an der Entwicklung von Unterwasserabhörtechniken für SOSUS arbeitete. Normalerweise waren die Horchposten der Marine fensterlose Unterwasserräume, was dazu führte, dass die Militärbeobachter die Töne einfach nur als »Fischgeräusche« bezeichneten.33 Neugierig geworden, hatte Schevill die Paläontologie aufgegeben und sich so lange beworben, bis er eine Stelle an der renommierten Woods Hole Oceanographic Institution in Cape Cod ergattert hatte. Zu ihm stieß William Watkins, Sohn von afrikanischen Missionaren, Autodidakt und Erfinder des ersten Tonbandgeräts für Tonaufnahmen von Meeressäugetieren auf Hoher See. Watkins, der ursprünglich als Techniker eingestellt worden war, interessierte sich zeitlebens besonders für Linguistik. Er beherrschte über 30 afrikanische Dialekte und promovierte mit 55 Jahren an der Universität von Tokio, wo er seine Doktorarbeit auf seinen Wunsch hin auf Japanisch verteidigte.34 Schevill und Watkins befuhren 40 Jahre lang gemeinsam die Weltmeere, schlichen sich längsseits mit Segelbooten (weil die leiser waren als Motorboote) an Wale an und verpassten ihnen Funk-Tags, mit denen man sie aufspüren konnte.35 In Zusammenarbeit mit Schevills Frau Barbara veröffentlichten die Wissenschaftler einige 100 Hydrofonstudien. Watkins‘ Datenbank für Meeresakustik – mit über 20 000 Tonaufnahmen von über 70 verschiedenen Arten von Meeressäugetieren – wird bis heute vom Militär zur Ausbildung von Sonartechnikern benutzt.36

Watkins‘ und Schevills Arbeit legte den Grundstock für das vollkommen neue Verständnis der Wissenschaft, dass Wale durch und durch akustisch orientierte Lebewesen sind. Wale und andere Meereslebewesen sehen die Welt in Tönen. Vor über 70 Millionen Jahren kehrten die damals an Land lebenden Vorfahren unserer heutigen Wassersäugetiere wieder in die Ozeane zurück, wo alles Leben begann. Dort fingen sie an, sich wieder der Unterwasserwelt anzupassen. Unter Wasser übertrumpft Schall die Sicht. Licht kommt unter Wasser schlechter vorwärts als in der Luft, und ab etwa 30 Metern Tiefe kann man fast nichts mehr genau erkennen. Im Gegensatz dazu pflanzen sich Töne im Wasser viermal schneller als in der Luft fort. Unter Wasser können die Meerestiere viel weiter hören als sehen. Im Laufe der Evolution wurden die Wale feinabgestimmt auf die akustischen Bedingungen der Meereswelt, und Schall wurde bei der Jagd, im Kontakt mit ihren Artgenossen und bei der Flucht vor Feinden zum Mittel ihrer Wahl. Manche Arten entwickelten die Fähigkeit, im Bereich des tiefen Infraschalls zu hören, andere lernten das Hören im hohen Ultraschall. Die Dichte an Gehörganglien (Nervenzellen) ist bei Walen doppelt so hoch wie bei durchschnittlichen Landsäugetieren. Diese außergewöhnlich hohe Zahl an Hörnervenfasern bedeutet, dass Wale für weit komplexere Signalverarbeitung ausgestattet sind als die meisten Landsäugetiere, die Menschen eingeschlossen.37 Oder wie es der Bioakustiker Chris Clark von der Cornell University beschreibt: »Wale orientieren sich in hohem Maße akustisch. Ihr Bewusstsein und ihre Selbstwahrnehmung beruhen auf Hören, nicht auf Sehen.«38

Vereinfacht ausgedrückt verwenden Waltiere (also Meeressäugetiere wie Wale, Delfine und Tümmler) drei verschiedene Arten von Tönen zur Kommunikation.39 Die erste Art – die sozialen Rufe – verursacht eine Vokalisation, die größtenteils im Bereich des menschlichen Hörvermögens liegt. Für uns klingen die meisten dieser Töne wie Pfiffe, impulsartiges Quieken oder Quietschen nach ganz unterschiedlichen Mustern. Neugeborene Schwertwalbabys brabbeln zum Beispiel und fangen nach wenigen Monaten an, die Töne zu imitieren, die ihre Familien machen. Wie Menschen nutzen Schwertwale Töne, um einzelne Individuen zu identifizieren, Informationen auszutauschen und Beziehungen untereinander zu verhandeln. Jede Walschule hat ihren eigenen unverwechselbaren Dialekt, den die Kälber im Laufe mehrerer Jahre von ihren Müttern lernen, eines der vielschichtigsten Kommunikationsrepertoires in der Tierwelt.40 Da die Mitglieder einer Walschule ihr Leben lang zusammenbleiben, bilden die Dialekte einen Teil ihrer Identität und sind ein Hinweis für eine starke kulturelle Bindung. Schwertwale mit unterschiedlichen Dialekten gehen selten längere Verbindungen ein.41 Diese Dialekte sind so individuell, dass Wissenschaftler (und sogar geübte Laien) verschiedene Schulen allein durch Zuhören unterscheiden können. Manche Geräusche, die Wale machen, sind außerdem sehr laut: Der Pottwal, das lauteste Tier der Welt, kann mit über 200 Dezibel singen. Das ist lauter als ein Raketenstart oder ein startender Düsenjet (und laut genug, dass einem das Trommelfell platzen würde, wenn man in der Nähe schwimmen würde).

Die zweite Tonart, die Zahnwale verwenden (von ihnen gibt es mehr als 70 Spezies, darunter Delfine, Schwertwale, Tümmler und Pottwale), ist die Echoortung, auch Biosonar genannt. Wenn Tiere Biosonar benutzen (das für uns wie eine Folge schneller Klicks klingt), visualisieren sie ihre Umgebung, indem sie hochfrequente Schallwellen aussenden und Entfernung und Richtung von Objekten nach ihrem Echo auswerten – ziemlich genau so wie ein Ultraschallgerät beim Doktor funktioniert. Echoortung erlaubt es den Odontoceti (und anderen Tieren, wie zum Beispiel den Fledermäusen), ihre Umwelt zu »sehen« und darin zu navigieren, Beute zu finden und sogar die Innenansicht der Körper anderer Tiere zu scannen. Schwertwale scannen ihre Umgebung ununterbrochen mit Schall, so wie wir mit den Augen. Ihr Überleben hängt davon ab, dass sie die biosonaren Echos von schnellen Fischen oder sich nähernden Schiffen hören können.42 Oder um mit Clark zu sprechen: »Ihr Ohr ist ihr geistiges Auge.«43

Die dritte Art von Tönen, die manche Zahnwale von sich geben, ist das langgezogene, langsame und rhythmische Tonmuster der Bartenwale (Mysticeti), allgemein Walgesang genannt. Diese Gesänge, von denen man annimmt, dass sie nur von männlichen Tieren und wahrscheinlich während der Paarungszeit gesungen werden, gehören zu den komplexesten Tonfolgen im Tierreich. Manche Wale singen im Infraschallbereich, andere auf für Menschen hörbaren Frequenzen. Die Gesänge der Buckelwale sind am besten erforscht, aber auch andere Walarten singen unterscheidbare Tonfolgen. Die unterschiedlichen Melodien sind Spiegelbild eines empfindlichen evolutionären Gleichgewichts zwischen dem Habitat und den Schallgegebenheiten unterschiedlicher Meerestiefen, in denen sich jeweils verschiedene Walarten zeitweilig aufhalten. Spezies, die in der Tiefsee leben, brauchen einfache, beinahe spärliche Töne, um sie zuverlässig über weite Entfernungen zu senden. Für Arten, die sich in flacheren Gewässern aufhalten, wo sich der Schall aufgrund der akustischen Gegebenheiten des Ozeans nicht so weit fortpflanzen kann, optimiert eine größere Varianz an Mustern und Frequenzen ihre Kommunikation und Navigation. Manche Walgesänge dauern länger, andere sind kürzer, und während Grönlandwale und Buckelwale Sonette vortragen, sind Blauwale und Finnwale im Meer die Meister des Zen-Koans.44

In Anbetracht der Schwierigkeiten, die zerstörerisches Salzwasser, Stürme und starke Strömungen mit sich bringen, hatte außerhalb der Marine kaum jemand genug Zeit, Geld und Grips, um Walgesänge aufzunehmen. Sperrige Spulenaufzeichnungsgeräte, von der Größe eines kleinen Koffers und dann auch noch nicht wasserdicht, machten solche Unternehmen besonders unattraktiv. Obwohl ein gewisser Teil der ersten SOSUS-Aufnahmen 1991 freigegeben wurde, blieben neuere Versionen weiterhin unter Verschluss.45 Bioakustische Forschungen an Walen waren weiter relativ unbekannt, bis eine unerwartete Begegnung Walmusik in die ganze Welt brachte.

Walmusik holt Platin

1967 reisten die Wissenschaftler Roger und Katy Payne zur Walbeobachtung nach Bermuda – eine merkwürdige Mission, entstanden aus einer tragischen Begegnung.46 Katy hatte eine Ausbildung als klassische Musikerin, Roger war Biologe (oder Bioakustiker) und erforschte Fledermäuse und Eulen. Sein Lehrer aus dem Grundstudium in Harvard, Donald Griffin, hatte entdeckt, dass Fledermäuse ihre Echoortung in einer Frequenz betreiben, die Menschen nicht hören können. Roger Payne trat in Griffins Fußstapfen, promovierte in Cornell und legte eine seriöse wissenschaftliche Karriere hin. Aber es störte ihn, dass seine Arbeit nicht wirklich relevant war. »Mein Job interessierte mich und auch noch ein paar mehr Leute, aber er trug nicht dazu bei, die Zerstörung der Natur aufzuhalten«, erinnerte er sich später.47

Als er einmal noch spät nachts in seinem Labor an der Tufts University arbeitete, hörte Payne im Radio, dass ein toter Wal an einen Strand in der Nähe geschwemmt worden war. Dort angekommen musste er feststellen, dass der Wal bereits verstümmelt worden war. Man hatte ihm die Fluken abgehackt, wahrscheinlich als Souvenir. Zwei Leute hatten ihre Initialen tief in seine Flanke geschnitten. Jemand hatte einen Zigarrenstummel in sein Blasloch gesteckt. »Ich entfernte die Zigarre und blieb dort lange stehen, mit einem Gefühl, das ich nicht beschreiben kann«, schrieb Payne später. »Wahrscheinlich macht jeder einmal oder mehrfach solche Erfahrungen, die sein Leben verändern. In dieser Nacht war ich an der Reihe. Und obwohl ein Wal zur damaligen Zeit von der Begegnung mit Menschen nichts anderes zu erwarten hatte, war diese Erfahrung für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich beschloss, die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, um mehr über Wale zu lernen, damit ich etwas Gutes zu ihrem Schicksal beitragen konnte.«48

Payne traf diese Entscheidung zu einer Zeit, als der kommerzielle Walfang noch keinen Einschränkungen unterlag. Und weil industrielle Fangschiffe nach dem Zweiten Weltkrieg alle Weltmeere befuhren, waren die Walpopulationen auch in bis dahin unerreichbaren Zonen wie der Antarktis stark dezimiert. Dennoch wusste man immer noch wenig darüber, wo sich die Wale eigentlich aufhielten. Payne hatte noch nie einen lebendigen Wal gesehen und auch keine Ahnung, wie er einen finden könnte. Glücklicherweise gab ihm ein Treuhänder der New York Zoological Society, der Physiker und Millionär Henry Clay Frick II., einen Tipp. Auf einer Veranstaltung der zoologischen Gesellschaft bemerkte Frick beiläufig, dass seine Familie immer wieder von ihrem direkt am Strand gelegenen privaten Anwesen in Bermuda Buckelwale gesehen hatte.49

Sobald sich die Gelegenheit ergab, nahmen die Paynes ein Flugzeug auf die Insel. Einer von Fricks Kontaktleuten machte das Paar dann mit einem Marineingenieur namens Frank Watlington bekannt. Watlington hatte 20 Jahre zuvor als Leiter eines Horchpostens der Navy im Naval Underwater Systems Center in Southhampton, an der Südspitze von Bermuda gearbeitet. Er hatte ein Abhörsystem aufgebaut, mit dem er mehr als 30 Jahre lang fleißig Daten sammelte. Darüber hinaus hatte er aber auch jede Menge Zeit zur Verfügung und war ein großer Freund des Meeres: Seine Vorfahren, die sich im 17. Jahrhundert auf Bermuda niedergelassen hatten, waren Walfänger gewesen.50

Eines Tages fuhr Watlington mit seinem Boot etwas weiter raus als sonst und ließ ein Hydrofon etwas tiefer ins Wasser sinken als normalerweise. Mehr als 450 Meter unter der Wasseroberfläche schnappte er unheimliche, traurige Töne auf. Irritiert spielte er die Aufnahme einheimischen Fischern vor, die sagten, die Töne stammten von Walen. Watlington war fasziniert und nahm jahraus jahrein die Töne auf, was beileibe keine einfache Aufgabe war.51 Zuerst verwendete er eine Reihe von Walzen, die Aufzeichnungen auf Kopierpapier lieferten. Das System arbeitete mit Hitzdrahtstiften, die die Töne aus dem Meer in die wächserne Papieroberfläche ätzten, eine Art akustische Radierung, die sehr sorgfältig aufbewahrt werden musste. Später machte er Aufnahmen mit Spulen von circa 1,5 Zentimeter breiten Magnetbändern; für eine 24-Stunden-Aufnahme brauchte er eine komplette Ampex-Bandspule.52 Manchmal spielte er Leuten, denen er vertraute, einige Aufnahmen vor. Doch meistens hielt er sie versteckt, aus Angst, seine Vorgesetzten könnten Wind von seiner Sammlung bekommen oder gewerbsmäßige Walfänger die Walmusik zum Finden und Töten von Walen missbrauchen.53

Kurz nachdem Watlington die Paynes kennengelernt hatte, fühlte er sich irgendwie ermutigt, ihnen seine geheimen Aufzeichnungen zu zeigen. Katy berichtete später, wie sie im Maschinenraum von Watlingtons Boot die Bandaufnahmen angehört hatten. »So etwas hatten wir nie zuvor gehört. Die Tränen liefen uns übers Gesicht. Wir waren total fasziniert, weil diese Töne so schön sind, so ausdrucksvoll – und so wandelbar. Und dabei waren es, wie wir erst später erfuhren, die Töne von einem einzigen Tier.«54 Sie kannten sich gut genug aus, um zu ahnen, dass die Musik von Buckelwalen stammte. Und als Wissenschaftler verfügten sie auch über die erforderlichen Mittel, das zu beweisen. Am Ende vertraute Watlington ihnen eine Kopie seiner Aufnahmen an, die sie mit nach Hause nahmen. Das Geschenk war mit einer Bitte verbunden: »Geht los und rettet die Wale!«

Wenn sie sich nicht gerade um ihre vier kleinen Kinder kümmerte, verbrachte Katy Stunden mit dem Abhören der Bänder. Sie spielte sie wieder und wieder und erkannte so allmählich Muster, die sie akribisch notierte. Die Walgesänge waren so komplex wie eine komplizierte musikalische Komposition. Roger war zunächst skeptisch, ließ sich aber bald überzeugen. Die Gesänge wiesen eine innere Struktur auf, die man analysieren konnte. Aber wie sollte man das mit Aufnahmen solch fremdartiger Töne von einigen 100 Stunden Länge bewältigen? Die Paynes baten Scott McVay um Hilfe, einen Freund von der Princeton University. McVay hatte Zugang zu einer Maschine, mit der man einfache Spektrogramme machen konnte. Die Aufnahmen wurden in 3-Sekunden-Segmente untergliedert und als Diagramme gedruckt, die die Frequenz im Verhältnis zur Zeit darstellten. Katy lernte, die Maschine zu bedienen, und bald war das Wohnzimmer der Paynes vom Boden bis zu den Wänden übersät mit bedrucktem Papier. Am Ende umfasste das Forschungsunternehmen sämtliche Aufnahmen aus 31 Jahren. Katy schnitt einzelne Teile der musikalischen Linien aus, die der Spektrograf ausspuckte, und hörte sich die Gesänge so lange immer wieder an, bis sie sowohl einzelne Stimmen als auch die sich überschneidenden Muster unterscheiden konnte.55 Die Dauer der einzelnen Gesänge lag zwischen sechs Minuten und mehr als einer halben Stunde; dabei wiederholten sie die Wale wieder und wieder, manchmal über Stunden. Wie jede gute musikalische Komposition hatten sie eine Struktur: Satz, Thema, Klimax, Auflösung, Crescendo und Decrescendo. Nach und nach lernte Katy die Walgesänge auswendig. Mit ihrer naturgetreuen Wiedergabe verblüffte sie gelegentlich Besucher: Melodiöse, fremdartig klingende Töne kamen aus dem Körper einer amerikanischen Vorstadt-Mama.

In einem bahnbrechenden Artikel in Science stellten Payne und McVay die kühne Behauptung auf, dass Wale nicht zufällig stöhnten und klagten. Die verworren wirkenden Töne hätten eine komplexe Struktur und einen Rhythmus, wie Musik.56 Sie wählten ganz bewusst den kontroversen Begriff Gesang zur Beschreibung der »schönen und vielfältigen Töne«, die »mit beachtlicher Präzision wiederholt« würden. Die abschließende Deutung, die besagte, dass Wale zu komplexer Kommunikation fähig seien, sorgte unter Wissenschaftlern für einen Sturm der Entrüstung.57

Es gab schon früher wissenschaftliche Studien zur Beschreibung der komplexen Töne, die Wale machen, die allerdings selten die Analogie zur Musik herstellten. (Das hatte einen Beigeschmack von Anthropozentrismus, den Mainstream-Wissenschaftler mieden.) Die Behauptung, Cetacea könnten »schöne Musik« machen, ging vielen Forschern einen Schritt zu weit. Dabei fiel es Wissenschaftlern wirklich schwer, musikalische Metaphern für die Töne der Wale zu vermeiden. In dem ersten Artikel, der über die Töne der Belugawale in Nordkanada veröffentlicht wurde, schrieben die Forscher von pfeifen und quieken, miauen und zwitschern, schallenden Ohrfeigen, tickenden und glucksenden Tönen, irgendetwas zwischen einer Glocke und einem Orchester, das seine Instrumente stimmt, oder »Kindergeschrei in der Ferne«.58 Auch wenn Belugas wegen ihrer »Redseligkeit« den Spitznamen »Kanarienvögel des Meeres« tragen, waren die Wissenschaftler sehr darauf bedacht, nur Beschreibungen der Töne zu geben, sie aber nicht als Musik darzustellen, was weit weniger Raum für Hypothesen über ihre kommunikative Funktion bot.

Katy und Roger Payne ließen sich von dieser wissenschaftlichen Zurückhaltung nicht abschrecken. Mit ihren Kindern zogen sie nach Argentinien, an die Küste von Patagonien, wo sie 15 Jahre mit dem Studium der Vokalisation von Walen verbrachten. Nach und nach lieferten sie Beweise für ihre Theorie, dass Walgesänge Hinweise auf ein komplexes Sozialverhalten sowie Beweise für kulturelle Übermittlung in und unter Walgemeinschaften waren. Etwas später machte Katy die erstaunlichste Entdeckung: Männliche Buckelwale singen in bestimmten Regionen des Ozeans während der Fortpflanzungszeit alle dieselben Gesänge. Damit nicht genug, entwickeln sich die Gesänge von Jahr zu Jahr fast unmerklich weiter, sodass nach einigen Jahren nichts mehr übrig ist von den Liedern, die fünf oder zehn Jahre zuvor aufgezeichnet worden waren.59 Sie fand außerdem heraus, dass die längeren Gesänge eine innere Struktur haben, die sie mit Stanzen (oder Reimen) verglich, die in bestimmten Abständen oder an Anfang oder Ende der Phrasen wiederholt wurden. Diese tiefere Schicht aus reimartigen Wiederholungen erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass Wale, wie Menschen, Gedächtnisstützen verwenden, um sich längere Gesänge besser merken zu können.60 Jahrzehnte nach Katys Entdeckungen gilt die Gesangsübertragung unter Buckelwalen als Beweis für die planetare Größenordnung sozialer Interaktionen, des vokalen Lernens und der kulturellen Evolution von Buckelwalen.61 Ein Gesang, der aus einer bestimmten Gegend des Pazifiks stammt, kann sich nach und nach unter anderen Buckelwalpopulationen im gesamten Ozeanbecken ausbreiten. Wissenschaftler verstehen die präzisen Mechanismen dieser »Gesangsrevolutionen« noch nicht ganz, aber sehr wahrscheinlich sind dafür entweder einzelne Wale, die zwischen verschiedenen Populationen wandern, oder aber das vokale Lernen auf gemeinsamen oder geografisch benachbarten Wanderrouten verantwortlich.62

Beunruhigt durch den Fortbestand der kommerziellen Jagd auf Wale und eifrig bedacht, das Interesse einer breiten Öffentlichkeit auf die Notlage dieser Tiere zu lenken, unternahmen die Paynes einen ungewöhnlichen Schritt und veröffentlichten ihre Aufnahmen als Album. Songs of the Humpback Whale erschien 1972, gewann mehrere Platinschallplatten und ist heute noch die meistverkaufte naturkundliche Aufnahme aller Zeiten.63 Die Liner Notes beschreiben die Waltöne als Musik (»überschäumende, ununterbrochene Tonströme«) und heben auch Watlingtons Originalaufnahmen hervor: Ein Titel auf dem Album heißt einfach »Solo Whale«. Die Platte wurde zu einem bahnbrechenden Ereignis für die Wahrnehmung der Menschen von der Welt der Tiere. Die Gesänge der größten Lebewesen der Welt in den Tiefen der Ozeane zogen die Öffentlichkeit in ihren Bann.64 Die anschließende Debatte steigerte das Unbehagen an der Jagd auf Wale und an der Verwendung ihres Trans für Lippenstifte und Motorgetriebe und mobilisierte den öffentlichen Kampf für ein Verbot des industriellen Walfangs.65

1971 gab Roger Payne seinen akademischen Posten an der Rockefeller University auf und gründete die Ocean Alliance zum Schutz der Wale und ihrer Lebenswelt. Dann reiste er um die Welt und erzählte jedem, der es hören wollte, von den Walgesängen. »Ich stellte mir vor, man könnte vielleicht eine Bewegung zur Rettung der Wale in Gang setzen, wenn man ihre Töne irgendwie in die Kultur der Menschen einbaute«, sagte er später.66 Paynes Engagement wurde Auslöser einer weltweiten Bewegung. Greenpeace startete seine erste Save-the-Whales-Kampagne kurz nach Erscheinen des Albums, und bei der UNO-Umweltschutzkonferenz 1972 in Stockholm stimmten die Teilnehmer für die Forderung nach einem Zehnjahresmoratorium für kommerziellen Walfang. 1973 setzten die ursprüngliche US-amerikanische Liste der bedrohten Arten und die neu gegründete Convention on International Trade in Endangered Species mehrere Walarten auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere.67 Unter massivem Druck von Wissenschaft und Öffentlichkeit realisierte die International Whaling Commission (IWC), die ursprünglich für das Management der kommerziellen Waljagd gegründet worden war, 1986 ein Verbot des kommerziellen Walfangs. Das Moratorium der IWC konnte gerade noch rechtzeitig verhindern, dass viele Walarten endgültig ausstarben.68

Jahre später stellte Roger Payne eine sogar noch weit spektakulärere Behauptung auf: Die Gesänge mancher Wale – wie Finnwale und Blauwale, die lauter sind als Buckelwale – könnten unter günstigen Meeresbedingungen im SOFAR-Kanal Hunderte oder auch Tausende von Kilometern zurücklegen.69 In Zusammenarbeit mit dem Ozeanografen Douglas Webb berechnete Payne auf der Grundlage von Lautstärke und Frequenz der Stimmen der Tiere, wie weit sich Walgesänge unter Wasser fortpflanzen konnten. Aber warum mussten Wale eigentlich über solch weite Entfernungen kommunizieren? Payne fragte sich, ob das Fehlen von Paarungsgründen für manche Spezies diese Fähigkeit hervorgebracht hatte, weil sie einen ausgewiesenen Treffpunkt überflüssig machte. Eine andere Idee war, dass diese Rufe über weite Entfernungen vielleicht bei der Jagd nützlich sein konnten: Krill-Schwärme tauchen unvorhersehbar an ganz verschiedenen Stellen im Meer auf, und die Rufe konnten vielleicht die Informationen über diese Orte unter den Tieren teilen.

Die meisten Wissenschaftler waren sehr skeptisch, was die These zur Kommunikation von Walen über weite Strecken betraf. Der angesehene Biologe Peter Marler gehörte zu den wenigen, die Spekulationen zu Paynes Gunsten wagten. Marler nahm folgendermaßen Stellung: »Payne ist überzeugt, dass Wale durch den Einsatz von sehr niederfrequenten Tönen, die wir kaum hören können, und durch ihren Aufenthalt in einer mittleren Meerestiefe ihre Rufe über Hunderte von Kilometern hören können. Ein Phänomen, das erst denkbar wird, wenn wir uns daran erinnern, dass überall auf der Welt die Marine genau das mit ihren Unterwasserschallsignal-Systemen zuwege bringt.«70 Viele andere Wissenschaftler distanzierten sich von Payne, weil sie ihn für einen äußerst voreingenommenen Aktivisten hielten. »Diese These hätte beinahe meine gesamte Karriere zerstört – mehr als alles andere, was ich bis dahin gemacht hatte«, sagte Payne einmal.71

Jahrzehnte später bestätigte Chris Clark Paynes Theorie mit Versuchen, für die er kurz zuvor freigegebene Tonaufnahmen der Navy analysierte. »Ich hörte den Gesang eines Wals vor Irland«, berichtete Clark, »aber ich hörte ihn von Bermuda aus. Ich kriege immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. ›Heiliger Strohsack, Roger hat recht‹, entfuhr es mir damals.«72 Die Daten der Navy ließen keinen Zweifel an der Richtigkeit von Paynes Behauptung: Finnwale und Blauwale kommunizieren im offenen Ozean über Hunderte von Kilometern miteinander.

Doch obwohl die Öffentlichkeit zunehmend für das Thema sensibilisiert wurde und trotz der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz der Meeressäuger von 1972, unterlagen die meisten Aufnahmen der Navy weiterhin der Geheimhaltung. Wissenschaftler begannen mit der Erforschung anderer Cetacea, um die Unterschiede zwischen den Odontoceti (Zahnwale, einschließlich der Delfine) und den Mysticeti (Bartenwale) herauszufinden, wobei sie die Lautäußerungen der Wale akribisch in verschiedene Kategorien wie Rufe zur Kommunikation, Gesänge und Echoortung unterteilten. Ein Großteil der Arbeit bestand in Studien bestimmter Walarten, deren Stimmen bis dahin noch nicht systematisch aufgezeichnet worden waren. So stammte zum Beispiel die erste dokumentierte akustische Aufzeichnung von Zwergwalen von einem einzelnen Tier an einem Atemloch in der Antarktis aus dem Jahr 1972.73 Die Forscher begannen sich nun auch für den Zusammenhang zwischen diesen Lauten und dem Sozialverhalten der Tiere zu interessieren. In einem bahnbrechenden Playback-Experiment aus den 1980er-Jahren konnten Clark und seine Co-Autorin zeigen, dass Südkaper (Eubalaena australis) auf Lautäußerungen von Angehörigen ihrer Spezies reagieren: Die Wale näherten sich einem Unterwasser-Lautsprecher, wenn er Töne von einem anderen Südkaper sendete, nicht aber wenn die Töne von Buckelwalen stammten oder weißes Rauschen waren.74

Die Erkenntnisse über die Töne im Meer erweiterten das Verständnis der Wissenschaftler von dem am wenigsten bekannten Ökosystem der Erde: den Weltmeeren. Aber für das Militär bedeutete das Wissen über diese Töne einen strategischen Gewinn. Biologische Unterwassergeräusche schränkten die Möglichkeiten der Navy ein, feindliche Ziele exakt zu identifizieren, und erhöhten das Risiko, dass ihre Schiffe peinliche Angriffe auf harmlose Fischschwärme veranstalteten. Bei einem Vorfall konnten bioakustische Aufnahmen während des Kalten Kriegs einen gefährlichen Konflikt abwenden: Als das US-Militär in Alarmbereitschaft ging, weil es niederfrequente Echozeichen aufgefangen hatte – von denen man annahm, die Sowjets wollten damit amerikanische U-Boote orten, konnten Forscher beweisen, dass die Töne in Wirklichkeit von jagenden Finnwalen stammten.75

Ungeachtet der Tatsache, dass dieses Wissen von hohem praktischen Wert war, förderte die Navy erst 1992 ein Forschungsprojekt, mit dem die akustischen Signale von Meeressäugern endgültig katalogisiert werden sollten76 Allerdings bekamen zivile Wissenschaftler weiterhin zum größten Teil keinen Zugang zu den Unterwasser-Lauschposten der Navy. Ein paar Forscher richteten Horchposten in abgeschiedenen Gegenden der Erde ein, wo sich noch Wale aufhielten, aber sie hatten nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Eine der wenigen Ausnahmen gab es in der westlichen Arktis, dort wo Aldrich die Grönlandwale bis an den Rand des Abgrunds gejagt hatte.

Hundert Jahre nach Aldrichs Besuch in Point Barrow veröffentlichten Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit den Iñupiat eine neue Studie. Die Ergebnisse lösten eine weltweite Kontroverse aus und die anschließende Debatte sollte ihren Weg bis ins Weiße Haus finden. Anstatt mithilfe von Tönen Wale zu jagen, wollten Wissenschaftler sie nun mithilfe von Tönen verstehen lernen.

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DER SINGENDE OZEAN