The Sunstone Legacy - Ty Schwaninger - E-Book

The Sunstone Legacy E-Book

Ty Schwaninger

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Beschreibung

Als ihre Mutter von einer Reise nicht nach Haus zurückkehrt, trifft die Faëy Naivara kurzerhand die Entscheidung, sich auf die Suche nach ihr zu begeben. Auf ihrem Weg lernt sie die stille und geheimnisvolle Antheia kennen, die mehr zu wissen scheint, als sie preisgibt. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise voller Ungewissheit und Gefahren. Dabei ahnen sie nicht, dass eine weitaus dunklere Macht es auf sie abgesehen hat.

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Seitenzahl: 650

Veröffentlichungsjahr: 2024

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The

Sunstone

Legacy

Bücher von Ty Schwaninger

Elidyria-Chroniken

The Sunstone Legacy

• • •

Gedichtsammlungen

Letters To The MoonWhere The Wildflowers Bloom

Elidyria-Chroniken I

The

Sunstone

Legacy

Ty Schwaninger

Vollständige eBook-Ausgabe

Oktober 2024

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit

schriftlicher Genehmigung der Autorin vervielfältigt

oder wiedergegeben werden.

Text: © 2024 Copyright by Ty Schwaninger

Covergestaltung: © 2024 Copyright by Ty Schwaninger

Foto der Autorin: © Copyright by Ty Schwaninger

Ein Service der Neopubli GmbH Berlin

www.epubli.de

für molle.

in der hoffnung, dass wir in jedem paralleluniversum schwestern sind.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Epilog

Glossar

Danksagung

Prolog

ES WAR EINE WINDSTILLE NACHT. Der Mond stand hoch über den dunklen Silhouetten der Baumkronen, als würde er über sie wachen. Selbst die Zikaden, die um diese Tageszeit normalerweise um die Wette zirpten, schienen zu ahnen, dass etwas in der Luft lag und gaben keinen Ton von sich.

Nichts regte sich, kein Geräusch drang durch die milde Nachtluft und nichts ließ vermuten, dass die andächtige Stille schon bald durchbrochen werden würde.

Das leise Klacken trabender Hufe zerschnitt die Nacht. Es waren zwei Personen, die ihre Pferde behände durch den Kiefernwald ritten. Ihre schemenhaften Gestalten thronten hoch auf dem Rücken der Pferde, ihre Gesichter gerade so im Mondlicht erkennbar.

Es waren zwei junge Faëy, die einander zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie schienen in Eile zu sein und gleichzeitig darauf bedacht, keine lauten Geräusche zu machen, um nicht die Aufmerksamkeit von dem, was sich in den Wäldern verbarg, auf sich zu ziehen.

Sie erreichten eine kleine Lichtung mitten im Meer der Kiefern und zügelten ihre Reittiere. Das Pferd des männlichen Faëy schnaubte auf und warf den Kopf unruhig nach hinten.

Er beruhigte es mit leise gemurmelten Worten.

Genau wie seine Begleiterin hatte er feine Gesichtszüge mit einer markanten Nase, schrägen Augen und einem vollen, geschwungenen Mund. Auch seine Haare ähnelten den ihren, jedoch trug er seine in kunstvoll geflochtenen Zöpfen im Nacken zusammengebunden, sodass sie den Blick auf seine spitz zulaufenden Ohren freigaben, während ihre Haare in glänzenden Locken den halben Rücken herunterflossen. Beide wirkten gehetzt und verängstigt, ihre Gesichter waren angstverzerrt.

Die weibliche Faëy schaute sich mehrmals beunruhigt um, als würde sie das Gefühl nicht loswerden, dass zwischen den Schatten der Kiefern etwas lauerte und sie beobachtete.

Mit wenigen Schritten hatte sie die Mitte der Lichtung erreicht, auf der ein nahezu perfekter Kreis uralter, moosüberwachsener Steinmonolithe stand.

Die neun Steine wirkten, als hätte ein Riese vor vielen Äonen mit ihnen gespielt und sie dort einfach vergessen. Kein Windstoß hätte diese Felsen umwehen und keine hundert Faëy hätten sie stürzen können. Die Erde inmitten des Steinrunds war kahl und ausgetreten.

Tot.

Keine Pflanze wagte es, dort zu gedeihen.

Es war, als spürte alles Lebendige im Umkreis die uralte Macht, die innerhalb der Steine schlummerte und den Boden vibrieren ließ.

Die Faëy schien dies nicht davon abzuhalten, zielstrebig zwischen den Steinen hindurchzugehen und genau in ihrer Mitte stehenzubleiben.

„Beeil dich“, drängte sie ihren Begleiter, der in der Satteltasche wühlte und schließlich ein dickes, in Leder gebundenes Buch herauszog, mit dem er zum Steinkreis eilte und neben sie trat.

„Wir haben nicht mehr viel Zeit, Ani“, flüsterte er zurück. „Der Mond ist schon fast über seinem Zenit.“

„Ist es wirklich wahr?“, presste die Faëy, deren Name Ani war, hervor und wischte sich über die Augen. „Hat er sie―“

Ihr Begleiter wandte den Blick ab. „Ja.“

Ani presste sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. „Also sind sie wirklich―“

„Denk nicht darüber nach“, unterbrach der Faëy sie. „Dafür ist später noch Zeit. Jetzt müssen wir ihn erstmal aufhalten.“

„Ich weiß“, entgegnete Ani mit bebender Stimme. „Ich bin bereit.“

„Ich auch. Leg‘ den Sonnenstein genau in die Mitte, sodass das Mondlicht auf ihn scheinen kann.“

Ani kniete sich hin und legte einen faustgroßen, in der Dunkelheit unscheinbar wirkenden Kristall auf die trockene Erde, auf der nicht eine einzige Kiefernnadel lag.

Dann trat sie einen Schritt zurück.

Sobald ihr Schatten nicht mehr auf den Stein fiel, brach sich das fahle Mondlicht in ihm und ließ all seine Unscheinbarkeit in Vergessenheit geraten.

Sogleich leuchtete er in einem satten Goldlicht auf, das auf die moosbewachsenen Monolithen reflektierte und kleine leuchtende Punkte über die Lichtung tanzen ließ. Die Gesichter von Ani und ihrem Begleiter wurden ebenfalls in das buttrige Licht getaucht, sodass ihre ebenmäßigen Gesichtszüge noch übernatürlicher erschienen.

Der männliche Faëy schlug vorsichtig das Buch auf, dessen Ledereinband schon alt und brüchig war. Kleine Lederpartikel rieselten wie Schneeflocken auf den Boden. Er blätterte bis fast ganz ans Ende des Buches und Ani beugte sich über die vergilbten Seiten.

„Hier ist es“, verkündete sie nach einigen Sekunden des Suchens. „Lass uns beginnen.“

Sie legte das Buch neben sich auf den Boden und nahm ihren Begleiter bei den Händen.

So standen sie sich gegenüber, den Sonnenstein zwischen ihnen und das silbrige Leuchten des Mondes über ihnen, als sie zum Singen begannen.

Es waren feine, melodische Töne in einer fremdartigen und schon lange vergessenen Sprache, und es war unmöglich, ihren Inhalt zu verstehen. Die hohe, klare Stimme von Ani harmonierte perfekt mit dem tiefen Bariton ihres Begleiters und erzeugte eine so eindringliche, mächtige Melodie, dass ein Beben durch den Steinkreis ging.

Der Boden schien zu erzittern und der Wald schien zu spüren, dass hier, inmitten der Steinruinen, etwas Mächtiges vor sich ging.

Und auch der Sonnenstein veränderte sich, je länger die beiden ihren Gesang fortsetzten.

Sein goldenes Leuchten wurde immer heller und heller, bis nach kurzer Zeit die gesamte Lichtung in Licht getaucht war und es schien, als wäre es die Sonne selbst, die mit ihren Strahlen den gesamten Wald von innen heraus erleuchtete.

Ohne auch nur ein einziges Mal die Melodie zu unterbrechen, setzten Ani und ihr Begleiter, sich fortwährend an den Händen haltend, ihren Gesang fort.

Die Magie war nun unmissverständlich spürbar.

Die Nachtluft knisterte und die Steine vibrierten immer stärker, während sie das goldene Licht zurückwarfen.

Dann veränderte sich etwas.

Das durchdringende Leuchten des Sonnensteins schien sich plötzlich zu konzentrieren, es bildete eine Lichtsäule, die hoch in den Himmel schoss.

Es tat nun beinahe weh, mit bloßem Auge in das Leuchten zu schauen, und doch standen die beiden Faëy unverändert inmitten des Lichts. Immer schneller und schneller sangen sie und wiegten sich wie in Trance von einer Seite auf die andere.

Ein letztes Beben ging durch den Boden, dann riss die Lichtsäule mit einem Mal ab.

Finsternis.

Nichts als tiefe, alles verschluckende Finsternis.

Die Lichtung war wieder in Dunkelheit gehüllt, die Nacht in den Wald zurückgekehrt.

Zwischen den Monolithen lagen die beiden Gestalten Anis und ihres Begleiters am Boden, erschöpft und gleichzeitig erleichtert.

Es war vollbracht.

Nach etlichen Atemzügen rappelten sich die beiden auf, klopften sich den Staub von den Kleidern und traten mit vorsichtigen Schritten aus dem Steinkreis.

Die Dauer des Rituals war ihnen vorgekommen wie Sekunden, doch waren einige Stunden vergangen, der Mond hatte seinen Zenit längst überschritten und machte sich bereit, der Sonne den Himmel für den nächsten Tag zu überlassen. Das blasse Licht des Morgens kündigte sich am Horizont an und in einem fernen Kiefernwipfel begann die erste Rauchschwalbe ihren Gesang.

Die beiden Faëy sahen sich lange Zeit in die Augen und umarmten sich schließlich innig. Die Geste hatte etwas Schmerzvolles. Ein Abschiednehmen. Anschließend stiegen sie auf ihre Pferde und ritten jeder in die entgegengesetzte Richtung zurück in das dichte Kieferngehölz.

Einen Augenblick, bevor der Wald die beiden verschluckte, schauten sie sich noch einmal nach dem jeweils anderen um, dann trieben sie die Pferde zum Galopp an und verschwanden in den Tiefen des Waldes.

Kapitel 1

EIN LEISES RAUSCHEN ERTÖNTE IN dem breiten Grasstreifen am Wegesrand. Die leuchtend grünen Halme teilten sich nach links und rechts auf und gaben den Blick auf eine Blindschleiche frei, die träge über den Waldboden glitt. Ihre Schuppen, die normalerweise die Farbe von flüssigem Kupfer hatten, schillerten durch das Licht der aufgehenden Sonne in allen Regenbogentönen.

Die Blindschleiche züngelte. Dies war ihre bevorzugte Tageszeit, wenn die Sonne ihre ersten warmen Strahlen durch den Wald schickte und so ihre schuppige Haut angenehm erwärmte.

Und nicht nur sie genoss die Wärme der Frühlingssonne. Auch ihre bevorzugte Beute, kleine Asseln, Läuse und Käfer flitzten bereits durch das hohe Gras; nicht ahnend, dass der Hunger mitten unter ihnen weilte und nur darauf wartete, zuzuschnappen. In nicht allzu weiter Ferne konnte sie das dumpfe Vibrieren von Schritten auf dem Waldboden hören. Zu stark für eine Maus oder einen Dachs. Und zu laut für ein Reh.

Aber das war ihr egal.

Hier im hohen Gras war sie sicher—unsichtbar.

Die Blindschleiche nahm eine ganz besonders fette Larve ins Visier, die an einem Blatt hing. Sie würde ein wahrhaft schmackhaftes Festmahl abgeben!

Beinahe lautlos schlängelte sie durch die Grashalme hindurch. Immer näher und näher, bis sie die Larve schon beinahe schmecken konnte. Sie öffnete ihr Maul, sodass ihr gekrümmtes Gebiss sichtbar wurde, mit dem sie in wenigen Augenblicken zuschnappen würde.

Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von der Larve, die noch immer nichts ahnend auf ihrem Blatt verharrte. Jeder Muskel unter den Schuppen war zum Zerreißen gespannt. Gleich—gleich war es soweit.

Die Blindschleiche machte sich bereit, wie ein Pfeil nach vorne zu stoßen, als sich das Maul eines Fuchses mit mörderischer Kraft um den Rumpf der Blindschleiche schloss. Spitze Zähne gruben sich in ihren Körper und töteten sie sofort. Sichtlich zufrieden schlang der Fuchs seine Beute hinunter, wobei sich Teile der Schuppenhaut am Rand seines Mauls verfingen.

Dann verschwand er mit einem großen Satz zurück im Unterholz.

• • •

Naivara Amakiir trat auf den sandigen Waldweg und reckte ihr Gesicht ins Licht der aufgehenden Sonne. Sie liebte den frischen, moosigen Waldgeruch, der im Morgengrauen zwischen den Bäumen hing. Dies war die Zeit am Tag, in der sie am Glücklichsten war. In der sie vollkommen sie selbst sein konnte.

Um sie herum vibrierte der Wald vor Leben. Die Vögel sangen bereits ihre schönsten Lieder, die Waldmäuse huschten eifrig durchs Unterholz und suchten emsig nach Nahrung, und hier und da blitzte der rostrote Schweif eines Eichhörnchens auf, das über die Äste der riesigen Rotbuchen kletterte. Überall schossen leuchtend grüne Farne aus der Erde und schwammige Pilze sprossen aus Baumstümpfen.

Naivara nahm all diese Eindrücke in sich auf und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Dies war ihre Heimat. Nirgends würde sie sich wohler fühlen.

Hinter ihr raschelte es in den Büschen und eine hübsche junge Rotfüchsin trottete zwischen ihnen hervor. Ihr roter Pelz glänzte im Licht der Morgensonne, die durch die Bäume schien. Sie schüttelte sich Zweige und Spinnweben aus dem Fell, die sich dort verfangen hatten, dann blieb sie vor Naivara stehen und sah sie erwartungsvoll an. Sie leckte sich das Maul, an dem die schuppigen Überreste einer Schlange oder Blindschleiche zu kleben schienen.

„Na, wo hast du dich denn schon wieder herumgetrieben, Aldon?“ fragte sie und wischte eine besonders hartnäckige Spinnwebe aus dem Pelz der Füchsin. „Du siehst aus, als wärst du in ein Erdloch gefallen!“

Aldon gab ein keckerndes Geräusch von sich und wälzte sich übermütig auf dem Boden. Naivara musste lachen und kniete sich zu ihr runter, um ihr den entblößten Bauch zu kraulen.

Naivara hatte sie gefunden, als sie ein winziger Welpe war, der mitten im Wald verzweifelt nach seiner Mutter geschrien hatte. Sie hatte sich das Junge kurzerhand geschnappt und in dem weichen Futter ihres Leinensacks durch den Wald transportiert, um ihre Mutter ausfindig zu machen.

Nicht weit entfernt hatte sie die Mutter des Jungtieres dann gefunden.

Tot.

Tiefe Klauenspuren, vermutlich die eines Uhus, hatten ihr blutverkrustetes Fell gezeichnet, in dem sich bereits eine Vielzahl an Maden und Fliegen getummelt hatten. Für Naivara war die Sache klar gewesen. Das Fuchsjunge hatte sie mit nach Hause genommen und eigenständig aufgezogen.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Seither war die Füchsin ihre Tiergefährtin und begleitete sie auf Schritt und Tritt.

Inzwischen war sie vollständig ausgewachsen, ein bildhübsches Exemplar ihrer Art, mit klugen Augen und einem wilden Gemüt. Obwohl sie dank Naivara inmitten der Zivilisation groß geworden war, hatte ihr nichts die enge Verbundenheit zur Wildnis nehmen können, weshalb sie häufig weite Strecken auf sich nahm, um in den unberührten Wäldern rund um Maivantyr, das Dorf, in dem Naivara lebte, ausgiebig zu jagen. Doch es dauerte für gewöhnlich nie lange, bis sie zu Naivara zurückkehrte.

• • •

„Naivara? Wo steckst du?“ Eine tiefe Stimme rief ihren Namen und Naivara stand eilig auf.

Sie klopfte sich den Staub von den Knien, strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und eilte zurück auf den Waldpfad, wo bereits ein hoch gewachsener Faëy auf sie wartete.

Seinen kunstvoll verzierten Langbogen hatte er sich quer über den Rücken geschnallt, dort hing auch der dazu gehörende Köcher mit sechs Elfenbeinpfeilen.

Er trug sein tiefbraunes Haar schulterlang und seine schräg stehenden Augen, die für gewöhnlich dunkelbraun wirkten, hatten nun im Sonnenlicht die Farbe flüssigen Honigs angenommen. Ein freundliches Funkeln blitzte in ihnen auf und tiefe Lachfältchen kräuselten sich um sie, als er Naivara auf sich zukommen sah, Aldon dicht auf ihren Fersen.

„Habe mich schon gefragt, wo du dich herumtreibst“, sagte er und stieß mit der Stiefelspitze in den lockeren Waldboden, sodass ein kleiner Staubwirbel entstand.

„Kein Grund zur Sorge, Braern“, entgegnete Naivara. „Aldon ist beim Jagen nur etwas vom Weg abgekommen und ich wollte sichergehen, dass ihr nichts zugestoßen ist.“

„Du machst dir zu viele Gedanken um dieses Tier. Aldon ist schlauer als wir alle zusammen, sie würde immer den Weg zurück zu dir finden.“

Damit hatte er nicht Unrecht. „Ja, das ist sie wirklich. Aber ich bin schließlich ihre Ziehmutter und dafür verantwortlich, dass es ihr gut geht.“

„Ich wünschte, meine Mutter würde sich auch so viele Sorgen um mich machen“, witzelte Braern. „Und zwar nicht nur darüber, wann ich endlich in die Fußstapfen von meinem Großvater trete.“

„Wie ich dich kenne, wird sie lange auf diesen Tag warten müssen.“

„Nicht nur sie. Wie ich mich kenne, wird dieser Tag niemals kommen.“ Braern schwieg einen Moment lang. „Vielleicht habe ich ja auch Glück und laufe ihr nie wieder über den Weg. Dann erledigt sich das Thema quasi von selbst.“

„So konfliktscheu kenne ich dich sonst gar nicht, Braern“, zog Naivara ihn auf, auch wenn sie die Geschichte dahinter und Braerns Gründe natürlich bestens kannte.

„Wenn es um meine Mutter geht, wäre jeder mit gesundem Verstand genauso konfliktscheu. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die alte Krähe die ganze Insel nach mir abgesucht und mich an den Haaren den ganzen Weg zurück nach Hause gezerrt hätte.“ Braern schnaubte. „Hoffen wir, dass sie niemals auf diese Idee kommt.“

Braern Iaemar stammte ursprünglich aus Elgrave Arieti, der Hauptstadt Elidyrias. Er war der Stadt jedoch entflohen, als seine Eltern ihm eröffneten, dass er, genau wie einst sein Großvater, der große Soldat Nardual Iaemar, eine Laufbahn als Soldat einschlagen sollte. Doch Braern, der zwar aussah, als könne er junge Birken mit bloßen Händen entwurzeln, war im Inneren ein sanftmütiger Faëy, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.

So war er in Maivantyr auf die Smaragdwache gestoßen, die ihn umgehend aufnahm und sein Talent als Späher entdeckte. Er vermochte jede noch so verblasste Fährte aufzunehmen und ihr zu folgen. Wo Naivara lediglich einen abgeknickten Farn sah, konnte Braern eine Vielzahl an Informationen über die Richtung und Geschwindigkeit des Wesens ablesen, welches die Spur hinterlassen hatte. Gemeinsam hatten sie so schon zahlreiche verletzte Wesen aufgespürt und ihnen geholfen.

„Ich glaube, sie wird sich damit abfinden müssen, dass du auf ewig der Schandfleck der Familie bist.“

Braern grinste. „Ja, das muss sie wohl. Aber so habe ich ihr zumindest zum Abschied ein Gesprächsthema gegeben, über das sie mit meinem Vater am Esstisch reden kann. Dann müssen sie sich nicht immer anschweigen.“

„Wie selbstlos von dir.“

„Ja, so bin ich eben. Braern, der Selbstlose. Schandfleck der Familie. Klingt doch imposant, oder?“

Das war typisch Braern. Er nahm das Leben von der leichten Seite und hatte das unverkennbare Talent, Naivara von ihren Sorgen abzulenken. Deshalb war sie auch so gerne mit ihm auf Patrouille eingeteilt. Er hatte das seltene Talent, mit seinen Witzen und Geschichten jegliche düstere Stimmung zu vertreiben.

Genau wie Braern war Naivara ein Mitglied der Smaragdwache, einer Gilde von Rangern, deren Aufgabe es war, die Wälder und das Leben darin zu beschützen und gegen Eindringlinge zu verteidigen.

Naivara war ihnen vor knapp einem Jahr beigetreten und hatte dort ihre zweite Familie gefunden. Gemeinsam mit drei anderen Faëy und ihrem Anführer Khiral Afelis hatte sie die Aufgabe, täglich durch die Wälder rund um ihre Heimatstadt Maivantyr zu streifen und sicherzustellen, dass die Natur in ihrer Balance gehalten wurde.

Es war eine Tätigkeit, die Naivara mit Glück erfüllte. So konnte sie der wilden Schönheit von Elidyria nahe sein, die sie über alles liebte. Die Insel, auf der sie lebte, beherbergte eine unvorstellbare Vielzahl an Tier- und Pflanzenarten, von denen ein Großteil vermutlich noch nie gesichtet worden war. Naivara war bereits im Alter von drei Jahren fasziniert von der Tierwelt gewesen und brachte mit einer sturen Beharrlichkeit jedes verletzte Wesen nach Hause, das sie auf ihren endlosen Streifzügen durch die Wälder finden konnte. Dort päppelte sie sie wieder auf und entließ sie anschließend zurück in die Freiheit. Natürlich nicht, ohne ihnen vorher den passenden Namen zu geben.

Schon früh hatte sie die Anwesenheit der Tiere mehr zu schätzen gelernt, als die der anderen Dorfbewohner. Sie hegte zwar gegen niemanden einen Groll und war bei allen gern gesehen, und doch genoss sie es, den Augen und Erwartungen, die auf ihr ruhten, täglich für viele Stunden zu entfliehen.

Vermutlich schätzte sie die Anwesenheit ihrer Gefährten der Smaragdwache deshalb so sehr, weil dort niemand Erwartungen an sie richtete, die über die Erledigung ihrer Pflichten hinausgingen.

Anders als ihre Familie.

Sie liebte ihre Eltern und ihre Großmutter zwar über alles, jedoch hatten die eine klare Vorstellung davon, wie die junge Faëy ihr Leben am besten leben sollte. Nämlich als Hohe Bogenschützin in der königlichen Garde ihrer Majestät, der Königin Lïana, die in der Hauptstadt Elgrave Arieti residierte. Erst kürzlich hatte sie begonnen, nach neuen Mitgliedern für die königliche Garde zu suchen. Eine Truppe königlicher Abgesandte waren von Stadt zu Stadt gereist, hatten sich die Fähigkeiten der Wächter angesehen, um die Besten der Besten zu rekrutieren. So hatte auch Naivara im Rahmen der letzten Gildeversammlung die Gelegenheit bekommen, ihre Fähigkeiten im Bogenschießen unter Beweis zu stellen—und natürlich hatte sie geglänzt. Was nicht weiter schwer war angesichts der Tatsache, dass sie ihren ersten Kurzbogen in den Händen hielt, als sie gerade frisch laufen gelernt hatte.

Die Abgesandten hatten sie kurzerhand als erste Wahl auserkoren, die Königinnengarde mit dem Langbogen zu ergänzen.

Was für eine Ehre.

Nein, wirklich. Es war eine große Auszeichnung ihres Talents.

Eine Auszeichnung, die Naivara herzlich egal war.

Denn sie dachte nicht im Traum daran, ihr Heimatdorf zu verlassen, um der Königin zu dienen. Ehre hin oder her. Zumal es sie ohnehin wunderte, dass diese sich überhaupt darum scherte, dass die Garde aufgestockt wurde. Dieser Tage schien die Königin sich nicht für sonderlich viel zu interessieren. Aber das war ein Thema für sich.

Gewiss, ihre Fähigkeiten im Bogenschießen waren so überragend, dass sie die der restlichen Mitglieder ihrer Truppe in den Schatten stellten, doch bestimmt gab es irgendwo in Elidyria genug andere, die sich mit ihr messen konnten. Aber das allein war für Naivara nicht Grund genug, ihrer Familie und dem Leben, welches sie sich in Maivantyr aufgebaut hatte, einfach so den Rücken zuzukehren.

Nein.

Sie würde der Smaragdwache dienen und ihr Leben der Wildnis und der Tiere widmen.

• • •

An diesem sonnigen Frühsommermorgen war die Patrouille äußerst entspannt, und so streiften sie auf ihrem gewohnten Weg durch den Wald, immer Ausschau haltend nach Tieren in Not oder möglichen Bedrohungen. Braern lief ein Stück vor ihr und summte eine leise Melodie vor sich hin. Die Morgensonne schien nun schon kräftiger hinab auf Naivara und wärmte sie durch ihre Lederrüstung hindurch. Alles wirkte so friedlich, und beinahe konnte sich Naivara vollkommen den Klängen des Waldes hingeben.

Dennoch wurde sie das hartnäckige Gefühl irgendwo in ihrem Hinterkopf nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.

Und ebenso wie eine juckende Stelle am Rücken konnte sie nicht genau feststellen, wo dieses Gefühl seinen Ursprung hatte. Sie wusste nur, dass die innere Unruhe, die sie seit dem Aufwachen im Bauch verspürte, und die sie bisher erfolgreich beiseiteschieben konnte, nun nicht mehr weg zu ignorieren war.

Sie verlangte nach Aufmerksamkeit, wollte beachtet werden.

Und Naivara hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, stets ihrem Bauchgefühl zu vertrauen.

„Warte mal kurz“, rief sie Braern zu, der ein paar Meter vor ihr lief. Sogleich hielt er inne und hörte auf zu summen.

„Alles in Ordnung? Hast du etwas gefunden?“

„Nicht direkt“, gab Naivara zu und legte die Hand an ihren Gürtel, an dem ihre Zwille hing. Automatisch begannen ihre Finger, mit der Schlinge zu spielen. Normalerweise beruhigte sie das, doch an diesem Tag schien es keine Wirkung zu haben.

„Ich habe nur ein ungutes Gefühl bekommen. Als wäre etwas nicht ganz so, wie es sein sollte.“

„Also ich merke nichts“, sagte Braern und rieb sich mit einer Hand den Nacken. „Was denn für ein Gefühl?“

„Das alles hier fühlt sich . . . irgendwie komisch an. Als würde uns jemand beobachten.“ Naivara hielt inne und sah Braern aus dem Augenwinkel an. „Sag nichts. Ich weiß selber, dass sich das bescheuert anhört.“

Braern runzelte die Stirn. Sofort verstärkte er den Griff um seinen Langbogen. „Du bist schon den ganzen Morgen so hibbelig drauf. Also—noch mehr als sonst, meine ich.“ Er deutete auf ihre Hand, die noch immer an der Zwille herumspielte und die Schlinge immer und immer wieder um ihren Daumen wickelte.

Ihm entging aber auch nichts.

„Ich weiß auch nicht, was los ist. Vielleicht, weil ich heute Nacht einen komischen Traum hatte“, erzählte Naivara und sah sich flüchtig um. Natürlich war niemand da, aber man konnte eben nie wissen.

„Einen Traum?“

„Eigentlich war es mehr ein Albtraum“, sagte Naivara, als sie sich die Bilder der vergangenen Nacht wieder ins Gedächtnis rief.

„Uhh, gruselig.“ Braern machte ein schauriges Geräusch und kitzelte Naivara am Oberarm, bis sie eine Gänsehaut bekam.

Naivara schlug seine Hand weg. „Lass das, Braern, ich meine es ernst.“

„Ist ja gut. Erzähl schon, was du geträumt hast.“

Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. „Also wir—wir sind, genau wie jetzt, durch den Wald gegangen. Aber wir waren nicht allein, um uns herum sind Schatten durch die Bäume gestreift und haben uns begleitet. Und dann ist plötzlich der Himmel dunkler geworden und ich habe auf den Boden geschaut. Da war eine Art Kugel, aus der schwarzer Nebel hervorgetreten ist. Und dann bin ich aufgewacht und hatte dieses verdammt ungute Gefühl. Also so ein bisschen, wie wenn dir jemand in den Magen geboxt hat. Ich kann das gar nicht richtig beschreiben.“

„Hmmm . . .“ Braern rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hört sich an, als hätte Alanie dir wieder mal eine ihrer vielen Geschichten zum Einschlafen erzählt, wenn du mich fragst“, sagte er schließlich mit einem halbherzigen Grinsen, das jedoch nicht seine Augen erreichte. Anscheinend war Naivaras Nervosität nun auch auf ihn übergesprungen.

„Nani hat damit ausnahmsweise nichts zu tun.“

Naivaras Großmutter war bekannt für ihre Erzählungen, die nicht selten schauriger Natur waren. Aber von einer Nebelkugel hatte sie tatsächlich noch nie gesprochen. Das konnte Naivara also nur auf ihre eigene, gestörte Fantasie schieben.

„Nun ja, was auch immer es ist, es hört sich an wie ein abgedrehter Fiebertraum. Bist du sicher, dass du dir nicht etwas zu viel Honigmet genehmigt hast gestern Abend?“

Naivara verdrehte die Augen. „Braern, bitte. Ich meine es wirklich ernst!“

„Ich auch—“ setzte Braern an, verstummte aber, als Naivara ihm beherzt gegen den Oberarm boxte.

„Lass das.“

Er seufzte und gab sich schließlich geschlagen. „Na schön . . . wenn du sagst, etwas ist anders, dann wirst du vermutlich Recht haben.“ Braerns Mundwinkel zuckten. „Danke, dass du deine paranoiden Träume mit mir teilst, wenn wir allein mitten im Wald sind.“

„Immer gerne.“

„Wenigstens habe ich eine halbwegs begabte Bogenschützin bei mir.“

„Halbwegs?“ Naivara schaute ihn empört an. „Bei Lua, du würdest mit deinem Bogen nicht einmal das Ziel treffen, wenn man es direkt vor deine Nase platzieren würde.“

„Natürlich nicht. Wenn das Ziel vor meiner Nase stünde, hätte ich ja nicht einmal Platz, um den Bogen überhaupt zu spannen.“

Gegen seine Logik konnte sie nicht argumentieren. Warum musste er auch immer so schlagfertig sein?

Da blieb nur eins.

Nachgeben. Aber nur widerwillig.

„Mir egal. Ich kann trotzdem besser schießen als du.“

Da lachte Braern laut auf. „Wie ein bockiges Kind klingst du. Streckst du mir als nächstes vielleicht auch noch die Zunge raus?“

Sofort unterdrückte Naivara den Impuls. Braern war schon selbstgefällig genug. „Muss hart für dich sein, dass ein bockiges Kind besser schießen kann als du.“

„Muss hart für dich sein, auf dem emotionalen Stand einer Fünfjährigen steckengeblieben zu sein.“ Er tätschelte Naivaras Kopf, als wäre sie ein Baby. Damit holte er sich einen zweiten Fausthieb gegen die Schulter ein. Nur leider war seine Schulter so steinhart, dass der Schlag Naivara weitaus mehr wehtat als ihm. Braern zuckte nicht einmal mit der Wimper.

„Wie auch immer“, grummelte Naivara.

„Mir scheint, als hätte dich das Schicksal nicht gerade reich mit Schlagfertigkeit beschenkt. Buchstäblich.“ Geschickt wich er einem erneuten Hieb aus. „Pass auf, dass du dir nicht selber wehtust!“

Naivara wollte schon zu einer Antwort ansetzen, da walzte eine Sturmböe durch die Bäume und erstickte ihre Worte im Keim. Die feinen Härchen auf ihren Armen standen zu Berge, als ihr ein Kälteschauer die Wirbelsäule hinunterrieselte. Sie fröstelte.

„Alles okay?“ fragte Braern und warf ihr einen Seitenblick zu.

„Mehr okay als deine Haare zumindest.“ Naivara musste ein Kichern unterdrücken. Der Wind hatte Braerns Haare so zerzaust, dass sie wild in alle Richtungen abstanden und er aussah, als wäre er eben aus dem Bett aufgestanden. „Mal sehen, wie viele du mit deiner Frisur verschreckst.“

„Touché.“

„Hier, lass mich mal. Ich mach dich wieder tauglich für die Zivilisation.“ Naivara stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Gewirr auf Braerns Kopf zu glätten. Mitten in der Bewegung erstarrte sie.

Ein Geräusch zerriss die Luft.

Es war ein hohes, jämmerliches Fiepen, das ebenso schnell wieder verstummte, wie es gekommen war.

Der Ton ging Naivara durch Mark und Bein und verstärkte die Gänsehaut auf ihren Unterarmen um ein Vielfaches. Angst grub sich mit hundert winzigen Zähnen in ihren Nacken.

Braern und Naivara sahen sich an, dann begannen sie gleichzeitig zu reden.

„Was, um Luas Willen, war das?“

„Hast du das gehört?“

„War schwer zu überhören.“

„Das klang wie ein Tier“, sagte Braern.

„Ein Tier, das gerade abgestochen wurde! So klingen bestimmt auch die Tiere, wenn sie von Onais geschlachtet werden.“ Naivara schüttelte sich. Onais Meluthrae war die Metzgerin ihrer Siedlung und Naivara konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand eines Morgens aufwachte und sich dachte: Was könnte ich nur mit meinem Leben anfangen? Oh, ich weiß! Ich werde Metzger! Da musste man schon mit einer gehörigen Portion Sadismus geboren worden sein. Anders konnte sie es sich nicht erklären. „So etwas möchte ich nie wieder hören.“

„Du hast ja richtig Gänsehaut bekommen!“ Mit seinen riesigen Händen rubbelte Braern über ihre Unterarme, um sie etwas aufzuwärmen. „Ich glaube eher, dass es sich irgendwo verletzt hat. Vermutlich ein Marder oder Kaninchen, dem Quieken nach zu urteilen. Oder ein Wildschwein.“

Die Vorstellung eines hilflosen, verletzten Tieres half ihr, die Angst abzuschütteln. Schließlich war genau das ihre Aufgabe als Wächterin. Wo auch immer ein Lebewesen in Not war, würde sie ihr Möglichstes tun, um ihm zu helfen.

„Lass uns nachschauen. Weit weg kann es nicht gewesen sein“, sagte sie und bemühte sich, die Beunruhigung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Jetzt war nicht die Zeit, sich von Furcht lähmen zu lassen.

Auch Aldon schien inzwischen zu spüren, dass sich Unruhe in den beiden Faëy breitmachte und drückte sich ganz nah an Naivaras Bein.

„Okay. Lass uns aber zur Sicherheit dicht beieinander bleiben und erstmal weitergehen. Wer weiß, wodurch es verletzt oder getötet wurde.“ Das war typisch Braern. Trotz aller Leichtigkeit überlegte er sofort pragmatisch, wie sie am besten vorgehen sollten.

„Könnte es auch ein Höhlenbär gewesen sein?“ fragte Naivara besorgt.

„Du weißt aber schon, wie groß Höhlenbären werden können? Klang das in deinen Ohren vielleicht nach einem Tier, das fast so groß ist wie dein Haus?“

Naivara verdrehte die Augen. „Was weiß ich denn! Bist du schon mal einem begegnet oder ich?“

Anstatt zurückzuschießen, sagte Braern sachlich: „Ich. Und ich bin mir sehr sicher, dass sie sich normalerweise nicht so weit nach Norden verlaufen. Und nein—keiner von ihnen gibt Geräusche von sich, die sich wie das da anhören.“

„Wirklich beruhigend.“ Naivara hatte bereits viele Geschichten über die riesigen, blutrünstigen Höhlenbären gehört, die in den südlichen Kiefernwäldern Elidyrias hausten, aber begegnet war sie ihnen bisher glücklicherweise nicht. Ob sich das nun ändern würde?

Braern nahm seinen Bogen vom Rücken und hielt ihn fest in der Hand. Auch Naivara zückte ihren etwas kürzeren, mit hübschen Blumenschnitzereien verzierten Bogen. Das Gewicht und das Wissen, eine Waffe griffbereit zu haben, beruhigte sie etwas. Bisher hatte ihr Bogen sie noch nie im Stich gelassen und würde es nun, falls sie ihn benutzen müsste, auch nicht tun. Das war eine Sache, auf die sie sich immer verlassen konnte.

Seite an Seite, Aldon dicht vor ihnen, gingen sie nun mit vorsichtigen Schritten weiter den Waldpfad entlang, die Augen stets wachsam umherwandernd.

Nach einigen Minuten griff Naivara zu ihrem Wasserschlauch, um ein paar Schlucke zu trinken. Die Sonne hatte an diesem Morgen schon eine beträchtliche Kraft erreicht und brannte ihr in den Nacken, der bereits leicht gebräunt war. Gierig trank sie das noch kalte Wasser und hatte den Schlauch mit wenigen Zügen geleert.

„Lass uns nochmal kurz zum Schilfweiher gehen, ich muss meinen Wasserschlauch auffüllen.“

„Gerne. Vielleicht fangen wir, sobald wir das Tier gefunden haben, schnell noch ein paar Fische. Dann können wir sie später mit den anderen am Feuer grillen.“

„Oh ja! Ich habe meine Angelausrüstung dabei.“ Es tat Naivara zwar jedes Mal weh, wenn sie ein Tier zum Verzehr erlegte, dennoch sah sie ein, dass dies zum Kreislauf der Natur gehörte. Man nahm sich das, was man zum Leben benötigte, und gab das, was andere zum Leben benötigten.

„Mal sehen, ob du es diesmal ohne meine Hilfe schaffst, eine Forelle zu fangen“, neckte Braern sie und wich sofort einen Schritt zur Seite, als Naivara mit der Faust nach seinem Oberarm langte.

„Solange du dich nicht über das Wasser beugst, damit die Fische dein Gesicht nicht sehen und abhauen!“, entgegnete Naivara ohne Zögern. „Oder vielleicht springen sie bei deinem Anblick an Land und sterben freiwillig, dann kann ich mir die Mühe sparen.“

Braern lachte schallend auf. Diese Art der Stichelei war gang und gäbe innerhalb der Smaragdwache. Man durfte sich selbst nicht zu ernst nehmen, denn die anderen der Truppe taten es erst recht nicht. Und gerade das machte die Arbeit mit ihnen so angenehm. Denn auch wenn stets ein leichter Ton angesagt war, wussten sie doch, dass sie sich aufeinander verlassen und einander blind vertrauen konnten.

In Gedanken an ihre Truppe wurde Naivara plötzlich still.

Für sie waren die anderen wie eine Familie und der Gedanke, vielleicht irgendwann nicht mehr ein Teil von ihnen sein zu können, sollte Königin Lïana ihren Wunsch nach ihr als Bogenschützin in einen offiziellen Befehl umwandeln, machte sie traurig. Ein Nein würde sie nicht akzeptieren und Naivara würde sich letztendlich den Anforderungen stellen müssen.

Braern sah sie von der Seite an, als spürte er ihre Stimmungswandlung.

„Woran denkst du?“

„An . . . an die Königliche Garde“, antwortete sie. „Ich habe ständig Angst, dass Königin Lïana nach mir schickt, um mich in die Bogenschützen-Garde aufzunehmen. Eigentlich wache ich seitdem jeden Morgen auf und denke mir: Heute ist es soweit. Heute verliere ich mein Zuhause und mein Leben und alles, was mir wichtig ist.“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken und sie musste sich räuspern, bevor sie weitersprechen konnte. „Das ist doch absurd, oder?“

„Eigentlich ist es überhaupt nicht absurd. Ich habe allerdings das Gefühl, dass dieser Tag noch lange auf sich warten lässt.“

Naivara hatte eine Vermutung, worauf er mit dieser Aussage hinaus wollte, fragte aber dennoch: „Was lässt dich das denken?“

„Wenn man dem Glauben schenken kann, was sich immer mehr herumspricht, läuft da oben einiges nicht so, wie es laufen sollte. Ehrlich gesagt, hat es mich schon sehr gewundert, dass die Königin überhaupt Abgesandte losgeschickt hat. Oder wer weiß—vielleicht kam das auch gar nicht von ihr selbst.“

„Meinst du wirklich?“

„Überleg doch mal“, sagte Braern und sah sie ernst an. „Wie lang ist es nun schon her, dass Lïana zuletzt an die Öffentlichkeit getreten ist? Oder dass eine Audienz in ihrem Namen stattgefunden hat? Die Leute fühlen sich alleingelassen und sind unzufrieden mit der Regierung. Sicher—der Rat der Völker tut, was er kann, was all die Anfragen und Volksbelange angeht. Das will ich ihm gar nicht absprechen, aber es braucht nun mal ein Oberhaupt, um ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Stell dir mal vor, was überall los wäre, wenn Elidyria angegriffen werden sollte—aus welchem Grund auch immer—aber unsere Königin rührt keinen Finger!“

Naivara musste schlucken.

Er hatte Recht, natürlich hatte er das—es abzustreiten würde bedeuten, die Augen vor der Realität zu verschließen und Naivara war nicht dumm.

Unruhige Zeiten bahnten sich an. Den Anschein hatte es zumindest.

„Was mir aber noch mehr Sorgen bereitet“, fuhr Braern fort, sein Gesicht eine Miene der Besorgnis, „ist, dass Morghar sicher nicht ewig dulden wird, dass wir uns aus dem Ossos-Konflikt heraushalten. Und wenn sich Ossos dazu entschließen sollte, uns anzugreifen, kann es sein, dass Morghar uns nicht unterstützen wird. Und dann—sollte sich an der Lage hier nichts ändern, sollte Lïana weiterhin so passiv bleiben wie bisher . . .“

Der Satz blieb unbeendet, aber Naivara konnte sich ausmalen, was dann wäre. Was es für den Frieden auf der Insel, den fragilen Frieden zwischen den Inseln bedeuten würde.

„Ich frage mich, was sie dazu bewegt, sich so sehr zurückzuziehen und von uns abzuwenden. Sie hat doch eine Verantwortung der Insel gegenüber!“

Braern zuckte mit den Achseln. „Tja, die Frage stellen sich viele. Und ich vermute, wenn sie noch länger unbeantwortet bleibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Völker protestieren.“

„Protestieren?“ fragte Naivara. „Inwiefern?“

„Vielleicht durch Aufstände? Ich habe doch auch keine Ahnung. Ich schnappe nur hier und da auf, was die Leute in den Tavernen sich nach dem zweiten Krug Met trauen auszusprechen. Natürlich möchte niemand öffentlich Kritik an der Königin ausüben. Du weißt schließlich nie, wer mithören könnte.“

„Irgendwie macht mir die Vorstellung Angst.“

„Ich kann verstehen, dass es dir so geht. Aber so darfst du nicht denken. Es ist ja bloß Gerede und niemand weiß, wie viel wirklich davon stimmt. Also mach dir nicht unnötig Sorgen darüber.“

„Ist ja nicht so, als könnte ich es einfach abstellen.“ Nicht selten hatte sie genau das versucht und war kläglich gescheitert. Die Ängste drängten sich trotzdem immer wieder auf. Wie ein lästiger Schwarm Mücken schwirrten sie in ihrem Kopf herum und ließen sich nicht verscheuchen.

Braern seufzte. „Ich weiß leider genau, was du meinst.“

Ein weiterer Grund, warum sie sich ihm so gerne anvertraute, war, dass er es nicht einfach so aus Höflichkeit daher sagte, wie andere es taten—Braern wusste es tatsächlich. Weil er einst in einer ähnlichen Situation gesteckt hatte.

Als seine Eltern ihn dazu bringen, oder vielmehr dazu zwingen wollten, sich zum Soldaten ausbilden zu lassen, hatte Braern die Flucht ergriffen. Er hatte sein altes Leben hinter sich gelassen, die Verbindung zu seiner Familie gekappt und war nach Maivantyr gekommen, um sich eine neue Identität zuzulegen und ein neues Leben aufzubauen.

Eine erneute Windböe fegte durch die Bäume. Inzwischen waren auch die Vögel verstummt, sodass der Wald nun gespenstisch still war.

Bisher hatten sie, trotz dass sie mit wachsamen Augen nach links und rechts blickten, kein Anzeichen für ein Tier in Not gefunden. Und seither war das jämmerliche Fiepen auch nicht noch einmal ertönt, was eine Ortung des Tieres beträchtlich erschwerte.

„Verdammt, ich weiß nicht, ob ich einfach alles hinter mir lassen könnte, so wie du damals“, gab Naivara leise zu. „Meine Familie ist doch das Wichtigste für mich.“

„Das verlangt auch keiner von dir, Naivara. Nur weil es für mich der einzige Weg war, heißt das nicht, dass du ihn genauso gehen musst.“ Er blieb stehen, um mitfühlend ihre Schulter zu drücken. „Ich will nur nicht, dass deine Angst all deine Tage beansprucht und sie überschattet. Das hat sie nicht verdient. Das hast du nicht verdient.“

„Ich versuche es.“ Mehr blieb ihr nicht übrig. Manchmal was das das Einzige, was man tun konnte. Es versuchen.

Und versuchen.

Kapitel 2

NACH EINER GEFÜHLTEN EWIGKEIT DES vergeblichen Suchens waren sie am Schilfweiher angelangt. Er lag mitten zwischen den Rotbuchen und auf seiner spiegelglatten Oberfläche kräuselte sich keine einzige Welle.

Auch hier war keine Spur des Tieres zu finden.

Die Schilfrohre wiegten sich in der leichten Brise und die Baumkronen spiegelten sich, sodass der Weiher aussah wie eine perfekte Parallelwelt zu der ihren.

In den warmen Monaten waren Naivara und der Rest der Smaragdwache hier häufig zum Abkühlen hergekommen. Das Wasser des Weihers war ganz klar, daher konnte man bis auf den Boden blicken, wo kleine Forellen wie Schatten umherhuschten und zwischen den Schilfhalmen verschwanden.

Es war ein friedlicher Ort, zu dem Naivara gerne auch allein ging, um mit sich und ihren Gedanken ganz ungestört sein zu können. Hier hatte sie schon so manches Nickerchen gemacht oder stundenlang die Libellen beobachtet, die träge über das Wasser sirrten. Mit viel Glück ließen sich hier auch ab und an Pixies beobachten. Die Pixies waren winzige faëyähnliche Wesen mit zierlichen Körpern und glasigen Flügeln. Sie galten als scheueste Kreaturen von ganz Elidyria, sodass man sie nur sehr selten zu Gesicht bekam.

An diesem Tag waren weder Libellen noch Pixies über dem Schilfweiher unterwegs. Still und unberührt lag er da.

Naivara näherte sich einer Stelle, die nicht mit Schilf zugewachsen war und somit direkten Zugang zum Wasser bot.

Sie kniete sich hin und beugte sich über die Wasseroberfläche, bis sie ihr Spiegelbild erkennen konnte.

Ihre dunkelgrünen Haare hatte sie lose im Nacken zusammengebunden, sodass sie nicht wie sonst ihr schmales Gesicht umrahmten. Es war ein hübsches Gesicht, mit geschwungenen Augenbrauen und schräg liegenden grünen Augen, in denen sich der ein oder andere goldene Sprenkel verirrt hatte. Ihre Nase war markant und gerade, ebenso ihr ausdrucksstarker Mund, der für gewöhnlich zu einem Grinsen verzogen war. Nun jedoch blickte sie mit ernster Miene ihrem Spiegelbild entgegen.

Früher hatte Naivara stundenlang so gehockt, ihr Gesicht betrachtet und so getan, als wäre es ihr Zwilling, der da unter der Wasseroberfläche lebte und sie beobachtete. Inzwischen schämte sie sich ein wenig für die Vorstellung ihres jüngeren Ichs, deshalb schöpfte sie rasch ein wenig Wasser mit den Händen, sodass ihr Spiegelbild von hundert kleinen Wellen davongespült wurde, und erfrischte ihr Gesicht. Anschließend tauchte sie ihren Wasserschlauch unter, um ihn aufzufüllen.

Braern kniete sich neben sie, um das Gleiche zu tun und auch Aldon genoss für einen Moment das kühle Nass, indem sie einige lange Schlucke von dem Wasser trank. Dann streifte sie kurz um Naivaras Beine und verschwand anschließend im hohen Schilf. Vielleicht hatte sie eine Fährte gewittert.

„So langsam gebe ich die Hoffnung auf, dass wir das Tier finden. Es kann überall liegen.“

„Oder es liegt gar nicht mehr da. Vielleicht hat ein Greifvogel es sich einfach geschnappt und ist davongeflogen“ Das würde die Laute der Verendung erklären. Die scharfen Krallen eines Bussards oder eines Habichts waren absolut tödlich für die Nagetiere des Waldes.

„Was die letzten Stunden zu einer kompletten Zeitverschwendung machen würde.“

„Aber Braern, meine Anwesenheit ist doch nie eine Zeitverschwendung“, sagte Naivara und lächelte ihn zuckersüß an.

„Ich lasse dich jetzt mal in dem Glauben.“

„Wie nett.“

„Immer!“ Naivara verdrehte die Augen. Für einen unverschämten Kommentar war sich Braern nie zu schade. „Übrigens glaube ich wirklich nicht, dass wir das Tier finden werden. Normalerweise bin ich niemand, der einfach so aufgibt, das weißt du, –“

„Aber was, wenn wir ihm noch helfen könnten?“ fuhr Naivara ihm ins Wort. Der Gedanke, ihre Suche einfach abzubrechen und das Tier seinem Schicksal zu überlassen, gefiel ihr gar nicht.

„Überleg doch mal“, sagte Braern. „Angenommen, das Tier ist wirklich schwer verletzt, und wir durchkämmen mit der gleichen Geschwindigkeit den Wald, wie wir es bisher getan habe, dann wäre es—“

„—schon längst tot, wenn wir es dann irgendwann finden“, beendete sie seinen Satz und blickte düster auf den Boden vor ihr.

„Falls wir es überhaupt finden sollten.“

„Ich schätze, du hast Recht. Auch wenn mir das überhaupt nicht gefällt.“

„Mir doch auch nicht“, sagte Braern. „Aber so ist eben der Lauf der Natur. Du kannst sie nicht alle retten.“

„Ich wünschte, ich könnte es.“ Naivara versuchte, sich abzulenken und holte ihre Angelausrüstung aus ihrem kleinen Wildlederbeutel hervor, den sie auf ihren Patrouillen stets bei sich hatte. Bis auf das Angelgeschirr enthielt er nicht viel; ein kleines Sammelsurium an Vogelfedern verschiedenster Art, die Naivara über die vergangenen Jahre hinweg gefunden hatte, sowie eine Handvoll Steine für ihre Zwille.

Ihr wertvollster Besitz—ein handflächengroßer Sonnenstein—war in ein dickes Stück Stoff eingewickelt und ruhte ganz am Boden des Beutels. Naivara hatte ihn von ihrer Großmutter Alanie an dem Tag geschenkt bekommen, als sie der Smaragdwache beigetreten war, mit dem Versprechen, dass er sie beschützen würde, wo auch immer sie war. Seither trug Naivara den Sonnenstein immer bei sich, denn er strahlte für sie ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit aus und inzwischen fühlte es sich falsch an, sein schweres Gewicht nicht im Rhythmus ihrer Schritte gegen ihre Hüfte prallen zu spüren.

• • •

Sowie Naivara die Angelrute ausgeworfen hatte, setze sie sich neben Braern, der es sich auf der warmen, trockenen Erde gemütlich gemacht hatte, und beobachtete den Schwimmer aus Kork, wie er sanft im Wasser vor sich hintrieb.

Braern räusperte sich. „Es gibt da eine Sache, über die ich mit dir noch reden wollte—“, setzte er an, wurde jedoch von Aldon unterbrochen, die mit hoher Geschwindigkeit aus dem Schilf gestürmt kam.

Als sie Braern und Naivara erreichte, merkten die beiden sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Füchsin hatte den buschigen Schwanz eingezogen und die Ohren angelegt.

„Aldon, was ist los?“ fragte Naivara und merkte gleichzeitig, wie der unangenehme Druck in ihrem Bauch stärker wurde. „Hast du dich verletzt?“

„Sie sieht okay aus“, sagte Braern, während er ihr gesträubtes Fell prüfte. „Ich glaube, sie hat etwas gewittert. Wir sollten nachschauen, was es war.“ Er erhob sich und Naivara tat es ihm gleich. Die Angelrute war für den Moment völlig vergessen—zuerst mussten sie wissen, was Aldon derart aus der Fassung gebracht hatte. Die Füchsin gab kehlige Laute von sich, die an Schreie erinnerten, und tänzelte nervös auf der Stelle.

„Zeig uns, was du gefunden hast!“ forderte Naivara Aldon auf und sogleich stürmte die Füchsin auf dem gleichen Weg zurück, auf dem sie wenige Augenblicke zuvor aus dem Schilf geprescht war.

Naivara und Braern eilten ihr hinterher, bis sie auf der anderen Seite des Weihers an einen Waldpfad kamen. Aldon schnüffelte aufgeregt auf dem Boden umher und blieb schließlich neben einem dunklen Haufen stehen.

Naivara erkannte als erstes, um was es sich bei dem Haufen handelte und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Und auch Braern stand wie angewurzelt da.

Mitten auf dem Waldpfad lag ein junger Dachs.

Er war von einem kleinen, silbernen Pfeil durchbohrt worden und seine glasigen Augen starrten hinauf in den blassblauen Himmel.

Sein kehliges Fiepen war das letzte Geräusch gewesen, das er in seinem kurzen Leben von sich gegeben hatte.

Kapitel 3

IHRE NACHT WAR WIEDER EINMAL unruhig gewesen. Bis ins frühe Morgengrauen hatte sie sich von einer Seite auf die andere gedreht und einfach keine Ruhe gefunden. Zwar war sie immer wieder in einen leichten Dämmerschlaf geglitten, doch hatten sie die ganze Zeit über wirre Träume heimgesucht, an die sie sich jetzt, nach dem Aufwachen, nur noch schemenhaft erinnern konnte. Es waren zwei Personen vorgekommen, die sich an den Händen hielten und sangen.

Diesen Traum hatte sie in dieser Nacht nicht zum ersten Mal gehabt, die Bilder verfolgten sie nun schon viele Nächte lang und sie konnte sich einfach keinen Reim daraus machen.

Diesmal hatte der Traum jedoch anders geendet. Normalerweise schreckte sie aus dem Schlaf, sobald sich die Silhouetten der Personen an den Händen nahmen, diesmal jedoch war aus ihrer Mitte ein merkwürdiger Lichtstrahl gekommen, der sie geblendet hatte.

Von wo aus hatte sie die ganze Situation eigentlich beobachtet?

Und wie hatte das Licht sie so derart blenden können? Es kam ihr vor, als hätte ihr Körper über dem Geschehen geschwebt, aber ganz sicher war sie sich da nicht.

Das blasse Leuchten des Morgens schien bereits durch die Fenster ihrer kleinen Hütte, als sie endlich aufstand. Der Himmel hatte am fernen Horizont die Farbe wässriger Milch angenommen und die Baumwipfel wiegten sich kaum merklich in der leichten Brise. Von draußen ertönte der leise Schrei einer Schleiereule, die die Dämmerung nutzte, um Mäuse zu fangen.

Sie begann ihren Tag stets auf dieselbe Art und Weise. Nach einer schnellen Wäsche mit kaltem Bergwasser aus dem Bach neben ihrer Hütte flocht sie ihr Haar zu einem dicken Zopf, der ihr bis an die Hüften reichte; dann zog sie sich ihr Gewand aus weichem Wildleder an, schlüpfte in die Stiefel und schulterte ihren Sammelbeutel und zog hinaus in die Wälder, um Nahrung für den Tag zu finden.

Bevor sie die Tür hinter sich schloss, schaute sie sich ein letztes Mal in der Hütte um.

Sie war nun schon viele Monate lang ihr Rückzugsort und ihre Heimat und beherbergte alles, was sie zum Leben benötigte. Unter der Decke hingen unzählige Büschel getrockneter Pflanzen, Wildblumen und Kräuter, sodass der gesamte Raum angenehm nach einer Mischung aus Lavendel und wilder Minze duftete.

An einer Wand stand ein schmales, aus Weidenholz geflochtenes Bett mit einem dicken Überwurf aus Schaffell; eines der wenigen Erbstücke ihrer Eltern, die sie besaß. Gegenüber vom Bett hatte sie ein Regal aus Buchenholz, in dem sich große Berge von alten Büchern und Pergamentrollen stapelten, darunter ihr Lieblingsbuch, Der Perlentaucher. Die würde sie irgendwann sortieren müssen, dachte sie, aber wie sie sich kannte, würde dieses Vorhaben ebenso schnell in Vergessenheit geraten wie ihre eigene Existenz.

Ein trauriger Vergleich, dachte sie, und zog die dicke Holztür langsam hinter sich zu.

Der Morgen zeigte sich in seiner ganzen Pracht. Über die Gipfel der Berge stahlen sich die ersten Sonnenstrahlen und tauchten sie in ein blassgoldenes Licht. Am anderen Ende des Horizonts verzog sich das düstere Blau der Nacht nun vollends.

Es würde ein schöner Tag werden.

• • •

Nachdem sie die frühen Morgenstunden damit verbracht hatte, die Wälder nach Beeren abzusuchen und bei dem nahegelegenen Bergfluss zu jagen, machte sie sich langsam und ohne Eile auf den Rückweg zu ihrer Hütte. Diese lag genau auf dem Fleck Erde, an dem der dichte Kiefernwald und die ersten Vorläufer des Jalean-Gebirges aufeinandertrafen. So sah sie, wenn sie sich nach Westen drehte, das Meer aus Baumwipfeln mit dem dahinterliegenden Ozean, und wenn sie nach Osten schaute, hatte sie einen spektakulären Blick auf die Bergspitzen, die sich über den gesamten Süden Elidyrias zogen.

Niemand verirrte sich je in diesen abgeschiedenen Teil der Insel, sodass sie manchmal das Gefühl hatte, außerhalb dieser Einsamkeit nur in ihrer eigenen Vorstellung zu existieren.

Meist gefiel es ihr, die Wildnis so für sich zu haben und ungestört leben zu können, doch manchmal erfüllte sie eine solche Wehmut, wenn sie daran dachte, dass sie ganz allein war und niemanden hatte, der sich um ihre Existenz scherte. Wobei das nicht ganz stimmte—ihre beiden Tiergefährten, der Bär Lifaën und die Schleiereule Nuada, waren ihre einzige Familie, seitdem sie denken konnte.

Und dann war da natürlich noch . . . aber bevor sie den Gedanken beenden wollte, scheuchte sie ihn schnell davon, als wäre er eine lästige Fliege.

Jetzt war nicht der Tag, um über die Geister der Vergangenheit zu sinnieren.

Das Hier und Jetzt wartete darauf, von ihr gelebt zu werden.

• • •

Sie hatte die letzten Ausläufer des Waldes hinter sich gelassen und konnte bereits ihre Hütte sehen, die sie wie ein sicherer Hafen erwartete. Der Sammelbeutel war bis zum Bersten mit reifen Heidelbeeren und Brombeeren gefüllt und mit Vorfreude dachte sie an die vollmundige Süße, die sie erwartete. Aus den restlichen Beeren würde sie einen Kuchen backen, beschloss sie, als sie nur noch wenige Meter von der Hütte entfernt war. Genug Mehl war hoffentlich noch da, ansonsten müsste sie auf die nächste Kiste warten.

Dann hielt sie abrupt inne, als plötzlich das Geräusch von sich nähernden Pferdehufen ertönte. Sofort war sie in Alarmbereitschaft.

Wer hatte sich hierher verirrt? Und hatte die Person sich tatsächlich nur verirrt oder wollte sie womöglich zu ihr?

Es war bereits viele Monate her, dass sie zuletzt jemanden hier angetroffen hatte. Mit Ausnahme der monatlichen Kiste mit Essensvorräten, die ihr irgendwer vor die Tür stellte. Aber bisher hatte sie die Person—falls es denn eine Person war—nie zu Gesicht bekommen. Wie durch ein Wunder erfolgte die Lieferung immer genau dann, wenn sie schlief.

Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich der Hütte von hinten, darauf bedacht, sich nicht eher als notwendig zu erkennen zu geben. Zum Glück stand die Hütte etwas erhöht auf einem Felsplateau, sodass sie zusätzlichen Sichtschutz hatte. Man wusste schließlich nie, mit welcher Absicht die Person kam und die lange Zeit in Einsamkeit hatte ihr Misstrauen noch verstärkt. Dies war ihr Zuhause und niemand hatte das Recht, einfach so dort einzudringen.

Sie bereute es sofort, ihren Stab und ihr Messer in der Hütte liegen gelassen zu haben.

Dort nützen sie dir gar nichts, schalt sie sich.

Wenigstens klemmte ihr Dolch griffbereit an der Schlaufe ihres Ledergürtels; sein Gewicht, das auf ihre rechte Hüfte drückte, gab ihr die Zuversicht, mit dem Eindringling fertigzuwerden.

Als sie die Hütte erreichte, spähte sie durch die Fenster hindurch, um auf der anderen Seite einen Blick auf die Person zu erhaschen.

Das durfte doch nicht wahr sein!

Hatte sie sich nicht vorhin geschworen, die Geister der Vergangenheit fürs Erste ruhen zu lassen?

Nun, wie es aussah, hatten die Geister andere Pläne. Und sie würde sich ihnen stellen müssen.

Der Tag war gekommen.

Sie gab ihre Deckung auf und trat hinter der Hütte hervor. Hoffentlich war das Zittern ihrer Knie nicht sichtbar.

Auf der Wiese vor ihrer Hütte stand eine hochgewachsene Faëy mit tiefbraunen Haaren, eine anmutige Fuchsstute neben ihr. Sie hatte ein schönes Gesicht mit ebenmäßigen Zügen und strahlte eine tiefe Weisheit aus.

„Ich hatte mich schon gefragt, wie lange du diesmal brauchst, um dich zu zeigen“, sagte die Faëy zur Begrüßung und trat einen Schritt nach vorn. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und Lachfältchen rahmten ihre Augen. „Es ist schön, dich zu wiedersehen, Antheia.“

„Sei gegrüßt, Myriani.“ erwiderte die junge Frau, deren Name Antheia war. „Ich hab‘ mich erst vergewissert, dass es sich nicht um einen anderen Eindringling handelt. Man kann nie wissen.“

Ihre Stimmbänder fühlten sich rau und unbenutzt an. Es war merkwürdig, nach so langer Zeit wieder mit einer anderen Person zu reden. In der Einsamkeit vergaß man schnell, wie es sich anfühlte, im Kontakt zu anderen zu sein. Sie musste sich einige Male räuspern, um den Kloß loszuwerden, der sich über die lange Zeit des Schweigens hinweg in ihrer Kehle gebildet hatte.

„Komm doch rein.“

Antheia öffnete die Tür und nachdem die Faëy namens Myriani ihr Pferd vor der Hütte angebunden hatte, traten beide ein. „Möchtest du einen Tee? Der Lavendel steht in voller Blüte und ich komm‘ mit dem Verarbeiten gar nicht hinterher.“

Sie zündete das Feuer in dem kleinen Steinkamin an und nach wenigen Augenblicken war die ganze Hütte in warmes, oranges Licht getaucht, das von den Wänden und der Decke reflektiert wurde.

„Das wäre schön“, erwiderte Myriani und setzte sich auf einen der beiden Holzstühle in der Hütte. Sie blickte sich gründlich um, ihr Blick verweilte besonders lange auf Antheias Bücherregal und überflog die Titel der Werke, die dort aufgestapelt waren.

„Es freut mich zu sehen, dass du das Buch, welches ich dir letztes Mal mitgebracht habe, gelesen hast“, sagte Myriani lächelnd und deutete auf den geknickten Buchrücken von Enzyklopädie der Gilden Elidyrias mitsamt hervorstehendem Lesezeichen, gebastelt aus einem getrockneten Farn. Antheia hatte die dicke Abhandlung über das Gildensystem der Insel förmlich verschlungen. Besonders die Fischergilde interessierte sie sehr, da diese einen wichtigen thematischen Teil ihres Lieblingsbuches darstellte.

„Es war wirklich gut“, sagte Antheia.

„Fand ich auch“, stimmte Myriani zu. „Allerdings fand ich die Ausführungen über die Gilde der Wissenschaften für meinen Geschmack etwas kurz geraten. Da hätten sie durchaus noch mehr in die Tiefe gehen können.“ Sie schmunzelte. „Aber das sind nur die Ansichten einer Historikerin, die findet, dass ihr Beruf auf dieser Insel noch viel zu wenig verbreitet ist.“

Antheia schwieg. Sie kannte sich nicht gut genug aus, um hierzu eine Meinung zu haben.

„Viel hat sich nicht verändert bei dir“, bemerkte Myriani schließlich nach einigen Minuten des Schweigens und betrachtete die Buchrücken interessiert. Antheia wusste nicht, ob Myriani sie selbst oder die Einrichtung ihrer Hütte meinte.

„Wozu die Dinge verändern, wenn sie ihren Zweck erfüllen?“

Die Faëy schmunzelte leicht. „Das hat Emrys auch immer gesagt.“ Sie setzte an, als wollte sie noch etwas hinzufügen, verstummte jedoch, als sie sah, dass ihr Gegenüber das Gesicht verzog und die Hände zu Fäusten ballte. Offenbar hatte sie ein sensibles Thema angeschnitten. „Bitte entschuldige. Ich habe nicht daran gedacht, dass dich sein Verlust noch immer schmerzt.“

„Das war nicht schwer zu erraten. Wird sich auch nie was dran ändern, schätz‘ ich.“ Sie sah weg. „Schließlich war er doch meine einzige Familie, oder?“

Mit diesen Worten ging Antheia abrupt zum Kamin, setzte einen kleinen Wasserkessel auf die Flammen und gab eine Handvoll von den getrockneten Lavendelblüten hinzu, die in dicken Büscheln von der Decke hingen.

Anschließend holte sie ein kleines Glas aus einem Regal mit einem Inhalt, der wie dick flüssiges Gold aussah, und rührte eine kleine Menge in den Lavendeltee. Elfmal im Uhrzeigersinn, um das Getränk mit positiven Absichten zu versetzen und einmal gegen den Uhrzeigersinn, um alles Negative herauszurühren.

Purer Aberglaube natürlich.

Myriani beobachtete sie schweigend.

Wenige Minuten später war der Tee fertig. Antheia füllte ihn in zwei Keramiktassen und reichte der Faëy eine. „Und was führt dich diesmal her? Ist schon einige Monate her, seit du das letzte Mal hier warst.“

Myriani nahm den Becher dankend entgegen und blies vorsichtig in den Dampf, der vom Tee emporstieg. Der intensive Duft des Lavendels mischte sich mit einer Reihe anderer würzig-blumiger Noten. Ringelblume, Kamille und etwas anderes, Herberes—ein Kraut, für das Antheia keinen Namen kannte, welches sich geschmacklich aber gut in die Mischung einfügte. „Erinnerst du dich noch daran, was ich dir bei unserem letzten Treffen erzählt habe?“

„Ja . . . an jedes Wort.“

„Das ist gut zu hören. Ich fürchte, dies ist vorerst das letzte Mal, dass du mich sehen wirst.“

„Was ist denn passiert?“ fragte Antheia und runzelte die Stirn. Sie war nicht sicher, ob sie hören wollte, was Myriani ihr mitzuteilen hatte.

„Ein Aufruhr ist im Gange. Der Konflikt mit Ossos und Morghar scheint sich im Süden der Insel immer weiter zuzuspitzen und wir können nicht ausschließen, dass es nicht bald zu einem Angriff kommen wird.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

„Mein Angebot vom letzten Mal steht noch immer und ich würde mich freuen, wenn du es annimmst“, sagte Myriani. „Es gibt etwas, das ich in nächster Zeit in der Nähe von Anoth . . . erledigen muss, und angesichts der angespannten Lage dort unten weiß ich nicht, wie gefährlich die ganze Sache sein wird. Sollte mir etwas zustoßen, weiß außer mir niemand sonst von dir.“

Antheia runzelte die Stirn und fuhr sich durchs Haar. „Was soll das heißen—du weißt nicht, ob du zurückkommst?“

„Das soll heißen, dass es sein kann, dass wir uns heute zum letzten Mal sehen, falls ich das—falls Ossos oder Morghar sich dazu entschließen, nicht nur die Schiffe auf offener See ins Visier zu nehmen.“

„Und dafür bist du den ganzen Weg hierher geritten?“

Myriani wandte schuldbewusst den Blick ab und leerte ihre Tasse in einem schnellen, beinahe hektischen Zug. „Antheia, du weißt, dass ich dich als Teil meiner Familie zähle und es mir wichtig ist, dass es dir gut geht. Und du weißt, dass du in Maivantyr immer einen Platz hast. Egal— ganz egal, was passiert.“

Antheia fühlte sich nicht überzeugt. Wohl kaum war sie in einer Gemeinschaft willkommen, die keinen blassen Schimmer von ihrer Existenz hatte.

„Und was ist mit dem Rest deiner Familie? Niemand weiß von mir!“

Myriani schluckte. „Das spielt keine Rolle. Sie werden es zur rechten Zeit erfahren.“

Kapitel 4

ES HERRSCHTE BEREITS REGES TREIBEN auf den Straßen von Maivantyr, als Naivara und Braern von ihrer Patrouille zurückkehrten.

Die Bewohner der Stadt hatten bereits alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen für das bevorstehende Weinfest, eins von vier Festen, die jedes Jahr zu Ehren der vier sagenumwobenen Faëy Lua, Ymis, Thumar und Melëon gefeiert wurden, die Elidyria vor Tausenden von Jahren entdeckt und besiedelt hatten. Sie waren die heiligen Wächter der Insel. Das Weinfest fand in Ymis‘ Namen statt und war der einzige Tag im Jahr, an dem Wein getrunken wurde. Zur Feier des Tages würde in ein paar Tagen der gesamte Marktplatz mit Weinreben geschmückt werden, es würde zahlreiche Auftritte von Barden geben und die Stadtbewohner würden zusammenkommen, um die Göttin des Sommers und des Weines zu feiern.

Normalerweise blickte Naivara den Festlichkeiten mit Vorfreude entgegen, nicht zuletzt weil ihr bester Freund jedes Jahr einen spektakulären Auftritt mit seiner Laute hinlegte.

An diesem Tag jedoch verdüsterte der grausige Fund im Wald alle Vorfreude, und so achtete Naivara kaum auf das Geschehen um sie herum. Mit einem Seitenblick auf Braern wusste sie, dass es ihm ähnlich ging. Aldon trottete hinter ihnen her, sie schien sich von der Laune ihrer Begleiter nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Man merkte, dass der Sommer beständig Einzug auf Elidyria hielt. Die Stimmung im Dorf war ausgelassen, auf den Straßen tobten Kinder umher und alle schienen die morgendliche Sonne genießen zu wollen. Maivantyr war nicht groß—nur etwa tausend Faëy und vereinzelte Menschen lebten hier. Kein Vergleich zu Elgrave Arieti, deren Straßen und Gassen laut Braerns Erzählungen kein Ende nahmen und in denen man sich nur allzu schnell verlaufen konnte.

Naivara war einmal mehr froh darum, in einer so kleinen Gemeinschaft zu leben, in der alle einander kannten und vertrauten. Niemals könnte sie inmitten von hunderten Fremden wohnen—sie wäre ein einsamer Niemand, umgeben von anderen Niemanden.

• • •

Sie gingen ihren gewohnten Weg—zuerst über die hölzerne Brücke, die quer über das kristallklare Wasser des Flusses Ivasaar führte, von der aus Naivara einen flüchtigen Blick auf Calëns Haus erhaschen konnte.

Ein Kribbeln, das nichts mit der Unruhe vorhin im Wald gemeinsam hatte, breitete sich in ihrem Bauch aus.

Vielleicht sehen wir uns später, dachte Naivara und Vorfreude schob ihr Unbehagen zumindest teilweise beiseite.

Braern hatte ihren Blick bemerkt. „Na, hältst du nach Calën Ausschau?“ neckte er sie halbherzig. Offenbar war er von ihrem Fund noch immer geschockt und versuchte nun, sie abzulenken. Viel half es nicht, aber trotzdem war sie für die Ablenkung dankbar. Über das Thema weniger.

„Und was, wenn ja?“

„Ich frage ja nur“, beschwichtigte er sie. „Es gibt da gewisse Gerüchte, die sich mir zugetragen haben.“

Naivara verdrehte die Augen. „Wenn dich etwas interessiert, kannst du mich auch direkt fragen, Braern. Was für Gerüchte hast du gehört und was mich noch viel mehr interessieren würde: von wem?“

„Nun ja, in der Smaradgwache munkelt man—wie soll ich es ausdrücken—ihr hättet sozusagen