The waves we catch - Emerald Bay, Band 2 - Lorena Schäfer - E-Book

The waves we catch - Emerald Bay, Band 2 E-Book

Lorena Schäfer

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Beschreibung

Es geht zurück nach Emerald Bay! Freue dich im zweiten Band auf die Geschichte von Billie und Nathan!



Das E-Book The waves we catch - Emerald Bay, Band 2 wird angeboten von ONE und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Trilogie;YA Romance;Australien;Clique;Roadtrip;Gilmore Girls;Selbstfindung;erwachsen werden;New Adult;Auslandsjahr;reisen;Tami Fischer;große Gefühle;Herzklopfen;Bad Boy;große Liebe;zweiter Band;LYX;Dawsons Creek;Sommerromanze;Sommerliebe;friends to lovers;Schicksal;Soulmates;KulturPass;Aktion KulturPass;Junge Erwachsene

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Seitenzahl: 430

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Playlist

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

NATHAN

NATHAN

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

NATHAN

BILLIE

BILLIE

NATHAN

NATHAN

BILLIE

Billie

Two is a crew!

Billies Bucket List oder 10 Orte, die du in Australien gesehen haben musst

New South Wales

Queensland

Northern Territory

Victoria

Und zum Schluss noch ein paar Tipps für deinen perfekten Roadtrip:

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Lorena Schäfer

Für meine Testleserin Tess,

die Down Under genauso liebt wie ich

Playlist

Where's My Love – SYML

Gypsy – Jack Botts

The Open Road – Hollow Coves

Without Your Love – The Paper Kites, Julia Stone

Someone Like You – Noah Kahan, Joy Oladokun

Blue Eyes – Jordy Maxwell

Waves – Dean Lewis

You Might Think – Sons Of The East

Too Young – Louis Tomlinson

Ocean Wide – JONAH

Being Me – Jack and the Weatherman

Now You Don't – Ocie Elliott

Wonderwall – Oasis

Sweet Child O'Mine – Taken By Trees

Thinking out Loud – Ed Sheeran

BILLIE

»Fünf Dollar, dass sie sich Love Yourself wünschen«, raunte Garrett mir zu.

Ich setzte die Ukulele ab und musterte die Menschentraube, die sich vor mir gebildet hatte. Teenager standen neben Familien mit kleinen Kindern, und auch ein älteres Ehepaar war dazwischen. »Nicht ganz eindeutig heute«, raunte ich zurück. Dann sah ich, wie einer der beiden Väter seiner Frau einen Arm um die Schulter legte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ich musste lächeln. »Fünf Dollar dagegen, dass es Wonderwall wird.«

Es war zu so etwas wie unserem Ritual geworden. Garrett kam jeden Nachmittag zur letzten halben Stunde meines Auftritts am Federation Square, und wir wetteten, welcher Song sich zum Abschluss gewünscht wurde. Wenn ich falschlag, spendierte ich uns einen heißen Kaffee aus einem der Foodtrucks. Wenn Garrett verlor, kaufte er ihn. Es war Ende Oktober und damit Frühling in Melbourne, doch an manchen Tagen war es trotzdem immer noch kühl, und meine Hände waren oft ganz steif beim Spielen.

Ich räusperte mich und sagte laut: »Danke, dass ihr so ein tolles Publikum wart. Meinen letzten Song heute dürft ihr wählen. Hat jemand einen Wunsch?« Wie immer rührte sich zunächst keiner, wenn ich die Menschen in der Menge direkt ansprach. »Vielleicht ein Lieblingslied, das ich spielen soll?«, fragte ich erneut.

Ein Mädchen flüsterte ihrer Freundin etwas zu, und Garrett grinste mich schon siegessicher an. Doch in dem Moment rief der Familienvater: »Wonderwall von Oasis!«

»Eine gute Wahl«, antwortete ich und zwinkerte Garrett zu, der so tat, als ob er vor mir salutierte. Das war der dritte Abend in Folge, an dem ich gewann – ein neuer Rekord.

Ich strich einmal langsam über die Saiten der Ukulele und begann die ersten Akkorde zu spielen. Während ich sang, versuchte ich die Menschen und die Handys, mit denen sie mich filmten, auszublenden. Ich war nun seit über zwei Jahren als Busker, wie man die australischen Straßenmusiker nannte, unterwegs und hatte mich trotzdem noch nicht daran gewöhnt.

Ein kleiner Junge legte drei Münzen in den Instrumentenkoffer vor mir und lächelte mich zaghaft an. Ich nickte ihm dankbar zu. Melbourne war das große Ziel für jeden kreativen Kopf in Australien, doch die Busker-Szene war hart umkämpft. Garrett hatte immer einen Verstärker dabei, mit dem man ihn durch die Essensstände des gesamten Queen-Victoria-Market hörte. Penny wechselte mehrmals am Tag ihre Outfits und tanzte zu ihren Songs. Und vor ein paar Tagen war vor dem Bahnhof der Flinders Street Station ein Typ aufgetaucht, der einen riesigen fahrbaren Flügel dabeihatte. Fast jede Woche strömten neue Menschen in die Stadt, die darauf hofften, wie Ed Sheeran oder Passenger auf der Straße entdeckt zu werden.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Songtext. Die Menge war nun größer geworden. Zusammen sangen sie mit mir den letzten Refrain des Liedes, und dieses warme Gefühl, das nur die Musik in mir auslösen konnte, überkam mich. Für einen kurzen Moment waren wir alle hier miteinander verbunden. Egal woher wir kamen oder wie unterschiedlich wir sein mochten.

Als ich die Ukulele wieder absetzte, erhielt ich Applaus, und einige Zuschauer warfen mir Scheine und Münzen in meinen Koffer. Dann löste sich die Gruppe langsam auf. Der Moment war vorbei.

Lewis, der bis eben noch neben mir gedöst hatte, hob seinen Kopf und sah mich erwartungsvoll an. Ich kniete mich zu ihm und strich ihm über sein weiches Fell. »Wir gehen ja schon«, versicherte ich ihm.

Im nächsten Moment sprang er an mir hoch und warf mich dabei fast um.

»Spinner«, kicherte ich und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Der Tierarzt hatte mir, nachdem ich Lewis an einer Raststätte auf dem Princes Highway gefunden hatte, geraten, ihn streng zu erziehen.

»Australian Shepherds sind sehr schlaue Hunde, Miss«, hatte er erklärt. »Sie müssen ihm schnell aufzeigen, was er darf und was nicht, sonst wird er Ihnen auf der Nase herumtanzen.«

Ich versuchte, seinen Ratschlag so gut es ging zu berücksichtigen, doch Lewis hatte mein Herz von der allerersten Sekunde an erobert. Er war, wie ich, ganz auf sich allein gestellt gewesen. Doch nun hatten wir einander.

»Wollen wir?«, fragte Garrett und hielt mir den Koffer entgegen.

Ich nickte und stand wieder auf, dann zählte ich das Geld aus dem Koffer und steckte es in meine kleine alte Lederhandtasche. Siebenunddreißig Dollar waren an diesem Nachmittag zusammengekommen. Am Wochenende würde ich wieder zusätzlich auch abends spielen. Vor allem am Samstag platzte der Federation Square aus allen Nähten, und es waren viele Menschen unterwegs, die Lust auf Musik und Feiern hatten.

Ich verstaute meine Ukulele, schulterte den Koffer und nahm Lewis an die Leine. Wir schlenderten über die bunten Pflastersteine zu den Foodtrucks, und Garrett löste seine Wettschulden ein.

»Ich kann es nicht glauben, dass ich schon wieder verloren habe.« Er schüttelte den Kopf und fuhr sich durch die blonden Haare. »Absolutes Pech.«

»Von wegen Pech«, erwiderte ich und wedelte mit dem Zuckerpäckchen vor seiner Nase. »Das ist eine Gabe. Ich weiß genau, was die Leute denken, wenn sie vor mir stehen.« Ich schüttete den Zucker in den dampfenden Kaffee und rührte ihn um. »Man muss nur richtig hinschauen.«

Garrett erwiderte nichts, sondern nahm einen Schluck aus seinem Becher.

Lewis tänzelte um meine Beine und wedelte mit dem Schwanz. »Heute gibt es keine Zimtschnecke«, erklärte ich ihm und schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu ungesund für dich.«

Lewis hechelte und ließ die Zunge aus der Schnauze hängen. Anscheinend hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

»Was machst du heute Abend, Billie?«, fragte Garrett nun, und ich zuckte zusammen. Ich dachte mir schon, dass dieser Moment irgendwann kommen würde, aber hatte gehofft, dass es noch etwas dauerte.

»Nichts Besonderes«, antwortete ich vage.

»Hast du Lust-«, fuhr er fort, doch ich ließ ihn nicht ausreden.

»Ich bin echt müde, und es war ein langer Tag für Lewis. Wir gehen lieber direkt nach Hause.«

Garrett nickte nur und konnte seine enttäuschte Miene nicht so richtig verbergen.

Ich gähnte ausgiebig, winkte ihm noch einmal zu und ging dann schnell zurück über den Platz in Richtung Bahnhof. Lewis lief neben mir her, und ich konzentrierte mich auf das untergehende Sonnenlicht, das sich in den großen Glasfenstern der umliegenden Kunstgebäude spiegelte. An der Straße nahm ich Lewis enger an die Leine und drängte mich mit ihm durch die vielen Menschen zur Tramstation. Zum Glück kam die Linie sechzehn in diesem Moment eingefahren, und ich ergatterte sogar einen Sitzplatz. Lewis legte sich unter den Sitz. Zu Beginn waren ihm die Züge nicht ganz geheuer gewesen, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt.

Ich sah aus dem Fenster und versuchte, nicht an die Situation mit Garret zu denken. Keine Chance. Sein Blick würde mich bestimmt den ganzen Abend beschäftigen. Ich mochte ihn wirklich, doch ich hatte aus gutem Grund zwei Regeln, an die ich mich hielt. Erstens: Nur oberflächliche Bekanntschaften waren erlaubt. Und zweitens: Ich blieb nie zu lange an einem Ort. Alles andere brachte Unglück.

Draußen zogen die Hochhäuser von Southbank an mir vorbei. Nur zwanzig Minuten Fahrt in Richtung Süden, und Lewis und ich waren daheim.

BILLIE

Als wir schließlich in St. Kilda, einem Vorort von Melbourne, ausstiegen, ließ ich Lewis wieder von der Leine. Wir liefen in Richtung Strand, zum unteren Abschnitt, an dem Hunde erlaubt waren. Vergnügt sah ich von der Promenade zu, wie er freudig ins Wasser sprang.

»Nicht!«, rief ich kichernd, als er wieder zu mir kam und sich ausgiebig schüttelte.

Lewis sah mich mit seinen treuen Augen an.

»Du hast ja recht«, gab ich zu und zuckte mit den Schultern. »Lieber hier als im Bett.«

Wir schlenderten unter den hohen Palmen am Hafen entlang. Immer wieder blieben Passanten stehen, um Lewis zu streicheln, und wir kamen nur langsam vorwärts. Doch ich konnte es ihnen nicht verübeln. Sein weiches Fell mit den hellbraunen Flecken lud geradezu dazu ein. Es war, als ob man einen Teddy kraulte.

Als wir schließlich vor dem weißen Gartenzaun standen und ich das Tor öffnete, war es schon dunkel. Ich lief über den Gartenweg auf das kleine Haus aus rotem Backstein zu und klopfte an der Haustür.

Nach einem Augenblick öffnete mir Kate. Sie hatte sich einen Pinsel hinters Ohr geklemmt. »Hey Billie.«

»Hi«, erwiderte ich.

Sie ging in die Knie und kraulte Lewis. »Hallo, mein Hübscher.«

Ich reichte ihr die Scheine, die ich in der Tram abgezählt hatte. »Hier, die Rate bis Sonntag.«

Ich zahlte nie weiter als drei Tage im Voraus. So konnte ich flexibel sein und spontan jederzeit weiterreisen.

»Danke.« Kate richtete sich wieder auf und nahm das Geld. »Hattest du einen erfolgreichen Tag?«

Ich wiegte den Kopf hin und her. »Er war ganz gut. Und du?«

Kate zog den Pinsel hinter dem Ohr hervor und seufzte. »Ging so. Die Bilder müssen bis zum Wochenende fertig werden, aber irgendwie habe ich eine Blockade.«

Kate illustrierte Kinderbücher. Viel mehr wusste ich nicht über sie, auch wenn ich sie sehr nett fand.

»Falls du Lust hast, heute Abend mit uns zu essen, gib Bescheid«, bot sie an. »Sobald Dylan da ist, schmeißen wir den Grill an.«

»Vielen Dank, aber ich werde heute früh ins Bett gehen«, lehnte ich ab.

»Dann vielleicht ein anderes Mal«, sagte Kate.

»Ja, ein anderes Mal«, wiederholte ich.

Sie winkte mir zu, und ich ging mit Lewis ums Haus zur offenen Garage. Der Van stand noch genauso da, wie wir ihn heute Morgen zurückgelassen hatten. Er war vor langer Zeit wohl weiß gewesen, aber inzwischen war die Lackierung fleckig. Einige rostige Stellen ließen sich nicht mehr verdecken, aber das machte mir nichts aus. Ich fand ihn wunderschön, genau so, wie er war.

»Home sweet home«, murmelte ich und zog die große Seitentür auf.

Lewis wollte schon hineinspringen, doch ich hielt ihn zurück. »Stopp, erst die Pfoten.«

Ich nahm einen Lappen vom Boden des Vans und wischte sie damit ab. »Brav«, lobte ich ihn. »Und nun die andere Seite.«

Lewis wartete geduldig, bis ich fertig war, und sprang dann in den Wagen. Ich zog meine braunen Boots aus und kletterte hinterher.

Die Autobatterie hatte den Tag über in der Garage aufgeladen, und ich knipste die Lichterketten an, die ich an einer Seite gespannt hatte. Der Van war innen wunderbar gemütlich. Die kleine Küchenzeile aus weißem Holz hatte ein Waschbecken, ein Kochfeld und einen kleinen Kühlschrank. Daneben gab es eine schmale Duschkabine, in der sich auch das Klo befand. Der hintere Teil des Wagens bestand aus einem Holztisch, der sich hin- und herschwenken ließ, und einer großen Matratze, die zu einer Eckbank umfunktioniert werden konnte. Lewis machte es sich zwischen den vielen Kissen und Decken darauf bequem.

Ich öffnete den Kühlschrank. Bis auf Toastbrot, Butter und etwas Gemüse herrschte gähnende Leere. »Morgen müssen wir dringend einkaufen«, stellte ich fest.

Lewis sah mich aufmerksam an.

»Für dich ist natürlich noch genügend da, keine Sorge.« Ich schmunzelte und holte das Trockenfutter aus einem der vielen Oberschränke. Direkt daneben lag meine Unterwäsche. Obwohl fast jeder Zentimeter mit Regalen und Schränken ausgebaut war, war Platz im Van Mangelware. Doch das machte mir nichts aus. Außer meiner Ukulele, ein bisschen Geschirr, meinen Kleidern, Kosmetik und einer geblümten Kiste mit Briefen und Erinnerungen brauchte ich nichts.

Bis auf einen einzigen anderen Ort hatte ich mich nirgends so geborgen gefühlt wie hier. Und da ich nicht mehr an diesen Ort zurückkehren würde, war der Van mein Zuhause geworden.

Ich schüttete Futter in Lewis' Napf und stellte ihn aufs Bett. Sofort machte er sich darüber her. Dann schmierte ich Butter auf ein Toastbrot und biss nebenbei einfach direkt in eine Tomate. Im Van gab es nicht viel Platz für Etikette. Wir aßen, schlafen und lebten auf wenigen Quadratmetern.

Schließlich putzte ich mir die Zähne am Spülbecken. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, kam nur noch ein schwacher Strahl. Ich musste dringend den Wassertank mit dem Gartenschlauch auffüllen.

Kate und Dylan waren toll, sie ließen mich alles nutzen, ohne Extrakosten zu berechnen. Seit ich mit dem Van unterwegs war, buchte ich Übernachtungsmöglichkeiten über eine App, in der Leute ihre Gärten und Höfe als Stellplätze anboten. Quasi Campersurfing anstatt Couchsurfing. Ich achtete darauf, dass die Anbieter offiziell registriert waren und nur positive Bewertungen hatten, sodass ich mich sicher fühlen konnte.

Lewis schob seinen Napf mit der Nase in meine Richtung. Es war sein Zeichen für mehr.

Ich lachte. »Kleiner Nimmersatt. Aber nur noch ein wenig, ja? Zu viel tut dir nicht gut.« Ich schüttete noch etwas Futter in den Napf. In letzter Zeit hatte ich mehr Geld verdient als noch in den kalten Wintermonaten. Ich würde Lewis morgen im Supermarkt die Kaustangen kaufen, die er so mochte.

Mein Handy, das auf dem kleinen Tisch lag, vibrierte. Ich griff vom Bett hinüber. Auch wenn ich die Ziffern der Vorwahl kannte, sagte mir die Nummer nichts. Ich runzelte die Stirn und überlegte. Es gab nur eine einzige Person, die meine Nummer hatte. Und ich wollte mit niemand anderem sprechen.

Ich legte das Handy wieder zurück. Dann zog ich meinen langen Rock und meinen Pullover aus, streifte die Ringe von meinen Fingern und meine Ketten über den Kopf. Sorgsam legte ich alles auf den Tisch. Ich öffnete meinen halben Dutt und kämmte meine langen hellbraunen Haare durch. Wie immer war das Umziehen im Van, in dem ich gerade mal so aufrecht stehen konnte, eine Turnübung.

»Yoga kann ich mir sparen«, erklärte ich Lewis, als ich meine Schlafsachen anzog. »Aber morgen früh powern wir dich mal wieder so richtig aus. Nicht, dass dir noch langweilig mit mir wird.«

Lewis sah mich an, als ob er jedes Wort von mir verstand. Ich kraulte ihn hinter den Ohren. Noch wollte ich nicht an morgen denken. Ich würde Garrett gegenübertreten müssen. Bestimmt erwartete er eine Erklärung für mein schnelles Verschwinden heute. Wir kannten uns nun schon seit fast zwei Monaten, doch ich würde bald weiterreisen, und ich wollte auf keinen Fall seine Gefühle verletzen.

Es war meine Schuld. Ich hatte ihn schon zu sehr in mein Leben gelassen. Normalerweise knüpfte ich keine engeren Kontakte, doch er war eines Abends einfach aufgetaucht und hatte sich nach meinem Auftritt zu mir gesellt. Es war schön, jeden Tag mit ihm zu reden. Von mir aus konnte es genauso weitergehen, doch das war unmöglich. Andere Leute wollten immer mehr, aber ich wollte oberflächlichen Kontakt halten.

Wie jeden Abend legte ich mich neben Lewis, der bereits ruhig atmete, und zog die Decke über mich. Und wie jeden Abend tauchte ein Paar tiefblauer Augen vor meinem Gesicht auf, bevor ich endlich einschlief.

NATHAN

»Nathan!« Hazel schnippte mit ihren Fingern vor meinem Gesicht. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Natürlich«, sagte ich schnell, obwohl das komplett gelogen war. Meine Gedanken waren seit der Hastings Street und dem riesigen Werbeplakat für den East-Coast-Surfcup, der im Februar hier in Emerald Bay stattfinden würde, ganz weit weg.

»Ich glaub dir kein Wort.« Hazel schmunzelte und hielt mir die Tür zum Kindergeschäft auf.

Wir schlenderten durch die Gänge mit der Kleidung, und Hazel hielt ein T-Shirt nach dem anderen nach oben. »Alles pink und rosa.« Sie verzog das Gesicht. »Können die nicht auch mal Klamotten in anderen Farben herstellen?«

»Vielleicht schauen wir besser nach Spielzeug«, schlug ich vor.

Sie nickte. »Isla hat neulich erwähnt, dass sie gerne ein neues Boogie Board mit Schildkröten darauf hätte.«

»Bei mir war es ein Astronautenkostüm für den Strand, in dem man keine sandigen Füße bekommt«, erwiderte ich.

Wir grinsten uns an. Unsere Nichte Isla wurde in ein paar Tagen fünf Jahre alt, und wir wollten ihr das perfekte Geschenk kaufen. Unser Bruder Sam war der Meinung, dass wir sie zu sehr verwöhnten, aber das hielt uns nicht davon ab, es trotzdem zu tun.

Wir stöberten noch eine Weile und entschieden uns schließlich für eine dunkelgrüne Latzhose und ein großes Schwimmtier in Form einer Schildkröte. Nachdem wir gezahlt hatten, schlenderten wir zur Pacific Avenue, der Straße, die direkt am Strand verlief.

»Hast du noch Zeit für einen Kaffee?«, fragte Hazel.

Ich sah auf meine Uhr. Meine Schicht im Restaurant fing erst in einer halben Stunde an. »Kaffee kling gut.«

Sie steuerte die Terrasse des Cooloola Cafés an und ließ sich in einen der Stühle fallen.

»Eigentlich könnten wir einfach einen Kaffee im Restaurant oder daheim trinken, das wäre auf Dauer billiger«, überlegte ich.

Hazel verzog das Gesicht. »Das ist doch nicht dasselbe. Daheim sehen wir uns sowieso jeden Tag, und im Restaurant arbeitest du, sobald du durch die Tür gehst. Das war bei Mum und Dad auch schon immer so.«

Eine Kellnerin mit schwarzen Locken trat an den Tisch. »Was darf es für euch sein?«

»Einen Cappuccino und einen schwarzen Kaffee, bitte«, antwortete ich.

»Hey, wie kommst du darauf, dass du weißt, was ich will?«, fragte Hazel empört.

Ich verdrehte die Augen und lächelte die Kellnerin entschuldigend an. Sie lächelte zurück, und ihre Nase kräuselte sich dabei. Das hatte ich bisher nur bei einer einzigen Person gesehen.

»Du nimmst jedes Mal dasselbe, Hazel«, sagte ich und schob diesen Gedanken schnell beiseite.

Hazel grinste. »Stimmt, ich bin einfach zu vorhersehbar. Ich wünschte, es wäre anders.«

Die Kellnerin lachte. »Kommt sofort.«

Sie ging nach drinnen, und ich sah ihr hinterher. Nach einem Moment bemerkte ich, dass Hazel dasselbe tat. Als wir unsere Blicke bemerkten, fingen wir beide an zu prusten.

»Was ist eigentlich aus deinem letzten Date geworden?«, fragte ich.

Hazel zuckte mit den Schultern und warf ihre dunkelbraunen Haare, die sie zu zwei Zöpfen geflochten hatte, zurück. »Sie war nett. Sie war lustig. Hübsch. Check, check, check.« Sie malte mit ihrer Hand kleine Häkchen in die Luft.

»Aber?«

»Es hat einfach nicht gefunkt. Wie soll es auch, wenn man vorher auf einem Profil seine besten Vorzüge ausfüllen muss?«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als sie sagte: »Nein, keine Dating-Ratschläge von dir.«

»Wieso?«, fragte ich. »Ich habe auch Erfahrungen.«

Hazel verdrehte die Augen. »Du hattest letztes Jahr ein Date mit Amanda Pearce, und die kennst du noch aus der Schule. Außerdem war das nicht mal ein eigenes Date, Taylor hat dich auf ein Doppeldate mitgeschleift, bevor er Ivy kennengelernt hat.«

Der Abend war eine Katastrophe gewesen. Mein bester Freund Taylor hatte es gut gemeint, als er mich im letzten Jahr zu einem Vierer-Date überredet hatte. Er war der Ansicht, dass ich inzwischen genug Trübsal für ein ganzes Leben geblasen hatte. Den ganzen Abend über hatte Taylor für uns beide reden müssen, weil ich kein Wort von mir gegeben hatte. Ich war einfach nicht in der Stimmung zu daten.

»Was wolltest du mir vorhin eigentlich erzählen?«, fragte ich Hazel, um das Thema zu wechseln. Ich setzte mich aufrecht hin, um ihr zu zeigen, dass ich ihr dieses Mal konzentriert zuhörte.

Sie lehnte sich zu mir und schob ihre Brille ein Stück die Nase hoch. »Es sind nur noch zwei Monate bis zur Zeugnisvergabe.« Hazel war im letzten Schuljahr und würde bald ihren Abschluss in der Tasche haben. »Mr Lee meinte, wenn ich mich bei den Abschlussprüfungen genauso anstrenge wie bisher, kann ich es schaffen, Jahrgangsbeste zu werden.« Sie strahlte mich an.

»Hazelnut!«, rief ich begeistert. »Das ist ja der Wahnsinn!«

Hazel war nur eineinhalb Jahre jünger als ich. Während ich in der Schule nur das Nötigste getan hatte, um irgendwie durchzukommen, hatten sie und Sam von Anfang an geglänzt. Meine Lehrer waren regelmäßig enttäuscht gewesen, dass ich das einzige Kind der Harrison-Familie war, das nicht für die Schule zu begeistern war.

Ich drückte Hazels Hand. »Ich freue mich für dich. Wissen Mum und Dad schon Bescheid?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die haben im Moment so viel zu tun. Ich überrasche sie, wenn es so weit ist.«

Die Bedienung brachte den Kaffee, und ich hob meine Tasse feierlich: »Auf meine kleine Schwester-«

Hazel räusperte sich.

Ich begann von vorne. »Auf meine Schwester, die nicht kleiner, sondern einen Zentimeter größer als ich ist. Und eindeutig die Schlauere von uns.«

Hazel nickte zufrieden. Wir stießen an und nahmen beide einen Schluck.

»Wenn ich jetzt noch das Praktikum in der Tierklinik bekomme, kann ich im Herbst mit der Uni starten.« Hazel wollte Tierärztin werden, seitdem sie ganz klein war.

»Du bist Jahrgangsbeste. Bestimmt bekommst du das Praktikum«, beruhigte ich sie.

»Wahrscheinlich bin ich Jahrgangsbeste«, korrigierte sie mich.

»Du lernst seit Monaten für deine Prüfungen. Was soll da noch schiefgehen?«»Es sind gerade mal noch vier Wochen.« Hazels Stimme schraubte sich nach oben. »Wenn ich nur daran denke ... Ich sollte dringend wieder nach Hause, anstatt hier Zeit beim Kaffeetrinken zu vergeuden.« Sie rutschte plötzlich unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Vielen Dank fürs Kompliment.« Ich lachte. »Komm schon, die zehn Minuten werden deine Note nicht beeinflussen. Du wirst mehr Punkte erreichen als Taylor und ich zusammen.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als ob das mein Maßstab wäre. Sogar am Prüfungstag warst du morgens noch beim Surfen.«

»Mum war stinksauer«, erinnerte ich mich. »Aber es hat ja alles geklappt.«

Hazel wiegte den Kopf hin und her, als würde sie mir nicht wirklich zustimmen.

»Was?«, fragte ich.

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Hazel, es ist gut so, wie es ist«, versicherte ich ihr. »In welchem Job kann ich ansonsten in Surfshorts herumlaufen?« Ich zupfte an meiner Hose.

»Als-«

»Und sag jetzt nicht Surfer«, hielt ich sie ab, den Satz zu Ende zu sprechen.

Hazel biss sich auf die Lippen.

»Ich übernehme das.« Ich deutete auf die leeren Tassen vor uns. »Viel Spaß mit deinen Büchern.«

*

Nachdem Hazel sich von mir verabschiedet hatte, machte ich mich auf den Weg ins Three Pines. Das Restaurant am Ende des Main Beach gehörte unseren Eltern, und wir waren praktisch dort aufgewachsen. Dad war für die Küche verantwortlich, und Mum hatte früher den Service übernommen. Inzwischen kümmerte sie sich nun oft um Isla. Sam war mit ihr von Sydney zurück nach Emerald Bay gezogen, als seine Frau Kelsey überraschend gestorben war. Mum und Dad konnten also jede Hilfe gebrauchen, und ich hatte nach der Schule ebenfalls begonnen, im Three Pines zu arbeiten. Egal, was Hazel dachte, so war es die beste Lösung für alle.

Ich ging die letzten Meter direkt über den Strand. Eine Gruppe Surfschüler war gerade dabei, mit ihren Brettern ins Wasser zu gehen, und ich musste wieder an das Plakat des East-Coast-Surfcups denken.

Komm schon, sagte ich mir. Es ist jetzt über zwei Jahre her. Es ist alles in Ordnung, so wie es ist. Trotzdem war da diese unbändige Wut, die ich immer wieder in mir verspürte und über die ich nie sprach.

Ich lief die Treppen hoch zur Terrasse des Restaurants. Von hier hatte man einen großartigen Ausblick über die ganze Bucht. Mum und Dad konnten zu Recht stolz auf ihren Erfolg sein. Das Three Pines war in der Gegend bekannt, und unsere Stammgäste kamen seit Jahren hierher. Dad grillte Fisch wie kein anderer, und die Menschen fühlten sich wohl bei uns. Wir bereiteten authentische Küche für die Leute aus der Region zu. Oft lief ich einfach barfuß durchs Restaurant, obwohl Mum mich immer wieder deswegen rügte.

Auf dem Weg nach drinnen räumte ich die Teller von einem der Tische ab und brachte sie hinein. Die großen Glastüren waren, wie immer bei gutem Wetter, ganz aufgeschoben. Das Restaurant und die Terrasse wirkten damit wie ein einziger großer Raum. Mum und Dad hatten das Three Pines vor ein paar Jahren renoviert, und mit den hellen Holztischen und den Lampen aus geflochtenem Korb war die Atmosphäre modern und freundlich.

»Du bist früh dran, mein Schatz«, stellte Mum fest und gab mir einen Kuss auf die Wange, als ich zu ihr hinter die Theke trat.

»Ich war mit Hazel unterwegs, und sie musste dringend zurück, um zu lernen.«

»Sie sollte sich mehr Pausen gönnen«, sagte Mum und reichte mir den Besteckkasten aus der Spülmaschine.

Ich nahm ihn entgegen und sortierte das Besteck in das Regal ein, das Taylor für uns gebaut hatte. Es war ein altes Surfbrett von mir, an das er Bretter geschraubt und damit zu einem coolen Regal umfunktioniert hatte. Mein bester Freund machte eine Ausbildung zum Zimmermann und war schon immer handwerklich begabt gewesen.

»Du kennst Hazel doch«, beruhigte ich Mum. »Sie liebt es, zu lernen. Nicht, dass ich das verstehen würde ...« Ich grinste, und Mum warf mir schmunzelnd ein Spültuch zu, damit ich das Besteck polieren konnte.

Die Eingangstür ging auf, und ein Junge kam herein. Unter dem Arm hatte er einen Stapel zusammengerollter Poster. »Entschuldigen Sie, darf ich hier etwas aufhängen?«

Wir hatten im Eingangsbereich ein großes Brett, an dem Konzerte, Märkte und andere Veranstaltungen in Emerald Bay angekündigt wurden und Flyer aufgehängt werden konnten.

»Klar, kein Problem«, antwortete ich und polierte weiter das Besteck.

»Oh«, sagte Mum plötzlich und machte große Augen.

Ich folgte ihrem Blick. Der Junge pinnte das Plakat des Surfcups, das ich heute Morgen bereits gesehen hatte, an das Korkbrett.

Mum lief zu ihm. »In dem Fall geht das leider nicht.«

»Mum, es ist okay«, beschwichtigte ich sie. Ich wand mich dem Jungen zu. »Du kannst es gern aufhängen.«

»Bist du dir sicher?« Mum sah mich besorgt an.

»Klar.« Ich versuchte, unbeeindruckt zu klingen. »Ich werde es sowieso nicht vermeiden können, wenn ich nicht bis Februar aus der Stadt verschwinde. Sie werden überall Werbung dafür machen.«

Mum sah immer noch nicht überzeugt aus.

»Können diese blauen Augen lügen?«, fragte ich gespielt ernst, und nach einem kurzen Moment des Zögerns lächelte sie schließlich.

Ich wollte auf keinen Fall, dass sie sich Sorgen machte. Mum sollte wie alle anderen glauben, dass ich kein Problem damit hatte.

Ich nahm einen weiteren Stoß Besteck und machte mich an die Arbeit. Du musst einfach die nächsten Monate so tun, als wäre alles in Ordnung. So, wie du es die letzten beiden Jahre auch getan hast.

BILLIE

Am nächsten Morgen kaufte ich zunächst ein und joggte dann mit Lewis eine große Runde bis zum Strand und wieder zurück. Die unbekannte Nummer hatte am Abend zuvor noch zweimal angerufen, aber ich ignorierte sie weiterhin. Mittags machten wir uns wieder auf den Weg zum Federation Square in der Innenstadt. Bei schönem Wetter verbrachten dort viele Menschen ihre Mittagspause. Lewis wartete wie immer brav neben mir, während ich auf meiner Ukulele spielte und sang. Ich verdiente gut an diesem Tag. Ich wusste nicht warum, meistens hatte ich keinen Einfluss darauf. Es gab eben gute und schlechte Tage. Das Wetter, die Jahreszeit, Veranstaltungen in der Stadt, zu denen die Leute strömten – alles spielte eine Rolle, und ich konnte immer nur mein Bestes geben.

Ich hatte mir am Vorabend umsonst Gedanken gemacht, denn Garrett tauchte nicht auf. Ich sah mich immer wieder um, doch er kam nicht, auch nicht zu meinem letzten Lied. Das konnte kein Zufall sein. Ich wusste, dass ich nicht traurig darüber sein durfte, doch es tat trotzdem irgendwie weh.

»Wahrscheinlich ist es besser so«, sagte ich zu Lewis und auch zu mir selbst, als ich ihn anleinte, um zur Bahnstation zu gehen. »Ich hatte mich schon zu sehr daran gewöhnt.«

Anstatt über Garrett nachzudenken, überlegte ich mir auf der Bahnfahrt nach Hause, welche Songs ich als Nächstes üben wollte. Ich zog das abgegriffene kleine Notizbuch, das ich immer dabeihatte, aus meiner Tasche.

Die meisten Texte darin waren noch keine vollständigen Lieder. Und ich würde mich bestimmt nicht trauen, sie auf der Straße zu performen. Trotzdem arbeitete ich an ihnen, so oft es ging. Ich war so vertieft, dass ich fast den Ausstieg in St. Kilda verpasste. Schnell sprang ich auf und lief mit Lewis nach draußen. Ich summte die Melodie, die ich für den Text im Kopf hatte, auf dem Weg nach Hause und auch dann noch, als ich Lewis mit dem Gartenschlauch von Dylan und Kate abwusch. »Die Töne passen noch nicht ganz«, erklärte ich ihm. »Es soll melancholisch sein, aber nicht zu traurig. Eher hoffnungsvoll. Und das ist gar nicht so einfach.« Ich trocknete ihn mit einem Handtuch ab.

Plötzlich stellte Lewis die Ohren auf und fing an zu bellen.

Ich sah mich um. »Was hast du denn?«, fragte ich. Ich ging in den hinteren Teil des Gartens, aber es war niemand zu sehen. Doch Lewis hörte nicht auf zu bellen. So kannte ich ihn gar nicht.

»Es ist alles gut«, erklärte ich ihm. »Schau, es ist niemand da.« Zusammen gingen wir einmal durch den Garten, doch Lewis drängte mich zum Van.

»Willst du etwa schon ins Bett?«, fragte ich verständnislos. »Es ist doch noch nicht einmal vier Uhr.« Als ich die Türe aufzog, sprang er allerdings nicht wie gewohnt hinein. Ich war ratlos. Lewis war eigentlich wie ein offenes Buch. Sonst verstand ich immer, was er brauchte.

Plötzlich fing er wieder an zu bellen, blieb aber sitzen.

Ich beugte mich zu ihm. Neben ihm lag meine Tasche, die ich achtlos auf den Boden geworfen hatte, als wir heimgekommen waren. Im Inneren vibrierte es. Ich zog mein Handy heraus und sah aufs Display. Es war schon wieder die Nummer von gestern. Ich verstand es einfach nicht. Wer wollte mich so dringend sprechen, dessen Nummer ich nicht mal kannte?

Lewis bellte noch einmal.

»Ich soll also rangehen?«, fragte ich zögerlich. Es fühlte sich nicht gut an. Als Lewis immer weiter jaulte, drückte ich schließlich auf den Hörer.

»Hallo?«, ergriff ich das Wort, ohne meinen Namen zu nennen.

»Miss Stevens?«, fragte eine helle Stimme am anderen Ende.

»Das bin ich«, bestätigte ich.

»Endlich erreiche ich Sie.« Die Frau am Telefon klang erleichtert. »Ich bin Bindi Sanders, Gesundheits- und Krankenpflegerin im Newcastle Hospital.«

Mein Herz sank in die Hose.

»Miss Stevens, wir haben Sie als Notfallkontakt in den Unterlagen unserer Patientin Phoebe Newman gefunden.«

Was ist passiert? Hatte Phoebe etwa einen Unfall? Geht es ihr gut? Eine Frage nach der anderen schoss mir durch den Kopf, doch ich brachte keine davon hervor. Ich sah das große Krankenhausgebäude in Newcastle vor meinem inneren Auge. Als ich mit vierzehn eine Blinddarmentzündung gehabt hatte, war Phoebe mit mir von Emerald Bay dorthin gerast und hatte auf dem Parkplatz beinahe noch einen Unfall verursacht.

»Miss Stevens, sind Sie noch da?«, unterbrach die Frau meine Gedanken.

»Ja«, flüsterte ich. Plötzlich rechnete ich mit dem Schlimmsten.

»Mrs Newman hat sich die Hüfte gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen. Sie wird in diesem Moment operiert.«

Ich schluckte. Phoebe war mein Rettungsanker, auch wenn wir meilenweit voneinander entfernt lebten.

»Aber das ... das kann doch nicht sein«, krächzte ich. »Ich habe am Sonntag noch mit ihr telefoniert, und da war alles in Ordnung. Was ist denn passiert?«

Die Pflegerin seufzte. »Sie ist leider gestern Morgen gestürzt, als sie aus der Dusche steigen wollte.«

»Wer hat sie ins Krankenhaus gebracht?«, fragte ich. »Wird sie wieder gesund?«

»Miss Stevens, wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Es ist wichtig, dass Sie so schnell wie möglich hierherkommen.«

Ich hatte Emerald Bay mit dem Vorsatz verlassen, niemals dorthin zurückzukehren. Doch Phoebe war verletzt, und deshalb zögerte ich mit meiner Antwort auch nicht.

»Natürlich«, stotterte ich und versuchte, mich zu konzentrieren. »Ich komme. Allerdings werde ich erst morgen da sein können.« Die Fahrt nach Emerald Bay würde ewig dauern. Ich war über tausend Kilometer entfernt.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte sie mich. »Ihre ...« Sie suchte offenbar nach dem richtigen Wort.

»Großmutter«, sagte ich. Alles andere war zu kompliziert.

»Ihre Großmutter ist bei uns in guten Händen. Doch sie wird jede Unterstützung brauchen.«

Ich ballte meine freie Hand zur Faust und bohrte dabei meine Fingernägel tief in meine Handfläche. Ich wollte nicht daran denken, was Phoebe bevorstand.

»Gibt es sonst noch jemanden, den wir anrufen können? Ein anderes Familienmitglied?«, fragte die Pflegerin.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen konnte. »Es gibt nur mich.«

»Ich verstehe. Dann bis morgen.«

»Darf ich Sie doch noch etwas fragen?«, hielt ich sie davon ab aufzulegen. Es ließ mir keine Ruhe.

»Natürlich.«

»Warum wird sie erst heute operiert, wenn sie doch schon gestern früh gestürzt ist?«

Die Pflegerin antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie leise: »Sie lag viele Stunden in ihrem Bad, bevor sie von einer Nachbarin gefunden wurde.«

Ich wollte mir nicht vorstellen, wie Phoebe alleine mit ihren Schmerzen auf dem Boden verharren musste. Eine Träne lief mir über die Wange. Sofort richtete Lewis sich auf und kam zu mir.

»Okay«, sagte ich in den Hörer, obwohl nichts okay war. »Danke für Ihren Anruf.«

Es klickte in der Leitung, und ich ließ mein Handy sinken.

Lewis kuschelte sich an mich, und ich vergrub mein Gesicht in sein Fell.

BILLIE

So blieb ich für eine ganze Weile sitzen. Mit dem Zeigefinger fuhr ich immer wieder langsam über meine Nasenwurzel und merkte, wie ich ruhiger wurde. Phoebe lag seit gestern im Krankenhaus, und ich hatte nichts davon gewusst. Ich hatte die Anrufe sogar einfach ignoriert! Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ihr etwas passiert sein könnte? Weil du genau deswegen gefahren bist. Damit es Phoebe gut geht. Du hast nicht damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde. Ich fühlte mich schrecklich. Phoebe hatte alles für mich getan – sie war die Person, auf die ich immer zählen konnte.

Schließlich richtete ich mich auf und wischte meine Tränen weg. »Wir müssen sofort los«, erklärte ich Lewis. »Erinnerst du dich noch an Phoebe?« Lewis war ihr erst einmal begegnet. Sie war an meinem zwanzigsten Geburtstag nach Adelaide geflogen, und wir hatten uns dort getroffen. Doch wegen ihrer Hundehaarallergie hatte sie Lewis nicht allzu nah kommen können, ohne sofort einen Niesanfall zu kriegen.

Ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Eigentlich war es mein Plan gewesen, in den kommenden Wochen die Great Ocean Road entlang in den Westen zu fahren. Nun musste ich genau in die entgegengesetzte Richtung zurück an die Ostküste. Unsere Sachen waren sowieso schon im Van, wir brauchten also keine Zeit mit Packen zu verschwenden. Eigentlich gab es nur noch eines zu tun.

Entschlossen stand ich auf, ging ums Haus zur Eingangstür und klingelte. Drinnen rührte sich nichts. Ich drückte noch einmal auf den Klingelknopf, aber Kate und Dylan waren anscheinend beide nicht zu Hause. Ich ging zurück zum Van, riss eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb ihnen eine Nachricht. Ich erklärte ihnen, dass ich früher als geplant abreisen musste, und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft. Dann legte ich den Zettel auf die Stufe vor der Haustür und beschwerte ihn mit einem Stein aus dem Blumenbeet. Lewis wartete schon mit wedelndem Schwanz vor dem Van auf mich.

»Los geht es«, sagte ich zu ihm und öffnete die Beifahrertür. Er sprang in den Fußraum und legte sich hin. Ich sah mich noch einmal im Garten um. Wenn wir losfuhren, würde nichts darauf hinweisen, dass wir hier gewesen waren. Wir hatten keine Spuren bei irgendjemandem hinterlassen, wie immer.

Ich überprüfte, ob alle Schränke im Van fest verschlossen waren, stieß die Seitentüre mit einem Schwung zu und setzte mich schließlich hinters Steuer. Dann nahm ich mein Handy und tippte Emerald Bay in Google Maps ein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich so schnell dorthin zurückkehren müsste.

»Elf Stunden Fahrt«, sagte ich zu Lewis. »Das schaffen wir auf keinen Fall am Stück. Wir werden unterwegs Pause machen.«

Ich startete den Motor und rollte langsam aus der Garage die Einfahrt hinunter. Der Traumfänger am Rückspiegel wackelte, als ich auf die Straße einbog. Um auf den Highway zu gelangen, musste ich mich einmal quer durch den Verkehr von Melbourne kämpfen. Als die Türme von Southbank vor mir auftauchten, dachte ich an Garret. Ob er wohl an einem der nächsten Tage zum Federation Square kommen würde? Oder wären wir uns sowieso nie wieder begegnet?

Versuch, einfach nicht daran zu denken.

Meine Gedanken kreisten immer wieder um Phoebe, ihrer Operation und dass sie ganz allein war.

Daran willst du doch ebenso auf keinen Fall denken.

Meine Gedanken drehten sich weiter.

Du fährst wirklich zurück nach Emerald Bay. Du weißt, was das heißt.

Schnell machte ich Musik an, um mich abzulenken. Mein Aufbruch war übereilt gewesen, doch nun hatte ich elf Stunden, mich darauf vorzubereiten, was mich in dem Örtchen erwarten würde, dass ich eigentlich nie wiedersehen wollte.

*

An diesem Abend fuhr ich fünf Stunden durchs Landesinnere und überquerte die Grenze vom Bundesstaat Victoria nach New South Wales. Die Route entlang der Küste wäre viel schöner, aber ich durfte keine Zeit verlieren. Als ich meine Augen kaum mehr offen halten konnte, stoppte ich an einem der vielen Campingplätze entlang des Highways und bezahlte für einen Stellplatz. Wildcampen war in Australien verboten, und ich hatte Phoebe von Anfang an versprechen müssen, dass ich niemals einfach alleine mit dem Van am Straßenrand parken würde.

Ich versuchte zu schlafen, doch wälzte mich nur unruhig hin und her. Lewis merkte, dass es mir nicht gut ging, und legte seine Schnauze auf meinen Bauch. Sein regelmäßiger Atem beruhigte mich sonst immer, doch dieses Mal war es zwecklos. Ich konnte nicht aufhören, an Phoebe zu denken. Ich musste so schnell wie möglich zu ihr. Und doch fuhr ich gleichzeitig an den Ort, an dem ich eigentlich als Letztes sein wollte. So lag ich noch viele Stunden wach, bevor ich endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Als es hell wurde, ging ich mit Lewis eine Runde über den Campingplatz, damit wir uns die Beine vertreten konnten. In dem großen Wohnmobil neben mir briet ein Mann Speck und Würstchen an. Ich fütterte Lewis und aß selbst nur halbherzig eine Schüssel Cornflakes. Eigentlich hätte ich riesigen Hunger haben müssen. Zuletzt hatte ich gestern Mittag etwas gegessen, doch ich hatte einfach keinen Appetit.

»Dann wollen wir mal«, sagte ich zu Lewis, als ich das Geschirr wieder in den Schränken verstaute und für die Fahrt befestigte. »Wir haben die Hälfte der Strecke noch vor uns.«

Die grünen Felder des Hinterlands zogen vorbei, und ich versuchte weiterhin, alle Gedanken beiseitezuschieben und mich nur auf die Straße zu konzentrieren. Keine Chance. Mit jedem einzelnen zurückgelegten Kilometer fühlte ich mich gleichzeitig besser und schlechter.

Nur noch ein kurzes Stück, und das Straßenschild, das den Hinweis auf Emerald Bay gab, würde auftauchen. Ich hätte die Stelle immer wiedererkannt, denn als ich das erste Mal daran vorbeigekommen war, saß ich auf dem Rücksitz des Wagens meiner Betreuerin vom Jugendamt.

»Dieses Mal ist es für länger«, versprach sie und lächelte mich im Rückspiegel an. »Da bin ich mir sicher.«

Ich antwortete nicht, denn dasselbe hatte sie all die Male zuvor gesagt. Doch die Familien, in denen ich untergebracht war, waren Pflegefamilien auf kurze Zeit. Keine wollte mich adoptieren, und je älter ich wurde, desto schwieriger wurde die »Vermittlungssituation«. Das Wort hatte ich aufgeschnappt, nachdem Mum und Dad zwei Jahre zuvor bei einem Unfall gestorben waren. Wir hatten keine nahen Verwandten, daher wurde ich in die Obhut des Jugendamts gegeben. Mit meinen zwölf Jahren war es schwierig, Familien zu finden, die mich aufnahmen. Ich versuchte, mir keine Hoffnungen mehr zu machen, mich an niemanden zu gewöhnen und mein Herz zu verschließen. Es war einfacher, anstatt immer wieder enttäuscht zu werden.

Dieses Mal war es keine große Pflegefamilie, so wie bei den letzten Versuchen. Keine Pflegegeschwister, die manchmal nett und oft schrecklich waren. Nein, eine ältere Dame würde mich bei sich aufnehmen. Ich stellte mir eine Frau mit grau gelockten Haaren und Schürze vor. Vielleicht waren ihre eigenen Kinder inzwischen erwachsen. Sie würde sicher gerne mit mir backen und kochen wollen und am Abend in einem Schaukelstuhl sitzen und stricken, weil sie viel Ruhe brauchte.

Ich hätte mich nicht mehr irren können. Phoebes Haare waren zwar grau, doch sie trug sie streichholzkurz, hatte eine rote Brille mit dickem Rahmen auf der Nase und einen wallenden Kaftan an. Bei der Begrüßung umarmte sie mich nicht, so wie es alle anderen Pflegemütter einfach getan hatten, sondern reichte mir erst einmal die Hand. Ich fühlte mich sofort wohl in ihrer Gegenwart.

An unserem ersten Abend bestellte sie chinesisches Essen, und wir machten es uns auf den großen Sesseln in ihrem Wohnzimmer gemütlich. »Du wirst bestimmt froh sein, wenn du einfach mal nicht reden musst«, vermutete sie und machte den Fernseher an. »Und wenn du doch mit mir sprechen willst, gibst du mir sofort Bescheid, ja?«

Ich nickte und atmete tief durch. Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich mich irgendwie sicher fühlte. Trotzdem war ich die ersten Tage skeptisch und abweisend zu Phoebe. Doch sie ließ mir einfach Zeit. Nach ein paar Tagen fuhr sie mit mir in den Baumarkt, und ich durfte mir die Farbe für mein neues Zimmer selbst aussuchen.

»Eine gute Wahl«, sagte sie, als ich auf den sonnengelben Farbtopf zeigte. »Das Leben ist oft schon grau genug.«

Zusammen strichen wir die Wand, kauften ein neues Bett und einen Schrank für mich und räumten die wenigen Sachen aus meinem Koffer hinein. In den anderen Familien hatte ich kein eigenes Zimmer gehabt. Doch Phoebe ging scheinbar fest davon aus, dass ich bleiben würde.

Die Ausfahrt nach Newcastle und Emerald Bay tauchte vor mir auf und riss mich aus meinen Gedanken. »The road to the past«, murmelte ich und fuhr vom Highway ab.

Zur Pflegerin hatte ich am Telefon gesagt, dass Phoebe meine Großmutter war, doch so nannte ich sie nicht. Sie war mein gesetzlicher Vormund gewesen, solange ich unter achtzehn gewesen war, und daher auch nicht meine Adoptivmutter. Nein, Phoebe war einfach Phoebe. Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen Kuchen gebacken und interessierte sich auch nicht für das Stricken. Dafür konnte sie die besten Geschichten erzählen. Sie war früher eine erfolgreiche Künstlerin gewesen und hatte die ganze Welt gesehen, bevor sie zurück nach Emerald Bay gezogen war. Sie war Mitglied des Theatervereins, joggte jeden Morgen und half gerne bei allen Veranstaltungen in der Stadt. Mit ihrer besten Freundin Helen, die direkt nebenan wohnte, ging sie regelmäßig aus und zur wöchentlichen Pokerrunde. Sie hatte keine eigenen Kinder, doch hatte alles dafür getan, damit ich bei ihr ein neues Zuhause fand. Der Schmerz, den ich spürte, seitdem Mum und Dad gestorben waren, würde sich nie ganz heilen lassen, doch Phoebe hatte es geschafft, dass ich mich wieder geborgen fühlte. Sie war die erste Erwachsene gewesen, die mich ernst genommen hatte und all meine Fragen beantwortete. Im Gegensatz zu den Pflegefamilien zuvor hatte sie erst gar nicht versucht, Mum und Dad zu ersetzen. Ich hatte darauf gewartet, dass der Traum, bei Phoebe zu bleiben, nach einigen Wochen wieder platzen würde – doch sie schickte mich nicht weg. Emerald Bay wurde mein neues Zuhause. Ich wurde unvorsichtig und öffnete mein Herz immer mehr und mehr. Als kurze Zeit später auch noch Nathan und Taylor in mein Leben traten, war das zu schön, um wahr zu sein. Und dein Bauchgefühl hatte von Anfang an recht. Es war tatsächlich zu schön gewesen, um wahr zu sein.

NATHAN

Als ich aufwachte, war es draußen noch dunkel. Wie immer brauchte ich keinen Wecker. Mein Körper war es seit Jahren gewohnt, zu dieser Zeit aufzustehen. Ich stieg aus dem Bett, zog meine Surfshorts und einen Hoodie an und band meine langen Haare zu einem Zopf. Dann ging ich leise aus meinem Zimmer. Im Haus war es still. Mum, Dad und Hazel schliefen noch. Ich schlich an Hazels Zimmertür vorbei und die Treppe hinunter. Wie immer lagen all unsere Schuhe verteilt auf dem Boden im Flur. Mum hatte es nach vielen Jahren aufgegeben, uns zu ermahnen, sie ordentlich aufzustellen. Ich suchte im Dunkeln nach zwei zusammenpassenden Turnschuhen, um niemanden aufzuwecken. Dann schlüpfte ich hinein und ging leise aus dem Haus. Mein Neoprenanzug und mein Surfbrett lagen noch unter dem Vordach, nachdem ich sie dort gestern zum Trocknen platziert hatte. Ich packte beides in meinen alten Jeep und startete den Motor.

Es dämmerte, als ich aus der Stadt hinaus in Richtung Norden fuhr. Der Sunshine Beach hatte bessere Wellen, aber vor allem schätzte ich an ihm, dass sich kaum jemand dorthin verirrte. Seit zwei Jahren surfte ich nur noch an abgelegenen Stränden, denn am Main Beach waren mir einfach zu viele Zuschauer. Ich öffnete das Fenster ein Stück, und die frische Morgenluft strömte ins Innere des Wagens. Vor wenigen Wochen war es noch eiskalt um diese Uhrzeit gewesen, doch nun wurde es mit jedem Tag wärmer. Ich lenkte den Jeep über den holprigen Weg. Langsam begann die Sonne aufzugehen. Der Ozean tauchte vor mir auf, und ich musste lächeln. Auch nach Hunderten Sonnenaufgängen hatte ich mich nicht daran sattgesehen. Dieses Gefühl, im Meer zu sein, wenn die Welt erwachte, war unvergleichlich.

Sam hatte schon immer den Traum gehabt, Anwalt zu werden, Hazel war von Anfang an eine Einser-Schülerin gewesen. Doch ich wollte von klein auf nichts anderes machen, als Wellen zu reiten. In die Schule war ich eigentlich nur gegangen, um mit Taylor abzuhängen. Am liebsten hätte ich einfach hingeschmissen, doch Mum und Dad waren eisern geblieben. Sie unterstützten mich, doch ich hatte meinen Abschluss machen müssen.

Faye stand bereits im Neoprenanzug vor ihrem Auto. Ich parkte daneben und stieg aus.

»Guten Morgen, Harrison«, sagte sie. Faye nannte mich immer beim Nachnamen.

»Guten Morgen, Gilbert«, antwortete ich daher.

Sie zeigte auf meine Füße. »Du hast zwei verschiedene Schuhe an.«

Ich sah an mir hinunter. Ein weißer und ein blauer Sneaker zierten meine Füße – ich hatte im Dunkeln wohl doch danebengegriffen. Mist.

»Mein neuer Style«, antwortete ich.

Sie grinste und band ihre langen blonden Locken zu einem Zopf.

Ich zog die Schuhe und den Hoodie aus, schlüpfte in meinen Neoprenanzug und zog den Reißverschluss nach oben.

»Wie lange hast du heute Zeit?«, fragte ich und nahm mein Surfbrett unter den Arm.

Faye nahm ebenfalls ihr Board, und wir liefen barfuß zum Strand vor. Der Sand war noch kühl von der Nacht. »Ich hab heute keine Schicht auf der Farm und den ganzen Tag frei.«

Faye arbeitete auf der Rosewood Farm, wo sie dem Besitzer, Mr Benfield, unter die Arme griff. Noch vor einigen Monaten hatte die Farm fast vor dem Aus gestanden, doch Faye und Taylors Freundin Ivy hatten mit einer Crowdfunding-Aktion dafür gesorgt, dass die Farm gerettet werden konnte. Und das Three Pines wurde weiterhin jede Woche mit frischem Gemüse von dort beliefert.

»Ich habe übrigens Arthur höchstpersönlich davon überzeugen können, dass die Farm der perfekte Ort für Veranstaltungen ist«, erzählte Faye stolz. »Ab sofort kann die Scheune gemietet werden.«

Ich stellte mir die Reaktion des knurrigen Mr Benfield vor. »Hat er wirklich Ja gesagt oder wollte er nur, dass du aufhörst zu reden und ihn in Ruhe lässt?«

Faye boxte mich sanft in den Arm. »Was soll das denn heißen?« Sie legte ihr Surfbrett in den Sand und streckte sich.

Ich ließ meines danebenfallen und ruderte zum Aufwärmen mit den Armen. Dann beugte ich meinen Oberkörper tief hinunter, um in den herabschauenden Hund zu gehen, und atmete aus. Die Yogaübungen lockerten meine Muskeln und halfen mir gleichzeitig, an meiner Körperspannung zu arbeiten.

»Es ist wunderschön heute Morgen«, sagte Faye und sah aufs Wasser. Die Sonne war inzwischen am Horizont aufgegangen und färbte den Himmel bereits in sanftem Orange.

Ich stand wieder auf. »Es ist jeden Tag wunderschön.« Mir war egal, ob die Sonne schien oder es regnete. Wenn ich im Wasser war, spürte ich die Regentropfen nicht.

»Dass Taylor sich das entgehen lässt.« Faye schüttelte verständnislos den Kopf.

Noch vor Kurzem waren Taylor und ich immer zu zweit surfen gewesen. Seitdem er Ivy kennengelernt hatte, war auch Faye wieder in unser Leben getreten. Wir waren zwar in der Schule in dieselbe Klasse gegangen, doch hatten uns erst im letzten Jahr so richtig kennengelernt.

»Ist da etwas zwischen dir und Faye?«, hatte Taylor mich erst vor Kurzem gefragt.

»Nur weil du jetzt eine Freundin hast, braucht nicht jeder andere auch eine«, hatte ich genervt erwidert und mit den Augen gerollt. Ich mochte Faye, sie war witzig und cool. Doch ich hatte keine romantischen Gefühle für sie.

Ich wusste, was meine Freunde und Familie über mein Single-Dasein dachten. Es ist über zwei Jahre her, dass Billie gegangen ist. Komm endlich darüber hinweg! Manchmal fragte ich mich, ob ich je wieder etwas für eine andere Person empfinden würde.

»Taylor hat gestern lange auf der Baustelle gearbeitet«, sagte ich zu Faye und schüttelte meine Gedanken ab. »Nächstes Mal ist er bestimmt wieder dabei.«

»Na dann. Bereit, Harrison?« Faye stützte ihre Hände herausfordernd in die Taille.

Ich nahm mein Brett und rannte ins Wasser. »Worauf du dich verlassen kannst, Gilbert!«, rief ich über die Schulter und warf mich in die Wellen.

*

Irgendwann würde ich es wieder spüren. Ich musste es einfach nur immer und immer wieder versuchen. Früher war der Ozean der Ort gewesen, an dem ich alles hatte vergessen können. Wenn ich mit meinem Surfbrett ins Wasser tauchte, waren da nur noch ich und die Wellen gewesen. Egal, ob etwas in der Schule gewesen war oder ob mich etwas anderes belastete – es war in diesem Moment nicht mehr von Bedeutung. Selbst als Billie verschwand, konnte ich hier meinem Schmerz und Kummer wenigstens für kurze Zeit entkommen. Inzwischen schaltete mein Kopf jedoch selbst beim Surfen nicht mehr ab. Im Gegenteil. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, und ich achtete auf jedes winzige Detail um mich herum. Ich sprach mit niemandem darüber, nicht einmal mit Taylor. Nein, ich machte jeden Tag weiter, in der Hoffnung, dass es irgendwann endlich besser werden würde. Und nach dem Surfcup im Februar wäre dieses miese Gefühl in meinem Magen bestimmt auch wieder verschwunden.

Faye und ich surften eine Welle nach der anderen. Wir saßen gerade rittlings auf unseren Brettern im tiefen Gewässer und warteten auf die nächste, als Faye fragte: »Noch eine Runde, und dann Schluss für heute?«

Ich nickte, obwohl es auch dieses Mal nicht geklappt hatte, dass sich mein Gedankenchaos beruhigte. Die nächste Welle baute sich auf, und ich paddelte los. Als sie dabei war zu brechen, stieß ich mich vom Brett ab, stellte mich auf und surfte los. Die Welle trug mich bis an den Strand, und ich watete aus dem Wasser. Während ich meine Haare auswrang, beobachtete ich, wie Faye ihre letzte Welle surfte. Als sie sich gerade auf ihr Surfbrett gestellt hatte, verlor sie das Gleichgewicht. Die Welle umspülte sie, doch einen Moment später tauchte sie bereits wieder auf.

»Sehr galant«, sagte sie schwer atmend, als sie aus dem Wasser kam.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt.

Sie winkte ab. »Alles gut. Ich habe nur eine Nasendusche abbekommen.«

Ich verzog das Gesicht.

Sie lachte. »Es kann nicht jeder so gut sein wie du. Bei dir sieht das alles immer so mühelos aus.«

Wenn du wüsstest.

»Hast du Lust auf Frühstück?«, fragte ich überschwänglich.

»Ja, gerne. Wohin willst du? Ins Cooloola?«