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2025 wird der 500-jährigen Geschichte der Täuferbewegung gedacht. Ab 2020 lädt ein fünfjähriger gemeinsamer Weg ein, über die Geschichte, die Erinnerung, die Tradition und das Erbe der Täufer zu reflektieren, um das Heute und Morgen zu gestalten und ökumenische Impulse zu setzen. Autorinnen und Autoren verschiedener konfessioneller Herkunft beleuchten im Themenheft 2020 das Jahresthema "gewagt! mündig leben" aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, sowohl in historischer Hinsicht als auch stärker gegenwartsbezogen. Das Themenheft bietet Material für Gemeindekreise, Bildungseinrichtungen, Gottesdienste und ökumenische Begegnungen.
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2020
Mennonitische Forschungsstelle
Am Hollerbrunnen 2a
67295 Bolanden-Weierhof
ACK-Shop
shop.oekumene-ack.de
Ulrike Arnold
Mennonitischer Geschichtsverein
Reinhard Assmann
Historischer Beirat des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
Urs Bruhn
Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
Bernd Densky
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland
Johannes Dyck
Bibelseminar Bonn
Verena Hammes
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland
Walter Jakobeit
Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Brüdergemeinden Deutschland
Andreas Liese
Historischer Beirat des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
Burkhard Neumann
Johann-Adam-Möhler-Institut Paderborn
Martin Rothkegel
Historischer Beirat des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
Astrid von Schlachta
Mennonitischer Geschichtsverein und Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland
Andrea Strübind
Gesellschaft für Freikirchliche Theologie und Publizistik; Historischer Beirat des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
Lothar Triebel
Konfessionskundliches Institut Bensheim
Liesa Unger
Mennonitische Weltkonferenz
Das Jahr 2020 markiert den Beginn des Gedenkens an 500 Jahre Täuferbewegung, das 2025 seinen Höhepunkt erleben soll. Bis dahin werden fünf Themenjahre wesentliche Charakteristika der täuferischen Tradition aufgreifen und deren Relevanz bis in die heutige Zeit nachspüren. Im Verein „500 Jahre Täuferbewegung 2025 e.V.“ haben sich hierzu Vertreterinnen und Vertreter der Mennoniten, der Baptisten sowie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland zusammengefunden.
„Gewagt! mündig leben“ heißt es 2020. Ein Motto, das seine ganz eigene Bedeutung erhielt, als Menschen und Gesellschaften weltweit mit dem Corona-Virus konfrontiert waren. Leider fiel dem Virus auch die geplante Eröffnung des Täufergedenkens rund um Himmelfahrt 2020 zum Opfer.
Umso mehr freuen wir uns, nun das erste Themenheft „Gewagt! mündig leben“ vorlegen zu können. Autorinnen und Autoren verschiedener konfessioneller Herkunft beleuchten das Jahresthema aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, sowohl in mehr historischer Hinsicht als auch stärker gegenwartsbezogen. Die Herausgeber hoffen, dass alle Beiträge aufzeigen können, was gerade die täuferische Tradition heute zu einem mündigen Christsein beitragen kann.
Das vorliegende Heft bietet Material für Gemeindekreise, Bildungseinrichtungen, Gottesdienste und ökumenische Begegnungen.
Reinhard Assmann, Andreas Liese, Astrid von Schlachta (Redaktionsteam)
Grußworte
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident
Doris Hege, Vorsitzende der AMG
Michael Noss, Vorsitzender BEFG
Radu Constantin Miron, Vorsitzender der ACK
Täufer, Toleranz und Taufe
Gewagt! ·
Andrea Strübind
Innehalten, reflektieren, sich aufmachen. Gedenkjahre, ihre Symbole und ihre Botschaften ·
Astrid von Schlachta
Täufer, Mennoniten, Baptisten – wie hängen sie zusammen ·
Walter Fleischmann-Bisten
Die Täufer aus reformationsgeschichtlicher Sicht ·
Martin H. Jung
„The baptist Vision“. Impulse aus täuferischer Theologie ·
Marco Hofheinz
Mündig leben im ökumenischen Kontext ·
Lothar Triebel
Zuspruch und Anspruch. Die Taufe in historischer Sicht ·
Hanspeter Jecker
Die Taufe im ökumenischen Kontext. Eine mennonitische Perspektive ·
Rainer W. Burkart
Taufe im ökumenischen Kontext. Eine baptistische Perspektive ·
Uwe Swarat
Die Freikirchen und die Evangelikalen ·
Frank Hinkelmann
Der Beitrag der Täuferbewegung zur weltweiten Religionsfreiheit ·
Markus Grübel
Mit der Toleranz ist das so eine Sache. Ein historischer Blick ·
Astrid von Schlachta
Köbners „Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk“ ·
Andreas Liese
Gewissensfreiheit und die Freikirchen in der Sowjetunion ·
Nadezhda Beljakova
Religionsfreiheit bei Muslimen ·
Ali Ghandour
Interview mit Heiner Bielefeld
Biografien
Balthasar Hubmaier ·
Martin Rothkegel
Roger Williams ·
Erich Geldbach
Eberhard Arnold ·
Thomas Nauerth
Was heißt es für mich als Christ heute, mündig zu leben? Verschiedene konfessionelle Blicke
Peter Jörgensen
Petra Bosse-Huber
John D. Roth
Kenny Wollman
Christina Döhring
Lena Dillmann
Paul Warkentin
Kurzstatements
Heinrich Bedford-Strohm
Reinhard Marx
Verena Hammes
Fernando Enns
Leonard Gross
Frank Uphoff
Jens Stangenberg
Bibelarbeiten
Freiwilligkeit ·
Joel Driedger
Mündig leben ·
Friedrich Emanuel Wieser
Taufe ·
Frank Pacek
Religionsfreiheit ·
Simon Werner
Ein mennonitisch-baptistischer Gottesdienstentwurf
Frieder Boller und Frank Wegen
Jugendseiten
Täufer in der weltweiten christlichen Familie ·
Timo Doetsch
Taufe ·
Volkmar Hamp
Für die Schule
Mündigkeit – Unterrichtsvorschläge ·
Ulrike Arnold
Spuren der Täufer
Een Liedeken van Jeronimus Segersz ende zijn Huysurou Lijsken (1551) ·
Nicole Grochowina
Gewagt! Aufbruch zu einem friedenstheologischen „Worship“ ·
Dennis Thielmann
Vernetzt und verbandelt. Eine Ausstellung über die Geschichte der Mennoniten in der SBZ und der DDR von 1945 bis 1990 ·
Bernhard Thiessen
Literaturtipps ·
Ulrike Arnold
Notizen zur täuferisch-mennonitischen Erinnerung und ihrer räumlichen Dimension – Täuferspuren in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ·
Sibylla Hege-Bettac
Janz weit draußen ·
Michael Schroeder
Täufergedenkorte in Tirol und Südtirol ·
Edi Geissler
Zahlreich sind die Hinrichtungsstätten … Reinhardsbrunn ·
Wolfgang Krauss
Mennoniten in Kanada ·
Arli Klassen/Karl Koop
In Zürich fand 1525 die erste Glaubenstaufe der Täuferbewegung statt. Neben den beiden vorausgegangenen, von Luther und Calvin angestoßenen Reformationswellen, war die Täuferbewegung die wichtige dritte Säule der Reformation des 16. Jahrhunderts. Mit dem Eintreten für Glaubensfreiheit und Gewaltlosigkeit mussten insbesondere die Christinnen und Christen der täuferischer Gemeinden Verfolgung und Vertreibung in Kauf nehmen.
Mit dem Blick zurück auf 500 Jahre Täuferbewegung blicken wir auch zurück auf ein jahrhundertelanges Ringen um das rechte Verhältnis von Kirche und Staat. Die heutige Eigenständigkeit beider Bereiche in enger Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung, wie sie uns das Grundgesetz aufgibt, gehört historisch gesehen zu den segensreichsten und friedensstiftendsten Errungenschaften.
Diese Selbstverpflichtung zum Frieden kennen alle großen Religionen. Sie gilt weltweit. Aber es waren die täuferischen Friedenskirchen, die früher als andere ihre Stimme gegen jede Form von Krieg und Gewalt erhoben.
In unserem Land, wo Kreuz, Kippa und Kopftuch in derselben Stadt, im selben Viertel, in derselben Straße zusammentreffen, haben die Religionen eine unabweisbare Verantwortung für den Frieden. Jeder soll hier nach seinem Glauben leben können und dürfen – ohne Angst, aber auch ohne Machtanspruch.
Dass dieses Verständnis von Religionsfreiheit heute Grundlage unseres Zusammenlebens ist, dazu hat auch die täuferische Tradition beigetragen mit ihrem Beharren auf der Freiheit des Einzelnen, der Begrenzung staatlicher Macht in Glaubensfragen und der Ablehnung von Gewalt.
Ich wünsche mir, dass diese Botschaft in einer Zeit, in der der Zusammenhalt im Innern herausgefordert und der Friede an vielen Stellen der Welt bedroht ist, von möglichst vielen Menschen gehört wird.
Versöhnungsgottesdienst Mennoniten – Lutheraner in Stuttgart
Foto: Liesa Unger, Regensburg
Wir gehen auf 500 Jahre Täuferbewegung zu. Ein guter Grund, sich mit den Anliegen der Bewegung zu befassen. Es geht nicht darum im Rückblick manches zu verklären, sondern erneut diese Themen zu unseren zu machen. Dabei sind wir heute Gott sei Dank in anderen Zeiten und miteinander unterwegs und nicht gegeneinander. Ich freue mich, dass dieses Gedenken auf so breite ökumenische Basis gestellt werden konnte. Wie viel Versöhnendes ist schon unter uns geschehen. Unsere Unterschiedlichkeit erleben wir meist als Bereicherung. Der Blick zurück wendet unseren Blick nach vorne, in unsere Zeit heute mit ihren Herausforderungen und mit ihren Fragen, wie wir Evangelium leben und begreifbar machen können und dürfen.
Vielfältige Themen kommen auf diesem Weg in den Blick. Ich danke all denen ganz herzlich, die diese Themenhefte gestalten und sich für das Täufergedenken mit Blick ins Heute einsetzen und uns so eine gute Hilfe mitgeben für unsere Auseinandersetzung. Ich wünsche uns eine vielfältige Beschäftigung in Gemeinden, in ökumenischen Zusammenhängen und für uns selbst.
Ich wünsche uns den Mut, die biblischen Zeugnisse für uns heute zu erschließen und uns herausfordern zu lassen von Gottes Geist für unser Leben für eine friedvollere Welt.
Ich wünsche uns Kraft, die Erkenntnisse für uns heute fruchtbar zu machen und Friedensbotinnen und -boten zu sein.
Ich wünsche uns die Liebe und Barmherzigkeit Gottes für unser Miteinander und hin zu allen Menschen.
Gottes Mut, Gottes Kraft, Gottes Liebe und Barmherzigkeit ist in uns, um uns und mit uns auf dem Weg.
Faksimile vom Deckblatt des Köbner-ManifestsJulius Köbner, einer der Gründerväter des deutschen Baptismus, forderte schon 1848 in seinem 22-seitigen Manifest Religionsfreiheit „für Alle, seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder was sonst“.
Quelle: Oncken-Archiv Elstal
Auch wenn wir Baptisten nicht unmittelbar in die Tradition der Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts gehören, verbindet uns doch einiges mit den frühen Täufern.
Es ist die Überzeugung, dass allein die Bibel die Heilsbotschaft Gottes an die Menschen vermittelt und keine Zusätze oder Ergänzungen braucht. Aus dem Studium der Bibel folgt die Erkenntnis, dass die Taufe dem persönlich bezeugten Glauben eines Menschen folgt, die oder der sich taufen lässt
Vor allen Dingen ist es die Glaubens- und Religionsfreiheit, die die Täufer nicht nur für sich selbst sondern auch für alle anderen Menschen forderten, so wie ihr Einsatz für die konsequente Trennung von Kirche und Staat und für Frieden und Gerechtigkeit. Alles das verbindet uns mit der Geschichte der Täuferbewegung und holt uns hinein in diese Tradition.
Wir blicken auf eine 500-jährige Geschichte zurück, in der vieles nachhaltig bewegt, aber auch viel gelitten wurde. Menschen mussten auf dem Hintergrund ihrer Überzeugung Vertreibung und Verfolgung erleiden. Viele verloren ihr Leben.
Nun dürfen wir aber nicht nur zurückblicken. Wir müssen, wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, die Gegenwart begreifen und überlegen, was die Grundwerte unserer Überzeugung für die Zukunft bedeuten.
Das gilt besonders für die Glaubens- und Religionsfreiheit, die immer wieder, durch Aus- und Abgrenzung, auf dem Prüfstand steht. Es geht auch um die Trennung von Kirche und Staat, die aus freikirchlicher Sicht immer noch nicht vollständig vollzogen ist. Wir müssen weiterhin eintreten für Frieden und Gerechtigkeit und stellen uns dadurch auch den Herausforderungen zur Bewahrung der Schöpfung. Es braucht Menschen, die ihren Glauben bezeugen, ihn in der Öffentlichkeit leben und sich dem Dialog auf Augenhöhe mit Menschen anderen Glaubens stellen, um ein Zusammenleben in Frieden zu ermöglichen.
Das wünsche ich mir für die vor uns liegenden Themenjahre und hoffe, dass sie in eine ökumenische Weite führen, die den Zusammenhalt der Christinnen und Christen stärken und dazu beitragen, dass Menschen, gleich welcher Religion und Glaubensüberzeugung, in Frieden und Toleranz miteinander leben können.
Köln, Baptisterium, Frühmittelalterliches TaufbeckenBei Grabungen am Kölner Dom 1866 wurde dieses Taufbecken aus dem 5./6. Jahrhundert freigelegt, das älteste bauliche Zeugnis des frühen Christentums in Köln. Das etwa zwei Meter weite Becken war über innenliegende Stufen zu durchschreiten. Im Wasser stehend wurde der Täufling durch Übergießen getauft.
Foto: © Hohe Domkirche Köln, Dombauhütte; Foto: Matz und Schenk
Schon bald nach dem 500-jährigen Reformationsgedenken steht wieder ein Rückblick auf 500 Jahre an, diesmal ist es die Täuferbewegung, an die wir erinnert werden und an die wir erinnern wollen. Natürlich hängen beide Ereignisse der Kirchengeschichte miteinander zusammen; nicht zu Unrecht hat man die Täuferbewegung ja nach der Wittenberger und der Schweizer Reformation als linken Flügel der Reformation in der Westkirche bezeichnet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Zahl Fünfhundert in der Zahlensymbolik immer für das Unfertige steht, während im Gegensatz dazu etwa die Tausend das Vollkommene, Ewige, Unzählbare bezeichnet. Heißt das, dass die Täuferbewegung unfertig oder unvollendet ist? Für mich bedeutet dies eher, dass die Fragen, die sie seit ihrem Aufkommen aufgeworfen hat und weiterhin aufwirft, höchst aktuell geblieben sind. Anders gesagt: Die Bewegung ist in Bewegung!
Dies erfahren wir im Alltag der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, in der einige Kirchen und Konfessionen der täuferischen Tradition Mitglieder oder Gastmitglieder sind und unser Miteinander prägen, und lässt sich beispielhaft an einem Vorgang schildern, der zunächst eben diesen Mitgliedskirchen Kopfzerbrechen und Unbehagen bereitete. Gemeint ist die sogenannte „Magdeburger Erklärung“ von 2007, in der elf andere Mitgliedskirchen der ACK eine gegenseitige Taufanerkennung unterzeichneten. Gerade aber weil unsere Mitgliedskirchen, welche die Glaubenstaufe praktizieren, diese Erklärung nicht mitunterzeichnen konnten, sehen wir uns seitdem in besonderem Maße zu einem erneuten und vertieften Nachdenken und zu Gesprächen über die Taufe, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen verpflichtet. Es kann keine „Ökumene der zwei Geschwindigkeiten“ geben – gerade auch in der ACK mit ihrer multilateralen konfessionellen Vielfalt.
So begleiten wir die nun anstehenden Themenjahre nicht als etwas von außen an uns Herangetragenes, sondern als unser eigenes Anliegen. Gemeinsam ist allen diesen geplanten Jahren das nicht von ungefähr mit Ausrufungszeichen versehene „gewagt!“ Meine eigene erste Assoziation bei diesem Wort war neutestamentlich, konkret Mk 15,42: „Da ging Josef von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr, der auch auf das Reich Gottes wartete, zu Pilatus und wagte es, um den Leichnam Jesu zu bitten.“ Offensichtlich brauchen wir in der Kirche – und in der Ökumene! – diesen unbefangenen Wagemut, weiter Schritte auf dem Weg zu unserer Einheit zu tun!
„Das ist aber gewagt!“ – sagt man, wenn wir unkonventionellen und die gesellschaftlichen Regeln brechenden Menschen begegnen. „Das ist aber gewagt!“, sagen wir bei spektakulären Modeescheinigungen – aber auch beim Kampf um das Frauenwahlrecht oder den gewaltlosen Widerstand. „Ganz schön gewagt!“ – ein solches Urteil reicht vom Durchmustern des Outfits bis hin zu anspruchsvoller Kritik am außergewöhnlichen Engagement.
Gewagt – sind Lebensstile, die den Durchschnittsbürger irritieren und provozieren, die ungeschriebene Gesetze brechen, die leidenschaftliche Konsequenz verlangen. „Wer wagt, gewinnt“, heißt es, aber wer wagt, hat oft auch viel zu verlieren. Sätze wie „das ist aber gewagt“ oder auch „ganz schön gewagt“ kann man gar nicht frei von Gefühlen wie Bewunderung, Skepsis oder auch Abscheu aussprechen. In einen solchen Strudel von Erwartungen, Befürchtungen und klandestiner Anerkennung sind auch die täuferischen Kirchen von der Reformationszeit bis in die Gegenwart immer wieder geraten.
Über Jahrhunderte hinweg wurden sie als „Schwärmer“, Ketzer oder auch Außenseiter verurteilt, verfolgt, marginalisiert und vergessen. Die von Beginn an so vielfältige Täuferbewegung und die aus ihr hervorgehenden täuferischen Kirchen erhielten immer wieder das Stigma der Andersglaubenden, der Sektierer, der Fanatiker, der Enthusiasten und Aufrührer. So lange es in den religiösen Diskursen um die einzig „wahre Kirche“ und um „die eine Wahrheit“ ging, waren die täuferischen Kirchen Projektionsfläche für konfessionelle Feindbilder und Stereotype. Obwohl die Mehrheitskirchen und die mit ihnen verbundenen politischen Mächte unbarmherzig miteinander rangen und gegenseitig Gewalt im Namen des rechten Glaubens ausübten, schienen sie sich lange Zeit in einem einig, was die täuferischen Kirchen betraf: „Viel zu gewagt!“ – diese Leute passen nicht zu unserem Land, zu unserer Kirche, zu unserem Glauben und zu unserem Leben.
Die täuferischen Traditionen richteten sich derweil in ihrer Alterität, ihrem Anderssein ein. Zu ihrer Identität gehörte es schließlich, eine verfolgte Minderheit zu sein, die kleine Herde der Rechtgläubigen „ohne Flecken und Runzeln“, aus der später die „Freikirchen“ nach apostolischem Muster als Kontrastkirchen hervorgingen.
Gewagt! – lautet das Motto zum Prozess der Erinnerung an „500 Jahre Täufertum“, der in diesem Jahr beginnt und im Januar 2025 anlässlich der Wiederkehr des Datums der ersten Gläubigentaufe in Zürich seinen feierlichen Höhepunkt finden soll. „Gewagt!“ ist ein Aktionswort. Über dem Jubiläum steht nicht der Name einer Person oder eines der vielen Theologen und einer der vielen Märtyrerinnen der Täuferbewegung: Das Logo zeigt vielmehr ein dynamisches Kreuz. Kein ikonischer Kopf und kein einzelner Reformator ist hier die Identifikations- und Aufmerksamkeitsmarke, obwohl auch das Täufertum hervorragende und inspirierende Theologen hervorbrachte, sondern ein staunendes Urteil. Die Täufer und Täuferinnen taugten nicht zu Nationalhelden oder zur Verkörperung deutscher Wesensart, ihnen war jeder Personenkult fremd, glaubensfremd. Sie verstanden sich als eine Bewegung von vielen Menschen, von Christen und Christinnen, einfachen Bauern und Bäuerinnen, Handwerkern, Bürgersöhnen und -töchtern, Armen und Reichen, Gebildeten und Bildungsfernen, in Land und Stadt – waren sie immer wieder auf dem Weg, zumeist unfreiwillig. Glaubensmigranten, Siedler, Eliten im Exil und Heimatlose. Aber auch befreite Sklaven und Sklavinnen, Seeleute, arrivierte Mäzene, etablierte Handelsfamilien mit gehörigem Bürgerstolz und Künstler. Sie waren Suchende, Nonkonformisten, aber auch bornierte Wissende, die sich konsequent von der „Welt“ abgrenzten und die nicht so Frommen ausgrenzten. Allen gemeinsam ist, dass sie um ihres Glaubens willen etwas gewagt haben.
Was haben die täuferischen Bewegungen gewagt? Sie nahmen die Kirche in die eigene Hand. Mit großem Selbstbewusstsein bildeten Laien – Männer und Frauen als Schwestern und Brüder – zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten eigenständige Gemeinden, in denen sie gemeinsam die Bibel lasen, das Abendmahl miteinander feierten und die Gläubigentaufe praktizierten. Ihre Grundlage war das reformatorische Prinzip des „Priestertum aller Gläubigen“, das sie konsequent umzusetzen versuchten. Damit stellten sie das traditionelle Kirchwesen in Frage, ja letztlich auf den Kopf oder wie sie es verstanden: auf die Füße.
Sie stellten sich gegen den gesellschaftlichen Konsens, als sie sich weigerten, in Bindung an die Worte der Bergpredigt den Bürgereid zu leisten und das Schwert zu tragen. Die Wehrlosen und Gewaltverweigerer unter ihnen wurden besonders hart verfolgt. In Zeiten der religiösen Intoleranz und der Religionskriege forderten sie vehement die Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle – auch für andere Religionen und sogar für Atheisten. Ein konsequent an der Bibel orientiertes Leben markierte auch immer schärfer die Unterschiede, etwa in der Kleidung und besonders in einer radikalen und rigorosen Ethik, die die Reinheit der Gemeinden sicherstellen sollte. Gewagt war auch das Drängen auf die Umsetzung der biblischen Hoffnungsbilder in der Gegenwart bis hin zum Wagnis der „Gottesstadt“ in Münster oder der Vision einer Beloved Communtiy als alternativer Gesellschaftsreform in der Bürgerrechtsbewegung der USA. Besonders gewagt ist die Entdeckung des Einzelnen und der Einzelnen in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Kirche. Mitglied der Kirche wird man nicht länger durch Geburt, sondern durch Entschluss. Ihre Gemeinden bildeten sich dynamisch aus denen, die sich in ihr verbinden, sich ihr verpflichtet wussten und ihre geistliche Biographie (soul competence) einbringen wollten. Tatsächlich gewagt!
Die täuferischen Traditionen bieten ein reiches Reservoir an alternativen Sichtweisen sowie an Glaubens- und Lebensformen, mit denen sie als Außenseiter und Minderheiten die jeweilige Gesellschaft herausforderten und bereicherten. Das soll in den nächsten fünf Jahren bedacht, beforscht und in ökumenischer Gemeinschaft diskutiert werden. Was sollten wir als Christen und Christinnen in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts wagen? Wie sieht religiöser Nonkonformismus heute aus? Wo können wir Impulse aus den täuferischen Traditionen aufgreifen, und wo gilt es sie zurückzuweisen und sich selbst zu verändern?
Die Täuferbewegungen erinnern uns aber in erster Linie an eine Haltung. In den vielen Umbrüchen und Aufbrüchen, in den Leidens- und Konfliktgeschichten zählten nicht die originelle Idee oder die alternative Lebensform, sondern das Vertrauen auf den im Glauben immer nahen Gott. Gerade diese in Leid und Konflikt bewährten Glaubenserfahrungen sind wohl das wichtigste Erbe der Täuferbewegung, das gerade in unsicheren Zeiten nichts von seiner Bedeutung verloren hat.
Prof. Dr. Andrea StrübindInstitut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, Universität Oldenburg
Martin Luther, der 1517 mit dem Hammer seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg anschlägt. Ob dies tatsächlich so passiert ist oder nicht – auf jeden Fall ein „schlagkräftiges“ Bild: kraftvoll, Initiative zeigend und eine Botschaft der Veränderung und des Aufbruchs vermittelnd. Das Reformationsjubiläum 2017 griff dieses Bild auf, und so hieß denn auch ein Slogan „Die volle Wucht der Reformation“.
Soweit bekannt nutzte kein Täufer einen Hammer, um wie Martin Luther Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Der „Startschuss“ der Täufer fiel, so eine verbreitete Sicht, in der Stube in einem Haus in Zürich. Am 21. Januar 1525 tauften sich die dort Versammelten im Verlauf eines Konventikels gegenseitig. Diese Taufaktion drang rasch in die Öffentlichkeit und wird oft zur Geburtsstunde der Täuferbewegung erklärt. Doch letztendlich lagen die Ideen, die die Täufer ausmachten, bereits auch in anderen Regionen „in der Luft“. Die Täuferbewegung war von Anfang an plural und die Ereignisse in Zürich waren nur ein Teil davon.
Aufbruch, Veränderung und den „Schritt mehr“ zu gehen als die anderen reformatorischen Strömungen – dies setzten die Täufer ohne Hammer um. Stattdessen nahmen sie den Wanderstab in die Hand. Prediger zogen von einem Ort zum anderen, um die mehr oder weniger geheimen Versammlungen zu besuchen. Manch ein Täufer nahm lange Wege auf sich, um an jenen Versammlungen teilzunehmen oder um getauft zu werden. Andere mussten ihre Zelte in der Heimat abrechen, weil sie des Landes verwiesen wurden oder der Todesstrafe entgehen wollten.
Der Wanderstab gehörte zu jeder frühneuzeitlichen Reise. Er erleichterte nicht nur das Gehen, sondern stieß für die Täufer auch die Frage an, was Wehrlosigkeit bedeutet. Üblicherweise diente der Wanderstab dazu, die allgegenwärtigen Räuber, die den Reisenden das Leben schwer machten, abzuwehren. Sollten auch Täufer sich bei einem Überfall verteidigen? Ein Wanderstab kann also anregen, ganz grundsätzliche Fragen zu stellen. Deshalb gibt der Verein „500 Jahre Täuferbewegung“ den täuferischen Gemeinden einen Wanderstab mit auf den Weg nach 2025.
Werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit und schauen, wie frühere Gedenkjahre begangen wurden. 1860 – der 300. Todestag von Menno Simons stand vor der Tür – verkündete der mennonitische Prediger Carl J. van der Smissen aus Friedrichstadt an der Eider, sein Töchterchen gehe jeden Samstag mit der Menno-Büchse von Haus zu Haus, um Geld zu sammeln. Dieses floss in eine Stiftung, die anlässlich des Gedenkens an Menno Simons ins Leben gerufen worden war. Sie sollte helfen, den Bau von Kirchen und Schulen zu finanzieren. Andere Gemeinden riefen ebenfalls Stiftungen ins Leben, um die Anstellung theologisch ausgebildeter Prediger zu finanzieren. Alles Zeichen des Aufbruchs – die Mennoniten waren in der Gesellschaft angekommen und ließen ein Leben in Absonderung hinter sich. Gleichzeitig übte die Gesellschaft Druck auf wesentliche Glaubensgrundlagen der Mennoniten aus. Die politischen Ideen von Gleichheit und Staatsbürgertum kannten keine Priviliegien mehr für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, so dass die Befreiung der Mennoniten vom Wehrdienst auf dem Spiel stand. Wie damit umgehen, war die Frage. Während einige mennonitische Prediger bereit waren, die Wehrlosigkeit aufzugeben, mahnten andere, weiterhin wahrhaftig und authentisch zu bleiben. Jakob Mannhardt aus Danzig beispielsweise rief in seiner Predigt zum Menno-Simons-Gedenken dazu auf, Jesus Christus in „demüthiger, waffenloser Gelassenheit“ nachzufolgen. Darunter verstand er ebenfalls, das „Schwert im Herzen“ nicht zu ignorieren, also seinem Nächsten nicht mit Neid, Zorn, Hass, Engerherzigkeit, Eigenwillen oder Selbstsucht zu begegnen.
1925, zum 400-jährigen Täuferjubiläum, reflektierte man ebenfalls über die mennonitische Identität; allerdings war diese zu diesem Zeitpunkt bereits sehr verankert in der evangelischen Landschaft. Dass man Teil der Reformation und somit integriert in den Protestantismus der Gegenwart war, hatte sich bereits im späten 19. Jahrhundert immer mehr durchgesetzt.
Mennoniten nahmen an den Versammlungen der Evangelischen Allianz teil und engagierten sich überkonfessionell in Bibel- und Missionsgesellschaften. So waren nun bei den Feiern Mitte Juni 1925 in Basel, Vertreter vieler Konfessionen anwesend. Offenbar hatte es auch das Bestreben gegeben, gemeinsam mit den Baptisten eine Gedenkschrift herauszubringen, was jedoch, so der Weierhöfer Prediger Christian Neff, aus rein äußerlichen Gründen nicht zustande gekommen sei. Jedenfalls drückte Neff seine Freude darüber aus, dass die Baptisten das „Gedenken an eine 400 jährige Gedenkfeier mit solcher Begeisterung aufgegriffen haben und in ihren Kreisen verwirklichten“.
Die weiteren Gedenkjahre im 20. Jahrhundert machen deutlich, wie die Mennoniten mit ihrem Namensgeber „fremdelten“. 1961 beispielsweise, zum 400. Todestag von Menno Simons, blitzt durch die Beiträge immer wieder die Kritik durch, dass vielen Mennoniten die grundlegenden theologischen Ideen ihres Namensgebers gar nicht mehr bekannt seien, da sie seine Schriften nicht lesen würden. Johannes A. Oosterbaan, Professor für systematische Theologie in Amsterdam, hob bei seinem Festvortrag die Aktualität der Theologie von Menno Simons hervor. Sie weise einige Gemeinsamkeiten mit der modernen Theologie, beispielsweise eines Karl Barth, auf.
Gedenkjahre holen Geschichte in die Gegenwart und bieten einen Anlass, sich der eigenen Identität zu vergewissern. Welche Botschaft wird sich mit 2025 verbinden? Kann der Wanderstab helfen, innezuhalten, über die bisherige Wegstrecke zu reflektieren und den Blick nach vorne zu richten? Ein Stab, der keine Gewaltaktionen setzen soll, sondern ein Zeichen des Aufbruchs ist: Gewagt!
PD Dr. Astrid von SchlachtaLeiterin der Mennonitischen Forschungsstelle, Lehrbeauftragte der Universität Regensburg
Warum sich die Baptisten auch auf die Täuferbewegung berufen
Ab dem frühen Christentum gibt es in der griechischen Sprache die Worte baptisma (Taufe) und baptistäs (Täufer). Seit rund 500 bzw. 400 Jahren sind „Täufer“ Name wie Konfessionsbezeichnung für zwei unterschiedliche, aber historisch und theologisch miteinander verwandte christliche Denominationen.
Spricht man im Deutschen heute von „Täufern“ oder „Taufgesinnten“, gilt es eine Vielzahl von Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen in den Blick zu nehmen, die oft pauschal als „Täuferbewegung“ oder „Linker Flügel der Reformation“ bezeichnet werden. Sie entstanden nahezu zeitgleich mit der Wittenberger, der schweizerischen und oberdeutschen Reformation in verschiedenen Regionen Mitteleuropas in den 1520er und 1530er Jahren. Von ihren Zeitgenossen wurden sie staatlicher- und kirchlicherseits als „Wiedertäufer“ beschimpft und lange grausam verfolgt.
Auch die Mennoniten sind ein Teil der täuferischen Reformation im 16. Jahrhundert. Namensgeber war der friesische Prediger Menno Simons (1496–1561), ein Zeitgenosse Martin Luthers und Philipp Melanchthons. Anhänger des Laienpredigers Melchior Hoffmann (ca. 1495–1543), der in Emden mehr als 300 Menschen zu „Bundesgenossen mit Jesus Christus“ getauft hat, hatten das für ein negatives Image der Täufer verantwortliche „Täuferreich von Münster“ (1534/35) gegründet. Nach dessen Ende durch ein blutiges Strafgericht sammelte Menno Simons viele der friedlichen täuferischen Gruppen und wurde zur herausragenden Figur der zweiten Generation der Täufer in Nordwestdeutschland und den Niederlanden. Zur 1925 gegründeten Mennonitischen Weltkonferenz gehören heute etwa 1,3 Millionen Christen.
Aus der puritanischen Bewegung in England entstanden historisch unabhängig von der kontinentalen täuferischen Reformation dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Baptisten (Täufer). Dem 1905 gegründeten Baptistischen Weltbund gehören heute etwa 40 Millionen Baptisten an, deren Gesamtzahl weltweit aber bei rund 110 Millionen Menschen liegt.
Gemeinsam ist Täufern wie Baptisten, dass ihre ersten Gemeinden durch Zwinglis Reformation in Zürich bzw. Bucers und Calvins Reformation in Strassburg und Genf nachhaltig geprägt sind. Sie sind also genuine Kinder und Enkel der Reformation des 16. Jahrhunderts. Und sie verstehen sich bis heute als solche, obwohl sie bis ins 20. Jahrhundert hinein als „Stiefkinder der Reformation“ oder „Sekten“ bezeichnet und behandelt wurden. Diese Diskriminierung hing vor allem mit dem allein aus der Bibel begründeten Verständnis der Taufe, der Gemeindeordnung und des Verhältnisses von Staat bzw. Obrigkeit und Kirche zusammen.