Think Again – Die Kraft des flexiblen Denkens - Adam Grant - E-Book
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Think Again – Die Kraft des flexiblen Denkens E-Book

Adam Grant

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Beschreibung

Wer noch mal nachdenkt, geht schlauer durchs Leben Intelligenz wird üblicherweise verstanden als die Fähigkeit, zu denken und zu lernen. Doch in einer Welt, die sich rasant verändert, brauchen wir etwas ganz anderes genauso dringend: die Fähigkeit, Gedachtes zu überdenken und sich von Erlerntem wieder zu lösen. Anhand zahlreicher Beispiele aus dem täglichen Leben zeigt der internationale Bestsellerautor Adam Grant: Nur wer die Komfortzone fester Überzeugungen verlässt, wer Zweifel und unterschiedliche Ansichten zulässt, ohne sich in seinem Ego bedroht zu fühlen, eröffnet sich die großartige Chance, wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wissen ist Macht. Erkennen, was wir nicht wissen können, ist Weisheit »Adam Grant ist der Meinung, dass geistige Offenheit eine Fähigkeit ist, die man lernen kann. Und von keinem kann man diese immens nützliche Fähigkeit besser lernen als von ihm. Die bemerkenswerten Einsichten seines brillanten Buches werden dazu führen, dass Sie Ihre Ansichten und Ihre wichtigsten Entscheidungen überdenken. Garantiert.« Daniel Kahneman, Nobelpreisträger und Bestsellerautor (Schnelles Denken, langsames Denken)

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Seitenzahl: 439

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Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Pesch

Für Kaan, Jeremy und Bill, meine drei ältesten Freunde – etwas, was ich nicht überdenken werde.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Think Again – The Power of Knowing What You Don’t Know bei Viking, New York

Copyright © 2021 by Adam Grant

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Pete Garceau

Covermotiv: Tal Goretsky unter Verwendung von Motiven von Getty Images

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Teil 1

Individuelles Umdenken

Das Aktualisieren unserer Ansichten

1 Denken wie ein Prediger, ein Staatsanwalt, ein Politiker und ein Wissenschaftler

Zweite Gedanken

Eine andere Brille

Je intelligenter sie sind, desto tiefer fallen sie

Hören Sie nicht auf, ungläubig zu sein

2 Der Besserwisser und der Hochstapler

Eine Geschichte von zwei Syndromen

Die Ignoranz der Arroganz

Gestrandet auf dem Gipfel des »Mount Stupid«

Was Goldlöckchen falsch verstanden hat

Die Vorteile von Zweifeln

Die Liga der außergewöhnlichen Demut

3 Die Freude, sich zu irren

Der Diktator, der unsere Gedanken kontrolliert

Ablösungsprobleme

Der Yoda-Effekt: »Du musst verlernen, was du gelernt hast.«

Fehler wurden gemacht – höchstwahrscheinlich von mir

4 The Good Fight Club

Die Misere des »People-Pleaser«

Einigen Sie sich nicht darauf, dass Sie sich uneinig sind

In Fahrt geraten, ohne wütend zu werden

Teil 2

Interpersonelles Umdenken

Andere zum Umdenken bewegen

5 Tanz mit Gegnern

Die Wissenschaft vom Deal

Im selben Takt tanzen

Tritt ihnen nicht auf die Zehen

Dr. Jekyll und Mr Hostile

Die Stärke nicht festgefahrener Meinungen

6 Feindseligkeit

Feindseligkeit unter Baseballfans

Sich anpassen und sich herausheben

Hypothese 1: Nicht in einer eigenen Liga

Hypothese 2: Mit unseren Feinden mitfühlen

Hypothese 3: Gewohnheitstiere

Der Eintritt in ein Paralleluniversum

Wie ein schwarzer Musiker weißen Rassisten entgegentritt

7 Impfflüsterer und sanftmütige Fragesteller

Motivieren durch Befragen

Jenseits der Klinik

Die Kunst des wirksamen Zuhörens

Teil 3

Kollektives Umdenken

Gemeinschaften lebenslang Lernender schaffen

8 Hitzige Gespräche

Einige unbequeme Wahrheiten

Einige Vorbehalte und Unsicherheiten

Gemischte Gefühle

9 Das Lehrbuch neu schreiben

Lernen auf andere Art

Der Sprachlosigkeitseffekt

Die unerträgliche Leichtigkeit des Wiederholens

Vom Dilettanten zum Könner

10 Das haben wir nie so gemacht

Ich irre, also lerne ich

Psychische Sicherheit in der Gates Foundation

Das Schlimmste an Best Practices

Teil 4

Fazit

11 Dem Tunnelblick entkommen

Das verfrühte Festlegen auf eine Identität

Zeit für einen Check-up

Wenn die Jagd nach dem Glück das Glück vertreibt

Leben, Freiheit und das Streben nach Sinn

Epilog

Umdenktipps

I. Individuelles Umdenken

A. Entwickeln Sie die Gewohnheit, noch einmal zu überlegen

B. Finden Sie das ideale Maß an Selbstbewusstsein

C. Laden Sie andere dazu ein, Ihr Denken zu hinterfragen

II. Interpersonelles Umdenken

A. Stellen Sie bessere Fragen

B. Gehen Sie Meinungsverschiedenheiten wie einen Tanz und nicht wie eine Schlacht an

III. Kollektives Umdenken

A. Führen Sie differenziertere Gespräche

B. Lehren Sie Kinder, noch einmal nachzudenken

C. Schaffen Sie lernende Organisationen

D. Bleiben Sie offen dafür, Ihre Zukunft zu überdenken

Danksagung

Abbildungsnachweis

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Register

Prolog

Nach einem unruhigen Flug schwebten in Montana 15 Männer vom Himmel herab. Sie waren keine Fallschirmspringer. Sie waren Feuerspringer – Mitglieder einer Elitefeuerwehrtruppe, die mit einem Fallschirm absprangen, um einen Waldbrand zu löschen, der am Tag zuvor durch einen Blitzschlag ausgelöst worden war. In wenigen Minuten würden sie um ihr Leben rennen.

Die Feuerspringer landeten an einem glühend heißen Augustnachmittag des Jahres 1949 nahe dem Bergkamm des Mann Gulch, einem kleinen Kerbtal am oberen Missouri. Das Feuer war über die Schlucht hinweg sichtbar, als sie den Hang zum Missouri River hinabstiegen. Sie hatten vor, um das Feuer herum eine Schneise in den Boden zu graben. Damit sollte es eingedämmt und in einen Bereich gelenkt werden, in dem es nicht viel Brennbares gab.

Nachdem sie etwa 400 Meter zurückgelegt hatten, sah Wagner Dodge, der die Truppe anführte, dass das Feuer die Schlucht übersprungen hatte und direkt auf sie zukam. Seine Flammen schossen bis zu neun Meter hoch in die Luft. Schon bald würde es schnell genug brennen, um sich in weniger als einer Minute über eine Länge von zwei Fußballfeldern auszudehnen.

Um 17:45 Uhr stand fest, dass selbst eine Eindämmung des Feuers nicht mehr möglich war. Als Dodge klar wurde, dass es Zeit war, von Kampf auf Flucht umzuschalten, befahl er seiner Mannschaft, sofort umzukehren und den Hang wieder hinaufzulaufen. Der Hang war extrem steil, und die Feuerspringer mussten sich auf felsigem Terrain durch kniehohes Gras kämpfen. In den nächsten acht Minuten schafften sie fast 460 Meter, sodass der Bergkamm, das sichere Ufer, nur noch knapp 200 Meter entfernt war.

Da das Feuer jedoch schnell näher kam, tat Dodge etwas, was seine Kollegen völlig aus der Fassung brachte. Statt zu versuchen, vor dem Feuer davonzulaufen, blieb er stehen und beugte sich vor. Er nahm ein Streichholzbriefchen heraus, entzündete Streichhölzer und warf sie ins Gras. »Wir dachten, er sei verrückt geworden«, erinnerte sich später einer der Feuerspringer. Was zum Teufel tut er da? Das Feuer ist uns direkt auf den Fersen, und der Boss entzündet vor uns noch eins, dachte er bei sich. Dodge, dieser Mistkerl, will mich umbringen. Es überrascht nicht, dass sein Team Dodge nicht folgte, als er mit wedelnden Armen auf das Feuer deutete und brüllte: »Hier! Hier lang!«

Die Feuerspringer erkannten nicht, dass Dodge eine Überlebensstrategie ersonnen hatte: Er entfachte ein Fluchtfeuer. Dadurch, dass er das Gras vor sich verbrannte, entzog er dem Waldbrand den Brennstoff, der ihm Nahrung gab. Dann goss er Wasser aus seiner Feldflasche über sein Taschentuch, bedeckte damit den Mund und legte sich mit dem Gesicht nach unten auf den verkohlten Boden. Während der Waldbrand in der nächsten Viertelstunde direkt über ihm tobte, überlebte er mithilfe des nah über dem Boden verbliebenen Sauerstoffs.

Tragischerweise verloren zwölf der Feuerspringer ihr Leben. Später wurde die Taschenuhr eines der Männer gefunden, deren geschmolzene Zeiger bei 17:56 Uhr stehen geblieben waren.

Warum überlebten nur drei der Feuerspringer? Die körperliche Fitness mag ein Faktor gewesen sein; den anderen beiden Überlebenden gelang es, vor dem Feuer davonzulaufen und den Kamm zu erreichen. Doch Dodge überlebte aufgrund seiner mentalen Fitness.

Wenn Menschen darüber nachdenken, was erforderlich ist, um mental fit zu sein, kommt ihnen in der Regel als Erstes die Intelligenz in den Sinn. Je klüger man ist, desto schwieriger sind die Probleme, die man zu lösen vermag[1] – und desto schneller kann man sie lösen.[2] Intelligenz wird traditionell als die Fähigkeit zu denken und zu lernen betrachtet. Doch in einer turbulenten Welt könnten andere kognitive Fähigkeiten noch wichtiger sein: die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen.[3]

Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade einen Multiple-Choice-Test hinter sich gebracht und würden nun eine Ihrer Antworten anzweifeln. Sie haben noch ein wenig Zeit – sollten Sie bei Ihrem ersten Gedanken bleiben oder die Antwort ändern?

Etwa drei Viertel aller Studenten sind davon überzeugt, dass sie schlechter abschneiden werden, wenn sie ihre Antwort ändern. Kaplan, das große Testvorbereitungsunternehmen, ermahnte sie einmal: »Lasst große Vorsicht walten, wenn ihr beschließt, eine Antwort zu ändern. Die Erfahrung zeigt, dass viele Studenten, die Antworten ändern, zur falschen Antwort wechseln.«[4]

Bei allem Respekt vor dem, was uns die Erfahrung lehrt: Ich ziehe rigorose Beweise vor. Als ein Team von drei Psychologen eine umfassende Überprüfung von 33 Studien vornahm, stellte es bei jeder von ihnen fest, dass es sich bei der Mehrzahl der vorgenommenen Änderungen um einen Wechsel von einer falschen zu einer richtigen Antwort handelte.[5] Dieses Phänomen ist bekannt als Erste-Instinkt-Falle.

In einem Fall zählten Psychologen die geänderten Stellen in den Klausuren von über 1500 Studenten aus Illinois.[6] Nur bei einem Viertel der Änderungen waren aus richtigen Antworten falsche geworden, bei der Hälfte der Änderungen hingegen aus falschen Antworten richtige. Ich erlebe es Jahr für Jahr in meinen eigenen Kursen: In den Abschlussklausuren meiner Studenten findet man erstaunlich wenige geänderte Stellen, doch diejenigen, die ihre ersten Antworten überdenken, statt an ihnen festzuhalten, verbessern letztlich ihre Punktzahl.[7]

Natürlich sind zweite Antworten nicht grundsätzlich besser. Sie sind nur deswegen besser, weil Studenten im Allgemeinen so ungern Änderungen vornehmen, dass sie dies nur tun, wenn sie sich ihrer Sache ziemlich sicher sind. Jüngste Studien deuten aber noch auf eine andere Erklärung hin: Nicht so sehr das Ändern einer Antwort verbessert die Note, sondern vielmehr die Überlegung, ob man sie ändern sollte.[8]

Wir zögern nicht nur, unsere Antworten zu überdenken. Wir zögern schon allein bei dem Gedanken, umzudenken. So sollten in einem Experiment Hunderte nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Collegestudenten erfahren, was es mit der Erste-Instinkt-Falle auf sich hat. Der Referent erklärte ihnen, welchen Wert es haben kann, seine Meinung zu ändern, und gab ihnen Ratschläge, wann es sinnvoll ist, dies zu tun.[9] Bei den nächsten beiden Tests waren sie jedoch noch immer nicht geneigt, ihre Antworten zu korrigieren.

Einen Teil des Problems bildet die kognitive Trägheit. Einige Psychologen weisen darauf hin, dass wir kognitive Geizhälse sind: Wir ziehen oft die Bequemlichkeit, an alten Ansichten festzuhalten, der Schwierigkeit vor, uns mit neuen Sichtweisen auseinanderzusetzen.[10] Doch unserem Widerstreben, Dinge neu zu durchdenken, liegen auch tiefere Kräfte zugrunde. Uns selbst zu hinterfragen macht die Welt unvorhersehbarer. Es verlangt von uns, zuzugeben, dass die Tatsachen sich geändert haben mögen, dass das, was einst richtig war, nun vielleicht falsch ist. Etwas zu überdenken, an das wir fest glauben, kann unsere Identität bedrohen und uns das Gefühl geben, als würden wir einen Teil unseres Selbst verlieren.

Nicht in jedem Bereich unseres Lebens haben wir Probleme, umzudenken. So erneuern wir voller Eifer unsere Besitztümer. Wir frischen unsere Garderobe auf, wenn sie aus der Mode kommt, und renovieren unsere Küchen, wenn sie nicht länger en vogue sind. Doch wenn es um unser Wissen und unsere Meinungen geht, neigen wir dazu, uns nicht beirren zu lassen. Psychologen nennen dies seizing (Ergreifen) und freezing (Einfrieren).[11] Wir ziehen die uns Behagen bereitende Überzeugung dem Unbehagen des Zweifels vor, und wir lassen zu, dass unsere Überzeugungen brüchig werden, lange bevor unsere Knochen dies tun. Wir lachen über Menschen, die noch immer Windows 95 benutzen, halten aber nach wie vor an den Meinungen fest, die wir uns 1995 gebildet haben. Wir hören uns Ansichten an, die uns ein gutes Gefühl vermitteln, statt Ideen, die uns zum Nachdenken zwingen.

Sie haben vermutlich schon einmal folgende Geschichte gehört: dass ein Frosch, den man in einen Topf mit kochend heißem Wasser wirft, sofort aus diesem Topf herausspringt; dass er jedoch sterben wird, wenn man ihn in lauwarmes Wasser setzt und nach und nach die Temperatur erhöht. Er ist nicht in der Lage, die Situation zu überdenken, und erkennt die Gefahr erst, wenn es schon zu spät ist.

Ich habe vor Kurzem ein paar Recherchen zu dieser beliebten Geschichte angestellt und ein kleines Problem entdeckt: Sie ist nicht wahr.

Wird der Frosch in das kochend heiße Wasser geworfen, erleidet er schwere Verbrennungen und entkommt oder auch nicht. Im Topf mit dem langsam sich erwärmenden Wasser ergeht es ihm tatsächlich besser: Er springt hinaus, sobald das Wasser unangenehm warm wird.[12]

Nicht die Frösche versäumen es, Situationen neu zu bewerten. Wir versäumen es. Sobald wir eine Geschichte als wahr akzeptiert haben, machen wir uns selten die Mühe, sie zu hinterfragen.

Als im Mann Gulch das Feuer auf die Feuerspringer zugerast kam, mussten sie eine Entscheidung treffen. In einer idealen Welt hätten sie genug Zeit gehabt, stehen zu bleiben, die Situation zu analysieren und ihre Möglichkeiten einzuschätzen. Da das Feuer jedoch nur knapp 100 Meter hinter ihnen tobte, hatten sie keine Chance, anzuhalten und nachzudenken. »Bei einem großen Feuer ist weder Muße noch ein Baum, in dessen Schatten sich der Boss und die Mannschaft setzen können, um einen platonischen Dialog über den Feuersturm zu führen«, schrieb der Wissenschaftler und ehemalige Feuerwehrmann Norman Maclean in seinem Buch Junge Männer im Feuer. »Ein Dialog hilft nicht so recht, wenn die Temperatur sich den tödlichen 140 Grad Fahrenheit nähert.«[13]

Dodge überlebte nicht deshalb, weil er langsamer gedacht hatte. Er überlebte aufgrund seiner Fähigkeit, die Situation schneller zu überdenken. Zwölf Feuerspringer bezahlten den höchsten Preis, weil Dodges Verhalten für sie keinen Sinn ergab. Sie konnten ihre Annahmen nicht rechtzeitig überdenken.

Bei akutem Stress greifen wir normalerweise auf automatische, erlernte Reaktionen zurück.[14] Es handelt sich also um evolutionäre Anpassung – sofern wir uns in der gleichen Art von Umgebung befinden, in der diese Reaktionen notwendig waren. Für einen Feuerspringer ist die erlernte Reaktion die, ein Feuer zu löschen, und nicht, ein weiteres zu entzünden. Sucht man sein Heil in der Flucht, ist die erlernte Reaktion die, vom Feuer wegzulaufen – nicht umgekehrt. Unter normalen Umständen retten uns diese Instinkte vielleicht das Leben. Dodge überlebte das Mann-Gulch-Feuer, weil er sich schnell für eine andere Reaktion entschied.

Niemand hatte Dodge beigebracht, ein Fluchtfeuer zu entfachen. Er hatte nicht einmal von dieser Möglichkeit gehört. Es war reine Improvisation. Später sagten die beiden anderen Überlebenden unter Eid aus, dass Fluchtfeuer zu keinem Zeitpunkt Gegenstand ihrer Ausbildung gewesen seien. Viele Experten hatten ihr gesamtes Berufsleben damit verbracht, Waldbrände zu erforschen, ohne zu erkennen, dass es möglich war, am Leben zu bleiben, indem man ein Loch durch die Feuersbrunst brannte.

Wenn ich Menschen davon erzähle, wie Dodge dem Feuer entkam, wundern sie sich gewöhnlich, dass er trotz des gewaltigen Drucks, unter dem er stand, so einfallsreich war. Das war genial! Ihr Erstaunen verwandelt sich schnell in Niedergeschlagenheit, weil sie zu dem Schluss kommen, dass diese Art von Heureka-Moment bei Normalsterblichen nicht vorkommt. Mich haben schon die Matheaufgaben meines kleinen Sohns überfordert. Doch Dinge zu überdenken erfordert in den meisten Fällen keine speziellen Fähigkeiten und keine Genialität.

Im Mann Gulch verpassten die Feuerspringer nur wenige Augenblicke zuvor eine weitere Gelegenheit, noch einmal nachzudenken – eine, die sich ihnen direkt angeboten hatte. Kurz bevor Dodge damit begann, Streichhölzer ins Gras zu werfen, hatte er seiner Mannschaft befohlen, ihre schwere Ausrüstung fallen zu lassen. Die Männer hatten die letzten acht Minuten damit verbracht, mit Äxten, Sägen, Schaufeln und zehn Kilo schweren Rucksäcken bergauf zu rennen.

Wenn man um sein Leben läuft, liegt es eigentlich nahe, dass man als Erstes alles fallen lässt, was einen langsamer machen könnte. Für Feuerwehrleute sind Werkzeuge jedoch unentbehrlich. Ohne sie können sie ihre Arbeit nicht verrichten. Sie dabeizuhaben und auf sie achtzugeben ist ihnen durch ihre Ausbildung und Erfahrung in Fleisch und Blut übergegangen. Erst als Dodge den Befehl dazu gab, legten die meisten Feuerspringer ihre Werkzeuge nieder – und selbst dann noch hielt ein Feuerwehrmann seine Schaufel fest, bis ein Kollege sie ihm aus der Hand nahm. Hätte es die Männer gerettet, wenn sie ihre Werkzeuge früher hätten fallen lassen?

Wir werden es nie mit Sicherheit wissen, doch das Mann-Gulch-Feuer war kein Einzelfall. Allein zwischen 1990 und 1995 starben 23 Feuerwehrleute bei dem Versuch, bergauf vor einem Feuer davonzulaufen, ohne ihre schwere Ausrüstung zurückzulassen, obwohl dies den Unterschied zwischen Leben und Tod hätte ausmachen können.[15] 1994 führten starke Winde auf dem Storm King Mountain in Colorado dazu, dass ein Feuer sich blitzschnell in einer Schlucht ausdehnte.[16] 14 Feuerspringer und Waldbrandbekämpfer – vier Frauen und zehn Männer – verloren ihr Leben, während sie auf steinigem Boden bergauf rannten, der rettende Gipfelkamm nur rund 200 Meter von ihnen entfernt.

Später errechneten Ermittler, dass die Mannschaft sich ohne ihre Werkzeuge und Rucksäcke 15 bis 20 Prozent schneller hätte fortbewegen können.[17] »Die meisten hätten überlebt, wenn sie einfach ihre Ausrüstung hätten fallen lassen und um ihr Leben gerannt wären«,[18] schrieb ein Experte. »Hätten sie ihre Werkzeuge und Rucksäcke liegen lassen«, pflichtete der U.S. Forest Service (die Forstverwaltung der Vereinigten Staaten) bei, »hätten die Feuerwehrleute vor dem Feuer den Gipfelkamm erreicht.«[19]

Man kann davon ausgehen, dass die Männer zunächst ganz automatisch losgerannt waren, ohne sich bewusst zu sein, dass sie ihre Rucksäcke und Werkzeuge noch mit sich schleppten. »Als ich rund 300 Meter den Berg hochgerannt war«, sagte einer der Überlebenden aus Colorado aus, »merkte ich, dass ich immer noch meine Säge über der Schulter trug!« Selbst nachdem er die kluge Entscheidung getroffen hatte, sich der 25 Pfund schweren Kettensäge zu entledigen, verlor er noch wertvolle Zeit: »Ich begann, gegen alle Vernunft, nach einem Platz zu suchen, wo ich sie hinlegen konnte, ohne dass sie verbrennen würde … Ich erinnere mich, dass ich dachte: Ich kann nicht glauben, dass ich meine Säge ablege.« Eines der Opfer hatte noch den Rucksack auf dem Rücken, als man es fand, und umklammerte den Griff seiner Kettensäge. Warum klammern sich so viele Feuerwehrleute an ihre Werkzeuge, obwohl es ihnen das Leben retten könnte, sie loszulassen?

Ein Feuerwehrmann muss nicht nur Gewohnheiten ablegen und Instinkte ignorieren, wenn er seine Werkzeuge fallen lässt. Sich seiner Ausrüstung zu entledigen heißt, sich das Scheitern einzugestehen und einen Teil seiner Identität aufzugeben. Es erfordert, sein Arbeitsziel zu überdenken – und seine Rolle im Leben. »Feuer werden nicht mit dem Körper und bloßen Händen bekämpft, sondern mit Werkzeug, das oft das unverwechselbare Markenzeichen von Feuerwehrleuten ist«, erklärt der Organisationspsychologe Karl Weick. »Es ist das, was einen Feuerwehrmann ausmacht … Sein Werkzeug fallen zu lassen erzeugt eine Existenzkrise. Wer bin ich ohne mein Werkzeug?«[20]

Waldbrände sind etwas relativ Seltenes. Das Leben der meisten von uns hängt nicht von Sekundenbruchteil-Entscheidungen ab, die uns dazu zwingen, unser Werkzeug als eine Quelle der Gefahr und ein Feuer als Weg zur Freiheit zu sehen. Doch mit der Herausforderung, Annahmen zu überdenken, werden überraschend viele von uns – vielleicht sogar alle – konfrontiert.

Wir machen alle die gleiche Art von Fehlern wie Feuerspringer und Feuerwehrleute, doch die Folgen sind weniger schlimm und bleiben deswegen oft unbeachtet. Unsere Denkweisen werden zu Gewohnheiten, die uns zu schaffen machen können, und wir stellen sie erst infrage, wenn es zu spät ist. Wir erwarten zum Beispiel, dass unsere quietschenden Bremsen weiterhin funktionieren, und wundern uns dann, wenn sie schließlich auf der Autobahn versagen. Wir glauben, dass die Aktienkurse weiter steigen werden, obwohl Analysten vor einer drohenden Immobilienblase gewarnt haben. Wir nehmen es trotz der zunehmenden emotionalen Distanz unseres Partners als gegeben an, dass mit unserer Ehe alles in Ordnung ist. Und wir fühlen uns sicher in unserem Job, obwohl einige unserer Kollegen entlassen wurden.

In diesem Buch geht es um den Wert des Umdenkens – darum, jene geistige Flexibilität zu entwickeln, die Wagner Dodge das Leben rettete. Es geht auch darum, dort Erfolg zu haben, wo er scheiterte: dieselbe geistige Beweglichkeit bei anderen zu fördern.

Sie tragen vielleicht keine Axt oder Schaufel mit sich herum, doch Sie besitzen einige kognitive Werkzeuge, die Sie regelmäßig benutzen. Das können Dinge sein, die Sie wissen, Annahmen, die Sie treffen, oder Ansichten, die Sie vertreten. Einige davon sind nicht einfach nur Teil Ihres Jobs – sie sind Teil Ihres Selbstgefühls.

[1]

 

Stellen Sie sich eine Gruppe von Studenten vor, die das erschufen, was als Harvards erstes soziales Onlinenetzwerk gilt. Bevor sie an dieser Universität ihr Studium aufnahmen, hatten sie bereits mehr als ein Achtel der Studienanfänger in einer »e-group« vernetzt.[21] Doch sobald sie in Cambridge waren, gaben sie das Netzwerk auf. Fünf Jahre später rief Mark Zuckerberg auf demselben Campus FiveThirtyEight ins Leben.

Von Zeit zu Zeit empfinden die Studenten, die die ursprüngliche e-group schufen, ein gewisses Bedauern. Das weiß ich, weil ich einer der Mitgründer dieser Gruppe war.

Eines ist klar: Ich hätte nie die Vision für etwas wie Facebook gehabt. Rückblickend betrachtet, haben meine Freunde und ich jedoch eindeutig eine Reihe von Chancen verpasst, das Potenzial unserer Plattform zu überdenken. Unser erster Instinkt war der, die e-group dazu zu nutzen, neue Freundschaften zu schließen. Wir dachten nicht darüber nach, ob sie auch für Studenten an anderen Universitäten oder im Leben jenseits der Uni interessant sein könnte. Normalerweise benutzten wir Onlinetools, um den Kontakt zu Leuten zu knüpfen, die weit von uns entfernt lebten. Als wir dann in nächster Nachbarschaft auf dem Campus wohnten, hielten wir die e-group für überflüssig. Obwohl einer der Mitgründer Computerwissenschaften studierte und ein anderes anfängliches Mitglied bereits ein erfolgreiches Technologie-Start-up gegründet hatte, nahmen wir fälschlicherweise an, ein soziales Onlinenetzwerk sei ein vorübergehendes Hobby, kein riesiger Teil der Zukunft des Internets. Da ich nicht wusste, wie man programmiert, hatte ich nicht die Tools, etwas Komplexeres zu schaffen. Eine Firma zu gründen war ohnehin nicht meine Sache. Ich verstand mich als Studienanfänger, nicht als Unternehmer.

Seit damals ist das Umdenken von zentraler Bedeutung für mein Selbstgefühl geworden. Ich bin Psychologe, aber kein Anhänger von Freud. Ich habe kein Sofa in meinem Büro, und ich führe keine Therapien durch. Als Organisationspsychologe an der Wharton School habe ich die letzten 15 Jahre damit verbracht, evidenzbasiertes Management zu erforschen und zu lehren. Und als Entrepreneur, der sich mit Daten und Ideen beschäftigt, werde ich von Unternehmen wie Google, Pixar, der NBA und der Gates Foundation eingeladen, ihnen bei der Gestaltung sinnvoller Arbeitsplätze, dem Aufbau kreativer Teams und der Schaffung kooperativer Unternehmenskulturen zu helfen. Meine Aufgabe ist es, zu überdenken, wie wir arbeiten, führen und leben – und andere dazu zu befähigen, das Gleiche zu tun.

Ich kann mir keine Zeit vorstellen, in der es wichtiger wäre, umzudenken. Als die Corona-Pandemie ausbrach, überdachten viele Regierungschefs nur widerwillig ihre Annahmen – zuerst die Annahme, dass das Virus ihre Länder nicht heimsuchen würde, dann, dass es nicht tödlicher sein würde als die Grippe, und schließlich, dass es nur von Menschen mit sichtbaren Symptomen übertragen werden könne. Der Verlust an Menschenleben ist noch nicht abzusehen.

Im vergangenen Jahr wurde unser aller geistige Flexibilität auf die Probe gestellt. Wir mussten Annahmen hinterfragen, die wir als selbstverständlich betrachtet hatten. Dass es sicher sei, ins Krankenhaus zu gehen, in einem Restaurant zu essen und unsere Eltern und Großeltern zu umarmen. Dass es im Fernsehen immer Live-Sport geben werde und die meisten von uns niemals gezwungen sein würden, im Homeoffice zu arbeiten oder die eigenen Kinder zu Hause zu unterrichten. Dass wir Toilettenpapier und Handdesinfektionsmittel bekommen könnten, wann immer wir diese Dinge bräuchten.

Inmitten der Pandemie veranlasste die wiederholte Gewaltanwendung durch die Polizei viele Menschen dazu, ihre Ansichten zur Rassendiskriminierung und zu ihrer Rolle bei deren Bekämpfung zu überdenken. Angesichts des sinnlosen Tods von drei schwarzen Bürgern – George Floyd, Breonna Taylor und Ahmaud Arbery – erkannten Millionen von Weißen, dass Rassismus kein Problem ist, das nur People of Color betrifft, so wie Sexismus keines ist, von dem nur Frauen betroffen sind. Als Protestwellen die USA überschwemmten, stieg die Unterstützung, die die Black-Lives-Matter-Bewegung vom gesamten politischen Spektrum erfuhr, innerhalb von zwei Wochen fast so stark an wie in den vorausgegangenen zwei Jahren.[22] Viele derer, die lange nicht bereit oder nicht in der Lage gewesen waren, sich einzugestehen, dass in Amerika nach wie vor ein systemischer Rassismus herrscht, setzten sich schnell mit dessen harter Realität auseinander. Viele derer, die lange geschwiegen hatten, stellten sich ihrer Verantwortung, Antirassisten zu werden und gegen Vorurteile vorzugehen.

Trotz dieser gemeinsamen Erfahrungen leben wir in einer zunehmend von Uneinigkeit geprägten Zeit. Für manche Menschen ist es schon ein ausreichender Grund, eine Freundschaft zu beenden, wenn man das Niederknien während der Nationalhymne auch nur erwähnt. Anderen reicht schon die Abgabe eines bestimmten Wahlzettels, um eine Ehe zu beenden. Verkalkte Ideologien spalten die amerikanische Kultur. Selbst unser großartiges maßgebendes Dokument, die US-Verfassung, ermöglicht Änderungen. Was, wenn wir schneller darin wären, Änderungen unserer eigenen geistigen Verfassung vorzunehmen?

Ziel dieses Buches ist es, zu erforschen, wie Umdenken geschieht. Ich habe zwingende Beweise und einige der weltweit erfahrensten Umdenker aufgespürt. Im ersten Teil geht es darum, unseren Geist zu öffnen. Sie werden herausfinden, warum ein vorausdenkender Unternehmer in der Vergangenheit stecken blieb; warum eine nicht sonderlich aussichtsreiche Kandidatin für ein öffentliches Amt das Hochstapler-Syndrom schließlich als Vorteil ansah; dass ein mit einem Nobelpreis ausgezeichneter Wissenschaftler Freude daran hat, sich zu irren; wie die besten Prognostiker der Welt ihre Ansichten aktualisieren und wie ein mit einem Oscar ausgezeichneter Filmemacher produktive Auseinandersetzungen führt.

Im zweiten Teil geht es darum, wie wir andere Menschen dazu ermutigen können, noch einmal nachzudenken. Sie werden erfahren, wie ein internationaler Debattierchampion Debatten gewinnt und ein schwarzer Musiker weiße Rassisten dazu bringt, ihren Hass aufzugeben; wie eine spezielle Art des Zuhörens einem Arzt half, Eltern aufgeschlossen gegenüber Impfstoffen zu machen, und eine Abgeordnete einen ugandischen Warlord dazu überredete, mit ihr an Friedensgesprächen teilzunehmen. Und wenn Sie ein Yankee-Fan sind, werde ich schauen, ob ich Sie davon überzeugen kann, die Red Sox zu unterstützen.

Im dritten Teil geht es darum, wie wir Gemeinschaften für lebenslang Lernende schaffen können. Im Bereich Sozialleben wird ein Labor, das sich auf schwierige Unterhaltungen spezialisiert, beleuchten, wie wir besser über polarisierende Themen wie Abtreibung und Klimawandel kommunizieren können. Im Bereich Schulen werden Sie herausfinden, wie Lehrer Kindern beibringen, noch einmal nachzudenken, indem sie Klassenzimmer wie Museen behandeln, Projekte wie Zimmerleute angehen und herkömmliche Lehrbücher umschreiben. In puncto Arbeit werden Sie erforschen, wie man Lernkulturen schafft, und zwar zusammen mit der ersten hispanischen Frau im Weltall – die die Zügel bei der NASA in die Hand nahm, um Unfälle zu verhindern, nachdem die Raumfähre Columbia explodiert war. Und abschließend werde ich Überlegungen dazu anstellen, wie wichtig es ist, selbst noch so gut durchdachte Pläne zu überdenken.

Es ist eine Lektion, die Feuerwehrleute auf die harte Tour gelernt haben. In der Hitze des Gefechts machte Wagner Dodges Impuls, die schweren Werkzeuge fallen zu lassen und in dem von ihm entzündeten Feuer Schutz zu suchen, den Unterschied zwischen Leben und Tod aus. Doch seine Erfindungsgabe wäre gar nicht nötig gewesen, gäbe es da nicht dieses tiefere, systemische Versäumnis, umzudenken. Die größte Tragödie des Waldbrands im Mann Gulch ist, dass ein Dutzend Feuerspringer bei der Bekämpfung eines Feuers starben, das gar nicht hätte bekämpft werden müssen.

Schon in den 1880er-Jahren hatten Wissenschaftler begonnen, auf die Bedeutung von Waldbränden im Lebenszyklus von Wäldern hinzuweisen.[23] Brände beseitigen tote Materie, führen dem Boden Nährstoffe zu und sorgen dafür, dass Sonnenlicht durchkommt. Wenn Feuer gelöscht werden, bleiben Wälder zu dicht. Die Anhäufung von Gestrüpp, toten Blättern und Zweigen wird dann zu Brennstoff für explosivere Waldbrände.

Doch erst 1978 setzte der U.S. Forest Service seiner Politik, dass jedes entdeckte Feuer bis 10 Uhr am nächsten Morgen gelöscht sein müsse, ein Ende. Der Mann-Gulch-Waldbrand fand in einem abgelegenen Gebiet statt, in dem keine Menschenleben in Gefahr waren. Dennoch wurden die Feuerspringer herbeigerufen, denn niemand in ihrer Gemeinde, ihrer Organisation oder ihrem Berufsstand hatte je die These infrage gestellt, dass man es Waldbränden nicht erlauben solle, ihren Lauf zu nehmen.

Dieses Buch lädt Sie dazu ein, Wissen und Meinungen loszulassen, die Ihnen keine guten Dienste mehr leisten, und ein Selbstgefühl zu entwickeln, das auf Flexibilität statt auf Beständigkeit gründet. Wenn es Ihnen gelingt, die Kunst des Umdenkens zu erlernen, werden Sie, wie ich glaube, erfolgreicher im Beruf und glücklicher im Leben sein. Dinge zu überdenken kann Ihnen helfen, neue Lösungen für alte Probleme zu finden und auf alte Lösungen für neue Probleme zurückzugreifen. Es ist ein Weg, mehr von den Menschen um Sie herum zu lernen und weniger Dinge in Ihrem Leben zu bereuen. Ein Kennzeichen von Weisheit ist das Wissen, wann es an der Zeit ist, einige unserer kostbarsten Werkzeuge preiszugeben – und einige der geschätztesten Teile unserer Identität.

Teil 1

Individuelles Umdenken

Das Aktualisieren unserer Ansichten

1 Denken wie ein Prediger, ein Staatsanwalt, ein Politiker und ein Wissenschaftler

Der Fortschritt ist ohne Änderung unmöglich, und wer sich selbst nicht ändern kann, kann nichts ändern.[24]

George Bernard Shaw

 

Sie kennen wahrscheinlich seinen Namen nicht, aber Mike Lazaridis hat einen entscheidenden Einfluss auf Ihr Leben gehabt.[25] Schon sehr früh war klar, dass Mike eine Art elektronisches Genie war. Als er vier wurde, baute er seinen eigenen Plattenspieler aus Legos und Gummiband. Während der Highschool-Zeit ließen seine Lehrer ihre kaputten Fernseher von Mike reparieren. In seiner Freizeit baute er Computer und entwarf einen besseren Buzzer für Highschool-Quiz-Bowl-Teams, eine Erfindung, die ihm dann sein erstes Collegejahr finanzierte. Nur wenige Monate vor seinem Abschluss in Elektrotechnik tat Mike das, was so viele große Unternehmer seiner Zeit taten: Er schmiss sein Studium hin. Für den Sohn griechischer Immigranten war es an der Zeit, sich einen Namen in der Welt zu machen.

Seinen ersten Erfolg konnte Mike feiern, als er ein Barcode-Lesegerät für Filme patentierte, das sich in Hollywood als so nützlich erwies, dass es ihm einen Emmy und einen Oscar für technische Verdienste einbrachte. Das war eine Kleinigkeit, verglichen mit seiner nächsten großen Erfindung, die seine Firma zum schnellstwachsenden Unternehmen auf diesem Planeten machte.[26] Mikes Aushängeschild, das BlackBerry, lockte rasch eine Fangemeinde an, und seine treuen Kunden reichten von Bill Gates bis zu Christina Aguilera. »Es hat mein Leben buchstäblich verändert«, schwärmte Oprah Winfrey. »Ich kann nicht ohne es leben.« Als er im Weißen Haus eintraf, weigerte sich Präsident Obama, seins dem Geheimdienst zu überlassen.

Mike Lazaridis’ Idee war es gewesen, mit dem BlackBerry ein drahtloses Kommunikationsmittel zu schaffen, um E-Mails zu versenden und zu empfangen. Im Sommer 2009 machte es fast die Hälfte des amerikanischen Smartphonemarkts aus. Doch bis 2014 war der Marktanteil auf weniger als ein Prozent gesunken.

Wenn ein Unternehmen derart abstürzt, lässt sich sein Niedergang niemals auf eine einzige Ursache zurückführen, sodass wir dazu neigen, es zu vermenschlichen: BlackBerry ist es nicht gelungen, sich anzupassen. Sich an eine sich verändernde Umgebung anzupassen gehört jedoch nicht zu dem, was ein Unternehmen tut – es ist etwas, was Menschen im Rahmen der Vielzahl von Entscheidungen tun, die sie tagtäglich treffen. Als Mitgründer, Geschäftsführer und Co-CEO war Mike für alle technischen Entscheidungen und Produktentscheidungen in puncto BlackBerry verantwortlich. Seine Denkweise mag zwar der Funke gewesen sein, der die Smartphone-Revolution entfachte, doch seine Schwierigkeiten, umzudenken, nahmen seinem Unternehmen die Luft und löschten seine Erfindung praktisch aus. Was war falsch gelaufen?

Die meisten von uns sind stolz auf ihr Wissen und ihre Sachkompetenz und darauf, dass sie ihren Überzeugungen und Meinungen treu bleiben. Das ergibt Sinn in einer stabilen Welt, in der man dafür belohnt wird, von seinen Ideen überzeugt zu sein. Das Problem ist jedoch, dass wir in einer sich schnell verändernden Welt leben, in der wir genauso viel Zeit mit Umdenken verbringen müssen, wie wir Zeit mit Denken verbringen.

Umdenken ist eine Fähigkeit, aber auch eine Geisteshaltung. Wir verfügen bereits über viele der mentalen Werkzeuge, die wir brauchen. Wir müssen nur daran denken, sie aus dem Schuppen zu holen und den Rost zu entfernen.

Zweite Gedanken

Angesichts des verbesserten Zugangs zu Informationen und Technologie nimmt Wissen nicht einfach nur zu. Es nimmt immer mehr zu. 2011 konsumierten wir fast fünfmal so viele Informationen pro Tag wie nur ein Vierteljahrhundert zuvor.[27] 1950 betrug der Zeitraum, in dem sich das medizinische Wissen verdoppelte, noch rund 50 Jahre. 1980 waren es nur noch sieben Jahre und 2010 verdoppelte es sich in der Hälfte dieser Zeit.[28] Der immer schneller voranschreitende Wandel bedeutet, dass wir unsere Überzeugungen schneller hinterfragen müssen als je zuvor.

Das ist keine leichte Aufgabe. Unsere Überzeugungen neigen dazu, im Laufe der Zeit immer extremer[29] und verwurzelter[30] zu werden. Ich habe noch immer Mühe zu akzeptieren, dass Pluto kein Planet sein soll. Im Bildungswesen dauert es nach historischen Enthüllungen und wissenschaftlichen Revolutionen oft Jahre, bis ein Lehrplan aktualisiert und Lehrbücher überarbeitet werden. Vor Kurzem haben Forscher festgestellt, dass wir allgemein akzeptierte Annahmen zu Themen wie den folgenden überdenken müssen: zu Cleopatras Wurzeln (ihr Vater war Grieche und nicht Ägypter, und die Identität ihrer Mutter ist unbekannt),[31] zum Aussehen der Dinosaurier (Paläontologen glauben nun, dass einige Tyrannosaurier bunte Federn auf dem Rücken hatten)[32] und dazu, was das Sehen erfordert (es gibt tatsächlich Blinde, die sich das »Sehen« beigebracht haben – Schallwellen können die Sehrinde aktivieren[33] und vor dem geistigen Auge Bilder entstehen lassen, ähnlich wie die Echoortung Fledermäusen hilft, sich im Dunkeln zurechtzufinden).

Alte Schallplatten, Oldtimer und antike Uhren mögen wertvolle Sammelstücke sein, doch überholte Fakten sind geistige Fossilien, von denen man sich am besten trennt.

Wir erkennen schnell, wenn andere Menschen umdenken müssen. Wir stellen das Urteil von Experten infrage, wann immer wir eine zweite Meinung zu einer medizinischen Diagnose einholen. Doch wenn es um unser eigenes Wissen und um unsere eigenen Meinungen geht, ziehen wir leider oft das richtige Gefühl dem richtigen Wissen vor. Im Alltagsleben stellen wir viele eigene Diagnosen, ob es darum geht, wen wir einstellen oder auch, wen wir heiraten. Wir müssen die Gewohnheit entwickeln, uns selbst zweite Meinungen zu bilden.

Stellen Sie sich vor, einer Ihrer Familienfreunde wäre Finanzberater und würde Ihnen empfehlen, in einen Pensionsfonds zu investieren, der nicht zum Pensionsplan Ihres Arbeitgebers gehört. Und ein anderer Freund, der sich ziemlich gut mit Investitionen auskennt, würde Ihnen sagen, dass dieser Fonds riskant sei. Was würden Sie tun?

Als ein Mann namens Stephen Greenspan sich in dieser Situation befand, beschloss er, die Warnung seines skeptischen Freundes und die verfügbaren Daten gegeneinander abzuwägen. Seine Schwester investierte bereits seit mehreren Jahren in diesen Fonds und war mit den Ergebnissen zufrieden. Eine Reihe ihrer Freunde tat dies ebenfalls. Die Rendite war zwar nicht außergewöhnlich, aber durchweg im zweistelligen Bereich. Der Finanzberater selbst war so überzeugt von dem Fonds, dass er sein eigenes Geld darin investiert hatte. Mit diesen Informationen ausgestattet, beschloss Greenspan, es ebenfalls zu tun. Er machte den mutigen Schritt, fast ein Drittel seiner Ruhestandsrücklagen in den Fonds zu investieren. Schon bald erfuhr er, dass sein Portfolio um 25 Prozent gewachsen war. Doch dann verlor Greenspan alles über Nacht, weil der Fonds kollabierte. Es handelte sich um das von Bernie Madoff gemanagte Ponzi-Schema.[34]

Vor etwa 20 Jahren entdeckte mein Kollege Phil Tetlock etwas Eigenartiges. Während wir denken und reden, verfallen wir oft in die Denkweise von drei verschiedenen Berufsgruppen: Predigern, Staatsanwälten und Politikern.[35] Mit jeder dieser Denkweisen nehmen wir eine bestimmte Identität an und verwenden bestimmte Tools. Wir schalten in den Predigermodus, wenn Überzeugungen in Gefahr geraten, die uns heilig sind: Wir halten Predigten, um unsere Ideale zu schützen und zu propagieren. Wir schlüpfen in den Modus des Staatsanwalts, wenn wir Fehler in der Argumentation anderer entdecken: Wir bringen Argumente vor, um ihnen zu zeigen, dass sie sich irren, und um unseren Fall zu gewinnen.[36] Wir wechseln in den Politikermodus, wenn wir ein Publikum überzeugen wollen: Wir kämpfen um die Zustimmung unserer Wählerschaft. Die Gefahr ist, dass wir so darin aufgehen, zu predigen, dass wir recht haben, Menschen anzuklagen, die unrecht haben, und andere auf unsere Seite zu ziehen – dass wir uns nicht die Mühe machen, unsere eigenen Ansichten zu überdenken.

Als Stephen Greenspan und seine Schwester die Entscheidung trafen, Geld bei Bernie Madoff anzulegen, taten sie dies nicht, weil sie sich nur auf eines dieser mentalen Tools verließen. Alle drei Modi trugen zu ihrer unglückseligen Entscheidung bei. Als Greenspans Schwester ihm von dem Geld erzählte, das sie und ihre Freunde verdient hatten, predigte sie über die Vorzüge des Fonds. Ihre Zuversicht veranlasste Greenspan, den Freund anzuklagen, der ihn vor der Investition warnte, weil er ihn des »knietiefen Zynismus« für schuldig hielt.[37] Greenspan war im Politikermodus, als er sich durch seinen Wunsch nach Zustimmung dazu verleiten ließ, Ja zu sagen – der Finanzberater war ein Familienfreund, den er mochte und zufriedenstellen wollte.

Jeder von uns hätte in diese Fallen geraten können. Doch Greenspan sagt, dass er es besser hätte wissen müssen, weil er zufällig ein Experte in puncto Leichtgläubigkeit ist. Als er beschloss, die Investition zu tätigen, hatte er schon fast ein Buch darüber vollendet, warum wir uns hereinlegen lassen.[38] Rückblickend wünscht er sich, er wäre die Entscheidung mit einem anderen Instrumentarium angegangen. Er hätte zum Beispiel die Strategie des Fonds systematischer analysieren können, statt einfach den Resultaten zu vertrauen. Er hätte mehr Meinungen von glaubwürdigen Quellen einholen können. Er hätte damit experimentieren können, kleinere Summen über einen längeren Zeitraum zu investieren, bevor er einen so großen Teil seiner Ersparnisse aufs Spiel setzte.

Das hätte ihn in den Modus eines Wissenschaftlers versetzt.

Eine andere Brille

Für einen Wissenschaftler ist es ein fundamentaler Bestandteil seines Berufs, Dinge neu zu durchdenken. Er wird dafür bezahlt, sich ständig der Grenzen seiner Erkenntnis bewusst zu sein. Man erwartet von ihm, das anzuzweifeln, was er weiß, neugierig auf das zu sein, was er nicht weiß, und seine Ansichten auf der Basis neuer Daten zu aktualisieren. Allein im letzten Jahrhundert hat die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien zu enormen Fortschritten geführt. Biowissenschaftler haben Penicillin entdeckt, Raketenwissenschaftler uns zum Mond geschickt, Computerwissenschaftler das Internet geschaffen.

Wissenschaftler zu sein ist jedoch nicht einfach nur ein Beruf.[39] Es ist eine Geisteshaltung – eine Denkweise, die sich vom Predigen, vom Anklagen und vom politischen Aktionismus unterscheidet. Wir schalten in den Modus des Wissenschaftlers, wenn wir nach der Wahrheit suchen: Wir führen Experimente durch, um Hypothesen zu überprüfen und Erkenntnisse zu gewinnen. Wissenschaftliche Werkzeuge sind nicht nur Menschen mit weißen Kitteln und Bechergläsern vorbehalten, und ihre Nutzung erfordert nicht, sich jahrelang mit einem Mikroskop und einer Laborschale abzumühen. Hypothesen haben ebenso sehr einen Platz in unserem Leben wie im Labor. Experimente können unsere täglichen Entscheidungen beeinflussen. Was die Frage aufwirft: Ist es möglich, Menschen in anderen Bereichen darin zu schulen, mehr wie Wissenschaftler zu denken, und falls ja, treffen sie in der Folge klügere Entscheidungen?

Vor Kurzem beschloss ein Team europäischer Wissenschaftler, dies herauszufinden. Sie führten ein kühnes Experiment mit mehr als 100 Gründern italienischer Start-ups in den Bereichen Technologie, Einzelhandel, Möbel, Nahrungsmittel, Gesundheitsfürsorge, Freizeit und Maschinenanlagen durch. Die meisten dieser Start-ups hatten bis dahin noch keine Einnahmen generiert, sodass ideale Rahmenbedingungen gegeben waren, um zu erforschen, wie das Erlernen wissenschaftlichen Denkens das Nettoeinkommen beeinflussen würde.

Die Existenzgründer nahmen in Mailand an einem Fortbildungsprogramm zum Thema Unternehmertum statt. Im Verlauf von vier Monaten lernten sie, eine Geschäftsstrategie zu entwickeln, Kunden zu interviewen, ein Minimum Viable Product (minimal überlebensfähiges Produkt) zu erschaffen und dann einen Prototyp zu verfeinern. Sie wussten allerdings nicht, dass sie nach dem Zufallsprinzip entweder der Gruppe »wissenschaftliches Denken« oder einer Kontrollgruppe zugewiesen worden waren. Die Schulung der beiden Gruppen war identisch, außer dass die Teilnehmer der einen dazu ermutigt wurden, Start-ups durch die Brille eines Wissenschaftlers zu sehen.[40] Aus dieser Perspektive betrachtet, war ihre Strategie eine Theorie, halfen die Kundeninterviews, Hypothesen zu entwickeln, und waren ihr Minimum Viable Product und ihr Prototyp Experimente, um diese Hypothesen zu überprüfen. Ihre Aufgabe war es, die Ergebnisse exakt zu messen und Entscheidungen danach zu treffen, ob ihre Hypothesen unterstützt oder entkräftet wurden.

Im Verlauf des nächsten Jahres erzielte die Kontrollgruppe einen Durchschnittserlös von unter 300 Dollar. Der Durchschnittserlös der Start-ups in der Gruppe »wissenschaftliches Denken« betrug über 12000 Dollar. Sie generierten mehr als doppelt so schnell Einnahmen – und lockten auch schneller Kunden an. Warum? Die Unternehmer in der Kontrollgruppe neigten dazu, an ihren ursprünglichen Strategien und Produkten festzuhalten. Es war nur allzu leicht, die Vorteile ihrer vergangenen Entscheidungen zu predigen, die Mängel alternativer Optionen anzuprangern und zu versuchen, andere mithilfe von Beratern, die die eingeschlagene Richtung befürworteten, auf ihre Seite zu ziehen. Die Unternehmer, denen man beigebracht hatte, wie Wissenschaftler zu denken, revidierten ihre Meinung hingegen mehr als doppelt so oft. Wenn ihre Hypothesen nicht gestützt wurden, dann wussten sie, dass es an der Zeit war, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken.

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Überraschend an diesen Ergebnissen ist, dass wir große Unternehmer und Führungspersönlichkeiten normalerweise dafür feiern, willensstark und scharfsichtig zu sein. Sie sind angeblich Vorbilder in puncto Überzeugtsein – entschlossen und sicher. Doch bei Wettbewerben zur Preisgestaltung sind ihre besten Strategien Langsamkeit und Unsicherheit.[41] Wie umsichtige Wissenschaftler nehmen sie sich Zeit und verfügen so über die Flexibilität, ihre Meinung zu ändern. Ich glaube so langsam, dass Entschlossenheit überbewertet wird … doch ich behalte mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.

Man muss kein professioneller Wissenschaftler sein, um wie einer zu argumentieren, und ein professioneller Wissenschaftler zu sein ist keine Garantie dafür, dass man sein Handwerkszeug nutzt. Wissenschaftler verwandeln sich in Prediger, wenn sie ihre Lieblingstheorien als Evangelium präsentieren und wohlüberlegte Kritik als Sakrileg betrachten. Sie begeben sich auf politisches Terrain, wenn sie zulassen, dass ihre Ansichten durch Popularität statt durch Genauigkeit beeinflusst werden. Sie wechseln in den Modus des Staatsanwalts, wenn sie wild entschlossen sind, zu widerlegen und zu diskreditieren, statt zu entdecken. Nachdem Einstein die Physik mit seiner Relativitätstheorie auf den Kopf gestellt hatte, widersetzte er sich der Quantenrevolution. »Um mich für meine Autoritätsverachtung zu bestrafen, hat mich das Schicksal selbst zu einer Autorität gemacht.«[42] Manchmal müssen selbst große Wissenschaftler eher wie Wissenschaftler denken.

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Jahrzehnte bevor er ein Smartphone-Pionier wurde, galt Mike Lazaridis als wissenschaftliches Ausnahmetalent. Im Gymnasium schaffte er es in die Lokalnachrichten, weil er bei der Wissenschaftsmesse ein Solarpaneel gebaut und außerdem einen Preis dafür gewonnen hatte, jedes in der öffentlichen Bibliothek vorhandene wissenschaftliche Buch gelesen zu haben. Wenn man sein Achtklässler-Jahrbuch öffnet, sieht man einen Cartoon, der Mike als verrückten Wissenschaftler zeigt, aus dessen Kopf Blitze schießen.

Als Mike das BlackBerry schuf, dachte er wie ein Wissenschaftler. Existierende drahtlose E-Mail-Geräte waren mit einem Eingabestift ausgestattet, der zu langsam, oder einer Tastatur, die zu klein war. Die Menschen mussten ihre beruflichen E-Mails schwerfällig an ihre Mobilgerät-Inboxes schicken, und es dauerte ewig, die Mails herunterzuladen. Mike begann, Hypothesen zu entwickeln, und ließ sie von seinem Ingenieurteam testen. Was wäre, wenn die Menschen das Gerät in den Händen halten und mit den Daumen statt den Fingern tippen könnten? Was, wenn es eine einzige Mailbox gäbe, synchronisiert auf allen Geräten? Was, wenn Nachrichten durch einen Server übermittelt und erst auf dem Gerät erscheinen würden, nachdem sie entschlüsselt worden waren?

Als andere Firmen BlackBerrys Beispiel folgten, nahm Mike ihre Smartphones auseinander und studierte sie. Nichts beeindruckte ihn wirklich, bis ihn im Sommer 2007 die Rechenleistung des ersten iPhones verblüffte. »Die haben einen Mac in dieses Ding gesteckt«, sagte er. Das, was Mike als Nächstes tat, war möglicherweise der Anfang vom Ende des BlackBerrys. So wie der Aufstieg des BlackBerry-Smartphones zum großen Teil auf Mikes erfolgreichem wissenschaftlichen Denken beruhte, so war sein Niedergang in vielerlei Hinsicht das Ergebnis seines Versagens, als CEO umzudenken.

Als das iPhone seinen großen Durchbruch hatte, hielt Mike an seinem Glauben an die Merkmale fest, die das BlackBerry-Smartphone in der Vergangenheit zu einer Sensation gemacht hatten. Er war davon überzeugt, dass die Menschen ein drahtloses Gerät für berufliche E-Mails und Telefonate in der Tasche haben wollten und keinen vollständigen Computer mit Apps für Heimunterhaltung. Schon 1997 wollte einer seiner führenden Ingenieure einen Internetbrowser hinzufügen, doch Mike sagte ihm, er solle sich allein auf E-Mails konzentrieren. Ein Jahrzehnt später war sich Mike immer noch sicher, dass ein leistungsstarker Internetbrowser die Batterie entladen und die Datenübertragungsrate drahtloser Netzwerke verlangsamen würde. Die alternativen Hypothesen prüfte er nicht.

2008 überstieg der Unternehmenswert 70 Milliarden US-Dollar, doch das BlackBerry-Smartphone, dem nach wie vor ein verlässlicher Browser fehlte, blieb das einzige Produkt des Unternehmens. Als Mikes Kollegen ihm 2010 eine Strategie zur Übermittlung verschlüsselter Textnachrichten vorstellten, war Mike zwar aufgeschlossen, äußerte jedoch Bedenken, dass es das BlackBerry-Smartphone obsolet machen würde, wenn man es zulasse, dass Nachrichten auch über die Geräte von Konkurrenten ausgetauscht würden. Da seine Vorbehalte innerhalb des Unternehmens an Boden gewannen, gab es die Idee des Instant Messaging auf und verpasste eine Chance, die WhatsApp später ergriff und die mehr als 19 Milliarden Dollar einbrachte. So talentiert Mike auch war, das Design elektronischer Geräte zu überdenken, so war er andererseits nicht bereit, den Markt für sein Baby zu überdenken. Intelligenz war kein Segen, sondern vielleicht eher ein Fluch.

Je intelligenter sie sind, desto tiefer fallen sie

Mentale Stärke garantiert keine geistige Beweglichkeit. Egal, wie intelligent Sie sind, wenn es Ihnen an der Motivation fehlt, Ihre Meinung zu ändern, werden Sie viele Gelegenheiten verpassen, noch einmal nachzudenken. Forschungen zeigen: Je besser Sie bei einem IQ-Test abschneiden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie auf Stereotype hereinfallen, weil Sie schneller Muster erkennen.[43] Und neuere Experimente legen nahe: Je intelligenter Sie sind, desto mehr haben Sie unter Umständen damit zu kämpfen, Ihre Überzeugungen zu aktualisieren.[44]

Eine Studie beschäftigte sich mit der Frage, ob man als Mathegenie besser Daten analysieren kann. Die Antwort lautet: Ja – wenn man gesagt bekommt, dass es bei den Daten um etwas so Langweiliges wie die Behandlung von Hautausschlägen geht. Doch was, wenn es heißt, bei ebendiesen Daten gehe es um ein ideologisches Problem, das starke Gefühle hervorrufe – wie Waffengesetze in den Vereinigten Staaten?

Als erfahrener quantitativer Analyst werden Sie die Ergebnisse genauer interpretieren – solange sie Ihre Überzeugungen unterstützen. Steht das empirische Muster jedoch im Widerspruch zu Ihrer Ideologie, sind mathematische Fähigkeiten kein Vorteil mehr, sondern eine Belastung. Je besser Sie rechnen können, desto spektakulärer versagen Sie bei der Analyse von Mustern, die Ihren Ansichten widersprechen. Handelte es sich um Liberale, waren die Mathegenies schlechter als andere darin, Beweise für das Scheitern von Waffenverboten zu bewerten. Handelte es sich um Konservative, waren sie schlechter darin, Beweise für das Funktionieren von Waffenverboten zu bewerten.

In der Psychologie gibt es mindestens zwei Bias (kognitive Verzerrungen), die die treibende Kraft dieses Musters bilden. Eines ist der Bestätigungsfehler: zu sehen, was wir zu sehen erwarten.[45] Das andere ist die Erwünschtheitsverzerrung: zu sehen, was wir sehen wollen.[46] Diese Bias hindern uns nicht nur daran, unsere Intelligenz einzusetzen. Sie können unsere Intelligenz zu einer Waffe gegen die Wahrheit machen. Wir finden Gründe, unseren Glauben noch eindringlicher zu predigen, unseren Fall leidenschaftlicher zu verfolgen und auf der Welle unserer politischen Partei mitzusurfen. Das Tragische ist, dass wir uns normalerweise der daraus resultierenden Denkfehler nicht bewusst sind.

Mein Lieblings-Bias ist das »Ich bin nicht voreingenommen«-Bias, das Menschen glauben lässt, dass sie objektiver sind als andere.[47] Wie sich zeigt, geraten schlaue Menschen eher in diese Falle. Je intelligenter man ist, desto schwieriger kann es sein, die eigenen Grenzen zu sehen. Gut denken zu können kann dazu führen, dass man schlechter darin ist, Dinge zu überdenken.

Wenn wir im Wissenschaftlermodus sind, weigern wir uns, unsere Ideen zu Ideologien werden zu lassen. Wir beginnen nicht mit Antworten oder Lösungen, sondern mit Fragen und Rätseln. Wir predigen nicht aus der Intuition heraus, sondern lehren auf der Basis von Beweisen. Wir hegen nicht nur eine gesunde Skepsis gegenüber den Argumenten anderer Menschen, sondern auch gegenüber unseren eigenen.

Wie ein Wissenschaftler zu denken beinhaltet mehr, als nur unvoreingenommen zu reagieren. Es bedeutet, aktiv unvoreingenommen zu sein.[48] Es erfordert, nach Gründen zu suchen, warum wir uns irren könnten – nicht nach Gründen, warum wir recht haben müssen –, und unsere Ansichten auf der Basis dessen, was wir lernen, zu korrigieren.

Das geschieht selten, wenn wir uns in den anderen mentalen Modi befinden. Im Predigermodus ist es ein Zeichen moralischer Schwäche, seine Meinung zu ändern; im Wissenschaftlermodus ist es ein Zeichen intellektueller Integrität. Im Staatsanwaltmodus gilt es als Eingeständnis einer Niederlage, sich überzeugen zu lassen; im Wissenschaftlermodus ist es ein Schritt in Richtung Wahrheit. Im Politikermodus schwanken wir, je nach Zuckerbrot oder Peitsche, hin und her. Im Wissenschaftlermodus ändern wir angesichts schärferer Logik und überzeugenderer Daten unseren Standpunkt.[49]

Ich habe mein Bestes getan, dieses Buch im Wissenschaftlermodus zu schreiben.[1] Ich bin Lehrer und kein Prediger. Ich mag Politik nicht, und ich hoffe, dass ein Jahrzehnt als ordentlicher Professor mich von jedweder Versuchung geheilt hat, meine Zuhörer zu besänftigen. Obwohl ich mehr als genug Zeit im Staatsanwaltmodus verbracht habe, bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich in einem Gerichtssaal doch lieber der Richter wäre. Ich erwarte nicht, dass Sie allem zustimmen, was ich denke. Aber ich hoffe, dass die Art, wie ich denke, Sie neugierig macht – und dass die hier vorgestellten Studien, Geschichten und Ideen Sie dazu veranlassen werden, selbst einige Dinge zu überdenken. Schließlich geht es beim Lernen ja nicht um die Bestätigung unserer Überzeugungen, sondern um deren Weiterentwicklung.

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Eine meiner Überzeugungen ist, dass wir nicht in jedem Fall aufgeschlossen sein sollten. Es gibt Situationen, in denen es sinnvoll sein könnte, zu predigen, zu verfolgen und zu agitieren. Dennoch glaube ich, dass die meisten von uns von mehr Aufgeschlossenheit profitieren würden, weil der Wissenschaftlermodus derjenige ist, in dem wir geistige Beweglichkeit erlangen. Als der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi sich mit bedeutenden Wissenschaftlern wie Linus Pauling und Jonas Salk befasste, kam er zu dem Schluss, dass es ihre kognitive Flexibilität war, die sie von ihren Kollegen unterschied, »die Fähigkeit, von einem Extrem ins andere zu wechseln, wenn die Situation es erfordert«.[50] Das Gleiche traf auf große Künstler zu und, wie eine unabhängige Studie zeigte, auf hochkreative Architekten.[51]

Sogar im Oval Office lässt sich dies beobachten. Experten beurteilten amerikanische Präsidenten anhand einer langen Liste von Persönlichkeitsmerkmalen und verglichen diese mit Bewertungen durch unabhängige Historiker und Politikwissenschaftler.[52] Nachdem sie Faktoren wie Amtszeit, Kriege und Skandale berücksichtigt hatten, sagte nur eine Charaktereigenschaft durchgängig präsidiale Größe voraus. Entscheidend war nicht, ob die Präsidenten ehrgeizig oder forsch, freundlich oder machiavellistisch waren. Und auch nicht, ob sie attraktiv, geistreich, selbstsicher oder gebildet waren.

Was große Präsidenten von anderen abhob, war ihre intellektuelle Neugier und Offenheit. Sie lasen viel und waren genauso begierig, von Entwicklungen in der Biologie, Philosophie, Architektur und Musik zu erfahren wie von innen- und außenpolitischen Angelegenheiten. Sie waren daran interessiert, neue Ansichten zu hören und ihre alten Ansichten zu überprüfen. Sie betrachteten viele ihrer Maßnahmen als Experimente, die es durchzuführen, und nicht als Punkte, die es zu erzielen galt. Obwohl sie von Beruf Politiker waren, lösten sie Probleme oft wie Wissenschaftler.

Hören Sie nicht auf, ungläubig zu sein

Beim Studium des Umdenkprozesses habe ich festgestellt, dass er oft zyklisch abläuft. Er beginnt mit intellektueller Demut – dem Wissen, was wir nicht wissen. Wir sollten alle in der Lage sein, eine lange Liste von Bereichen zu erstellen, in denen wir unwissend sind. Zu meinen gehören: Kunst, Finanzmärkte, Mode, Chemie, Nahrungsmittel, warum britische Akzente in Songs zu amerikanischen Akzenten werden und warum es nicht möglich ist, sich selbst zu kitzeln. Unsere Defizite zu erkennen öffnet dem Zweifel die Tür. Das Infragestellen unserer derzeitigen Einsichten macht uns neugierig darauf, welche Informationen uns fehlen. Diese Suche führt uns zu neuen Entdeckungen, die wiederum dafür sorgen, dass wir demütig bleiben, indem sie untermauern, wie viel wir noch zu lernen haben. Wenn Wissen Macht ist, dann ist das Wissen darum, was wir nicht wissen, Weisheit.

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Wissenschaftliches Denken zieht die Demut dem Stolz, den Zweifel der Gewissheit und die Neugier dem Sichverschließen vor. Wenn wir den Wissenschaftlermodus verlassen, weicht der Umdenkzyklus einem Selbstüberschätzungszyklus. Wenn wir predigen, können wir unsere Wissenslücken nicht sehen; wir glauben, dass wir die Wahrheit bereits gefunden haben. Stolz erzeugt Überzeugung statt Zweifel, was uns zu Staatsanwälten macht: Wir mögen vollkommen darauf fokussiert sein, die Meinung anderer Menschen zu ändern, doch unsere Meinung ist in Stein gemeißelt. Das führt dann zum Bestätigungsfehler und zur Erwünschtheitsverzerrung. Wir werden Politiker und ignorieren oder verwerfen alles, was nicht die Gunst unserer Wähler erlangt – unserer Eltern, Chefs oder der Schulfreunde, die wir noch immer zu beeindrucken versuchen. Wir sind dann so damit beschäftigt, eine Show abzuziehen, dass die Wahrheit in den Hintergrund gedrängt wird und die Bestätigung, die wir erhalten, uns arrogant machen kann. Wir werden Opfer des Fat-Cat-Syndroms und ruhen uns auf unseren Lorbeeren aus, statt unsere Überzeugungen einer strengen Überprüfung zu unterziehen.[53]

Im Fall von BlackBerry war Mike Lazaridis in einem Selbstüberschätzungszyklus gefangen. Der Stolz auf sein erfolgreiches Produkt machte ihn zu selbstsicher. Am deutlichsten kam dies dadurch zum Ausdruck, dass er die Tastatur einem Touchscreen vorzog. Es war eine BlackBerry-Tugend, die er gern predigte – und ein Apple-Laster, das anzuprangern er sich beeilte. Als die BlackBerry-Aktie fiel, erlag er dem Bestätigungsfehler und der Erwünschtheitsverzerrung. Außerdem fiel er der Bewertung von Fans zum Opfer. »Es ist ein ikonisches Produkt«,[54] sagte er 2011 über das BlackBerry-Smartphone. »Es wird von Unternehmen verwendet, es wird von Führungspersönlichkeiten verwendet, es wird von Berühmtheiten verwendet.« Bis 2012 hatte das iPhone ein Viertel des globalen Smartphone-Marktes erobert, doch Mike widersetzte sich noch immer der Vorstellung, auf Glas zu tippen. »Ich verstehe das nicht«, sagte er bei einer Vorstandssitzung und deutete auf ein Telefon mit einem Touchscreen. »Die Tastatur ist einer der Gründe dafür, dass sie BlackBerrys kaufen.«[55] Wie ein Politiker, der sich nur um seine Wählerbasis kümmert, fokussierte er sich auf die Vorliebe von Millionen von existierenden Nutzern für die Tastatur und vernachlässigte den Reiz eines Touchscreens für Milliarden potenzieller Nutzer. Nur fürs Protokoll: Ich vermisse die Tastatur noch immer, und ich freue mich sehr, dass sie für ein versuchtes Comeback lizensiert wurde.

Als Mike schließlich begann, den Bildschirm und die Software neu zu konzipieren, wollten einige seiner Ingenieure ihre vergangene Arbeit nicht aufgeben. Der Fehler, nicht umzudenken, war weit verbreitet. 2011 schrieb ein anonymer hochrangiger Mitarbeiter des Unternehmens einen offenen Brief an Mike und seinen Co-CEO. »Wir haben gelacht und gesagt, dass sie versuchen, einen Computer auf ein Telefon zu packen, dass es nicht funktionieren wird«, hieß es darin. »Wir sind jetzt drei bis vier Jahre zu spät dran.«[56]

Unsere Überzeugungen können uns in selbst geschaffene Gefängnisse sperren. Die Lösung ist nicht, unser Denken zu verlangsamen – sie besteht darin, es zu beschleunigen. Das war es, was Apple vor dem Bankrott rettete und zum wertvollsten Unternehmen der Welt werden ließ.[57]

Die Legende von Apples Wiedergeburt rankt sich um das einsame Genie Steve Jobs. Es waren seine Überzeugung und seine Klarsicht, so die Geschichte, die das iPhone hervorbrachten. Die Wahrheit ist, dass er absolut gegen die Kategorie Handy war. Seine Mitarbeiter hatten diese Vision, und ihre Fähigkeit, Jobs umzustimmen, war ausschlaggebend dafür, dass es mit Apple wieder bergauf ging. Obwohl Jobs wusste, wie man »anders denkt«, übernahm sein Team einen Großteil des Umdenkens.

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2004 versuchte eine kleine Gruppe von Ingenieuren, Designern und Marketingfachleuten, Jobs dazu zu überreden, ihr Hitprodukt, den iPod, in ein Telefon zu verwandeln. »Warum, verdammt noch mal, sollten wir das tun?«, blaffte Jobs. Das Team hatte erkannt, dass sich inzwischen mit Mobiltelefonen auch Musik abspielen ließ, aber Jobs machte sich Sorgen, dass Apples florierendes iPod-Geschäft hierdurch großen Schaden nehmen könnte. Er hasste Handyhersteller und wollte keine Produkte im Rahmen der von Netzbetreibern auferlegten Beschränkungen entwerfen. Wenn beim Telefonieren die Verbindung abbrach oder es einen Softwareabsturz gab, zerschmetterte er manchmal frustriert sein Telefon. Bei privaten Treffen und auf öffentlichen Bühnen beteuerte er immer wieder, dass er nie ein Telefon herstellen würde.

Doch einige von Apples Ingenieuren forschten bereits in diesem Bereich. Gemeinsam versuchten sie, Jobs davon zu überzeugen, dass er nicht wisse, was er nicht wisse, und drängten ihn, seine Überzeugungen anzuzweifeln. Es wäre vielleicht möglich, so argumentierten sie, ein Smartphone zu entwickeln, das alle gern benutzen würden – und die Betreiber dazu zu bringen, sich nach den Vorstellungen von Apple zu richten.

Forschungen zeigen, dass es hilft, das hervorzuheben, was gleich bleiben wird, wenn Menschen sich einem Wandel widersetzen. Visionen für einen Wandel sind verlockender, wenn sie Visionen der Kontinuität mit einschließen. Denn unsere Strategie mag sich entwickeln, doch unsere Identität wird Bestand haben.

Die Ingenieure, die eng mit Jobs zusammenarbeiteten, verstanden, dass dies eine der besten Möglichkeiten war, ihn zu überzeugen. Sie versicherten ihm, dass sie nicht versuchten, aus Apple einen Telefonhersteller zu machen. Apple würde eine Computerfirma bleiben – sie würden einfach ihre existierenden Produkte nehmen und um ein Telefon erweitern. Apple stecke bereits 20000 Songs in die Taschen seiner Nutzer, warum also solle man nicht auch alles mögliche andere dort hineinstecken? Sie mussten ihre Technologie überdenken, würden jedoch ihre DNA bewahren. Nach sechsmonatiger Diskussion war Jobs’ Neugier schließlich so weit geweckt, dass er der Sache seinen Segen gab. Zwei unterschiedliche Teams machten sich sofort daran, zu testen, ob sie dem iPod Anruffunktionen hinzufügen oder den Mac in ein Minitablet verwandeln sollten, das auch als Telefon diente. Nur vier Jahre nach seiner Markteinführung sicherte das iPhone die Hälfte von Apples Einnahmen.

Das iPhone – Ergebnis eines konsequenten Umdenkens – stellte eine enorme Weiterentwicklung des Smartphones dar. Von Beginn an hatte man sich bei der Smartphone-Innovation für ein schrittweises Vorgehen mit unterschiedlichen Größen und Formen, besseren Kameras und längerer Batterielebensdauer, doch wenigen fundamentalen Änderungen des Zweckes oder der Nutzererfahrung entschieden. Rückblickend stellt sich die Frage: Wenn Mike Lazaridis offener dafür gewesen wäre, sein Lieblingsprodukt zu überdenken, hätten BlackBerry und Apple sich dann gegenseitig dazu getrieben, das Smartphone bis heute mehrmals neu zu gestalten?

Der Fluch des Wissens ist, dass wir uns dem verschließen, was wir nicht wissen. Ein gutes Urteilsvermögen hängt von der Fähigkeit – und dem Willen – ab, aufgeschlossen zu sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Umdenken eine zunehmend wichtige Gewohnheit in unserem Leben werden wird. Natürlich könnte ich mich irren. Sollte dies der Fall sein, werde ich rasch noch einmal nachdenken.

[1]Ich habe nicht mit Antworten, sondern mit Fragen über das Umdenken begonnen. Dann habe ich nach den besten, mittels randomisierter, kontrollierter Experimente und systematischer Feldforschungen gewonnenen Beweisen gesucht. Wenn es keine Beweise gab, startete ich meine eigenen Forschungsprojekte. Erst als ich zu datengetriebenen Erkenntnissen gelangt war, suchte ich nach Geschichten, um die Studien zu illustrieren und zu veranschaulichen. In einer idealen Welt würde jede Erkenntnis aus einer Metaanalyse erwachsen – einer Untersuchung von Studien, bei der die Forscher mithilfe einer großen Menge von Beweismaterial Muster sammeln und die Qualität jedes Datenpunkts berücksichtigen. In Fällen, in denen diese Analysen nicht zur Verfügung stehen, stelle ich Studien vor, die ich stringent, repräsentativ oder zum Nachdenken anregend finde. Manchmal beziehe ich Details zu den Methoden mit ein – nicht nur, damit Sie verstehen können, wie die Forscher zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sind, sondern um einen Einblick zu vermitteln, wie Wissenschaftler denken. In vielen Fällen fasse ich die Resultate zusammen, ohne intensiv auf die Studien selbst einzugehen, weil ich annehme, dass Sie lesen, um wie ein Wissenschaftler umzudenken – nicht, um einer zu werden. Sollten Sie bei der Erwähnung einer Metanalyse jedoch Aufregung verspürt haben, ist es vielleicht an der Zeit, (noch einmal) eine Laufbahn in den Sozialwissenschaften zu erwägen.

2 Der Besserwisser und der Hochstapler

Das ideale Maß an Selbstvertrauen

Unwissenheit erzeugt viel häufiger Selbstvertrauen als Wissen.[58]

Charles Darwin

 

Als Ursula Mercz ins Krankenhaus eingewiesen wurde, klagte sie über so schwere Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Schwindelgefühle, dass sie nicht länger arbeiten konnte. Im Laufe des folgenden Monats verschlechterte sich ihr Zustand. Sie hatte Mühe, das Glas Wasser zu finden, das sie neben ihr Bett gestellt hatte. Auch die Tür zu ihrem Zimmer konnte sie nicht finden. Sie lief direkt gegen ihr Bettgestell.