Hidden Potential – Die Wissenschaft des Erfolgs - Adam Grant - E-Book

Hidden Potential – Die Wissenschaft des Erfolgs E-Book

Adam Grant

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Beschreibung

Viele Autoren haben die Gewohnheiten von Supertalenten beschrieben, die Spitzenleistungen erbringen. Doch Adam Grant zeigt: Wir alle können Großes erreichen! Denn unser Fortschritt hängt nicht davon ab, wie hart wir arbeiten, sondern davon, wie gut wir lernen. Unsere Entwicklung ist keine Frage der Talente, die uns gegeben sind, sondern der Einstellung. Grants Forschungen beweisen: Wenn wir gezielt unsere vorhandenen Fähigkeiten stärken und neue Motivationsstrukturen aufbauen, können wir unsere verborgenen Potenziale heben und Dinge erreichen, die wir nicht für möglich gehalten hätten!

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www.piper.de

Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Fleißig und Violeta Topalova

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Hidden Potential – The Science of Achieving Greater Things bei Viking, New York

© Adam Grant, 2023

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München nach einem Entwurf von Tal Goretsky

Covermotiv: Getty Images (Mina De La O; Jeffrey Hamilton; Anastasiia Shavshyna)

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Die richtigen Voraussetzungen

Eine Frage des Charakters

Rüstzeug

Teil I

Charakterstärken

Besser werden beim Besserwerden

1 Raus aus der Komfortzone

Stilfrage

In den Ring treten

Angenehm unangenehm

Sich auf die Zunge beißen

2 Menschliche Schwämme

Das Verhältnis zwischen Leistung und Erfolg steigern

Proaktiv und entwicklungsorientiert

Der große Wurf

Der unschönen Wahrheit auf den Grund gehen

Möge die Quelle der Macht mit euch sein

3 Perfekt sein ist nicht alles

Was Einserschüler falsch machen

Beton der Möglichkeiten

Auf der Suche nach den richtigen Unvollkommenheiten

The Show Must Go On

Ein Minimum Lovable Product

Teil II

Strukturen der Motivation

Scaffolding: Wie wir mit den richtigen Hilfsmitteln Hindernisse überwinden können

4 Farbe in den Alltag bringen

Harmonie finden

Spielend lernen

Aus der Übung

Ein ganz neues Spiel

Aus Liebe zum Training

Mach mal Pause

5 Raus aus dem Sumpf!

Zurücksetzen, um vorwärtszukommen

Ein ehrenwerter Versuch

Wer was kann, sollte kein Lehrer werden

Schreiben Sie Ihren eigenen Reiseführer

Wenn der Tank leer ist

Einen Abstecher machen

Gipfelstürmer

6 Der Schwerkraft trotzen

Einander etwas beibringen

Unverhofftes Potenzial

Unsere eigenen Ratschläge beherzigen

Ein Berg von Zweifeln

Einen Funken entfachen

Fackelträger

Den Weg ebnen

Teil III

Chancensysteme

Türen und Fenster öffnen

7 Systeme, die Schule machen

Das Land der Möglichkeiten

Zusammenbleiben

Hilfe, die bleibt

Ein Kinderspiel

Ärger im Paradies

Die Liebe am Leben erhalten

Pause mal anders

8 Nach Gold schürfen

Team ist nicht gleich Team

Es geht nicht nur um mich

Zusammengeklebt sind wir stark

Je mehr Gehirne, desto besser

Tausend Blumen blühen lassen

Der Angriff der Barbaren auf die Gatekeeper

Licht am Boden des Tunnels

9 Rohdiamanten

Der sprechende Hut ist nicht gut bei Stimme

Ungeschliffene Juwelen

Das Unmessbare messen

Das Unsichtbare sichtbar machen

Aufstieg pro Zeitraum

Interview ohne den Vampir

Ein Fenster öffnet sich

Epilog

Kurz und knapp – die Top 40

Dank

Bildnachweis

Quellennachweis der Grafiken

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Zur Erinnerung an Sigal Barsade,die in jedem Menschen sein Potenzial erkannte.

Prolog

Rosen, die aus Rissen im Beton sprießen

Did you hear about the rose that grew

from a crack in the concrete

Proving nature’s law is wrong it

learned 2 walk without having feet

Funny it seems but by keeping its dreams

it learned 2 breathe fresh air

»The Rose That Grew from Concrete«, Tupac Shakur[1]

 

An einem kühlen Frühlingswochenende des Jahres 1991 kamen in einem Hotel außerhalb von Detroit einige der herausragendsten jungen Denker der Vereinigten Staaten zusammen. Stimmengewirr erfüllte den Saal, während die Schüler die ihnen zugewiesenen Plätze einnahmen. Doch sobald die Schachuhren gestartet wurden, herrschte vollkommene Stille. Allein das Ticken war zu hören, und niemand ließ die schwarzen und weißen Felder auf dem Schachbrett aus den Augen – hier, beim nationalen Schachturnier der Mittelstufe.

In den vergangenen Jahren hatten Teams von noblen Privatschulen und Eliteschulen den Wettbewerb dominiert, die über die Mittel verfügten, Schach in den Stundenplan zu integrieren. Titelverteidiger war die Dalton School, eine Eliteschule in New York City, die bereits dreimal in Folge nationale Siege errungen hatten.

Dalton war eine Kaderschmiede, sozusagen ein olympisches Trainingszentrum für Schach. Jeder Vorschüler nahm ein Halbjahr lang am Schachunterricht teil, und jeder Erstklässler hatte ein ganzes Jahr lang Schachunterricht. Die talentiertesten Schüler qualifizierten sich für diesen Unterricht vor und nach dem regulären Schulunterricht bei einem der besten Schachlehrer des Landes. Daltons Ass im Ärmel war das Wunderkind Josh Waitzkin, dessen Lebensgeschichte nur zwei Jahre später die Grundlage für den Kinofilm Das Königsspiel – Ein Meister wird geboren bildete. Zwar traten Josh und ein anderer Starspieler in diesem Jahr nicht an, doch Dalton hatte trotzdem eine beachtliche Mannschaft mitgebracht.

Die Raging Rooks[2] hingegen sah niemand als ernsthafte Konkurrenz an. Als dieses Team sichtlich nervös das Hotel betrat, schnellten die Köpfe herum, denn die Spieler hatten mit ihren wohlhabenden weißen Gegnern nur wenig gemein.

Die Raging Rooks waren ziemlich mittellose People of Color: sechs Schwarze, ein Latino und ein asiatischer Amerikaner. Die Jungs kamen aus Vierteln, in denen Drogen, Gewalt und Kriminalität zum Alltag gehörten. Die meisten von ihnen wuchsen bei nur einem Elternteil auf; sie wurden von Müttern, Tanten oder ihren Großmüttern aufgezogen, die über ein Einkommen verfügten, mit dem man in Dalton nicht einmal das Schulgeld hätte bezahlen können.

Die Raging Rooks waren Acht- und Neuntklässler, die auf die Junior High School 43 gingen, eine öffentliche Mittelschule in Harlem. Im Gegensatz zu ihren Gegnern der Dalton School konnten sie weder zehn Jahre Schachunterricht vorweisen noch die Teilnahme an mehreren Turnieren. Einige von ihnen hatten erst in der sechsten Klasse gelernt, Schach zu spielen. Der Mannschaftskapitän Kasaun Henry hatte im Alter von zwölf Jahren damit angefangen und im Park mit einem Drogendealer Partien gespielt.

Bei den nationalen Meisterschaften dürfen die Teams ihre höchste Punktzahl mitnehmen und die anderen Partien annullieren. Mannschaften mit so vielen Spielern wie Dalton können so bis zu sechs Spielstände unbewertet lassen. Die Raging Rooks hingegen hatten gerade genug Spieler, um überhaupt antreten zu können. Jede Partie würde zählen, es gab kein Sicherheitsnetz. Um überhaupt eine Chance zu haben, mussten sie also Spitzenleistung erbringen. Und in der Tat legten sie gut vor. Ihr schwächster Spieler brachte schon früh einen Gegner zu Fall, der im Ranking Hunderte von Punkten vor ihm stand. Der Rest des Teams wuchs über sich hinaus und setzte Gegner schachmatt, die weitaus erfahrener waren. Als es ins Halbfinale ging, nahmen die Rooks unter den 63 Teilnehmenden den dritten Platz ein. Und auch sie hatten, obwohl sie noch nicht so lange spielten, eine Geheimwaffe mitgebracht. Ihr Trainer war ein junger Schachmeister namens Maurice Ashley, ein etwa 25-jähriger jamaikanischer Einwanderer. Und Maurice war auf einer Mission: das Klischee Lügen zu strafen, dass PoC-Kids nicht intelligent seien. Er wusste aus Erfahrung, dass Talent zwar gleichmäßig verteilt ist, dass aber keine Chancengleichheit herrscht. Maurice konnte Potenzial erkennen, wo andere es übersehen hatten. Wie es der Rapper Tupac schrieb, wollte er die Rosen aus dem Beton sprießen lassen.

In der vorletzten Runde der Landesmeisterschaften musste Maurice jedoch mit ansehen, wie sein Team ins Straucheln geriet. Nachdem Kasaun erst in Führung gegangen war, patzte er und konnte gerade noch ein Remis erzielen. Ein anderer Spieler stand kurz vor dem Sieg, als sein Gegner seine Dame schlug und die Partie für sich entschied. Daraufhin brach er in Tränen aus und verließ fluchtartig den Saal. Ein weiteres Spiel hatte einen so holprigen Start, dass Maurice es sich nicht länger mit anschauen konnte und den Spielbereich verlassen musste. Am Ende der Runde waren die Raging Rooks vom dritten auf den fünften Platz abgerutscht.

Maurice erinnerte sein Team daran, dass sie nur ihre Entscheidungen kontrollieren konnten, nicht ihre Ergebnisse. Um den Rückstand aufzuholen, würden die Raging Rooks ihre vier Endspiele gewinnen und beten müssen, dass die Spitzenteams ihrerseits verlieren. Aber egal was nun passieren würde: Sie gehörten bereits zu den Besten des Landes. Sie brauchten das Turnier nicht zu gewinnen, um als Sieger der Herzen zu gelten, hatten sie doch bereits alle Erwartungen übertroffen.

Schach gilt als ein Spiel der Genies. Die besten jungen Spieler sind meist Wunderkinder mit dem nötigen Grips, sich Spielzüge zu merken, schnell Szenarien zu analysieren und mehrere Züge vorauszudenken. Wer also ein Schachteam mit großen Erfolgsaussichten aufbauen will, wird es wohl so machen wie die Dalton School: sich eine Reihe von kleinen Genies schnappen und sie im frühen Alter einer intensiven Ausbildung unterziehen.

Maurice tat jedoch das Gegenteil: Er fing an, ein paar Mittelschüler zu unterrichten, die zufällig interessiert waren und Zeit hatten; einer davon war sogar der Fiesling der Klasse. Die meisten von ihnen zählten nicht zu den besten Schülern, und sie wurden nicht aufgrund einer besonderen Schachbegabung ausgewählt. »In unserem Team gab es keine Stars«, erzählte Maurice.

In der letzten Runde des Turniers gelang es jedoch den Raging Rooks, sich zu behaupten. Zwei Spieler setzten ihre Kontrahenten schachmatt, und Kasaun schlug sich wacker gegen einen viel höher eingeschätzten Gegner. Selbst wenn er überraschend die Partie für sich entscheiden würde, wussten die Rooks, dass es wahrscheinlich nicht ausreichen würde, denn das erste Spiel in dieser Runde war unentschieden ausgegangen.

Einige Minuten später hörte Maurice am anderen Ende des Korridors lautes Rufen – »Mr Ashley, Mr Ashley!« Kasaun hatte das unmöglich Erscheinende vollbracht und nach einem langen Kampf im Endspiel Daltons Spitzenmann geschlagen. Zur Überraschung aller waren die führenden Teams ins Straucheln geraten und hatten den Raging Rooks den Weg zum Sieg geebnet. Die Spieler klatschten sich ab, umarmten sich und jubelten: »Gewonnen! Gewonnen!«

Zwei Jahre zuvor waren die armen Kids aus Harlem blutige Anfänger, nun waren sie Landesmeister. Dabei ist die größte Überraschung nicht die Tatsache an sich, dass die Außenseiter gewonnen haben, sondern weshalb sie gewonnen haben. Und die Fähigkeiten, die sie entwickelt hatten, würden ihnen irgendwann einmal mehr einbringen als den ersten Platz bei einem Schachturnier.

 

In jedem Menschen steckt ein verborgenes Potenzial. Dieses Buch bietet eine Anleitung, wie wir es freisetzen können. Es ist eine weitverbreitete Überzeugung, dass es einem in die Wiege gelegt wird, Großes schaffen zu können, und man die dafür erforderlichen Fähigkeiten nicht erwerben kann. So feiern wir Schüler mit natürlicher Begabung in der Schule, als Sportler geborene Athleten und mit Genie gesegnete Musiker. Man muss jedoch kein Wunderkind sein, um Spitzenleistungen zu erbringen. In diesem Buch möchte ich aufzeigen, wie wir alle Großartiges vollbringen können.

Als Organisationspsychologe habe ich einen Großteil meiner Forschungsarbeit damit verbracht zu untersuchen, was uns dazu bringt, uns weiterzuentwickeln. Was ich dabei herausgefunden habe, dürfte einige Ihrer grundlegenden Annahmen über das Potenzial in jedem von uns infrage stellen. In einer bahnbrechenden Studie versuchten Psychologen den Ursprung des außergewöhnlichen Talents[3] von Musik- und Kunstschaffenden sowie von wissenschaftlichen Genies und Sportgrößen zu ergründen. Dazu führten sie umfangreiche Interviews mit 120 Probanden, zum Beispiel mit Bildhauerinnen, die den Guggenheim-Preis verliehen bekommen haben, mit international gefeierten Konzertpianisten, preisgekrönten Mathematikerinnen, bahnbrechenden Neurowissenschaftlerinnen, Olympiaschwimmerinnen und höchst erfolgreichen Tennisspielern sowie mit ihren Eltern, Lehrern und Trainern. Das verblüffende Ergebnis war, dass nur eine Handvoll dieser Erfolgsmenschen auch wirklich Wunderkinder gewesen waren.

Unter den Bildhauerinnen wurde nicht eine einzige im Kunstunterricht der Grundschule als besonders talentiert in diesem Bereich identifiziert. Einige der Pianisten hatten vor ihrem neunten Geburtstag bereits große Wettbewerbe gewonnen, aber der Rest schien nur im Vergleich zu ihren Geschwistern oder Nachbarn begabt. Und obwohl die Mathematikerinnen und Neurowissenschaftlerinnen in der Regel gute Leistungen in der Grund- und Mittelschule aufwiesen, taten sie sich nicht unter anderen guten Schülern in ihrer Klasse hervor. Kaum eine der Schwimmerinnen stellte von Anfang an Rekorde auf, die meisten gewannen lokale Wettkämpfe, aber keine regionalen oder nationalen Meisterschaften. Und ein Großteil der Tennisspieler verlor die ersten Turniere und brauchte mehrere Jahre, um zu den besten der Region aufzusteigen. Wenn ihre Coaches sie hervorhoben, dann nicht wegen einer ungewöhnlichen Begabung, sondern wegen ihrer ungewöhnlichen Motivation. Und diese war nicht angeboren, sondern wurde in der Regel von einem Lehrer oder Trainer entfacht, der dafür sorgte, dass das Lernen Spaß machte. »Dinge, die jeder Mensch auf der Welt lernen kann, können fast alle Menschen lernen«, schlussfolgerte der leitende Psychologe der Studie, »vorausgesetzt man verfügt über die entsprechenden […] Lernbedingungen.«

Jüngste Erkenntnisse untermauern noch einmal die Tatsache, wie wichtig die Bedingungen für das Lernen sind. Um ein neues Konzept der Mathematik, der Naturwissenschaften oder einer Fremdsprache zu erlernen, sind in der Regel sieben oder acht Übungseinheiten erforderlich. Diese Anzahl der Wiederholungen ergab sich im Durchschnitt bei Tausenden Lernenden, von der Grundschule bis zum College. Natürlich gab es auch Schüler, die mit weniger Übung hervorragende Leistungen erbrachten. Aber es war nicht so, dass sie schneller lernten; sie verbesserten sich im selben Tempo wie ihre Altersgenossen.[4] Der Unterschied bestand darin, dass sie zur ersten Übungseinheit mehr Wissen mitbrachten. Einige Lernende fühlten sich dadurch gepusht, dass sie den entsprechenden Stoff bereits beherrschten. Anderen brachten die Eltern im Vorfeld schon etwas bei, oder sie hatten sich selbst vorbereitet und so einen Vorsprung. Was wie ein Unterschied bei der natürlichen Begabung aussieht, ist oft ein Unterschied hinsichtlich der Chancen und der Motivation.

Wenn wir unser Potenzial einschätzen, begehen wir den Kardinalfehler, uns auf Ausgangspunkte zu beschränken, also die Fähigkeiten, die unmittelbar sichtbar sind. In einer Welt, die sich darauf versteift hat, dass es so etwas wie ein Naturtalent gibt, halten wir diejenigen für besonders vielversprechend, die sofort herausstechen.[5] Aber es gibt große Unterschiede unter denen, die Spitzenleistungen erbringen, hinsichtlich ihrer anfänglichen Begabung. Wenn wir Menschen nur danach beurteilen, was sie an Tag eins können, bleibt ihr Potenzial im Verborgenen.

Anhand des Ausgangspunkts einer Person lässt sich nicht prognostizieren, was sie einmal leisten wird. Wenn man die entsprechenden Chancen und die Motivation zum Lernen hat, kann jeder Großes vollbringen. Es geht beim Potenzial nicht darum, wo man anfängt, sondern darum, wie weit man kommt. Wir müssen uns weniger auf die Ausgangspunkte und mehr auf den zurückgelegten Weg konzentrieren.

Abb. 1

 

Für jeden Mozart, der schon von Kindesbeinen an bekannt ist, gibt es viele Bachs – Spätzünder, die langsam aufsteigen. Sie kommen nicht mit geheimen Superkräften zur Welt; die meisten ihrer Gaben sind die Früchte harter Arbeit. Menschen, die Spitzenleistungen erbringen, sind meist nicht einfach nur von der Natur gesegnet, sondern hegen und pflegen das, was ihnen gegeben wurde.

Diesen Aspekt und seinen Einfluss außer Acht zu lassen verheißt nichts Gutes, denn so unterschätzen wir, wie viel Boden wir gutmachen können und welche Vielzahl an Talenten sich aneignen lässt. Die Folge ist, dass wir uns einschränken – ebenso die Menschen in unserem Umfeld. Wir machen es uns in unserer kleinen Komfortzone bequem und verpassen große Chancen. Wir übersehen, was in anderen steckt, und schlagen den Möglichkeiten die Tür vor der Nase zu. Wir bringen die Welt um Großes. Wenn wir über uns hinauswachsen, können wir unser Potenzial ausschöpfen und Höchstleistungen erbringen. Aber Fortschritt ist nicht nur ein Mittel, um Exzellenz um der Exzellenz willen zu erreichen. Besser zu werden ist an und für sich schon eine gute Leistung, und ich will zeigen, wie wir besser darin werden können, besser zu werden.

In diesem Buch geht es nicht um Ambitionen, sondern um die Aspiration. Wie es die Philosophin Agnes Callard ausdrückt: Ambition ist das Ergebnis, das du erreichen willst. Aspiration ist der Mensch, der du zu werden hoffst.[6] Es geht nicht darum, wie viel Geld du verdienst, wie viele wohlklingende Titel du verliehen bekommst oder welche Preise du anhäufst. Diese Statussymbole sind ein schlechter Ersatz für Fortschritt. Was zählt, ist nicht, wie hart man arbeitet, sondern in welchem Maß man sich entwickelt. Und Entwicklung erfordert weitaus mehr als das entsprechende Mindset – es beginnt mit einer Reihe von Eigenschaften, die wir normalerweise übersehen.

Die richtigen Voraussetzungen

Ende der 1980er-Jahre, also in jener Zeit, als die Raging Rooks in Harlem mit Schach begannen, wagte der Bundesstaat Tennessee ein kühnes Experiment. An 79 Schulen, von denen viele finanziell nicht gut dastanden, wurden über 11 000 Kinder – von der Vorschule bis in die dritte Klasse – nach dem Zufallsprinzip in verschiedene Klassen eingeteilt. Eigentlich ging es darum, herauszufinden, ob kleinere Klassen bessere Lernmöglichkeiten boten. Ein Wirtschaftswissenschaftler namens Raj Chetty fand jedoch heraus, dass, indem sowohl Schüler als auch Lehrer nach dem Zufallsprinzip einer Klasse zugewiesen worden waren, auch etwaige andere Einflüsse untersucht werden konnten.

Chetty ist weltweit einer der bedeutendsten Ökonomen und Fellow der renommierten Genieförderung MacArthur Foundation. Seine Forschungsarbeit legt nahe, dass hervorragende Leistungen weniger von unseren natürlichen Talenten abhängen, als wir vielleicht denken.

Das Experiment in Tennessee lieferte jedenfalls ein verblüffendes Ergebnis. Chetty konnte vorhersagen, wie erfolgreich die Kinder im Erwachsenenalter sein würden, nur indem er sich ihre Vorschulbetreuung anschaute. Im Alter von 25 hatten die Probanden, die von erfahrenen Pädagogen betreut worden waren, ein weitaus höheres Einkommen als die anderen in ihrer Untersuchungsgruppe.

Abb. 2

 

Chetty und sein Team schätzten, dass jeder Schüler später bei seinen ersten Jobs ein um 1000 Dollar höheres Jahreseinkommen vorweisen könnte, wenn man einen unerfahrenen Vorschullehrer durch einen erfahrenen ersetzen würde.[7] Bei einer Gruppe mit 20 Schülern könnte ein überdurchschnittlich guter Vorschullehrer ihnen ein zusätzliches Lebenseinkommen von 320 000 Dollar einbringen.[1]

Die Vorschulbildung ist aus vielerlei Gründen wichtig, aber ich hätte nie gedacht, dass die Lehrkräfte noch Jahrzehnte später eine so deutliche Auswirkung auf die Gehälter ihrer ehemaligen Schüler hätten. Die meisten Erwachsenen erinnern sich kaum noch an die Anfänge ihrer Schulzeit. Warum haben die Vorschullehrkräfte einen so langen Schatten geworfen? Die intuitive Antwort lautet, dass effektive Lehrkräfte den Kindern helfen, kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Bildung in jungen Jahren schafft die Grundlage, um Zahlen und Wörter zu verstehen. Und ja, Kinder mit erfahreneren Lehrkräften schnitten nach ihrer Vorschulzeit besser in Mathematik- und Lesetests ab. Doch im Laufe der folgenden Jahre holten ihre Altersgenossen auf. Um herauszufinden, was die Kinder aus der Vorschulzeit bis ins Erwachsenenalter prägte, schaute sich das Team um Chetty eine weitere mögliche Erklärung an. In der vierten und achten Klasse bewerteten die Lehrer ein paar andere Eigenschaften ihrer Schüler. Hier ein Beispiel:

 

Proaktiv: Wie oft hat der Schüler die Initiative ergriffen und Fragen gestellt, sich freiwillig gemeldet, in Büchern recherchiert und sich an die Lehrkraft gewandt, um außerhalb des Unterrichts zu lernen?

Prosozial: Wie gut kam das Kind mit Gleichaltrigen aus und arbeitete mit ihnen zusammen?

Diszipliniert: Wie erfolgreich hat das Kind aufgepasst – und dem Drang widerstanden, den Unterricht zu stören?

Entschlossen: Wie regelmäßig hat sich das Kind einer herausfordernden Aufgabe gestellt, mehr als vorgegeben gearbeitet und angesichts eines Hindernisses weitergemacht?

Abb. 3

 

Wenn die Kinder einen erfahreneren Lehrer in der Vorschule hatten, bewerteten auch die Lehrkräfte der vierten Klasse sie in all diesen Kategorien hoch. Ebenso die Lehrkräfte in der achten Klasse. Die Fähigkeiten, proaktiv, prosozial, diszipliniert und entschlossen zu sein, blieben den Kindern länger erhalten und erwiesen sich letztlich als wirksamer als erste Mathematik- und Lesekenntnisse. Als Chetty und sein Team das Einkommen von Erwachsenen anhand von Daten aus ihrem vierten Lebensjahr vorhersagten, waren die Bewertungen dieser Verhaltensweisen 2,4-mal so wichtig wie die Mathematik- und Leseleistungen in standardisierten Tests.

Finden Sie das nicht auch sehr überraschend? Wenn man eine Prognose für das Einkommenspotenzial von Viertklässlern aufstellt, sollte man also wirklich weniger auf die objektiven Mathematik- und Sprachfähigkeiten als auf die subjektive Einschätzung ihrer Verhaltensmuster durch Lehrkräfte schauen. Und obwohl viele Menschen diese Verhaltensweisen als angeboren betrachten, wurden sie anscheinend im Kindergarten vermittelt. Unabhängig von der Ausgangssituation dieser Kinder hatte es etwas mit der Aneignung dieser Verhaltensweisen zu tun, wie erfolgreich sie Jahrzehnte später sein würden.

Eine Frage des Charakters

Eigenschaften wie diszipliniert oder prosozial zu sein nannte Aristoteles Tugenden.[8] Den Charakter beschrieb er als aus einer Reihe von Grundsätzen bestehend, die sich die Menschen aneignen und durch bloße Willenskraft umsetzen. Früher war das auch meine Auffassung von Charakter. Ich dachte, es ginge darum, sich einem klaren Moralkodex zu verpflichten. Aber es ist mein Job, die Ideen, über die sich die Philosophen so gern die Köpfe zerbrechen, zu prüfen und weiterzuentwickeln. Und in den letzten zwei Jahrzehnten haben die Informationen, die ich gesammelt habe, mich dazu veranlasst, diese Ansicht zu überdenken. Ich sehe Charakter jetzt weniger als eine Frage des Willens, sondern vielmehr als eine Reihe von Fähigkeiten an.

Charakter bedeutet mehr, als nur Prinzipien zu haben. Es ist eine erlernte Fähigkeit, nach unseren Prinzipien zu leben. Charakterstärken bringen einen Menschen, der sonst immer nur alles aufschiebt, dazu, eine Frist für jemanden einzuhalten, der ihm wichtig ist. Sie lassen eine schüchterne Person den Mut finden, sich gegen eine Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen, und halten den Klassenfiesling davon ab, sich vor einem wichtigen Spiel mit seinen Mannschaftskameraden zu prügeln. Diese Fähigkeiten sind es, die gute Pädagogen im Kindergartenalter fördern – und die dann von guten Coaches ausgebaut werden.

Als Maurice Ashley seine Schachmannschaft für den nationalen Wettbewerb zusammenstellte, gehörte ein Schüler namens Francis Idehen nicht zu den besten der acht Spieler. Doch Maurice wählte ihn aufgrund seines Charakters trotzdem aus. »Es gab noch einen anderen, der ein großartiger Schachspieler war«, erläuterte Francis, »aber er hatte nicht die emotionale Selbstregulierung entwickelt, die Maurice für wichtig hielt.« Und als die Raging Rooks in der vorletzten Runde zurückfielen, zückte Maurice Ashley kein Buch mit geheimen Schachtricks, er verlor auch kein Sterbenswörtchen über Strategie. »Ich habe sie an die Disziplin erinnert«, betonte er – etwas, das sie seit zwei Jahren gemeinsam geübt hatten. Ihre Charakterstärken fielen auch dem legendären Schachtrainer Bruce Pandolfini auf, der mehrere seiner Schützlinge bis zu nationalen und Weltmeisterschaften gebracht hatte. Er traute seinen Augen kaum, als die Raging Rooks den Sieg einfuhren:

 

Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Die meisten Kids, die unter Druck stehen, hetzen sich ein bisschen oder zeigen ihre Gefühle, aber sie nicht. Sie ließen sich Zeit und wahrten beim Spielen ein absolutes Pokerface. Ich habe noch nie Kinder in diesem Alter gesehen, die so cool bleiben konnten. Sie waren wie Profis.

 

Die Springer auf dem Schachbrett waren trojanische Pferde, mit denen Maurice eine Ladung Charakterstärken eingeschmuggelt hatte. Und das war es, was den Raging Rooks letztendlich half, ihre Gegner zu besiegen. »Er hat uns immer Lebensweisheiten vermittelt, ohne dabei zu dick aufzutragen«, sagte Francis. »Es ging weniger um die Ausführung eines Schachplans als um Selbstverständnis und Selbstbeherrschung. Für mich war das ein absolutes Schlüsselerlebnis.«

Maurice hatte den Wert der Charakterstärken auch für sich selbst entdeckt. Als er noch klein war, bekam er mit, wie seine Mutter alles aufgab, um in die USA auszuwandern, während seine Großmutter in Jamaika zurückblieb, um ihn und seine Geschwister aufzuziehen. Als sie es ein Jahrzehnt später endlich nach New York schafften, wussten sie, dass man nicht abwarten sollte, dass das Glück an die Tür klopft. Dazu würden sie erst einmal eine eigene Tür bauen müssen.

Nachdem Maurice in der Bibliothek seiner Highschool zufällig auf ein Buch über Schach gestoßen war, beschloss er, der Schulmannschaft beizutreten. Schnell merkte er jedoch, dass er nicht gut genug war. Also gab er alles, um sich zu verbessern, und wurde irgendwann Kapitän seines Collegeteams. Als man ihm anbot, für 50 Dollar die Stunde Schach an Harlemer Schulen zu unterrichten, sagte er sofort zu.

Wenn Sie heute jemanden in der Schachwelt nach Maurice fragen, wird er Ihnen sagen, dass er ein genialer Stratege ist. Wenn Sie mitten im Spiel rochieren, anstatt Ihren Läufer zu bewegen, kann er Ihnen vorhersagen, wie viele Züge er noch brauchen wird, um Sie schachmatt zu setzen, und ob Sie dabei Ihre Dame verlieren werden. Er hat zehn Spiele simultan gespielt und hat sie alle gewonnen – mit verbundenen Augen. Und dieser Mann glaubt, dass Charakter mehr zählt als Talent.

Unbestreitbar lernen Kinder und Anfänger Schach schneller, wenn sie schlauer sind, aber der Faktor Intelligenz ist nahezu zu vernachlässigen, wenn man sich die Leistung von Erwachsenen und fortgeschrittenen Spielern anschaut.[9] Beim Schach – wie in der Vorschule – verflüchtigen sich die frühen Vorteile der kognitiven Fähigkeiten im Laufe der Zeit. Im Schnitt muss man über 20 000 Stunden gewissenhaft üben, um Schachmeister zu werden; für den Großmeister sind mehr als 30 000 Stunden erforderlich.[10] Um sich zu verbessern, braucht es Proaktivität, Disziplin und die Entschlossenheit, sich mit historischen Partien und neuen Strategien auseinanderzusetzen. Charakterstärken helfen Ihnen nicht nur, Höchstleistungen zu erbringen – sie befördern Sie in noch luftigere Höhen. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman in seinem Forschungsreview[11] schloss, Charakterstärken »sagen den Erfolg im Leben voraus und generieren ihn«. Aber sie entstehen nicht im Vakuum, unabdingbar sind die Möglichkeit und Motivation, sie zu fördern.

Rüstzeug

Wenn man von »Förderung« spricht, sind in der Regel die kontinuierlichen Investitionen gemeint, die Eltern und Lehrkräfte in die Entwicklung und Unterstützung von Kindern und Studenten stecken. Doch ihnen zu helfen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, erfordert etwas ganz anderes. Es bedarf einer konzentrierten, temporären Form der Unterstützung, die sie darauf vorbereitet, ihr eigenes Lernen und ihre Entwicklung zu lenken. In der Psychologie spricht man hier von Scaffolding.[12]

Im Bauwesen ist ein Gerüst, im Englischen »scaffold«, eine temporäre Konstruktion, die es den Arbeitern ermöglicht, eigentlich unerreichbare Höhen zu erklimmen. Sobald das Gebäude steht, wird das Gerüst wieder abgebaut. Von diesem Zeitpunkt an steht das Gebäude selbstständig. Und so ähnlich ist es auch beim Lernen. Eine Lehrkraft oder ein Trainer gibt erste Hilfestellung, dann wird die Unterstützung beendet. Der Grundgedanke besteht darin, die Verantwortung an Sie zu übergeben, damit Sie Ihren eigenen unabhängigen Lernansatz entwickeln können. Genau das hat Maurice Ashley den Raging Rooks ermöglicht. Er etablierte temporäre Strukturen, um ihnen die Möglichkeit und Motivation zum Lernen zu geben.

Als Maurice anfing, Schach zu unterrichten, beobachtete er bei anderen Lehrern, wie sie alle Figuren aufstellten, um die Standarderöffnungszüge zu lehren: Königsbauer zwei Felder nach vorne, gefolgt vom Springer zwei Felder nach vorne und ein Feld diagonal. Doch Maurice war klar, dass das Lernen von Regeln langweilig sein konnte, und er wollte nicht, dass die Kinder das Interesse verlieren. Als er also das erste Mal einer Gruppe von Sechstklässlern das Spiel vorstellen sollte, zäumte er das Pferd von hinten auf. Er stellte ein paar Figuren auf und begann mit dem Endspiel; er zeigte seinen Schülern verschiedene Möglichkeiten, ihre Gegner schachmatt zu setzen. Diese Struktur war ein Element seines Gerüsts.

Ein beliebtes Sprichwort lautet: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Doch dabei vergessen wir gern, dass manche, wenn sie den Weg nicht sehen, aufhören, von ihrem Ziel zu träumen. Und wir müssen ihnen helfen, ihrem Willen den Weg zu zeigen. Scaffolding kann genau das leisten. Indem Maurice das Spiel in umgekehrter Reihenfolge lehrte, weckte er bei seinen Schülern die Entschlossenheit. Sie sahen, wie man einen König in die Enge treiben konnte – und somit auch einen Weg zum Sieg. Sobald sie diesen Weg kannten, waren sie bereit zu lernen. »Man kann den Kids ja nicht sagen, jetzt lernen wir mal Geduld, Entschlossenheit und Standhaftigkeit, weil sie dann sofort einschlafen«, erläuterte Maurice und fügte lachend hinzu. »Stattdessen sagst du: ›Dieses Spiel macht Spaß. Los geht’s, ich werde dich schlagen.‹ Du stachelst sie ein bisschen an und appellierst an ihren Kampfgeist. Sie setzen sich hin, beginnen das Spiel zu lernen, sind angefixt, und wenn sie eine Partie verlieren, wollen sie gewinnen.« Schon bald lag Kasaun Henry, der später Mannschaftskapitän der Raging Rooks werden sollte, nachts wach, stellte sich die 64 Felder eines Schachbretts an seiner Zimmerdecke vor und spielte ganze Partien im Kopf durch.

Maurice nutzte das Scaffolding auch, damit die Spieler sich gegenseitig bei ihrer Weiterentwicklung unterstützten. Er brachte ihnen kreative Arten bei, einander Techniken zu vermitteln. Sie zeichneten Cartoons über Schachzüge, schrieben Science-Fiction-Geschichten über Schachpartien und nahmen Rap-Songs darüber auf, wie man das Zentrum des Schachbretts kontrolliert. Sie lernten, ein im Grunde einsames Spiel als prosoziale Teamarbeitsübung zu begreifen. Wenn ein Spieler bei den nationalen Meisterschaften weinte, dann nicht, weil er verloren hatte; er war am Boden zerstört, weil er seine Mannschaftskameraden in Bedrängnis gebracht hatte.

Als die Spieler zu einem Team zusammenwuchsen, nahmen sie nach und nach die Motivationsarbeit und die Möglichkeit, zu lernen, selbst in die Hand. Sie vereinbarten, jeden Zug auf Spielberichtsbögen festzuhalten, damit die ganze Gruppe aus begangenen Fehlern lernen konnte. Es ging ihnen nicht darum, der klügste Spieler im Raum zu sein, denn es war schließlich ihr Ziel, dass alle in diesem Raum klüger wurden.

Im Jahr zuvor hatten es die Raging Rooks bei ihrer ersten nationalen Meisterschaft geschafft, in die oberen zehn Prozent vorzustoßen, obwohl ihnen aus Geldgründen nur wenige Spieler zur Verfügung standen. Als Maurice das Ziel formulierte, im folgenden Jahr zu gewinnen, ergriffen die Spieler selbst die Initiative. Sie verfügten nun über die Fähigkeiten und die notwendige Willensstärke. Also veranstalteten sie ihr eigenes behelfsmäßiges Schachcamp, verbrachten den Sommer damit, zu üben und Bücher zu lesen. Sie überredeten Maurice, sie während des Sommers zu trainieren. Sie hatten das Steuer übernommen.

In einer idealen Welt wären die Schüler für eine solche Chance nicht auf einen einzigen Lehrer angewiesen. Das von Maurice geschaffene Gerüst war ein Ersatz für ein kaputtes System.[2] Eine Mutter erzählte ihm, dass ihr, als sie ihren Sohn beim Spielen sah, bewusst wurde, dass sie nicht an ihn geglaubt hatte. Maurice half nicht nur seinen Spielern, ihr Potenzial auszuschöpfen, er brachte auch ihre Eltern und Lehrer dazu, es zu erkennen.

 

Nur wenige von uns haben das Glück, einem Lehrer wie Maurice Ashley zu begegnen. Wir haben nicht immer Zugang zu den idealen Mentoren, und unsere Eltern und Lehrer sind nicht immer in der Lage, uns im erforderlichen Maß zu unterstützen. Mein Ziel ist es, Ihnen ein tragfähiges Gerüst zu bieten.

Dieses Buch setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil geht es um bestimmte Charakterstärken, die uns erlauben, Großes zu vollbringen. Sie werden von einem Profiboxer lesen, der sich die Grundlagen der Architektur aneignete, von einer Frau, die der Armut entkam, indem sie sich in einen menschlichen Schwamm verwandelte, und von ein paar anderen, die sich in der Schule mit gewissen Unterrichtsstoffen schwertaten und heute zur weltweiten Elite gehören.

Im zweiten Teil geht es darum, wie man Strukturen aufbauen kann, um motiviert zu blieben. Selbst jemand, der über sehr ausgeprägte Charakterstärken verfügt, ist nicht vor Burn-out, Zweifel oder Stagnation gefeit. Um wirklich gut zu verdienen, müssen Sie jedoch kein Workaholic sein; Sie müssen nicht bis zur Erschöpfung arbeiten. Wie man sich ein Stützgerüst baut, um die Dynamik am Laufen zu halten, werde ich Ihnen am Beispiel eines Musikers zeigen, der sich eine provisorische Stütze gesucht hat, um mit einer Behinderung umzugehen. Außerdem werde ich Ihnen schildern, wie ein Trainer dazu beitrug, aus einem unscheinbaren Sportler einen Starathleten zu machen, und ich werde Ihnen von einer Gruppe Offiziersanwärtern berichten, an die niemand glaubte, die aber schließlich alle Erwartungen übertrafen. Sie werden erfahren, warum zu jedem Training ein spielerisches Element gehört, wieso sich im Kreis zu drehen manchmal der beste Weg ist, um voranzukommen, und warum es nicht ratsam ist, sich ohne Unterstützung an seinem eigenen Schopf aus dem Schlamassel zu ziehen.

Im dritten Teil geht es darum, Systeme zu etablieren, um Chancen in größeren Dimensionen zu denken. Oftmals werden zu Unrecht gerade den Menschen Chancen verbaut, die mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatten; gerade ihnen sollte unsere Gesellschaft Unterstützung gewähren. Auf jeden Außenseiter, der den Durchbruch schafft, nachdem er unterschätzt oder übersehen wurde, kommen Tausende, die nie eine Chance erhalten. Sie werden hier erfahren, wie man Schulen, Teams und Institutionen so gestaltet, dass sie Menschen mit Potenzial wirklich fördern. Ein Blick auf ein kleines Land, das über eines der erfolgreichsten Bildungssysteme der Welt verfügt, wird Ihnen zeigen, wie wir jedem Kind helfen können weiterzukommen. Anhand einer der unwahrscheinlichsten Rettungsaktionen in der Menschheitsgeschichte wird deutlich werden, was nötig ist, damit Gruppen mehr sind als die Summe ihrer Teile. Und um herauszufinden, wie wir fehlerhafte Auswahlprozesse wieder korrigieren, vermittle ich Ihnen einen Blick hinter die Kulissen der NASA-Auswahlverfahren und der Zulassungsprüfungen von Eliteuniversitäten. Wenn wir Systeme verändern, die Menschen vorzeitig abschreiben, lassen sich Bedingungen für Außenseiter und Spätzünder verbessern.

Es ist mir ein Anliegen, verborgenes Potenzial freizusetzen, weil ich mangelnde Förderung selbst erlebt habe. Meine größten Leistungen habe ich in Bereichen vollbracht, in die ich mit einem erheblichen Mangel an Talent gestartet war. Dank hervorragender Lehrer bin ich als ehemals schlechtester Taucher meiner Schule schließlich einer der besten des Landes geworden, und ich versage nicht mehr bei kleinen Vorträgen, sondern bekomme Standing Ovations auf der TED-Bühne. Hätte ich mein Potenzial nach meinen frühen Misserfolgen beurteilt, hätte ich aufgegeben. Was ich auf diesem Weg gelernt habe, hat mir geholfen, mir mein eigenes Gerüst für künftige, in luftigen Höhen liegende Ziele zu bauen. Und daher möchte ich den Nebel darum lichten, wie wir über unsere vermeintlichen Grenzen hinausgehen können.

Als Sozialwissenschaftler habe ich zunächst die Daten studiert: randomisierte Experimente, Verlaufsstudien und Metaanalysen (Studien über Studien), die kumulierte Ergebnisse quantifizieren. Erst dann habe ich mich meinen persönlichen Einschätzungen zugewandt und Geschichten gesucht, um der Forschung Leben einzuhauchen. Ich habe Menschen getroffen, die von ihrem Ausgangspunkt aus weit gekommen sind und ihr verborgenes Potenzial entdeckt haben, und zwar in verschiedensten Settings: unter Wasser und unter der Erde, auf den höchsten Berggipfeln und im Weltraum. Ich wollte erfahren, wie sie so lange Wege zurückgelegt hatten, indem sie sich selbst oder andere verwandelten – und manchmal die Welt um sie herum.

Genau dies haben die Raging Rooks getan. Ihr Erfolg hat dazu beigetragen, dem Schach eine größere Popularität zu verschaffen. Seit ihrem Überraschungserfolg hat sich Schätzungen von Lehrern zufolge der Anteil von People of Colour bei nationalen Turnieren vervierfacht. Maurice spricht mittlerweile auf internationalen Bühnen über Schach als Charakterübung, und die Bewegung, die er mit angestoßen hat, bietet jetzt Schachprogramme in finanziell schlecht gestellten Schulen in ganz Amerika an. Eine gemeinnützige Schachorganisation hat in Eigenregie über eine halbe Million Kinder unterrichtet. Und es gibt keinen Grund zu glauben, dass diese Magie auf das Schachspiel beschränkt sein sollte.[13] Wenn zufälligerweise der Debattierclub Maurice’ Leidenschaft gewesen wäre, würde er wohl Schüler dazu anleiten, bei Diskussionen Gegenargumente vorherzusehen und an den besten Kontern zu feilen. Es geht nicht um die Aktivität an sich, sondern um die Lektionen, die du lernst. Oder wie Maurice es formuliert: »Die Leistung liegt im Wachsen.«

Maurice hat seinen Schülern Chancen eröffnet und sie motiviert, sodass die Raging Rooks ihre Charakterstärken über das Schachspiel hinaus anwenden konnten. Die Disziplin, die sie an den Tag legten, um nicht auf kurzfristige Lösungen auf dem Schachbrett hereinzufallen, half ihnen auch dabei, nicht in den Sog von Bandenkriminalität und Drogen zu geraten. Die Entschlossenheit und Proaktivität, die sie dafür aufbrachten, sich Muster einzuprägen und Züge vorauszusehen, kam ihnen auch beim Lernen für Prüfungen zugute. Die sozialen Fähigkeiten, die sie beim gemeinsamen Üben und durch gegenseitige Kritik erlernten, machten sie zu idealen Teamplayern und selbst zu Mentoren.

Den meisten Spielern ist es gelungen, ihren ehemals ärmlichen Verhältnissen zu entwachsen. Jonathan Nock kam aus einer miesen Gegend und wurde dort auf einem Basketballplatz überfallen. Heute ist er Softwareentwickler und hat ein Unternehmen für Cloud-Lösungen gegründet. Francis Idehen musste auf seinem Schulweg aufpassen, nicht in Messerstechereien oder Schusswechsel zu geraten. Mittlerweile hat er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der renommierten Universität Yale abgeschlossen, gefolgt vom Master of Business Administration (MBA) in Harvard, und er kann in seinem Lebenslauf die Stelle als Leiter der Finanzabteilung des größten US-Versorgungsunternehmens sowie den Posten als Chief Operating Officer (COO) eines Investmentunternehmens vorweisen. Kasaun Henry, der einst kein Dach über dem Kopf hatte und von einem Gangster angeworben wurde, hat heute drei Masterabschlüsse; er ist ein preisgekrönter Filmemacher und Komponist. »Schach hat meinen Charakter entwickelt«, sagt Kasaun, »Schach hat meine Konzentrationsfähigkeit und meinen Fokus verbessert […] Schach hat etwas in mir entfacht. Als hätte jemand einen Stern in mir zum Leuchten gebracht, der mein ganzes Leben lang weiterbrennen wird.«

Und nicht nur die individuellen Karrieren wurden durch das Schachspielen befördert, es motivierte die Raging Rooks auch dazu, anderen neue Möglichkeiten zu verschaffen. Charu Robinson lebte damals in unmittelbarer Nähe von vier Drogenhöhlen; mehrere seiner Freunde wurden ermordet, einige verbüßten Gefängnisstrafen. Nachdem er einen von Daltons besten Spielern bei den nationalen Meisterschaften 1991 geschlagen hatte, erhielt er ein Vollstipendium für die Dalton School. Charu studierte Kriminologie und wurde Lehrer. Er wollte weitergeben, was er gelernt hatte.

 

1994 bekniete der Direktor einer anderen Mittelschule in Harlem, die drei Blocks entfernt von der Junior High School 43 lag, Maurice, deren Dark Knights zu coachen. In den folgenden zwei Jahren gewannen ihre Jungen- und Mädchenteams zweimal hintereinander die nationalen Meisterschaften. Zu diesem Zeitpunkt war Maurice bereit für den nächsten Schritt auf seiner Mission, Geschichte zu schreiben. Er nahm eine Auszeit vom Coaching, um sein eigenes Spiel zu verbessern. Im Jahr 1999 wurde Maurice der erste afroamerikanische Schachgroßmeister. Gleichzeitig gewannen die Dark Knights mit einem neuen Trainer ihren dritten nationalen Titel. Ihr Assistenztrainer war Charu Robinson, der in Schulen in der ganzen Stadt unzählige Kinder im Schach unterrichtete. Die Raging Rooks waren nicht nur einzelne Rosen, die aus den Rissen im Beton wuchsen, sie bearbeiteten den Boden, damit viele weitere Rosen erblühen konnten. Wenn wir uns große Denker, Macher und Führungskräfte anschauen, konzentrieren wir uns oft nur auf deren Leistung. Das führt dazu, dass wir die Menschen bewundern, die am meisten erreicht haben; dabei übersehen wir jedoch diejenigen, die unter schlechten Voraussetzungen Großes geleistet haben. Das wahre Maß für ihr Potenzial ist nicht die Höhe des Gipfels, den sie erreicht haben, sondern wie weit sie auf dem Weg dorthin geklettert sind.

[1]In ihrer folgenden Studie mit über einer Million Kindern stellten Chetty und sein Team fest, dass erfahrenere Lehrkräfte einen größeren Mehrwert einbrachten, gemessen an der Verbesserung der Prüfungsergebnisse ihrer Schüler im Laufe der Jahre. Für Schüler, die zwischen der dritten und der achten Klasse effektive Lehrer hatten, war eine College-Laufbahn wahrscheinlicher; sie bezogen höhere Gehälter und sparten mehr für den Ruhestand. Wenn ein effektiver Lehrer die Schule verließ, litten seine Schüler im folgenden Jahr darunter: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie aufs College gehen würden, sank. Die Qualität der Lehrkräfte ist der Studie zufolge für den künftigen Erfolg von Frauen besonders wichtig – unter anderem, weil bei besserer Ausbildung die Wahrscheinlichkeit einer sehr frühen Schwangerschaft deutlich geringer ausfällt. Eine Lehrkraft, deren Schüler später vom Gehaltsniveau her zu den untersten fünf Prozent gehörten, durch einen durchschnittlichen Lehrer zu ersetzen würde im Schnitt das nicht abgezinste Lebenseinkommen einer Klasse um 1,4 Millionen Dollar erhöhen. Falls Sie je in die Verlegenheit kommen sollten, den Beweis dafür zu liefern, dass Lehrkräfte unterbezahlt sind, können Sie diese Zahlen heranziehen. (Siehe hierzu: Raj Chetty, John N. Friedman und Jonah E. Rockoff, »Measuring the Impacts of Teachers II: Teacher Value – Added and Student Outcomes in Adulthood«, American Economic Review 104, Nr. 9 (2014): S. 2633–2679.) [2]Es ist empirisch nachgewiesen worden, dass Charakterstärken für Menschen, die aus benachteiligten Verhältnissen kommen, von größerer Bedeutung sind. Oder wie Maurice es formulierte: »Strukturelle und kulturelle Unterdrückung steigern die Notwendigkeit, über Fähigkeiten zu verfügen, die durch Charakterbildung erlernt werden. Man muss stark sein, wenn man seit Generationen Druck aushalten muss.« (Siehe hierzu: Zainab Faatimah Haider und Sophie von Stumm, »Predicting Educational and Social-Emotional Outcomes in Emerging Adulthood from Intelligence, Personality und Socioeconomic Status« Journal of Personality and Social Psychology 123, Nr. 6 (2022): S. 1386–1406.)

Teil I

Charakterstärken

Besser werden beim Besserwerden

Ende des 19. Jahrhunderts stellte William James, der Gründervater der Psychologie in den USA, eine kühne Behauptung auf: »Im Alter von dreißig Jahren erstarrt der Charakter wie Gips und wird nie wieder weich.«[14] Kinder können demnach ihren Charakter also noch entwickeln, Erwachsene haben Pech gehabt.

Vor Kurzem hat ein Team von Sozialwissenschaftlern ein Experiment gestartet, um diese Hypothese zu überprüfen. Als Probanden wählten sie 1500 Unternehmensgründer in Westafrika – Frauen und Männer, altersmäßig in den Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern –, die kleine Start-ups in den Bereichen Produktion, Dienstleistung und Handel führten. Sie wiesen die Unternehmensgründer zufällig einer von drei Untersuchungsgruppen zu. Eine Gruppe fungierte als Kontrollgruppe, ihre Mitglieder gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach. Die beiden anderen erhielten ein besonderes Training: Sie erlernten eine Woche lang neue Konzepte, analysierten sie in Fallstudien anderer Unternehmer und wendeten sie mithilfe von Rollenspielen und Reflexionsübungen auf ihr eigenes Geschäft an. Der Unterschied bestand darin, ob sich die Fortbildung auf kognitive Fertigkeiten oder Charakterstärken konzentrierte.

Die Gruppe, deren kognitive Fähigkeiten im Vordergrund standen, erhielt eine von der Entwicklungsbank Internationale Finanz-Corporation (IFC) angebotene Businessfortbildung. Diese umfasste Schulungen zum Thema Finanzwesen, Buchhaltung, Personalwesen, Marketing und Preisgestaltung, und die Unternehmer wandten das Erlernte an, um Aufgaben zu lösen und günstige Geschäftslagen zu sondieren. Die Gruppe, bei der es um die Förderung des Charakters ging, nahm an einem von Psychologen konzipierten Kurs teil, der zum Ziel hatte, die Eigeninitiative zu steigern. Die Probanden beschäftigten sich mit den Themen Proaktivität, Disziplin und Entschlossenheit und übten, diese Eigenschaften in die Tat umzusetzen.

Das Charaktertraining zeigte Wirkung.[15] Nachdem die Unternehmensgründer nur fünf Tage mit dem Erwerb dieser Fähigkeiten verbrachten, stiegen die Gewinne ihrer Unternehmen um durchschnittlich 30 Prozent in den folgenden zwei Jahren – fast das Dreifache dessen, was die Gruppe der Probanden, deren kognitive Fähigkeiten gefördert wurden, als Gewinnsteigerung verbuchen konnte. Finanz- und Marketingwissen dürften die Gründer natürlich in die Lage versetzt haben, günstige Geschäftslagen zu nutzen; diejenigen hingegen, die sich mit den Themen Proaktivität und Disziplin befasst hatten, waren in der Lage, sich die Erfolgschancen zu erarbeiten. Sie hatten gelernt, Marktveränderungen zu antizipieren, anstatt auf sie zu reagieren. Sie hatten mehr kreative Ideen entwickelt und eine größere Anzahl neuer Produkte eingeführt. Bei finanziellen Engpässen gaben sie nicht auf, sondern zeigten sich resilient und einfallsreich beim Versuch, Kredite aufzunehmen.

Dies ist ein Beleg dafür, dass Charakterstärken uns Großes vollbringen lassen können. Die Studie zeigt aber auch, dass es nie zu spät ist, sie zu entwickeln. William James war ein sehr kluger Mann, aber in diesem Fall lag er total daneben. Der Charakter härtet nicht aus wie Gips, er bleibt formbar.

Charakter wird oft mit Persönlichkeit verwechselt, doch handelt es sich hierbei um unterschiedliche Facetten. Die Persönlichkeit ist Ihre Veranlagung, Ihr grundlegender Instinkt dafür, wie Sie denken, fühlen und handeln. Charakter hingegen ist Ihre Fähigkeit, Ihre Werte über Ihren Instinkt zu stellen.

Die eigenen Prinzipien zu kennen bedeutet nicht unbedingt, zu wissen, wie man nach ihnen lebt – besonders in Stresssituationen oder unter Druck. Es ist leicht, proaktiv und entschlossen zu sein, wenn alles gut läuft. Die wahre Charakterprüfung besteht vielmehr darin, ob es Ihnen gelingt, zu diesen Werten zu stehen, wenn Sie starkem Gegenwind ausgesetzt sind. Ihre Persönlichkeit zeigt sich an der Art, wie Sie an einem typischen Tag reagieren, Ihr Charakter daran, wie Sie es an einem schwierigen Tag tun.

Sie sind Ihrer Persönlichkeit jedoch nicht unterworfen, sie ist lediglich eine Neigung. Charakterstärken ermöglichen es Ihnen, diese Neigung zu überwinden und Ihren Prinzipien treu zu bleiben. Nicht die Wesenszüge sind es, die hier von Bedeutung sind, sondern wie man sie einsetzt. Wo auch immer Sie heute stehen, nichts hält Sie davon ab, Ihre Charakterstärken weiterzuentwickeln.

Abb. 4

 

Viel zu lange wurden Charakterstärken wie Proaktivität und Entschlossenheit als sogenannte Soft Skills abgetan.[16] Der Begriff kam Ende der 1960er-Jahre auf, als Psychologen zu einer Neuausrichtung der Ausbildung der US-Armee hinzugezogen wurden, damit nicht nur Panzerfahren und der Umgang mit Waffen auf dem Lehrplan standen. Man hatte erkannt, wie wichtig die menschlichen Eigenschaften waren, und legte mehr Wert auf Führungs- und Teamfähigkeiten, die es den Gruppen ermöglichten, mehr als die Summe ihrer Teile zu sein, sodass die Truppen sicher und gesund nach Hause zurückkehrten. Man suchte einen Begriff, um die beiden unterschiedlichen Arten von Fertigkeiten zu unterscheiden – und traf eine eher unglückliche Wahl. Mit Panzern und Waffen umgehen zu können fassten die Psychologen unter »hard skills«, harten Fähigkeiten, zusammen, denn die Waffen waren aus Stahl und Aluminium. Die weichen Fähigkeiten, die »soft skills«, waren die »wichtigen berufsbezogenen Fähigkeiten, die wenig oder kaum Interaktion mit Maschinen beinhalten«. Dabei handelte es sich um die sozialen, emotionalen und Verhaltensfähigkeiten, die Soldaten benötigen, um in jeder Rolle erfolgreich zu sein. Man nannte sie lediglich weich, weil sie nichts mit hartem Metall zu tun hatten. Dieser Definition folgend, ist auch Finanzwissen ein Soft Skill. Ein paar Jahre später empfahlen die Psychologen die Abschaffung des Begriffs: Eine Fähigkeit als weich zu bezeichnen klang schwach, und die Soldaten wollten stark sein. Sie erkannten nicht, dass gerade Charakterstärke ihre größte Kraftquelle sein könnte.

Wenn es unsere kognitiven Fähigkeiten sind, die uns von Tieren unterscheiden, dann sind es unsere Charaktereigenschaften, die uns über Maschinen stellen. Computer und Roboter können heute Autos bauen, Flugzeuge lenken, Kriege führen, Geld verwalten, Mandanten vor Gericht vertreten, Krebs diagnostizieren, und sie führen auch Herzoperationen durch. Mehr und mehr kognitive Fähigkeiten werden automatisiert, wir befinden uns mitten in einer Charakterrevolution. Der technologische Fortschritt stellt Interaktion und Beziehungen in den Vordergrund, denn diese Fähigkeiten sind es, die uns menschlich machen und daher beherrscht werden müssen.

Wenn wir Erfolg und Glück als unsere wichtigsten Lebensziele angeben, frage ich mich, warum der Charakter nicht ganz oben auf der Liste steht. Was wäre, wenn wir alle so viel Energie in die Förderung unsere Charakterstärken investieren würden, wie wir sie für unsere Karriere aufbringen? Stellen Sie sich vor, wie die USA aussehen würden, wenn die Unabhängigkeitserklärung jedem Bürger das Recht auf Leben, Freiheit und eben nicht, wie es im Originaltext heißt, das Streben nach Glück, sondern nach Charakterstärke einräumen würde.

Bei meiner Untersuchung der Charaktereigenschaften, die verborgenes Potenzial freisetzen können, habe ich bestimmte wichtige Formen von Proaktivität, Entschlossenheit und Disziplin identifiziert. Große Entfernungen zu überwinden erfordert den Mut, die richtige Dosis an Unangenehmem auszuhalten, sowie die Fähigkeit, die richtigen Informationen aufzunehmen, und den Willen, die richtigen Unvollkommenheiten zu akzeptieren.

1 Raus aus der Komfortzone

Wie wir uns mit den unangenehmen Seiten des Lernens anfreunden

Der Charakter kann sich nicht in einem Zustand der Ruhe und Gelassenheit entwickeln. Nur wenn man Prüfungen und Leid erfährt, kann die Seele gestärkt, der Weitblick geschärft, Ehrgeiz geweckt und Erfolg erzielt werden.

Helen Keller, Schriftstellerin[17]

 

Als Sara Maria Hasbun[18] ihre Superkraft entdeckte, war sie zunächst ganz allein damit. Dann stolperte sie über eine ganze Community von anderen, denen es ähnlich ging. Im Jahr 2018 machte sie sich auf eine Reise um die Welt, um sie zu treffen. Oberflächlich betrachtet hatten diese Menschen wenig gemeinsam. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Ländern und hatten unterschiedliche Berufe. Es war eine gemeinsame Mission, die genauso ungewöhnlich war wie ihre Begabung, die sie zusammengeführt hatte.

Als Sara Maria sich in ihrer neuen Gemeinschaft zurechtfand, nahm sie sich vor, sich den Leuten als Unternehmerin aus Kalifornien vorzustellen, und zwar in der jeweiligen Sprache. In Bratislava grüßte sie also auf Slowakisch: Ahoj, volám sa Sara Maria! In Fukuoka wandte sie sich auf Japanisch an ihr Gegenüber: Konnichiwa! Watashi no namae wa Sara Maria desu! Und als sie während der Pandemie in China gestrandet war, leistete sie Freiwilligenarbeit bei der Gehörlosengemeinschaft in Peking und begrüßte die Menschen in chinesischer Gebärdensprache.

Das klingt jetzt vielleicht nur nach einem Gag, aber Sara Maria beherrschte mehr als nur die einfachen Begrüßungsformeln. Auf einer Reise traf sie sich mit einem irischen Ingenieur namens Benny Lewis.[19] Innerhalb einer Stunde wechselten sie in ihrer Unterhaltung zwischen Mandarin, Spanisch, Französisch, Englisch und der nordamerikanischen Gebärdensprache hin und her.

Sara Maria und Benny sind polyglott, sie können in vielen Sprachen sprechen und denken. Sara Maria beherrscht fünf Sprachen fließend und kann sich in vier weiteren Sprachen verständigen. Benny Lewis beherrscht sechs Sprachen und hat ebenfalls Kenntnisse in vier anderen. Wenn sie beim jährlichen Treffen der Polyglotten zusammenkommen und über die fünf Sprachen, die sie gemeinsam haben, hinausgehen wollen, müssen sie nicht lange suchen. Sara Maria findet normalerweise immer jemanden, der mit ihr auf Koreanisch und Indonesisch plaudert und ihr hilft, an ihrem rudimentären Kantonesisch, Malaiisch oder Thailändisch zu feilen (weniger Glück hat sie, wenn sie jemanden sucht, um ihre Kenntnisse der nicaraguanischen Gebärdensprache aufzufrischen). Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Benny einen Freund findet, der mit ihm auf Deutsch, Irisch, Esperanto, Niederländisch, Italienisch, Portugiesisch oder, ja, in der »Star Trek«-Sprache Klingonisch quatschen kann.

Das Beeindruckende an diesen Polyglotten ist nicht nur ihr großes Wissen, sondern ihre Lerngeschwindigkeit. In weniger als zehn Jahren lernte Sara Maria sechs Sprachen von Grund auf. In der Zwischenzeit lebte Benny nur ein paar Monate in Tschechien und sprach schon passabel die Landessprache; er verbrachte drei Monate in Ungarn und konnte sich dort mit den Menschen unterhalten. Er brauchte drei weitere Monate, um ägyptisches Arabisch zu lernen (während er in Brasilien lebte), sowie fünf Monate in China, um auf einem mittleren Niveau zu kommunizieren und ein einstündiges Gespräch ausschließlich auf Mandarin zu führen.

Ich habe immer gedacht, dass dieses Talent eine Laune der Natur sei, dass die Polyglotten mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit zur Welt kommen, die sich dann offenbart, wenn sie die Gelegenheit haben, eine neue Sprache zu lernen. Einer meiner Zimmergenossen am College sprach sechs Sprachen und nutzte seine linguistischen Fähigkeiten oft, um neue Redewendungen zu erfinden. Mein persönlicher Favorit, der beschrieb, wenn jemand seinen Ballast bei dir ablud, lautete: »Hör auf, mich zu koffern.« Ich war immer erstaunt, wie schnell er sich neue Sprachen aneignete und wie problemlos er zwischen ihnen hin- und herspringen konnte.

Als ich Sara Maria und Benny kennenlernte, dachte ich zunächst, dass sie genauso ticken – und lag damit total daneben.

Als Kind dachte Benny, dass er nicht einmal eine zweite Sprache beherrschen würde. In der Schule hatte er elf Jahre Irisch- und fünf Jahre Deutschunterricht, konnte aber in keiner der beiden Sprachen eine Unterhaltung führen. Nach dem College zog er nach Spanien, doch nach einem halben Jahr konnte er immer noch kein Spanisch sprechen. Mit 21 Jahren beherrschte er lediglich Englisch und war drauf und dran, aufzugeben: »Ich habe mir immer wieder gesagt, dass mir wohl das Sprachgen fehlt.«

Auch Sara Maria hatte einen holprigen Start. Obwohl sie sechs Jahre lang Spanisch lernte, beherrschte sie danach nur ihre Muttersprache. Sie war sich sicher, dass sie das Zeitfenster für den Spracherwerb verpasst hatte. Ihr Vater stammte zwar aus El Salvador, doch als Kind kam sie nicht häufig mit dem Spanischen in Berührung, denn er sprach ausgezeichnet Englisch.

 

Das war die Sprache, die wir zu Hause verwendeten. Als ich an der Highschool Spanisch lernte, war ich wirklich erstaunt, wie schwer es mir fiel […] Es ist angeblich eine der für Englischmuttersprachler am einfachsten zu lernenden Sprachen […], aber ich hatte wirklich damit zu kämpfen. Sogar meine Lehrer an der Highschool konnten kaum glauben, dass ich nicht in der Lage war, es zu lernen. […] Ständig sprach mich jemand auf Spanisch an, und es fühlte sich furchtbar an, nicht antworten zu können. […] Warum konnte ich diese Sprache nicht lernen, wenn so viele Menschen um mich herum so mühelos andere Sprachen zu lernen schienen?

 

Nachdem Sara Maria jahrelang ihren Vater um Hilfe bei den Hausaufgaben gebeten hatte, versuchte er ihr schonend beizubringen, dass sie wohl niemals Spanisch würde sprechen können; aber in den USA würde sie es ohnehin nicht brauchen. Sie könne das also ruhig aufgeben und ihre Zeit auf etwas verwenden, das eher ihren Fähigkeiten entsprach.

Viele Menschen würden gern eine neue Sprache lernen, glauben aber, dass es eine zu lange Reise bis zum Ziel ist. Einige, wie Benny, kommen zu dem Schluss, dass ihnen einfach die natürlichen Voraussetzungen dazu fehlen. Andere, wie Sara Maria, glauben, dass sie ihre Chance verpasst haben – wenn sie als Kleinkinder mit dem Lernen begonnen hätten, hätten sie die Sprache vielleicht erlernt. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass der Rückgang der Geschwindigkeit des Spracherwerbs[20] um das 18. Lebensjahr herum nicht biologisch bedingt ist, sondern auf einem Defekt in unserem Bildungssystem beruht.