Thomas Luckmann - Bernt Schnettler - E-Book

Thomas Luckmann E-Book

Bernt Schnettler

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Beschreibung

Thomas Luckmann – Ein »Klassiker der dritten Generation«. Thomas Luckmann gilt als kardinaler Bezugsautor für das Wiedererstarken der verstehenden, interpretativen Soziologie in den letzten Jahrzehnten. Die gemeinsam mit Peter L. Berger verfasste »Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« rangiert zusammen mit Werken Max Webers und Emile Durkheims unter den zehn bedeutsamsten soziologischen Büchern überhaupt. Luckmanns Werk hat eine Wirkung entfaltet, die jedoch weit über die Soziologie hinausreicht. Es umfasst Beiträge zur Methodologie und Lebensweltanalyse, zu Handeln und Wissen, zu Religion, zu Sprache und Kommunikation, sowie zu Identität und Moral. Der einleitende Band von Bernt Schnettler gibt einen Überblick über das Werk von Thomas Luckmann, das in seinem biografischen und geschichtlichen Kontext dargestellt wird. Hervorgehoben wird die für Luckmann insgesamt prägende, höchst produktive Verknüpfung zentraleuropäischer mit amerikanischen Denktraditionen. Dabei wird deutlich, dass Luckmann nicht nur ein lebendes Beispiel für die Nachkriegsentwicklung der Soziologie insgesamt darstellt, sondern auch für die gelungene Grenzwanderung zwischen unterschiedlichen Kulturräumen und Wissenschaftstraditionen. Weitere Infos zur Reihe: www.uvk.de/kw

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Klassiker der WissenssoziologieHerausgegeben von Bernt Schnettler

Die Bände dieser Reihe wollen in das Werk von Wissenschaftlern einführen, die für die Wissenssoziologie – in einem breit verstandenen Sinne – von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Autoren, zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt oder in denen die wissenssoziologische Bedeutung ihres Werkes keine angemessene Würdigung erfahren hat. Sie stellen keinesfalls einen Ersatz für die Lektüre der Originaltexte dar. Sie dienen aber dazu, die Rezeption und das Verständnis des Œuvres dieser Autoren zu erleichtern, indem sie dieses durch die notwendigen biografie- und werkgeschichtlichen Rahmungen kontextualisieren. Die Bücher der Reihe richten sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich zum ersten Mal mit dem Studium dieser Werke befassen will.

»Thomas Luckmann« von Bernt Schnettler

»Marcel Mauss« von Stephan Moebius

»Alfred Schütz« von Martin Endreß

»Anselm Strauss« von Jörg Strübing

»Robert E. Park« von Gabriela Christmann

»Erving Goffman« von Jürgen Raab

»Michel Foucault« von Reiner Keller

»Karl Mannheim« von Amalia Barboza

»Harold Garfinkel« von Dirk vom Lehn

»Émile Durkheim« von Daniel Šuber

»Claude Lévi-Strauss« von Michael Kauppert

»Arnold Gehlen« von Heike Delitz

»Maurice Halbwachs« von Dietmar J. Wetzel

»Peter L. Berger« von Michaela Pfadenhauer

Weitere Informationen zur Reihe unter www.uvk.de/kw

Meinem Lehrer und Freund Hubert Knoblauch

Inhalt

Einleitung

Thomas Luckmann: Grenzgänger zwischen Europa und Amerika

Einflüsse, Lehrer und Weggenossen

Die phänomenologisch-anthropologischen Grundlagen der Sozialtheorie

Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion

Handeln und Wissen

Neoklassische Religionssoziologie

Sprache und Kommunikation

Wirkung

Literatur

Zeittafel

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Dieses Buch führt in das soziologische Werk Thomas Luckmanns ein. Damit soll das Schaffen eines – glücklicherweise noch lebenden – ›Klassikers der Soziologie‹ (2005a) für einen breiteren Leserkreis aufgeschlossen werden. Dies ist verbunden mit der Absicht, das Œuvre eines Soziologen vorzustellen, dessen Schriften zu den wohl am häufigsten zitierten Grundlagen der jüngeren verstehenden Soziologie zählen.1 Thomas Luckmanns Arbeiten haben eine Wirkung entfaltet, die weit über den engen Kreis der Soziologie hinausgeht. Das gemeinsam mit Peter L. Berger verfasste Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (engl. 1966b, dt. 1969) wurde zum Ausgangspunkt einer paradigmatischen Wende in der Soziologie, die mit der Dominanz des strukturfunktionalistischen Denkens brach. Zugleich manifestierte sich hier die – für Thomas Luckmann insgesamt prägende – produktive Verknüpfung zentraleuropäischer Denktraditionen mit amerikanischen Strömungen.

Angesichts der enormen Bedeutung Luckmanns für die gegenwärtigen Sozialwissenschaften wird eine große Diskrepanz offenkundig: Zwar sind alle Hauptwerke Luckmanns glücklicherweise noch verfügbar und sind zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Mit einer unlängst herausgegebenen Aufsatzsammlung (2002) wurde ein weiterer Schritt unternommen, die wichtigsten der teils recht verstreut publizierten späteren Arbeiten Luckmanns vereint verfügbar zu machen.2 Eine in das Werk einleitende Übersicht, die Interessierten den Zugang erleichtert, fehlte allerdings bislang. Darauf zielt dieses Buch. In ihm wird das Schaffen des Autors biografisch und sozialgeschichtlich kontextuiert, was es erlaubt, die Beiträge zur soziologischen Theorie und Forschung vor dem Hintergrund des bewegten Lebenswegs Luckmanns zu rekonstruieren. Dabei wird offenkundig, dass dieser Autor nicht nur ein höchst vitales Beispiel für die Nachkriegsentwicklung der Soziologie insgesamt darstellt. Die Beschäftigung mit Luckmann ist vor allem deswegen besonders lohnend, weil er als ein exemplarischer Autor für eine neue Art der Soziologie angesehen werden kann, welche die engen (Denk-)Räume nationalkultureller Traditionen überwindet. Das äußert sich, wie ich im Folgenden detailliert zeige, in seiner gelungenen – und explizit intendierten – Grenzwanderung zwischen unterschiedlichen Kulturräumen und Wissenschaftstraditionen. Angesichts seiner Lebensgeschichte zwischen den Kontinenten, seiner dezidiert mehrsprachigen Publikations- und Lehrpraxis, vor allem jedoch aufgrund der internationalen Wirkung seines Œuvres erscheint es deshalb als keineswegs übertrieben, von Luckmann als dem ersten wirklich transkulturellen Sozialtheoretiker zu sprechen.

An seinem Werk lässt sich dann auch, in besonders ertragreicher Weise, die Verschränkung von so unterschiedlichen Traditionslinien wie das phänomenologische Denken von Edmund Husserl und Alfred Schütz, die Wissenssoziologie von Karl Marx, die philosophische Anthropologie von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner mit den theoretischen Ansätzen des Pragmatismus im Gefolge von William James und John Dewey, dem symbolischen Interaktionismus und die Auseinandersetzung mit den später entstehenden ethnomethodologischen Ansätzen studieren. Gerade aus diesem Grund erweist sich Luckmann geradezu als ein ›Klassiker‹ der Soziologie par excellence, der es dem Studierenden erlaubt, sich von Luckmann aus eine Reihe von Zugängen zum Feld der Soziologie zu erschließen – einer Disziplin, die in ihren Theorien und Forschungsbeiträgen nicht nur inzwischen ein höchst ausdifferenziertes Wissensgebiet darstellt, sondern auch über ein gerüttelt Maß an miteinander konkurrierenden und teilweise sehr widersprüchlichen Ansätzen verfügt. Dabei geht es aber nicht darum, einen ›neutralen‹ Blick, gewissermaßen vom bequemen Standort eines gedachten ›exterritorialen‹ Beobachters aus zu gewinnen. Andere Theorieansätze mögen mit solchen Gedankenexperimenten kokettieren. Luckmann, der immer betont, – privat wie in seiner Arbeit als Soziologe – mit beiden Füßen auf festem Boden geblieben zu sein, verleitet nicht zum Eklektizismus oder zum wahllosen Aneinanderfügen inkompatibler Theorieansätze. Sich mit Luckmanns Hilfe auf das Terrain der Soziologie zu begeben, beinhaltet vielmehr den unschätzbaren Vorteil, nicht nur eine Art von Soziologie im Gepäck zu führen, die es für bedeutsam hält, dass es in dieser Wissenschaft auf den Menschen ankommt (genauer gesagt, auch ankommt und immer von ihm auszugehen ist – wobei zugleich einer verkürzenden Lesart des Luckmannschen Ansatzes im Sinne einer auf die Subjektivität reduzierte Theorieanlage heftig zu widersprechen ist.) Es hat ebenso den Vorzug, den Pfad in diesem oft unüberschaubaren und heimtückischen Gelände gewiesen zu bekommen. Dieser Weg ist aber alles andere als der voll ausgebaute komfortable achtspurige Highway, auf dem so manche PS-starke Sattelschlepper der so genannten ›Großtheorie‹ unterwegs zu sein glauben. Er ähnelt wohl eher dem steinigen Pfad, der mit den Mühen exakten und kritischen Nachdenkens – und vor allem: harter empirischer Forschung – gepflastert ist. Gleichwohl führt dieser Weg, wenn auch zähe Arbeit und einigen Wagemut vorausgesetzt, durchaus auf die ›Kammlagen‹ soziologischer Theoriebildung herauf.

Im Folgenden wird vor allem die Entstehung des Luckmannschen Werkes betrachtet. Dies dient dazu, einen ersten Überblick zu gewinnen. Eine tiefer gehende Exegese ist nicht das Ziel. Hier soll es um eine ›Geschichte‹ gehen, deren Aufgabe darin besteht, die Ansätze Luckmann für die gegenwärtige und zukünftige Soziologie voranzutreiben – sei es in Hinblick auf die weitere Entfaltung der Gesellschaftstheorie, ihrer phänomenologischen und anthropologischen Begründung oder die Arbeit in den materialen Gegenstandsbereichen wie Identität, Moral, Kommunikation, Religion, etc. – und die vorliegenden Ansätze aus dem Luckmannschen Werk aufzunehmen. Luckmann setzt sich einer Historisierung des Fachs und seiner Philologisierung ebenso strikt entgegen wie der Bildung einer (möglich gewesenen aber nie vorhanden) ›Luckmann-Schule‹ und hat sich durch seine wahrlich militante Bescheidenheit in der Selbstdarstellung vor jeder Gefahr der Idolatrisierung und des Personenkultes bewahrt. Ihm ist wohl lediglich in der Weise zu ›folgen‹, dass wir in dem Berufe, den wir uns als Soziologinnen und Soziologen auszuüben bemühen, den ›gesunden Menschenverstand‹ nicht gering schätzen, uns um klare Formulierung bemühen – und im Übrigen versuchen, dem Zeitgeist nicht zu erliegen.

Damit sind schon die wesentlichen Gründe für dieses Buch benannt – und ebenso die Ausrichtung der Reihe angesprochen, die dieser Band eröffnet. Der Anlass dafür, sie mit Thomas Luckmann zu beginnen, liegt nicht nur darin, dass er mein Lehrer in Konstanz war. Allerdings ist das der Ursprungsgrund, denn wäre ich ihm nicht begegnet, wäre ich heute nicht Soziologe.

Nach ein, zwei Semestern Soziologie Anfang der 90er-Jahre sah ich mich einer zunehmenden Wirrnis gegenüber. Der sich bei mir langsam verdichtende Eindruck, in einer überaus komplizierten, ebenso ungeordneten wie verwickelten Wissenschaft gelandet zu sein, ließ mich heftig an meiner Studienwahl zweifeln. Heute weiß ich, dass das wenig verwunderlich ist und zum üblichen verborgenen Initiationsritus unserer Disziplin gehört. Das war mir damals aber nicht klar. Vermutlich hätte ich den Entschluss gefasst, die Soziologie aufzugeben – wäre ich nicht auf Luckmann gestoßen (Ob es für diese Wissenschaft nicht besser gewesen wäre, ich hätte mich, sagen wir, der Erforschung der Grenzflächeneigenschaften von semipermeablen Membranen oder der Restitutionsvermögensverordnung zugewandt, können nur andere beurteilen.)

Dass ich bei Luckmann landete, war Zufall. Mehr noch: Ich ging in sein Seminar – all meiner Vorurteile zum Trotz. Denn Luckmann setzte sich damals zu Zeiten des Jugoslawienkrieges politisch für seine Heimat Slowenien ein. Dass er dies auch auf einer vom Bund der Reservisten veranstalteten Podiumsveranstaltung tat, machte ihn, der zudem unter den Studenten durchaus als ›konservativ‹ galt, mir als überzeugten Antimilitaristen, der geradewegs aus der Weltanschauungsgemeinschaft der bekennenden gewaltfrei Friedliebenden an die Universität strebte, nicht gerade anziehender. Wie sehr ich mich getäuscht hatte, und wie kurz ich davor gestanden haben mag, Opfer der eigenen Vorurteile zu werden, wurde mir erst vor Augen geführt, als ich zum ersten Mal eines seiner Seminare zur Handlungstheorie besuchte. Mich beeindruckte nicht nur seine überaus klare und verständliche Rede, sein Bemühen um Präzision im Denken sowie im Ausdruck der Gedanken, sondern vor allem seine große Befähigung, dies alles an die konkrete Alltagserfahrung zurück zu binden. Später erst sollte mir klar werden, dass dies kein simpler didaktischer Kniff war, um Studierende länger wach zu halten, sondern mit dem Primat der Strukturen des Alltagsdenkens zu tun hatte, die in seiner Theorie eine solch zentrale Rolle einnehmen. Es war diese Klarheit, sein Verzicht auf eine prätentiöse Sprache und die nur scheinbare Schlichtheit der Gegebenheiten, die behandelt wurden, welche sich vom unverdaulichen Geschwätz und der Wirrnis, die ich in so manch anderen Seminaren über mich ergehen lassen musste, so deutlich abhoben und mich faszinierten – und seitdem nicht mehr losgelassen haben. Wenn es gelingen sollte, auf diesem Wege eine ebensolche, wenngleich über die Lektüre vermittelte, richtungweisende orientierende Erfahrung bei auch nur einem Bruchteil der Leser auszulösen, dann ist schon das wesentliche Ziel dieses Buches erfüllt.

Dass die folgende Darstellung subjektive Züge aufweist, ist also nicht etwa ein Unfall. Die persönlichen Züge sind vielmehr Ausdruck des Programms: einer Soziologie, die auf das Subjekt bekanntlich nicht verzichten mag und dem Subjektiven einen Stellenwert einräumt, der in anderen Theorien keinen Platz hat. Ebenso bringt das gewählte Genre gewisse Personalisierungsnotwendigkeiten mit sich. Ein einführendes und auf geschichtliche und biografische Kontextuierung angelegtes Porträt kommt ohne die Person nicht aus.3

Aber doch ist mir wichtig hervorzuheben, dass dies nicht die tragenden Begründungen sind. Die wirklich ausschlaggebende ist: Luckmann zählt zweifellos zu den bedeutsamsten noch lebenden soziologischen Denkern der Gegenwart, der die Wissenssoziologie zu einer Allgemeinen Sozial- und Gesellschaftstheorie umgeformt hat. Das ist der Hauptgrund für dieses Buch. Eine weitere Absicht, die ich damit verbinde, soll jedoch nicht verschwiegen werden. Anstoß zu dieser Reihe insgesamt gab des Weiteren die Absicht, einen kleinen Beitrag zur Soziologiegeschichte zu leisten – einer Teildisziplin unseres Faches, die sich leider noch immer in einem recht bedauerlichen Zustand befindet. Die einzelnen Probleme soziologiegeschichtlicher Forschung können hier nicht vertieft werden. Mikl-Horke (2001: 2) betont aber völlig zurecht, dass sich Soziologiegeschichte weder als ahistorische Rekonstruktion des theoretischen oder empirischen Fortschritts des Faches, noch als voneinander unabhängig fortschreitende Ideen-, Theorie- bzw. Methodengeschichte betreiben lässt. Vielmehr ist eine Perspektive anzulegen, die man als Sozial- bzw. Kulturgeschichte des Faches bezeichnen kann. Denn auch »soziologische Theorien entstehen aus der Zeit heraus« und gerade die Soziologie als reflexive Wissenschaft sollte sich Auskunft über die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen geben, die zu der Formulierung ihrer Wissensbestände beigetragen haben. Wie Endreß (2001: 64) folgerichtig formuliert, hat die Soziologie von der ›grundlegenden Historizität ihrer Gegenstände‹ auszugehen. Aufgrund ihres konstitutiven Bezogenseins auf Vergangenes ist sie strukturell auf Selbstthematisierung angelegt. In diesem Sinne orientiere ich mich an seiner Forderung nach einer Soziologisierung der Soziologiegeschichtsschreibung, die ich ebenso wie er, als eine Form »angewandter Wissenssoziologie« begreife, die darauf zielt, der Bedingungen der Konstruktion bestimmter Wissensbestände in unserem Fach zu rekonstruieren. (ebd.: 83)4

In Anlehnung an den Vorschlag von Lothar Peter zu einer systematischen Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung (vgl. Peter 2001) sollen im Folgenden soziale, kognitive und wirkungsgeschichtliche Dimensionen untersucht werden. Geleistet wird dies schwerpunktmäßig im ersten Kapitel, wobei ich eine Akzentuierung der biografischen Dimension vornehme. Denn die biografische Methode ist mittlerweile in der Soziologie eine anerkannte sozialwissenschaftlicher Methode. Die qualitative Forschung hat inzwischen große Kompetenz in der Analyse biografischer Interviews erworben, die eine Anwendung dieses Fachwissens nahe legen. Kohli (1981) betont vor diesem Hintergrund den Gewinn, den eine Auseinandersetzung mit den (auto-)biografischen Texten führender Fachvertreter für die Aufarbeitung der Geschichte des Fachs mit sich bringt. Einem geläufigen Vorurteil zufolge hat es für die Selbstdeutung der modernen Wissenschaften zentral um die ›Sache‹ und nicht um die ›Person‹ zu gehen. Die Auffassung, daraus erwachse streng genommen eine Schweigepflicht, wenn es um Persönliches gehe, entlarvt allerdings Kohli als ein dem positivistischen Denken entspringendes rationalistisches Vorurteil (1981: 428). Wenn man demgegenüber »Wissenschaft als Produkt handelnder Subjekte« versteht (ebd.: 441), erweist sich eine Auseinandersetzung mit deren Lebensweg nicht nur als sinnvoll, sondern lassen sie wegen der Notwendigkeit einer inmanenten Rekonstruktion und der Analyse der Genesebedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisse sogar geboten erscheinen.

Zum vorliegenden Band

Der biografischen Kontextuierung (Kapitel I) schließt sich eine Skizze der drei bedeutendsten wissenschaftlichen Kollegen Luckmanns an (Kapitel II). Entsprechend der oben ausgeführten Akzentuierung nehmen diese beiden Abschnitte den Hauptumfang des Bandes ein. Darauf folgend werden die einzelnen Gebiete des wissenschaftlichen Werkes einleitend dargestellt: der Konstitutionslogik gemäß beginnend mit der an Schütz anschließenden Strukturanalyse der Lebenswelt als eine Protosoziologie zur phänomenologischen und anthropologischen Grundlegung der Sozialwissenschaft (Kapitel III). Dem folgt ein Abschnitt zur gemeinsam mit Peter Berger entworfenen These der Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (Kapitel IV). Das Schaffen Luckmanns erstreckt sich jedoch auf weitere Bereiche soziologischer Theorie und Empirie: auf die Ausarbeitung einer Handlungstheorie (Abschnitt V) und die Etablierung einer Theorie der Transzendenzen als Grundlage der Religionssoziologie (Abschnitt VI). Darüber hinaus schließen die Arbeiten Luckmanns die Entwicklung einer genuin soziologischen Sprach- und Kommunikationstheorie ein (Abschnitt VII). Das Buch endet mit kurzen Andeutungen der Wirkung des Luckmannschen Werkes (VIII), die schon deswegen eine fortzuschreibende Aufgabe darstellt, weil das Schaffen Luckmann glücklicherweise weiter anhält.

Damit ist der Bogen angedeutet, den diese Einführung aufspannt. Die Gliederung folgt dem Prinzip der ›Aufschichtung‹ von den unveränderlichen Strukturen bis hin zu den komplexen sozial, kulturell und historisch spezifischen Institutionen menschlichen Handelns. Dies entspricht dem konstitutionslogischen Denken Luckmanns, das in seinen Texten immer wieder zum Ausdruck kommt: Die Konstitution nimmt ihren Ausgang in der streng egologischen Perspektive des Individuums, d.h. bei den sinnkonstituierenden Bewusstseinsleistungen und bei der Subjektbezogenheit der menschlichen Lebenswelt. Sie schreitet voran zu dem für die Soziologie relevanten Aspekt der Lebenswelt: zu den in sozialen Austauschprozessen ausgehandelten ›kleinen‹ sozialen Institutionen, in denen sich solitäre und subjektive Sinnentwürfe zu intersubjektiv geteiltem Wissen, zu sozial objektiviertem Sinn, verfestigen, damit tradierbar werden und forthin individuelles Wissen, Handeln und Deuten ›determinieren‹. Sie führt hin zur Religion als jener ›großen‹ sozialen Konstruktion, in der die Letztbegründung jeglicher Sinngebung ihre Institutionalisierung erfährt. Und sie mündet schließlich in der von Luckmann selbst als Neuausrichtung und Konkretisierung seines wissenssoziologischen Ansatzes bezeichneten ›paradigmatischen‹ Wende zur Konstruktion der Wirklichkeit in der Kommunikation.

1 Ich danke Hubert Knoblauch und Jürgen Raab für Anregungen und Kritik zu dem vorliegenden Text. Beiden verdanke ich auch die Erlaubnis, Teile aus einem gemeinsamen früheren Aufsatz (Knoblauch, et al. 2002) für die Ausformulierung dieses Bandes zugrunde zu legen.

2 Hingewiesen werden soll hier auch auf eine weitere in Vorbereitung befindliche Sammlung von Schriften Luckmanns (2007), die von Jochen Dreher herausgegeben und bei UVK erscheinen wird.

3 Dies ist, das wissen alle Biografen, umso heikler, je bekannter die Person ist, die es zu skizzieren gilt. Besonders riskant, das ist mir voll bewusst, ist allerdings der Fall, wenn der Autor noch widersprechen kann. Aber gerade vom Widerspruch und von der Kritik lebt schließlich die Wissenschaft.

4 Allerdings würde ich der sehr nützlichen Gliederung zu beleuchtender Strukturdimensionen der Wissensproduktion, die sich bei Endreß (vgl. 2001: 74ff.) weitgehend an dem Betrieb der Wissenschaft orientieren, noch stärker den Einfluss alltäglicher Situationen hinzufügen.

I Thomas Luckmann: Grenzgänger zwischen Europa und Amerika

Als Kind eines slowenisch-österreichisches Ehepaares und als Auswanderer in die USA, der später wieder nach Europa zurückgekehrt ist, hat Thomas Luckmann zur Verbindung von europäischem und nordamerikanischem Denken beigetragen. In seiner Soziologie schlägt sich die Begegnung verschiedener intellektueller Strömungen und Kulturen nieder, die er auch selbst verkörpert. Diese Begegnung verschiedener Kulturen prägt den Lebensweg Luckmanns, der nachfolgend in seinen wichtigsten Stationen skizziert wird. Beginnen wir mit einem würdigenden Rückblick auf ein wissenschaftliches Wirken, das seinen Anfang unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt:6

Thomas Maria Theodor Luckmann wird am 14. Oktober 1927 im Oberkrainischen Jesenice (Assling) geboren, »in einem Bergtal Sloweniens, im damaligen Königreich Jugoslawien. In jener fluss- und waldreichen Gegend zwischen den Karawanken und den Julischen Alpen« (1997: 21), die schon die Heimat seiner Vorfahren war. Die von den Karawanken, den Steiner Alpen und den Julischen Alpen gesäumte Region, in der Luckmanns Ahnen aufwuchsen, war schon seit der Zeit der Völkerwanderung ein Gebiet, das sich durch seine starke kulturelle und ethnische Vermischung auszeichnete. Wie die familiäre und regionale Herkunft zeigt,7 ist es nicht übertrieben, den 1927 auf dem Gebiet des damals noch Österreich-ungarischen Vielvölkerstaates geborenen Luckmann als einen ›multi-kulturellen‹ Sozialtheoretiker zu bezeichnen. Denn die kulturelle Melange, in die er hinein geboren wird, wird seine Biografie und insbesondere sein wissenschaftliches Werk nachhaltig prägen. Die Welt stets aus dem Blickwinkel mehrerer sozialer ›Konstruktionen der Wirklichkeit‹ zu betrachten, ist ihm gleichsam in die Wiege gelegt. Luckmann ist mütterlicherseits slowenischer und väterlicherseits österreichischer Abstammung. Deshalb wächst er von Kindesbeinen an mehrsprachig auf. Im mütterlichen Zweig der Verwandtschaft kommt er mit der slowenischen Kultur, im väterlichen mit der deutschen Sprache in Berührung und wird in ein Milieu hineinsozialisiert, in der Zweisprachigkeit zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags gehört.8 Früh lernt er, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, die wiederum – mindestens zum Teil – ineinander übersetzbar sind, immer aber auch ganz eigene Wirklichkeitskonstruktionen beinhalten. Und er lernt, um mit Simmel (1908) zu sprechen, durch den privilegierten Blick des je Fremden die andere Welt objektiv und in ihrer jeweiligen ›Künstlichkeit‹ zu entdecken.9

Das führt aber keineswegs zu einem gebrochenen, sondern ganz im Gegenteil zu einem doppeltem Verhältnis der Kultur gegenüber: slowenisch ist seine Muttersprache, Deutsch die Vatersprache. Genau genommen wächst Luckmann nicht nur zweisprachig, sondern– den örtlichen Dialekt und die ›Sprache der Literatur‹ mitgerechnet – gleichzeitig in vielen, verschiedenen kulturellen Wirklichkeiten auf. Dies begründet die schon in Kindheit und Jugend ausgeprägten »sprachlich bedingten mehrperspektivischen Erfahrungen«, die gespeist werden aus einem »Leben im großen, sprachlich doppelten Verwandtenkreis, in der Schule, unter Spielkumpanen unterschiedlicher sozialer und völkischer Herkunft und aus meinem Parallel-Leben in historischer Fiktion« (1997: 23) und die, außerordentlich früh, seine intellektuellen Fähigkeiten befördern: »Zweisprachig und infolge des Umgangs mit meinen Altersgenossen mit der lokalen Mundart ausgestattet, lernte ich mit Hilfe der Großbuchstaben bei Todesanzeigen in der im Haus gehaltenen slowenischen Tageszeitung und den zur Bedeutung der Buchstaben von meiner Mutter eingeholten Auskünften früh lesen« (1997: 22).10

Luckmann selbst bezeichnet sich als Angehöriger einer »Zwischen-Generation«: »Ich vermute, dass das alte Österreich über seine faktische Existenz hinaus, auch über die Lebensdauer der in ihm geborenen Generationen hinaus, die lebensgeschichtliche Grundverfassung einer mitteleuropäischen Zwischen-Generation entscheidend mitbestimmte« (1997: 19). Diese Generation erlebt den Wechsel der politischen Konstruktion des Staatsgebildes – und damit die prinzipielle Zerbrechlichkeit politischer Gesellschaftsordnung – am eigenen Leib. Es ist die Generation derjenigen »in der Ersten Republik geborenen, ostmärkisch erwachsenwerdenden und in der Zweiten Republik alternden Mitglieder«, für die es, wie Luckmann schreibt, keine ausschließliche Außenperspektive auf Österreich (1997: 19), sondern immer die Doppelperspektive des von Innen wie von Außen gelebten Landes gibt.

Als Kind besucht Luckmann zunächst die slowenische Grundschule in Jesenice, dem sich das altsprachliche Gymnasium in Ljubljana (Laibach) anschließt. Im Jahre 1941 erlebt seine bis dahin mehr oder minder ruhig verlaufende Biografie durch den Zweiten Weltkrieg dramatische Einschnitte, die sowohl die politische Verfassung als auch die Familie persönlich hart treffen: Jugoslawien wird okkupiert, ein Teil dem Deutschen Reich einverleibt11, darunter auch die Krain. Laibach hingegen gerät unter italienische Besatzung, woraufhin Luckmann auf das Gymnasium nach Klagenfurt wechseln muss. Dort verbringt er ein Jahr, muss allerdings nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters, der 1942 bei einem politisch motivierten Attentat von kommunistischen Partisanen erschossen wird, weiter in Villach zur Schule gehen. Daraufhin zieht seine Mutter »wohlweislich, wie sie dachte«, mit ihm mitten im zweiten Weltkrieg 1943 nach Wien um (vgl. 1997: 24), wo die Familie zahlreiche Verwandte hat. Hier besucht er das Gymnasium – allerdings nur für ganz kurze Zeit. Denn weil Slowenien während des Zweiten Weltkrieges von Hitlerdeutschland annektiert und der ›Ostmark‹ eingegliedert wird und nicht einfach nur besetzt ist, wie der Rest Jugoslawiens, untersteht Luckmann formell als ›deutscher Staatsbürger‹ nun der Wehrpflicht. Er wird direkt von der Schule »stante pede zu den sogenannten Flakhelfern bei einer Flugzeugabwehr-Batterie im Wienerwald« eingezogen (ebd.). Damit ereilt ihn, wie viele seiner Altersgenossen, das Schicksal, Luftwaffenhelfer werden zu müssen.12 Anders als so viele seiner Generation13 scheint ihn der Krieg jedoch recht wenig begeistert zu haben. Gleichwohl ist der zum schlagartigen Erwachsenwerden verdammte Jugendliche von einer anderen großen Faszination eingenommen: dem Fliegen. Deshalb absolviert er damals zur gleichen Zeit eine Segelflugausbildung in Kärnten. Neben jugendlicher Faszination mag vielleicht auch guter Rat oder strategische Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Denn gerade diese Ausbildung bot die beste Gelegenheit, sich vor der Gefahr zu schützen, zum weitaus gefährlicher geltenden Heer eingezogen zu werden. Luckmann, der mit 16 Jahren einen Segelkurs gemacht und eine Pilotenlizenz erhalten hatte, meldet sich mit 17 Jahren als »Freiwilliger« bei der Deutschen Luftwaffe, um der Einberufung zur Infanterie zu entgehen. Diese jugendliche Entscheidung sollte später unerwartete Konsequenzen haben.

Zunächst geht Luckmanns Plan auf: Nach der Segelflugausbildung wird er zur Luftwaffe einberufen und in die fliegende Personal-Ausbildung aufgenommen. Er absolviert allerdings nurmehr die allgemeine reguläre militärische Grundausbildung. »Ich kam zur ›richtigen‹ Luftwaffe, und das nicht mehr in Wien […] es gab keine Kameraden aus Gymnasialklasse, Flakbatterie, Segelflugausbildung. Nur noch Krieg an den schrumpfenden Grenzen des Tausendjährigen Reichs, am eigenen Leib.« (1997: 25) Noch während der Rekrutenzeit wird seine Einheit in Ostpommern von den bis nach Stettin vorgedrungenen Truppen der Roten Armee eingekesselt und muss über die Landbrücke via Usedom und Wollin fliehen; sie irrt dann später in Zügen quer durch Deutschland. Luckmanns Traum vom Fliegen sollte sich nicht mehr erfüllen. Offenbar um weiter formell ein Luftwaffenverband zu bleiben, wird die Einheit zu ›Fallschirmjägern‹ – allerdings nur dem Namen nach. Zwar ist Luckmann, wie erhofft, bei Einheiten der Luftwaffe eingesetzt, allerdings erst »unfliegend« und später dann »unspringend«, wie er betont. Zu seiner großen Enttäuschung ist er, was das Fliegen betrifft – vom Segelfliegen abgesehen – immer am Boden geblieben.

Später wird er nach Böblingen verlegt und erhält, als kaum siebzehneinhalbjähriger ›Rottenführer‹ für zwölf Kameraden des Volkssturm verantwortlich, den Auftrag, über die Donau nach Illertissen zu ziehen, um Luftlandetruppen abzufangen. Luckmann hält sein Schicksal schon für besiegelt – glücklicherweise aber landen die feindlichen Truppen nicht. Doch sofort folgt ein weiteres Himmelfahrtskommando: Quer durch Deutschland, überwiegend zu Fuß, manchmal mit Fuhrwerken, geht es bis nach Niederbayern. Das Ziel: die ›Festung Alpenland‹. Unterwegs dahin wird Luckmann bei einem Tieffliegerbeschuss verletzt und anschließend in ein Lazarett im niederbayrischen Wallfahrtsort Altötting eingeliefert. Vom Krankenhaus aus wird er direkt in Kriegsgefangenschaft genommen – damit ist der Krieg für ihn beendet. Doch nach drei Monaten gelingt es ihm zu entkommen, und er flüchtet, vollkommen ausgehungert, über den Inn nach Österreich. Zunächst findet er bei Bauern Unterschlupf, bei denen er mitarbeitet. Anschließend schlägt er sich in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit bis nach Wien durch. Seine Mutter, die den Krieg im Keller des zerbombten Hauses überstanden hat, ist inzwischen wieder nach Slowenien zurückgekehrt. Luckmann aber bleibt in Wien.

Im Österreich der Nachkriegszeit

Mit einem Notabitur, der »Kriegsmatura« und um die Jugend betrogen, beginnt Luckmann nun nach der Rückkehr aus dem Krieg noch einmal von vorne. Er, der glücklich Überlebende, der schon mehr erlebt hat als so manch später geborener Gleichaltrige, kehrt in die Schule zurück und entschließt sich, die Matura nach zu machen: »Ich war so eine Art jugendlicher Kriegsveteran, der noch einmal die Schulbank gedrückt hat«. Was er vorfindet, zeugt von den ernüchternden und überaus harten Lebensumständen der unmittelbaren Nachkriegszeit: »Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft fand ich die Überschiebung der Vorgängergenerationen mit meiner eigenen – beide weniger zahlreich – wieder vor. (Manche tot, andere verschollen oder weggezogen; meine Mutter war aus der ausgebombten Wohnung nach Slowenien zurückgekehrt). Außerdem war Wien wieder die Hauptstadt Österreichs, in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Im Nachkriegs-Wien schlägt er sich unter schwierigen Bedingungen durch, mehr oder minder auf sich selbst gestellt. Er kommt bei Bekannten und Verwandten unter und hat sich in dieser Zeit »mit allen möglichen Dingen durchgebracht«.

Im Jahre 1947 erlangt er die Matura. Im selben Jahr nimmt er in Wien sein Studium auf. An der Wiener Universität studiert er zunächst vor allem Sprachwissenschaften und Philosophie, belegt daneben aber eine Reihe weiterer akademischer Fächer, darunter Altkirchenslawisch, Ägyptologie, französische Philologie und Psychologie. Das studentische Leben bleibt aber von harten Umständen gezeichnet, denn gleichzeitig muss er sich »als Student und ungelernter Ziegelschupfer zu beteiligen« (1997: 25) am Wiederaufbau der im Krieg vollkommen zerstörten Stadt beteiligen. Aber nicht nur der Zwangsdienst und die Notwendigkeit, sich selbst den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, sind eine Bürde. Zudem ist Luckmann, wie später auch, immer In- und Ausländer zugleich. Diese Belastungen haben prägende Wirkungen: »Als Ausländer musste ich mich bei der Polizei in gewissen Abständen melden und mit irgendwelchen Begründungen um Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnis nachsuchen; an der Universität musste ich Seminarscheine mit höchster Benotung vorlegen, um nicht die dreifache Studiengebühr zahlen zu müssen. Die Bewegungsfreiheit zwischen den Besatzungszonen war ohne eine österreichische Identitätskarte äußerst eingeschränkt.« (1996: 25) Diese Umstände treiben den jungen Studenten nicht nur zu Höchstleistungen an – sie schärfen die biografisch schon angelegte doppelte Perspektive weiter und verstärken eine Haltung, die man wohl mit gutem Grund als die Grundlage aller soziologischen Perspektive bezeichnen darf.

Das Jahr 1948 markiert einen weiteren dramatischen Einschnitt. Luckmann muss Wien überstürzt verlassen. Fluchtartig bricht er aus der russischen Besatzungszone auf und schmuggelt sich in die französische Zone, wo er in Innsbruck das Studium fortsetzt. An der Innsbrucker Universität studiert er einige Semester eine breite Palette geisteswissenschaftlicher Disziplinen, neben Vergleichender Sprachwissenschaft und Psychologie auch Kirchenslawisch, Ägyptologie, französische Philologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Schon bald entschließt er sich jedoch, ins Ausland zu gehen und bewirbt sich an der Sorbonne, in Oxford und in Yale. Der Direktor des Institut Français in Innsbruck, Maurice Bessey, unterstützt dieses Vorhaben mit Empfehlungsschreiben, weil Luckmann ihm als begabter Student aufgefallen war. Bemerkenswerterweise erhält Luckmann von jeder dieser Universitäten ein Stipendiumsangebot.