Thrill of Temptation - Elizabeth Lowell - E-Book
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Thrill of Temptation E-Book

Elizabeth Lowell

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Beschreibung

Eine gefährliche Rettungsaktion: Der prickelnde Spannungsroman »Thrill of Temptation« von Elizabeth Lowell jetzt als eBook bei dotbooks. Sie ist das schwarze Schaf der Familie, die hinter dem schillernden Namen Donavan International steht – doch als ihr Bruder Kyle bei einem hochkarätigen Auftrag verschwindet, ist Honor die Einzige, die sich auf die Suche nach ihm macht. Kyles Spur führt sie zu einer unbewohnten Insel im Pazifik, die sie unmöglich allein erkunden kann. Obwohl sie ihrem Führer, dem ebenso attraktiven wie gerissenen Jake Mallory, nicht traut, kann Honor nicht verhindern, dass ihr Herz jedes Mal schneller schlägt, wenn er ihr nahekommt… Doch plötzlich ändert sich alles – denn statt Kyle zu finden, müssen Honor und Jake vor skrupellosen Dieben fliehen. Bringen ihre Gefühle füreinander sie dabei in schreckliche Gefahr? »Elizabeth Lowell ist eine der besten Autorinnen unverschämt heißer, aufregender Romane!« New York Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Romantic-Suspense-Roman »Thrill of Temptation« ist der erste Band von Elizabeth Lowells Donovan-Saga, der in sich abgeschlossen ist und Fans von Karen Rose begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 593

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Über dieses Buch:

Sie ist das schwarze Schaf der Familie, die hinter dem schillernden Namen Donavan International steht – doch als ihr Bruder Kyle bei einem hochkarätigen Auftrag verschwindet, ist Honor die Einzige, die sich auf die Suche nach ihm macht. Kyles Spur führt sie zu einer unbewohnten Insel im Pazifik, die sie unmöglich allein erkunden kann. Obwohl sie ihrem Führer, dem ebenso attraktiven wie gerissenen Jake Mallory, nicht traut, kann Honor nicht verhindern, dass ihr Herz jedes Mal schneller schlägt, wenn er ihr nahekommt… Doch plötzlich ändert sich alles – denn statt Kyle zu finden, müssen Honor und Jake vor skrupellosen Dieben fliehen. Bringen ihre Gefühle füreinander sie dabei in schreckliche Gefahr?

»Elizabeth Lowell ist eine der besten Autorinnen unverschämt heißer, aufregender Romane!« New York Times

Über die Autorin:

Elizabeth Lowell ist das Pseudonym der preisgekrönten amerikanischen Bestsellerautorin Ann Maxwell, unter dem sie zahlreiche ebenso spannende wie romantische Romane verfasste. Sie wurde mehrfach mit dem Romantic Times Award ausgezeichnet und stand bereits mit mehr als 30 Romanen auf der New York Times Bestsellerliste.

Elizabeth Lowell veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre historischen Liebesromane »Begehrt von einem Ritter«, »Verführt von einem Ritter« und »Geküsst von einem Ritter« sowie ihren Thriller »48 Hours – Rette dein Kind« Außerdem veröffentlichte sie ihre Romantic-Suspense-Romane »Dangerous Games – Dunkles Verlangen«, »Dangerous Games – Tödliche Gier« und die Donovan-Saga mit den Bänden »Thrill of Temptation«, »Thrill of Desire«, »Thrill of Passion« und»Thrill of Seduction«.

Die Website der Autorin: elizabethlowell.com

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »Amber Beach« bei Avon Books, The Hearst Corp., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Bernsteinfeuer« bei Goldmann

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1997 by two of a Kind, Inc.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Dmitrieva Katerina, Bananen, IM_photo, Kislev Andrey Valerevich

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-847-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Elizabeth Lowell

Thrill of Temptation

Roman – Die Donovan-Saga 1

Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere

dotbooks.

Kapitel 1

Honor Donovan warf nur einen Blick auf den Mann und wußte, daß er Schwierigkeiten bedeutete. Andererseits steckte sie aber bereits in so großen Schwierigkeiten, daß selbst die Firma ihrer Familie, Donovan International, ratlos war.

»Wenn Sie von der Polizei sind, machen Sie bitte die Tür hinter sich zu, wenn Sie gehen«, empfahl sie. »Und sollten Sie ein Reporter sein, dann fahren Sie zur Hölle.«

»Das habe ich alles schon hinter mir.«

»Besitzen Sie ein T-Shirt, wo das draufsteht, als Beweis?«

Seine Hand ging zu den Knöpfen seiner fleckigen Jeansjacke.

»Lassen Sie nur«, lenkte sie schnell ein. »Sind Sie Reporter?«

»Nein, ich bin der Mann, der Ihnen das Angeln beibringen wird.«

»Nach Piranhas?«

»Sie sind doch Miss Donovan, die mit einer Anzeige nach einem Mann sucht, der Erfahrung in den Gewässern des nordwestlichen Pazifiks hat und sich besonders mit Sportbooten auskennt?«

Sie seufzte und ergab sich dem Unvermeidlichen. Dieser hochgewachsene Mann mit dem schwarzen Stoppelbart, den hellen Augen und der Narbe über der linken Augenbraue, der Mann mit den sauberen Fingernägeln, war nicht zufällig in die Hütte ihres vermißten Bruders am Puget Sund gekommen. Trotz seines nicht gerade sehr beruhigenden Aussehens sagte ihr ihr Instinkt, daß er ein weitaus besserer Kandidat war als all die anderen, die sich um diesen Job beworben hatten.

Einer der Männer war ein Cop gewesen, der sich für einen Fischer ausgegeben hatte. Ein anderer war ein Einwanderer, der erst seit kurzer Zeit im Land war und dessen Englisch sie nicht hatte verstehen können. Ein dritter Mann war davon überzeugt gewesen, daß sie in Wirklichkeit nur an seinem Körper interessiert war, auf den er so stolz war. Das Englisch des vierten Mannes war zwar gut gewesen, doch beim Blick in seine Augen hatte sie an Kreaturen denken müssen, die in den Sumpfgebieten lebten.

Seit drei Tagen hatte sich niemand mehr um den Job beworben. Sie zählte die Minuten, immer in der Erwartung, daß Kyle plötzlich wieder in der Tür stand, mit seinem etwas schiefen Grinsen und seiner guten Erklärung dafür, daß die Cops glaubten, er hätte Bernstein im Wert von einer Million gestohlen. Sie weigerte sich, an einen anderen Grund für sein Verschwinden zu glauben, besonders nicht an den Grund, der sie nicht mehr schlafen ließ, der bewirkte, daß ein Kloß in ihrem Hals saß, wegen der Tränen, die sie sich zu vergießen weigerte.

Kyle mußte noch leben. Es mußte ganz einfach so sein.

»Miss Donovan?«

Da wurde Honor klar, daß der neueste Bewerber um den Posten noch immer darauf wartete, daß sie ihm versicherte, die Frau zu sein, die die Anzeigen überall in der kleinen Stadt Anacortes aufgehängt hatte.

»Die bin ich«, sagte sie.

»Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen.«

Sie sah auf seinen Mund und ahnte, wie Rotkäppchen sich gefühlt haben mußte, als es zum ersten Mal die Zähne der »Großmutter« gesehen hatte.

»Wie bitte?« fragte sie.

»Ihre Anzeige ist so abgefaßt, als hätten Sie dabei mich in Ihren Gedanken gehabt«, erklärte er.

»Haben Sie Referenzen?«

»Führerschein? Fischereilizenz? Bootsführerschein? Tetanusimpfung?«

»Und wie steht es mit Tollwut?«

Die Bemerkung war ihr ungewollt entschlüpft. Das war eines der Resultate eines Lebens mit Brüdern.

»Entschuldigung, Mr. ...«

»Mallory.«

»Mr. Mallory.«

»Wie wäre es mit Jake? Das spart Zeit.«

»Hmm, Jake. Ich meinte Referenzen von Leuten, für die Sie in der Vergangenheit gearbeitet haben.«

»Sie haben nicht viel Kenntnis von einer solchen Arbeit, nicht wahr?«

»Wenn das so wäre, dann brauchte ich wohl kaum jemanden zu suchen, der mir den Kram beibringt, wie?«

Er lächelte.

Sie dachte erneut an das arme Rotkäppchen. »An diesem Lächeln sollten Sie noch arbeiten. Es ist wirklich nicht sehr beruhigend.«

Jake versuchte, niedergedrückt auszusehen. Doch das war auch nicht überzeugender als sein Lächeln.

»Wenn Sie mit den Händen nur halb so fix sind wie mit Ihrer Zunge, dann werde ich in kürzester Zeit einen Fischersmann aus Ihnen machen«, prophezeite er.

»Fischersfrau.«

»So etwas gibt es nicht.«

»Dann eben ein Fischergeschöpf. Wollen Sie den Job?«

»Fischergeschöpf«, wiederholte er und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Ja, ich will den Job. Wir werden die einzigen Fischergeschöpfe auf dem Wasser sein.«

Diesmal war Jakes Lächeln warm, belustigt und noch mehr. Es erinnerte Honor daran, daß sie eine Frau war und nicht nur die verängstigte jüngere Schwester eines vermißten Mannes. Sie blickte auf ihre Hände und räusperte sich.

»Fischergeschöpfe«, wiederholte sie. »Aber Sie sind auch nicht gerade langsam. Wann können Sie anfangen?«

»Haben Sie eine Fischereilizenz?«

»Nein.«

»Dann können wir nicht sofort anfangen. Zu schade. Die Sonne scheint gerade. Der Wind hat sich gelegt. In ein paar Stunden ist Niedrigwasser. Besser kann es nicht sein auf den San-Juan-Inseln.«

»Und wonach würden wir fischen?«

»Nach allem, was wir fangen können. Dann werden wir auch nicht enttäuscht.«

»Ist das Ihre Lebensphilosophie?«

»Erst, seit ich erwachsen bin.«

Sie sah ihn eindringlich an.

»Was ist los?« fragte Jake. »Sind meine Ohren vielleicht falsch herum angewachsen?«

»Ich habe nur gerade versucht, mir vorzustellen, daß Sie ein Kind waren, das erwachsen werden mußte.«

»Komisch. Mir fällt es überhaupt nicht schwer, mir Sie als Kind vorzustellen. Können Sie schwimmen?«

»Wie ein Fisch.«

»Wenn man daran denkt, welchen Beruf ich ausübe und an alles, was damit zusammenhängt, sollten Sie den Ausdruck vielleicht noch einmal überdenken.«

»Da könnten Sie recht haben.«

»Das ist die geschäftliche Seite des Angelhakens. Erste Lektion des Fischens.«

In die Enge getrieben von Jakes offenem, unerwartetem Lächeln und seinem trockenen Humor, lachte Honor ein wenig hilflos. Dann mußte sie mit den Tränen kämpfen, die hinter ihren Augen brannten.

In den letzten Wochen hatte sie viele schlaflose Nächte hinter sich gebracht. Deshalb hatte sie nach nur einer Viertelstunde Bekanntschaft mit Jake Mallory das Gefühl, als hätte sie gerade den Zusammenstoß mit einem Lastwagen überlebt. Diese ganz besondere Kombination von Rauheit, männlicher Wärme und ironischer Intelligenz, die er in sich vereinte, hätte sie auch unter anderen Umständen angesprochen. Doch gerade jetzt, wo sie wehrlos war und ihre Gefühle sich in Aufruhr befanden, war er für sie gefährlich attraktiv.

Schlechte Wortwahl, dachte sie. Wirklich schlecht. Wenn sie jetzt damit anfing, an den Tod zu denken, würde sie in Trauer versinken und würde Kyles unordentlichen Schreibtisch naß weinen.

Sie blinzelte ein paarmal heftig, dann starrte sie durch eines der vielen kleinen Fenster der Hütte. Hinter dem Glas des Fensters sah sie die Tannen, die den felsigen Abhang bedeckten und bis hin zu dem kalten, blaugrünen Wasser des Puget Sundes wuchsen. Amber Beach bestand aus einem Streifen goldbraunen Sandes, der von dunklen Felsen gesäumt war und auf dem angeschwemmte, von der Sonne gebleichte Baumstämme lagen. Kyles acht Meter langes Rennboot glänzte weiß neben dem Schwimmdock, das er gebaut hatte. Er hatte seinem Boot den Namen Tomorrow, also ›Morgen‹, gegeben, weil er kaum die Zeit fand, ›heute‹ fischen zu gehen.

Jetzt fürchtete Honor, daß er nie wieder die Zeit haben würde.

Sie räusperte sich, sammelte ihre Gedanken, und als sie sprach, klang ihre Stimme rauh. »Die geschäftliche Stelle des Angelhakens. Scharf. Das werde ich mir merken.«

»Besser im Kopf als im Daumen. Wie lange wird es dauern, bis Sie die Fischereilizenz bekommen?«

»Die Fischereilizenz?«

»Ja.«

»Nicht lange, denke ich. Wo bekommt man so etwas?«

»Überall dort, wo Ausrüstung zum Fischen verkauft wird.«

»Zum Fischen ...« Glitschige, schlüpfrige, stinkende, abscheuliche Fische. Sie seufzte. »Ich kann es kaum erwarten.«

Jake zog die Augen zusammen, bis unter seinen schwarzen Augenbrauen nur noch schmale, glänzende graue Schlitze zu sehen waren. Er wußte nicht, was er von Kyle Donovans Schwester erwartet hatte. Er wußte nur, daß er auf keinen Fall geglaubt hatte, sie würde so sein wie Honor.

»Sie sollten sich um etwas mehr Begeisterung bemühen«, meinte er.

»Ich habe einen harten Monat hinter mir, wie Sie wahrscheinlich wissen werden, falls Sie die Zeitung lesen.«

»Einen Mann zu verlieren ...«, begann Jake, als wisse er nicht, wer Honor war.

»Einen Bruder«, korrigierte sie ihn.

»Einen Bruder, ach?«

»Und er ist nicht verloren. Nicht wirklich.«

»Ein Bruder, der nicht verloren ist, wenigstens nicht wirklich. Erwartet deshalb die Polizei, daß er irgendwann hier auftaucht?«

»Wie meinen Sie das?«

Jake zuckte mit den Schultern und dachte schnell nach. So etwas konnte er gut. Die meisten Überlebenskünstler taten das. Sein erster Gedanke war nicht gerade beruhigend; wenn diese Dame mit dem traurigen, sexy Mund, dem störrischen Kinn und dem ausgebeulten schwarzen Jogginganzug nicht bemerkt hatte, daß Polizeibeamte in Zivil an der Zufahrt zu der Hütte herumlungerten, dann war sie entweder zu dumm oder zu unschuldig, um zu wissen, was Kyle für ein Spielchen spielte.

Oder was für ein Spielchen er gespielt hatte. Daß er vermißt wurde, konnte genausogut bedeuten, daß er tot war.

»Der Name auf dem Briefkasten lautet Kyle Donovan«, sagte Jake. »Er ist doch derjenige, der vermißt wird, nicht wahr?«

Honor nickte. Bei der Bewegung warf die Sonne einen leuchtenden Schein auf ihr kurzes kastanienbraunes Haar. In ihren ungewöhnlichen bernsteingrünen Augen glänzten die Tränen, die Jake auch aus ihrer Stimme gehört hatte. Er schüttelte leicht den Kopf. Sie sah viel zu verletzlich aus, um die Schwester eines Lügners, eines Diebes und eines Mörders zu sein.

Aber das Leben hatte Jake gelehrt, daß das Aussehen ein lausiger Hinweis auf den Charakter war. Es waren die Taten, die zählten. Honor war eine Donovan, sie unterstützte und schützte einen anderen Donovan. Sie mochte so süß aussehen wie eine Pfadfinderin, die Kekse verkaufte, doch als sie mit einer Anzeige nach einem Mann gesucht hatte, der sie in die Kunst des Fischens mit einem Sportboot einwies, hatte sie gleichzeitig ihre Beteiligung an einer internationalen Schatzsuche eingestanden, deren einzige Regel es war, daß der Gewinner alles bekam.

Und Jake hatte die Absicht, dieser Gewinner zu sein.

»Sie können mir von Ihren Problemen erzählen, während Sie mir das Boot zeigen«, meinte er.

»Das wird nicht nötig sein. Ich suche einen Angellehrer, keinen Beichtvater.«

»Das gehört alles zu meinen Diensten«, erklärte er und wandte sich ab. »Genauso wie die Arbeit als Barkeeper.«

»Möchten Sie denn gar nicht mit mir über Ihr Gehalt diskutieren?«

»Hundert Dollar am Tag.«

»Das ist keine Diskussion.«

Er wandte sich wieder zu ihr um. »Zweihundert.«

»Mit hundert bin ich einverstanden.«

»Ich auch. Jetzt wollen wir uns mal das Boot ansehen.«

Honor fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte, während sie sich vom Schreibtisch ihres Bruders abdrückte. Bei der plötzlichen Bewegung begann eine der vielen Schachteln zu schwanken, die auf dem Schreibtisch standen. Sie rutschte über einige Papiere und fiel vom Schreibtisch hinunter. Ein transparenter gelber Klumpen glitt aus der Schachtel und fiel gen Boden.

Im selben Augenblick, als Jake begriffen hatte, was passieren würde, bewegte er sich bereits.

Nichts fiel auf den Boden.

»Mein Gott, Sie sind aber schnell«, meinte Honor erschrocken. »Danke. Kyle hat gesagt, daß Bernstein zersplittern kann wie Glas.«

Jake brauchte nicht erst Honors Worte zu hören, um zu wissen, daß er ein Stück Bernstein in der Hand hielt. Nichts sonst auf der Welt fühlte sich so warm, so leicht und so glatt an. Er hielt das Stück in einen Strahl des frühen Sonnenlichtes, der durch ein Fenster fiel, und erlaubte dem Licht, durch das goldene Harz zu fallen. Falls er sich nicht irrte – und das war nicht sehr wahrscheinlich –, hielt er ein ganz besonders kostbares Stück Ostsee-Bernstein in der Hand.

»Das ist ein Teil der Lieferung, die meine Schwester und ich gerade erst bekommen haben«, erklärte Honor. »Ich habe zuvor noch nie mit Bernstein gearbeitet, aber es ist wirklich faszinierend. Es ist so alt, so ewig, so äußerst zerbrechlich.«

Jake warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Sind Sie Händlerin?«

»Nein. Ich bin Designerin. Die Männer der Donovans würden niemals zulassen, daß eine Frau hinausgeht in die große, schlechte Welt und unbearbeitete Steine kauft.«

»Wie klug von ihnen.«

»Das ist Ansichtssache.«

»Ihr Bruder wird immerhin nicht in Disneyland vermißt.«

Honor preßte die Lippen zusammen.

Das Telefon läutete. Mit einem Gefühl der Erleichterung griff sie danach. Wenn es wieder ein Reporter war, würde sie mit Freuden den Hörer auf die Gabel knallen.

»Donovan hier.«

»Hi, Honor. Wie geht es dir?«

Die tiefe, ungeduldige Stimme ihres ältesten Bruders kam vom anderen Ende der Leitung, und es hörte sich an, als käme sie durch feuchten Sand.

»Du klingst, als seist du auf einem anderen Planeten«, antwortete sie.

»Ich bin in Petropavlosk in der autonomen Koryak Region.«

»Sag das noch einmal.«

»Ost-Rußland, für die Menschen, die nicht gerade hier leben. Auf der Kamtschatka-Halbinsel.«

Honor umklammerte den Hörer fester und bemühte sich, ihre Stimme weder zu hoffnungsvoll noch zu ängstlich klingen zu lassen. »Hast du Kyle gefunden?« fragte sie ohne Umschweife.

»Nein.«

»Die Polizei auch nicht.«

»Die Polizei! Hast du ihnen Bescheid gesagt, nachdem ich dir gesagt habe, du sollst nicht ...«

»Ich brauchte ihnen gar nicht Bescheid zu geben«, unterbrach sie ihn. »In den letzten drei Tagen haben die Cops sich über Kyles Hütte hergemacht wie die Fliegen. Was ist passiert?«

In der Leitung hörte man nur statisches Knistern. Sie konnte beinahe hören, wie Archer rasch und effektiv nachdachte.

»Was wollten sie denn?« fragte er schließlich.

»Sie sind genau wie du, sie beantworten keine Fragen, sie stellen nur welche.«

»Was für Fragen?«

»Sie wollten wissen, wer ich bin, was ich hier tue, wann ich Kyle zum letzten Mal gesehen habe, wann ich das letzte Mal von ihm gehört habe, ob ich irgendwelche Pakete bekommen habe ...«

Sehr vorsichtig legte Jake das Stück Bernstein zurück in die Schachtel und stellte sie auf den Schreibtisch.

»... ob ich einen Mann kenne, dem an der linken Hand zwei Finger fehlen und dessen Zähne Anzeichen einer Behandlung in der Dritten Welt aufweisen ...«, leierte Honor herunter, als würde sie einen auswendig gelernten Text aufsagen.

Jake wünschte, er könnte laut fluchen. Jedes Wort, das sie sagte, verriet ihm mehr, als er wissen wollte von Kyle und Honor und Bernstein ... und doch bei weitem nicht genug. Entweder war sie eine verteufelt gute Schauspielerin, die ihr Wissen darüber, wo Kyle den Bernstein versteckt hatte, gut zu verbergen verstand, oder sie war unschuldig in das Spiel geraten, das nur die Profis zu spielen verstanden.

Er hoffte, daß sie eine Schauspielerin war. Aber ob sie nun unschuldig war oder genauso schuldig wie ihr Bruder, so war Honor doch die einzige Möglichkeit für Jake, den verschwundenen Bernstein zu finden.

»... ob ich wirklich sicher bin, Kyle nicht gesehen oder von ihm gehört zu haben«, sprach Honor mit monotoner Stimme weiter. »Sie wollen wissen, wann er zurückgekommen ist oder warum er sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat, als er in Seattle gelandet ist ...«

»Was?« fragte Archer. »Wann ist Kyle ...?«

»Frag doch die Cops«, unterbrach Honor ihn. »Es ist immerhin ihre Geschichte, nicht meine. Ich habe Kyle nicht mal von weitem gesehen. Aber was ich zwischen den Zeilen gelesen habe, ist, daß sein Paß über SeaTac ins Land gekommen ist. Wahrscheinlich mit ihm zusammen.«

Ihr Bruder stieß eine Reihe von afghanischen Flüchen aus.

»Ich bin sicher, ich würde dir zustimmen, wenn ich diese Sprache verstehen würde«, sagte sie. »Was ist überhaupt los?«

»Hast du in Kyles Postfach nachgesehen?«

Honor krallte die Finger um den Hörer. »Ich wiederhole noch einmal. Was ist los?«

»Wie steht es mit seinem Anrufbeantworter?«

Schweigen, nur das statische Knistern war zu hören.

Wie immer wartete Archer, bis seine jüngere Schwester nachgab.

»Ja und ja«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Und?«

»Nein und nein.«

»Versuch es weiter.«

»Es wäre vielleicht ganz hilfreich, wenn ich wüßte, wonach ich suchen soll.«

»Nach deinem Bruder. Du erinnerst dich doch an ihn, nicht wahr? Kyle mit dem charmanten Lächeln und den eigenartigen Augen.«

»Vergiß nicht den gestohlenen Bernstein«, gab sie zurück.

»Was?«

»Gestohlen. Bernstein. Läuten da nicht irgendwelche Glokken?«

»Ich würde deine Glocken läuten, wenn ich dich in meine Finger bekommen würde. Was für Bernstein?«

»Da mußt du die Cops fragen.«

»Ist das alles, was sie gesagt haben?« wollte Archer wissen. »Gestohlener Bernstein.«

»Ja.«

»Im Naturzustand oder bearbeitet?«

»Das haben sie nicht gesagt. Was war in der Ladung, die zusammen mit Kyle verschwunden ist?«

»Wer hat denn etwas davon erzählt, daß eine Ladung Bernstein verschwunden ist?«

»Die Cops.«

Archer grunzte. »Nicht gut. Jemand erzählt Märchen.«

»Dafür brauchst du mich nicht verantwortlich zu machen. Du hast mir nichts verraten. Du hast nur gesagt, ich solle hierherkommen und warten. Stimmt das?«

»Was?«

»Daß Kyle verschwunden ist, zusammen mit einem Vermögen an gestohlenem Ostsee-Bernstein?«

»Das weiß ich nicht. Ist es das, was die Cops behaupten?«

»Sie deuten es an«, erklärte sie. »Das ist ein Unterschied. Der Unterschied, befragt oder angeklagt zu werden. Was ist mit Lawe? Wo ist er?«

»Das letzte, was ich von ihm gehört habe, besagte, daß er noch immer in Litauen ist.«

»Und was ist mit Justin?«

»Kaliningrad«, antwortete Archer. »Ist Faith bei dir?«

»Nein. Sie ist auf dem Weg von Tokio zurück nach San Francisco. Sie wird unterwegs ein paar Wochen Urlaub in Hawaii machen.«

»Für diese kleinen Dinge, lieber Gott, bin ich dankbar.«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Das heißt, daß du und deine liebe Zwillingsschwester zusammen in größere Schwierigkeiten geraten werdet, als wenn ihr getrennt seid.«

»Das gleiche könnte man von Lawe und Justin behaupten«, erklärte Honor. »Aber du solltest lieber die guten Seiten sehen.«

»Zeig sie mir.«

»Mom hätte auch drei Töchter bekommen können. Faith, Honor und Chastity. Kannst du dir vorstellen, mit einer Schwester gestraft zu sein, die Chastity heißt?«

Ihr Bruder lachte und überraschte sie damit beide. »Danke, das habe ich gebraucht.«

»Was?«

»Ich mußte unbedingt einmal lachen.«

Honors Lächeln war genauso traurig wie ihr Blick. »Archer?«

»Ja?«

»Du glaubst doch auch, daß er noch lebt, nicht wahr?«

Das statische Knistern in der Leitung machte sie nur noch nervöser. Sie hielt den Atem an und wartete auf seine Antwort.

»Solange ich keine Leiche sehe ...« Archers Stimme verhallte.

»Ja.« Sie holte tief Luft. »Kyle ist weder ein Dieb noch ein Mörder.«

Schweigen breitete sich aus. Ein kalter Schauer lief über Honors Rücken.

»Archer?«

»Kyle hat seinen Hormonen die Kontrolle über sich überlassen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Irgend so ein kleines Luder hat ihn um den kleinen Finger gewickelt.«

»Willst du etwa behaupten, daß Kyle so sehr nach dieser Frau verlangt hat, daß er sogar bereit war, für sie zu stehlen?« fragte Honor.

Mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem wartete sie auf Archers Antwort. Doch alles, was sie hörte, war Schweigen, gefolgt von dem statischen Knistern in der Leitung. Nach einer langen Weile fluchte ihr Bruder erschöpft. In Gedanken sah sie, wie er sich mit der Hand durch das Haar fuhr, in einer frustrierten Geste, die allen Männern der Donovans zu eigen war.

»Wir wissen nicht, was wirklich passiert ist«, sagte er dann, »Die Beweise gegen Kyle sehen gut aus. Verdammt viel zu gut. Beinahe, als ob ...«

Wieder verhallte Archers Stimme vor dem Hintergrund des statischen Knisterns in der Leitung.

»Sprich weiter«, forderte ihn Honor auf. »Sag mir, daß du nicht das glaubst, was die Cops von Kyle behaupten.«

»Daß er sich des Diebstahls schuldig gemacht hat?«

»Und des Mordes.«

»Was auch immer geschehen ist, ich finde, die Erklärungen, die ich bis jetzt gehört habe, sind viel zu einfach.«

»Wieso sagst du das?«

»Zu lange und zu kompliziert. Du kannst mich beim Wort nehmen.«

»Aber ...«

»Hast du im Boot nachgesehen?« unterbrach Archer sie.

»Nach etwas, das kleiner ist als mein einsfünfundachtzig großer Bruder?« fragte sie übertrieben freundlich.

»Laß nur. Du kannst zurück nach Hause fahren.«

»Was? Dabei bin ich gerade erst hier angekommen.«

»Du wirst zurückfahren.«

»Und was geschieht mit Kyles Boot?«

»Bleib weg davon. Selbst wenn sie am Dock festgemacht ist, ist die Tomorrow eine Sache für sich. Pack deine Sachen, Hornet. Geh zurück nach Hause und entwirf hübschen kleinen Krimskrams für Faith.«

Honor haßte diesen Spitznamen. Sie haßte es auch, behandelt zu werden, als wäre sie süchtig nach Dauerlutschern.

»Archer, du ...«

»Wenn die Cops dir Schwierigkeiten machen, bevor du abreist«, sprach er weiter, als hätte sie überhaupt nichts zu sagen, »dann hetzt du ihnen einen der Anwälte von Donovan International auf den Hals.«

»Und was ist mit den Reportern?« fragte sie gepreßt.

»Kein Kommentar.«

»Das ist ja auch kein Problem. Ich habe immerhin keine Ahnung.«

»So soll es auch sein. Beginn zu packen.«

»Aber ...«

Sie sprach in eine tote Leitung. Mit einem Wort der Empörung legte sie den Hörer auf. Eher würde die Hölle einfrieren, ehe sie gehorsam ihre Koffer packte und abreiste. Schließlich war sie kein Schulmädchen mehr, dem man Befehle geben konnte.

»Schwierigkeiten?« fragte Jake.

Honor zuckte zusammen. Sie hatte ganz vergessen, daß sie nicht allein war. Sie wirbelte herum. Jake stand ein paar Schritte von ihr entfernt und hielt die örtliche Zeitung in der Hand. Sie fragte sich, ob er die Mischung aus Halbwahrheiten und atemlosen Spekulationen über Kyle Donovan verstanden hatte, die Andeutungen über eine Leiche und den verschwundenen Bernstein, die in der Morgenausgabe des Patriot in Fidalgo Island als neueste Nachrichten standen.

»Familie«, erklärte sie angespannt. »Man kann nicht mit ihr leben, und sie lassen es nicht zu, daß man ohne sie lebt.«

Jake stieß einen Laut aus, der Zustimmung bedeuten konnte, doch es war schwer zu sagen. Sie zog es vor zu glauben, daß sein Brummen Mitgefühl ausdrücken sollte.

Und das brauchte sie dringend. Ihr ältester Bruder hätte selbst noch einer Muschel das Schweigen beibringen können. Die Cops glaubten, ihr Lieblingsbruder sei ein mordender Schuft. Dieser Lieblingsbruder war zusätzlich verschwunden ... und sie hatte gerade Vorbereitungen getroffen, fischen zu lernen.

Eine vollständige Katastrophe, auf der ganzen Linie.

»Sind Sie jetzt bereit, sich mit mir zusammen das Boot anzusehen?« fragte Jake.

»Warum nicht? Alles andere ist schon schiefgegangen.«

»Sie schäumen ja geradezu über vor Begeisterung.«

»Verständlich. Ich bin auch sooo aufgeregt.«

Er zog seine schwarzen Augenbrauen hoch. »Immerhin haben Sie nach einem Mann gesucht, der Ihnen das Fischen beibringen soll, richtig?«

Honor holte tief Luft. »Ja. Es tut mir leid. Ich bin ein wenig genervt.«

»Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Kaffee brauchen«, stimmte er ihr zu. »Ist die Kombüse auf Ihrem Boot in Ordnung?«

»Ich denke schon.«

»Sie denken schon.« Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie das Boot schon lange?«

»Nein. Mein Bruder ... hat es mir hinterlassen.«

Die Erklärung klang sogar in Honors Ohren schwach. Sie hatte entsetzliche Angst vor kleinen Booten und haßte es zu fischen.

Beides würde Jake schon sehr bald herausfinden. Dann würde er sich fragen, warum sie lernen wollte, ein Boot zu fahren, und warum sie unbedingt fischen wollte.

Vielleicht würde er ja als Grund Masochismus akzeptieren.

»Ich ...« Sie schluckte und versuchte es erneut. »Es ist noch immer sehr schmerzlich. Ich möchte lieber nicht darüber reden.«

Jake war nicht überrascht. Ganz gleich, wie unschuldig Honor auch aussah, sie verbarg eine ganze Menge vor ihm.

Aber letztendlich tat er das auch.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir sehen uns Ihr Boot einmal an.«

Kapitel 2

Im Südwesten schob sich eine Wolkenwand wie eine Federdecke über die Berge der Olympic Halbinsel. Über ihnen beherrschte noch die Sonne den Himmel. Das Wasser lag ruhig da, es glänzte wie feine blaue Seide. Nur der geheimnisvolle mächtige Strom der Gezeiten störte die ruhige Oberfläche der Meerenge.

Honor zögerte am Ende des Kiesweges, der die felsige Klippe hinunterführte zum Strand, der etwa fünf Meter tiefer lag. Die Luft war kühl und sauber, es duftete nach Tannen. Sie wollte wirklich nicht diesen kleinen Frieden stören, indem sie fischen ging. Andererseits war alles besser, als nur dazusitzen und sich über Kyle Sorgen zu machen. Mit entschlossenen Schritten ging sie auf das Dock zu.

Jake war Honors Zögern entgangen. Er lief den Weg zum Dock hinunter und betrat das offene Heck der Tomorrow. Er hielt kurz inne, um ein kleines Fach des Dollbordes am Heck zu öffnen. Dort drehte er eine Scheibe herum, um beide Batterien anzustellen.

Als er sich wieder aufrichtete, stellte er fest, daß er noch immer allein an Bord war. Er wandte sich um, um nachzusehen, was mit seinem unwilligen Fischergeschöpf geschehen war.

Honor stand auf dem Dock und betrachtete die Tomorrow, wie eine mißtrauische Katze eine gefüllte Badewanne beäugt.

»Stimmt etwas nicht?« fragte er.

»Es bewegt sich.«

Er sah sich aufmerksam das Boot an. Sowohl der Bug als auch das Heck waren sicher an den Klampen am Dock festgemacht.

»Wie meinen Sie das?« fragte er. »Es ist an beiden Seiten festgebunden.«

»Aber warum hüpft es dann so herum?«

Jake blickte auf das Deck der Tomorrow. Das Boot schwankte leicht, während es sein Gewicht ausglich und das von dem sanften Wind bewegte Wasser leise gegen das Boot plätscherte.

»Es hüpft herum«, wiederholte er ihre Worte. »Honor, sind Sie schon je zuvor auf einem Boot gewesen?«

»Natürlich.«

»Wann?«

»Beim letzten Mal habe ich die Fähre nach Vancouver Island genommen.«

»Das zählt nicht. Diese Fähren sind so groß wie ein Flugzeugträger.«

»Deshalb mag ich sie ja auch. Sie hüpfen nicht auf und ab.«

»Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, was sie in einem ordentlichen Wind tun.«

Sie ignorierte seine Bemerkung.

»Sind Sie schon je zuvor auf einem kleinen Boot gewesen?« fragte er.

»Einmal.«

Der Blick in ihrem Gesicht verriet ihm, daß es nicht gerade eine angenehme Erfahrung gewesen sein mußte.

»Was ist passiert?« wollte er wissen.

»Lawe und Justin – zwei meiner Brüder – haben mich mit zum Fischen genommen. Ein Wind kam auf, und das Boot hat sich aufgebäumt wie ein Bulle beim Rodeo. Ich mußte mich auf den Boden legen, zu den Fischen, damit ich nicht über Bord fiel.«

»Und wie alt waren Sie damals?«

»Dreizehn.«

»Sind Sie danach noch öfter zum Fischen gegangen?«

»Sehe ich etwa aus wie ein Masochist?«

»So, wie ich das sehe, tragen Sie unter Ihrem überweiten Jogginganzug ein härenes Hemd.«

Sie hob ihr schwarzes Sweatshirt hoch und enthüllte einen turmalingrünen Pullover, der ihr sehr gut paßte.

»Einfache Baumwolle«, erklärte sie. »Und mein Jogginganzug ist nicht überweit. Er ist bequem.«

Schnell blickte Jake weg von dem schlanken Körper, den Honor ihm so unerwartet gezeigt hatte. Unter dem Anzug, der groß genug war für einen Mann wie ihn, war seine Arbeitgeberin genauso gebaut, wie er eine Frau liebte. Nicht zu dünn. Nicht zu dick. Nicht zu groß. Nicht zu klein. Genau richtig für seine Hände. Genau richtig für seinen Mund. Genau richtig überall.

Zu schade, daß sie eine Donovan war. Jake war längst aus dem Alter heraus, eine Frau zu bumsen, der er nicht traute.

Doch leider konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann ihn das letzte Mal eine Frau so sehr interessiert hatte wie diese hier. Außerdem gab es nur wenig bessere Gründe, in der Nähe einer Frau zu bleiben als eine neue, heiße Affäre. Und er hatte die Absicht, in Honors Nähe zu bleiben, bis sie Kyle gefunden hatten und mit ihm die Ladung gestohlenen Bernstein.

Jake blickte sie an und lächelte.

»Bequem, wie?« sagte er. »Nun, wenn ich naß werde, weiß ich immerhin, wo ich einen trockenen Jogginganzug finden kann.«

»Halten Sie die Luft an. Ich werde wahrscheinlich viel eher naß werden als Sie.«

»Weil Sie noch immer auf dem Dock stehen?«

Sei seufzte und sah ihn an. Sobald sie in das Boot trat, würde sie wieder zu ihm aufsehen müssen. Und sie würde mit dem Boot hin und her schwanken. Mit einem wortlosen Stoßgebet machte sie einen großen Schritt vom Dock – und blieb prompt mit dem Absatz ihres Turnschuhs irgendwo am Dollbord hängen.

Jake fing Honor auf, so mühelos, wie er in das Boot getreten war. Er sah in ihre erschrockenen Augen, lächelte ein wenig und ließ sie dann viel langsamer los, als er nach ihr gegriffen hatte.

»Danke«, murmelte sie.

»Gern geschehen. In der Stadt gibt es einen Laden, wo sie Deckschuhe verkaufen.«

»Wie schön für sie.«

»Noch besser für Sie. Wenn das Deck naß wird, werden Sie glauben, daß Sie Schlittschuhe untergeschnallt haben, wenn Sie keine Deckschuhe tragen.«

»Naß! Das Deck sollte nicht naß werden. Deshalb habe ich Sie doch eingestellt.«

»Wasser ist nun mal naß. Boote schwimmen auf dem Wasser. Boote werden naß.«

»Und schon verschwindet Ihr Trinkgeld.«

Jake kicherte, dann schüttelte er den Kopf und lachte laut auf. Auch wenn sie in der Wahl ihrer Geschwister einen schlechten Geschmack bewiesen hatte, so war Honor Donovan doch ein Mensch, den er mochte.

Der Gedanke ließ ihn sofort wieder nüchtern werden. Das letzte, was er jetzt brauchen konnte, war, Kyles kleine Schwester zu mögen. Nur weil sie offensichtlich eine große Portion des Charmes der Donovans geerbt hatte, war das noch lange kein Grund, sie zu mögen, und noch weniger Grund, den Fehler zu machen, ihr zu vertrauen. Am Ende dieses glatten, verräterischen Abhanges wartete die Art von Wut und Enttäuschung, die er auch damals gefühlt hatte, als er festgestellt hatte, daß Kyle auf der einen Seite ein so guter Kamerad sein konnte und dennoch so hinterhältig war. Es würde Jahre dauern, bis sich Jakes Firma von dem Schlag erholt hatte, für den Kyle verantwortlich war, wenn sie sich überhaupt noch einmal davon erholen würde.

Es war schon lange her, seit Jake einen anderen Menschen so falsch eingeschätzt hatte. Soweit es ihn betraf, würde eher die Hölle einfrieren, ehe er noch einmal einen solchen Fehler machte.

Leute starben, wenn sie einen derartigen Fehler begingen.

»Ich werde auch ohne Trinkgeld überleben«, erklärte er ihr. »Besorgen Sie sich Deckschuhe, wenn Sie sich um Ihre Fischereilizenz bemühen.«

Honor starrte ihn an, die Überraschung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er zwang sich zu einem Lächeln und rief sich ins Gedächtnis, daß Kyles Schwester, was auch immer sie sein mochte, auf keinen Fall dumm war. Sie durchschaute ihn viel mehr, als es ihm lieb war. Ebenso wie ihr, offensichtlich. Sie schien nicht sehr glücklich zu sein über das, was sie in seinen Augen gelesen hatte.

Doch das war nichts Neues. Eine Menge Menschen wurden unsicher, wenn er sie auf diese gewisse Weise ansah.

Jake streckte die Hand aus.

»Ich dachte, Sie erwarten kein Trinkgeld«, sagte sie.

»Die Schlüssel.«

Ohne ein Wort steckte Honor die Hand in die Tasche ihres Sweatshirts und holte eine einfache Schlüsselkette hervor. Zwei Schlüssel hingen daran. Der eine sah eher aus wie ein altmodischer Dietrich, der andere wie ein übergroßer Kofferschlüssel.

»Ich weiß nicht, wie man den Motor startet«, gestand Honor.

»Aber ich weiß es. Deshalb haben Sie mich ja eingestellt.«

Er nahm den altmodischen Schlüssel und steckte ihn in die Tür, die in die Kabine des Bootes führte, dann drückte er die Türklinke herunter. Die Tür öffnete sich leicht. Die große, getönte Glasscheibe in der Tür glänzte im Sonnenlicht.

»Warum setzen Sie sich nicht einen Augenblick in den Pilotensessel?« schlug er vor.

»Äh, sicher. Welcher ist das denn?«

»Vorne auf der Backbord-, auf der linken Seite«, sagte Jake. »Gleich gegenüber vom Rudersitz. Das Ruder ist das Ding, das so aussieht wie ein Steuerrad.«

»Eines davon ist gleich hinter Ihnen.«

»Das ist die Achterstation. Ich möchte, daß Sie im Inneren des Bootes sind.«

Honor rührte sich nicht. »Sie sollten mir beibringen, wie ich das Boot fahre. Ich werde nichts lernen, wenn ich drinnen sitze, während Sie draußen zu tun haben.«

»Ist Ihnen das mit dem Lernen wirklich ernst?«

»Sehr sogar.«

Jake blickte in ihre ruhigen, golden-grünen Augen und zweifelte nicht an der Ehrlichkeit ihrer Worte. Was auch immer für ein Interesse sie am Fischen hatte, sie wollte lernen, wie sie das Boot ihres Bruders fahren konnte.

Erleichterung und auch Enttäuschung stiegen in ihm auf – Enttäuschung darüber, weil sie Teil von Kyles Plan zu sein schien, wie auch immer dieser aussehen mochte, und Erleichterung, daß sie doch nicht so unwissend zu sein schien, wie sie bei dem Telefongespräch mit Archer vorgespielt hatte.

»Okay«, meinte Jake. »Sind Sie bereit für Lektion Nummer eins?«

Honor nickte.

»Das erste, was Sie tun müssen, wenn Sie an Bord kommen, ist, die Abdeckung über der Maschine aufzumachen und den Motor zu überprüfen.«

»Dieses kleine Fach dort?« fragte sie und deutete auf das Heck.

»Nein, diese große Abdeckung hier.«

Er deutete auf die quadratische Wölbung, die mehr als die Hälfte des freien Raumes im Heck des Bootes einnahm.

»Aber Sie haben zuerst dieses kleine Fach geöffnet«, wandte Honor ein. »Und dann die Kabinentür.«

»Ich wollte sichergehen, daß Sie nicht im Weg sind, wenn ich den Motor überprüfe.«

»Warum?«

»Die Abdeckung frißt Zehen.«

»Würde sie sich auch mit einem Käsesandwich zufriedengeben?«

Jake versuchte, nicht zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Sie war eine sehr weibliche und noch viel humorvollere Ausgabe von Kyle.

Kyle, der mit seinem Charme sogar Stahl entrosten konnte.

»Stellen Sie sich hierhin«, befahl Jake und deutete auf eine Stelle rechts neben sich, gegenüber vom Dock. »Und passen Sie auf Ihre Zehen auf.«

Er bückte sich, schob die Finger seiner linken Hand unter die Motorhaube und hob sie hoch. Sie öffnete sich zum Heck hin. Als die Haube oben war, gab es kaum noch genug Platz, wo man stehen konnte, ohne in den Motorraum zu fallen. Es gab keine freie Stelle, um sich zwischen die Kabinentür und die Haube zu schieben.

Honor pfiff leise durch die Zähne, als sie den glänzenden schwarzen Motor betrachtete, der den Hohlraum ganz ausfüllte. »Das ist eine tolle Maschine!«

»Vierhundertvierundfünfzig Kubikinch«, stimmte er ihr zu. »Sie geht ab wie ein verdammter blauer Blitz, wenn man nichts dagegen hat, viel Benzin zu verbrauchen.« Er zog den Ölmeßstab heraus und hielt ihn ihr hin.

»Sieht aus wie Öl«, bemerkte Honor.

»Gute Nachrichten. Salzwasser im Öl ist wie Zucker in einem Benzintank. Pech. Also, das erste, was man tut, wenn man an Bord geht, ist, sicherzugehen, daß kein Salzwasser eingedrungen ist, seit man angelegt hat.«

Er steckte den Ölmeßstab zurück. Dann hockte er sich hin und begann eine gründliche Inspektion der verschiedenen Schläuche, Klemmen und des Zubehörs.

»Wonach fahnden Sie?« wollte Honor wissen.

»Nach sorgloser Wartung.«

»Kyle mag ja recht aufbrausend sein, aber sorglos ist er nicht.«

Jake grunzte und suchte weiter. In der kurzen Zeit, in der er Kyle gekannt hatte, war er ihm nicht sorglos erschienen. Aber er war ihm auch nicht vorgekommen wie ein Schuft. Wenn es um Kyle Donovan ging, nahm Jake nicht ein einziges verdammtes Ding als gegeben hin, bis er es in der Hand gehalten und es mit eigenen Augen inspiziert hatte.

»Tipptopp und sieht sehr gut aus«, meinte er schließlich und richtete sich wieder auf. »Passen Sie nun auf Ihre Zehen auf. Diese Abdeckung ist schwer genug, um sie Ihnen abzuhacken.«

Honor rückte an die Seite des Bootes zurück, als Jake die Motorhaube vorsichtig wieder schloß. Es gab keinen Verschluß, mit dem die Haube gehalten wurde, der war nicht nötig. Das Gewicht allein genügte, um sie an ihrem Platz zu halten.

»Und was jetzt?« fragte sie.

»Das Gebläse. Gehen Sie rein, und setzen Sie sich links neben den Fahrersitz.«

»Fahrer? Heißen die Leute auf einem Boot nicht Kapitän oder Pilot oder haben sonstwie einen wichtigen Namen?«

»Das kommt ganz darauf an. Ich persönlich fahre ein Boot und wende nicht mehr Seemannssprache an, als unbedingt nötig ist.«

Honor ging nach unten in die Kabine, durch den schmalen Gang, dann kletterte sie hoch auf einen Sitz, von dem sie nach vorn über den Bug blicken konnte. Im Gegensatz zu einem Auto war das Steuerrad des Bootes auf der rechten Seite. Die »Windschutzscheibe« bestand aus drei getrennten Fenstern, die von oben nach unten steil nach innen ragten.

Nach einem Moment kam auch Jake und stellte sich neben sie. Er füllte den schmalen Gang ganz aus. Mit jedem Atemzug atmete sie den Geruch nach Seife und Wärme ein, zusammen mit einem Duft, der irgendwie unerklärlich männlich war. Sein schwarzer Bart war nicht neu und auch nicht sehr gestutzt. Seine Haut war sauber. Das Haar war dick und glänzend schwarz, er hatte es aus dem Gesicht gekämmt. Der Schnurrbart war ein wenig länger als der restliche Bart. Er betonte die scharfe Linie seines Mundes.

Sie fühlte sich versucht, die Hand auszustrecken und mit dem Finger über die scharf umrissenen Konturen seiner Oberlippe und der vielversprechenden Wölbung seiner Unterlippe zu fahren. Der Gedanke verwirrte sie genausosehr, wie er sie erregte. Sie hatte eine so eindringlich weibliche Neugier für einen Mann nicht mehr gefühlt, seit sie in der Pubertät gewesen war.

»Dies ist die Kontrolle des Gebläses«, sagte er.

Zögernd blickte sie auf das Kontrollpult vor dem Steuerrad. Er deutete auf eine Reihe schwarzer Kipphebel.

»Gebläsekontrolle«, wiederholte sie.

»Das Gebläse saugt Luft aus dem Motorenraum. Man darf ein Boot nie starten, wenn das Gebläse nicht vorher schon einige Minuten lang gelaufen ist.«

»Warum nicht?«

»Gasdämpfe. Wenn sie sich ansammeln und man dann die Zündung einschaltet, könnte die Explosion jemanden bis ins Weltall befördern.«

Ihre Augen weiteten sich. »Pech.«

»Das schlimmste Pech.«

Er legte den Kipphebel um. Irgendwo im Heck des Bootes, unter der Motorhaube, schaltete sich ein Ventilator ein.

Jake hob den unteren Teil des Fahrersitzes hoch und lehnte sich gegen das Steuerrad. Unter dem Sitz befand sich ein kleines Spülbecken. Er stellte die Wasserpumpe an, suchte nach einem Kessel und gab sich dann mit einem Kochtopf zufrieden. Er goß Wasser hinein und stellte ihn auf den kleinen Ofen in der Kombüse.

Danach wandte er sich wieder dem Boot zu. Er kontrollierte alle Funktionen, sah sich die Skalen an und hörte dann den Seewetterbericht aus Kanada ab, das nur zwanzig Meilen weit entfernt lag. Dabei zeigte er Honor jedes einzelne Teil der Ausrüstung und gab ihr eine kurze Erklärung seiner Funktion.

Sie sah ihm zu, lauschte und nahm alles in sich auf. Unter normalen Umständen hätte sie ein seemännisches Etwas nicht von einem nautischen Sonstwas unterscheiden können, und es hätte sie auch nicht gestört. Aber seit Kyle verschwunden war, war überhaupt nichts mehr normal.

Mit der Tomorrow hatte sie die besten Möglichkeiten, ihm zu helfen. Der logische Teil ihres Verstandes wußte, daß das Boot ihr allerdings keine großen Chancen einräumte. Doch ihre Gefühle störte das nicht. Dies war der einzige Weg, der sich ihr bot. Sie würde das Beste daraus machen, und sie würde Archers guten Rat, nach Hause zu gehen und sich wieder an ihre Entwürfe zu machen, ganz einfach ignorieren.

Es war schwer, Entwürfe zu machen, wenn sie das Gefühl nicht abschütteln konnte, daß der Schlüssel zu Kyles Verschwinden – und zu seiner Wiederkehr – irgendwo in den San-Juan-Inseln lag und nur darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden. Deshalb hatte sie auch in der ganzen Stadt die Zettel aufgehängt, auf denen stand: »Gesucht: Fischereiführer, der sich mit SeaSports auskennt.«

Jetzt hatte sie endlich ihren Führer. Und sie mußte sich nun nur noch auf kalte Elektronik konzentrieren und nicht auf einen Fremden mit sauberen Händen und einem ironischen, sexy geschwungenen Mund. Wenn man bedachte, daß sie aufgehört hatte, mit Männern auszugehen, weil sie es leid war, daß die Männer ständig glaubten, Sex sei genauso obligatorisch – und auch genauso aufregend – wie das Atmen, dann würde es kein Problem sein, ihre Gedanken auf die Elektronik zu richten.

Doch es war ein Problem.

Sie fragte sich, ob Jake vielleicht aufhören könnte, Luft zu holen, wenn er so nahe neben ihr stand. Der Duft nach Kaffee und Sahne, der aus seinem Mund kam, machte sie unruhig.

»Kartenplotter«, sagte Honor und versuchte, ihre Gedanken beisammenzuhalten.

»Was ist damit?«

Sie runzelte die Stirn und blickte auf den kleinen Computerbildschirm links neben dem Steuerrad. Der Bildschirm und andere elektronische Ausrüstungsgegenstände waren an einem beweglichen Arm montiert, den man beiseite schieben konnte, wenn das Boot vor Anker lag. Es gab eine ganze Anzahl von Knöpfen mit geheimnisvollen Beschriftungen um den Bildschirm herum. Darunter entdeckte sie noch eine Zahlenreihe, doch er sah nicht aus wie irgendein Computer, den sie je gesehen hatte. Keine der Aufschriften half ihr, sich vorzustellen, wozu all die Knöpfe dienen sollten. Außerdem hatte Kyle noch dazu eines seiner verrückten Zusatzgeräte angeschlossen. Sie hatte keine Ahnung, welche Änderungen ihr Bruder in all den elektronischen Geräten noch eingebaut hatte.

Aber wenn er einen elektronischen Schlüssel in seinen Computer eingebaut hätte, dann kannte sie das Paßwort, das er in all seinen anderen Computern benutzte. Sie brauchte also nur noch herauszufinden, wie man diese ganze elektronische Ausrüstung benutzte, während sie gleichzeitig lernte, wie man das Boot fuhr. Dann würde sie Zugang zu dem ganzen speziellen Computerzeug – wenn es das überhaupt gab – mit Kyles Paßwort bekommen. Sie würde den Schlüssel zu all dem herausfinden, würde die SeaSport anlassen und losfahren, um ihren Bruder zu retten.

Ganz einfach.

Honor schob alle Selbstzweifel und die großen Lücken in ihrem Plan beiseite. Wieder und wieder in den letzten Wochen hatte sie über all das nachgedacht, sie hatte nichts anderes mehr getan, als den Teppich in ihrem Haus abzunutzen, weil sie ständig ruhelos hin und her gelaufen war. Das Geheimnis des Erfolges lag darin, eine Sache nach der anderen in Angriff zu nehmen. Im Augenblick war es das wichtigste, die Elektronik der Tomorrow zu kapieren.

»Wie arbeitet der Kartenplotter?« fragte sie.

»Gut, hoffe ich. Wenn nicht, dann gibt es noch immer die altmodische Art, einen Kurs zu bestimmen.«

»Und was ist die altmodische Art?«

»Kompaß, Stift und Lineal.«

»Erklären Sie mir die elektronische Methode.«

Jake zog ein wenig die Augenbrauen hoch. Der unterschwellige Befehl in ihrer Stimme hatte zwar höflich, aber doch sehr bestimmt geklungen. Erregung ergriff von ihm Besitz. Sie mochte weder Boote noch Wasser, aber sie hatte die ernsthafte Absicht zu lernen, wie man einen Kurs ausarbeitete. Wenn die Cops recht damit hatten, daß Kyle heimlich in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, dann konnte der Schlüssel zu dem Versteck des gestohlenen Bernsteins die Tomorrow sein.

Die Dame mußte bei all dem wahrscheinlich ständig an Bernstein denken. Das war die beste Neuigkeit, seit Jake gehört hatte, daß der Bernstein verschwunden war und die Regierungen von Litauen, Kaliningrad und Rußland entschieden hatten, daß der Paß von J. Jacob Mallory in ihren Ländern nicht länger willkommen war. Genauso wie die aller übrigen Vertreter seiner Firma, Emerging Resources.

»Ich bin an ein anderes elektronisches System gewöhnt«, erklärte Jake ihr, und das stimmte auch. »Ich muß mich erst mit diesem hier befassen, ehe ich Ihnen etwas beibringen kann.« Das stimmte zwar nicht, aber Teufel, sie war eine Donovan. Lügen waren für den Clan der Donovans nichts Neues.

»Wir werden es zusammen lernen«, meinte Honor.

Jake hätte dem Computer lieber die Wahrheit entlockt, ohne daß ihm dabei ein Mitglied der Familie Donovan zusah. »Wenn Sie es eilig haben, können Sie es sich auch selbst beibringen.«

»Wie?«

»Lesen Sie die Handbücher, die zu der Ausrüstung gehören.«

»Ich habe keine gefunden.«

»Dann werden wir es wohl auf meine Art tun müssen, nicht wahr?«

»Teufel, ja.«

Er mußte trotz allem lächeln. »Geduld ist eine Tugend.«

»Keuschheit auch. Aber ich kenne kaum einen Mann, der voll dahintersteht.«

»Und auch kaum eine Frau.«

»Gleichberechtigung. Ist sie nicht großartig?«

Jake sah ihr fröhliches Lächeln, das ihm ihre strahlendweißen Zähne enthüllte, und fragte sich, ob wohl auch Honor auf das sexuelle Karussel aufgesprungen war, das in den Städten üblich zu sein schien. Ihm hatte es nie gefallen, ein Punktekonto zu führen. Und er mochte auch keine Erfolgskontrollen.

»Ja, großartig«, gab er kühl zurück. »Der weiße Knopf ist das Signalhorn. Diese beiden Hebel hier drüben sind die Benzinzufuhr und der Schalthebel.«

»Welcher ist welcher?«

»Der schwarze ist der Schalthebel. Der rote ist für das Benzin. Sie können jetzt das Gebläse abschalten.«

Um an den entsprechenden Hebel zu kommen, mußte Honor sich über den Gang zwischen ihnen lehnen. Bis auf das Signalhorn sahen alle anderen Hebel gleich aus. Schwarz.

Als sie sich ein Stück weiter vorbeugte, um die feine weiße Schrift unter den dunklen Hebeln zu lesen, stellte sie fest, daß Jakes Körper viel wärmer war als seine Stimme. Die Wärme seines Körpers drang durch die fleckige Jeansjacke. Sie war fleckig, aber nicht schmutzig. Der Stoff der Jacke war so sauber wie ihre eigenen Fingernägel. Sie fragte sich, ob wohl auch sein restlicher Körper so warm und so sauber wäre.

Denk nautisch, rief sie sich selbst zur Ordnung. Denk wie ein Fischer. Denk an eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.

Ihre sauberen, unlackierten Fingernägel drückten auf den Knopf des Gebläses. Der Lärm aus dem hinteren Teil des Bootes erstarb.

»Ich nehme an, der Motor funktioniert genauso wie die anderen Volvo-Bootsmaschinen, die ich kenne«, sagte Jake.

»Und was bedeutet das?«

Er legte seine große Hand um den Hebel mit dem roten Knopf. Dann drückte er ein paarmal auf den Knopf der Benzinzufuhr. »Sie springen schneller an, wenn man sie zuerst ein wenig streichelt.«

»Ist das etwa so eine Redensart bei den Seeleuten, die eine doppelte Bedeutung hat?« murmelte Honor leise vor sich hin und glaubte, Jake hätte sie nicht gehört.

»Wie zum Beispiel ›Breitseite‹ oder ›jeder Hafen im Sturm‹?« fragte er mit unbewegtem Gesicht.

Ihr Kopf fuhr herum. Er sah sie aus einer Entfernung von nur fünf Zentimetern an. In dem transparenten Silbergrau seiner Augen entdeckte sie blaue, grüne und schwarze Fleckchen. Seine Wimpern waren viel zu lang für einen Mann, der eine fleckige Jeansjacke trug und Schwielen an den Händen hatte.

Seine Augen waren wunderschön.

»Sagen Sie es mir nicht, lassen Sie mich raten«, griente er. »Ihnen gefallen meine Augen.«

Eine leichte Röte überzog Honors Wangen.

»So viel männliche Bescheidenheit«, sagte sie gedehnt. »Schwärmen all Ihre weiblichen Klienten für Sie?«

»Was glauben Sie?«

»Ich finde, es ist eine gute Sache, daß Sie kein Trinkgeld erwarten. Sie besitzen die zwischenmenschliche Finesse einer Neutronenbombe.«

Er lachte kurz auf, dann steckte er den kleinen Zündschlüssel in das Schlüsselloch und drehte ihn herum. Der Motor erwachte zum Leben. Er verstellte den Hebel und regelte die Benzinzufuhr. Der Motor beruhigte sich zu einem zufriedenen Brummen.

»Wir werden ihn ein paar Minuten warmlaufen lassen«, erklärte er. »Es ...«

»Sagen Sie es mir nicht, lassen Sie mich raten. Das ist wieder eine seemännische Predigt über heiße Motoren und eine glatte Fahrt.«

»Wenn das Öl sich nicht verteilt, dann ist die Reibung schlecht für den Motor.«

»Im Ernst. Würde es Sie interessieren, daß Kyle und ich zusammen Rennwagen gebaut haben?«

»Dann werde ich keine Zeit mehr damit verschwenden, Ihnen zu erklären, wie man die einzelnen Flüssigkeitsspiegel kontrolliert.«

»Gut.«

»Ja. Das läßt uns mehr Zeit für die interessanten Dinge.«

»Elektronik.«

»Fischen.«

Honor versuchte, nicht so begeistert auszusehen wie eine verstopfte Toilette, die gurgelnd überläuft.

»Wo bewahrt Ihr Bruder seine Papiere auf?« fragte Jake.

»Was für Papiere?«

»Bootsregistrierung, Eigentumsnachweis, Versicherung, Bedienungsanleitung des Herstellers und solche Dinge.«

»Hinter Ihnen, in der zweiten Schublade.«

Er trat einen Schritt zurück und wandte sich um. Die winzige Kombüse befand sich gleich hinter dem Sitz des Fahrers. Zusätzlich zu dem kleinen Propangasofen gab es noch einen Schrank und vier Schubladen. Jake sah nach dem Kaffeewasser, das noch nicht kochte, dann suchte er nach den Papieren. Mit einem schnellen Griff öffnete er den Verschluß der zweiten Schublade.

Zwei große, wasserfeste Umschläge lagen darin. In dem ersten Umschlag fand er die Dokumente, die er brauchte. Im zweiten Umschlag entdeckte er Garantiekarten, Anleitungen und Handbücher für alles an Bord bis auf die Elektronik.

»Ich werde den Kaffee machen, während Sie sich das ansehen«, schlug Honor vor.

Er nickte abwesend und setzte sich an den kleinen Tisch in der Kombüse, ohne von den Papieren aufzublicken. Eine Zeitlang waren die einzigen Geräusche das Klirren der Kaffeekanne und der Becher und das Brummen des Motors.

Sie reichte ihm einen Becher mit Kaffee.

»Danke«, sagte er und las noch immer in den Papieren. Er nahm einen kleinen Schluck, dann sah er überrascht zu ihr auf. »Woher wußten Sie, daß ich Sahne im Kaffee trinke und keinen Zucker?«

»Das habe ich an Ihrem Atem gerochen. Sie haben Glück, daß ich meine Frühstücksflocken mit Milch esse.«

Sie stellte die Milch zurück in den kleinen Kühlschrank unter dem Sitz in der Eßecke.

Jake beobachtete sie genau und fragte sich, ob sie wohl mit ihm flirtete oder ganz einfach nur seine Frage beantwortete. Er wußte es nicht, weil er ihre Augen nicht sehen konnte.

»Und was den Zucker betrifft ...« Sie reckte sich, nahm ihren Kaffeebecher und kletterte auf den Fahrersitz. »Wenn Sie Süßes mögen, dann hat es sich in Ihrer Persönlichkeit noch nicht gezeigt.«

Jake lächelte ein wenig, dann beschäftigte er sich weiter mit den Papieren. Als er damit zufrieden war, steckte er alles wieder in den entsprechenden Umschlag und schloß die Schublade.

»Und?« fragte sie.

»Alles in Ordnung.«

Was er ihr nicht verriet, daß er mehr Garantieurkunden und Anleitungen gefunden hatte, als es auf der Tomorrow Ausrüstung gab. Zwei zusätzliche Außenbordmotoren wurden erwähnt. Einer davon war fest montiert am Heck des Bootes, um als Motor beim Fischen eingesetzt zu werden. Der andere, kleinere Motor war wahrscheinlich für ein Zodiac, ein Beiboot, für das er in dem Umschlag auch Papiere gefunden hatte.

Zusätzlich mußte es noch den Empfänger für ein globales Satelliten-Navigationssystem geben, dessen Garantiekarte auch in den Umschlag gestopft worden war, als hätte Kyle es viel zu eilig gehabt, um sie ordentlich dazuzulegen. Das Datum auf dem Kaufbeleg lag erst dreizehn Tage zurück.

Kyle war vor vier Wochen in Kaliningrad verschwunden und war auf der anderen Seite der Erde wiederaufgetaucht, im Nordwest-Pazifik, nur um sofort wieder zu verschwinden. Der kleinere Motor und der Zodiac waren offensichtlich zusammen mit ihm verschwunden. Wahrscheinlich auch dieses Ortungssystem.

Jake nahm sich insgeheim vor, heute abend den tragbaren Empfänger seines eigenen Ortungssystems von seiner SeaSport zu holen.

»Besaß Ihr Bruder vielleicht noch irgendeinen Tender?« fragte Jake.

Honor sah ihn verständnislos an. »Wie bitte?«

»Ein kleines Boot.«

»Noch eines?«

»Nein, nur so einen kleinen Flitzer. Ein kleines Skiff, mit dem er an Land fuhr, wenn er irgendwo ankerte, wo es kein Dock gab.«

»Das weiß ich nicht. Ist es wichtig?«

»Es wird nicht verlangt von der Küstenwache, wenn Sie das meinen.«

Sie hatte keine Ahnung, was sie meinte, deshalb hielt sie lieber den Mund. Ihre lose Zunge hatte ihr bei diesem Mann bereits genügend Schwierigkeiten gemacht. Ihre Zunge oder ihre Hormone oder beides zusammen, ohne daß sie ihren Verstand gebrauchte.

»Wo verwahrt er denn seine SWs?« fragte Jake.

»Seine was?«

»Schwimmwesten.«

»Oh. Ich habe keine Ahnung.«

Der Blick, den Jake ihr zuwarf, verriet ihr, daß er nicht überrascht war. Er bückte sich und sah kurz in die Koje im Bug. Doch dort entdeckte er nichts, was einer Inspektion der Küstenwache genügt hätte.

Und er nahm an, daß sie kontrolliert werden würden. Genau das hätte er getan, wenn ihm kein besserer Weg einfiele, die Tomorrow gründlich zu inspizieren.

Honor versuchte, an Jake vorbei in die Koje zu gucken, doch das gelang ihr nicht. Er versperrte den Eingang zur Koje und noch mehr. Ein wirklich großer Mann.

»Sind die ... äh, die SWs dort?«

»Nein. Hier ist nichts als Kleidung, Angeln, ein Landungsnetz und zwei Takler.«

»Ich nehme an, ein Takler ist keine SW?«

»Wohl kaum. Er schwimmt wie ein Anker.«

»Wofür sind die denn gut?«

»Zum Fischen.« Er trat einen Schritt zurück und wandte sich dann zu ihr, ohne sich wieder aufzurichten. »Rücken Sie Ihr Bein zur Seite.«

Sie atmete schwer, als er eine Hand zwischen ihre Unterschenkel schob. Die Berührung war nur sehr kurz, doch genügte sie, sie zu beunruhigen. Schnell setzte sie sich so, daß er unter den Sitz sehen konnte, ohne sie zu berühren.

Auch wenn Jake nichts sagte, so war ihm doch nicht entgangen, daß ihre Augen sich plötzlich geweitet hatten, als er ihre Beine berührte. Wenn sie wirklich auf dem sexuellen Karussell gefahren war, so mußte es schon eine Weile her sein. Instinktive Körpersprache log nicht. Die junge Dame war es entschieden nicht gewöhnt, daß man sie berührte.

Zu schade. Es wäre wesentlich leichter gewesen, wenn sie der Typ Frau gewesen wäre, die jeden Tag den Mann wechselt und zusätzlich dreimal an einem Samstagabend. Dann würde er sich nicht wie ein rücksichtsloser Schuft fühlen, wenn er dem rein weiblichen Interesse folgen würde, das er in ihren Augen las.

Er verfluchte sich insgeheim für diese völlig unpassende Anziehungskraft für die Schwester eines Diebes – und wahrscheinlich sogar eines Mörders –, dann zwang Jake seine Aufmerksamkeit wieder zurück zu dem offenen Raum hinter dem Sitz. Dort bewahrte er seine Schwimmwesten auf, wenn er allein auf dem Boot war.

Dort hätte er sie auch gleich gefunden, wenn er nicht so lange darüber nachgedacht hätte, wie schön es doch wäre, unter diesen weiten Jogginganzug zu greifen und darunter ein warmes, glattes Bein zu spüren.

»Hier sind sie ja«, grummelte er und griff unter den Sitz. »Genau das, was die Küstenwache verlangt. Eine geprüfte Schwimmweste.«

Sie blickte auf die dicke grellorangefarbene Jacke, die er in der Hand hielt.

»Ich finde, das sieht eher nach einer Verkleidung für Halloween aus«, meinte sie.

»Im Wasser ist sie deutlich zu erkennen, ganz gleich, wie dunkel es ist. Wenn Sie die tragen bei einem Kopfsprung in das kühle Naß, dann schwimmen Sie immer oben und sind leicht zu finden. Das macht den Leichenbeschauer glücklich.«

»Den Leichenbeschauer? Ich dachte, die Schwimmwesten sind dazu gedacht, daß man am Leben bleibt.«

»Wenn Sie das wollen, dann fallen Sie nicht ins Wasser. Ob im Sommer oder im Winter, es ist so kalt, daß es Sie spätestens nach dreißig Minuten umbringt.«

Honor blickte aus dem Kabinenfenster auf das blaugrüne Wasser der kleinen Bucht. Eine unbeständige Brise kräuselte die seidenglatte Oberfläche, so daß sie aussah wie glänzender Samt. Das Meer sah so gefährlich aus wie Zuckerwatte.

Und doch wußte sie, wie schnell der Wind auffrischen und stärker werden konnte, wie er gefährliche Wellen vor sich hertreiben konnte. Das hatte sie als Mädchen erlebt, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war. Justin und Lawe hatten es zwar geschafft, das Skiff gerade noch an Land zu bringen, doch für sie war es eine beängstigende Erfahrung gewesen. Seit diesem Tag hatte sie kein kleines Boot mehr betreten. Wenn es nach ihr ging, hätte sie das auch nie wieder getan. Aber Kyle zu finden war wichtiger als die alte Angst aus ihrer Kindheit.

Jake legte die Schwimmweste wieder unter den Sitz. Dann sah er sich die beiden einfacheren Schwimmwesten an, die weiter hinten in der Öffnung lagen. Jede der dicken, unförmigen Westen hatte den Stempel der Küstenwache auf dem grellorangefarbenen Stoff.

Er richtete sich wieder auf und wandte sich zu der Frau um, die entweder eine hervorragende Schauspielerin war oder die sich wirklich von ihm als Mann angezogen fühlte. Er hoffte, daß sie nur eine Schauspielerin war, vom gleichen Kaliber wie ihr Bruder. Immerhin hätte sie auch genauso arrogant und hochmütig sein können wie der Rest der Familie.

Irgendwie glaubte er, daß er nicht so viel Glück haben würde. Oder Unglück. Er war sich noch nicht ganz sicher, wie er sich entscheiden würde. Das wiederum störte ihn mehr als der frische, ein wenig nach Pfefferminze duftende Geruch von Honor Donovan.

Denk an Kyle, versuchte Jake sich einzureden. Den hast du auch gemocht. Und er hat dich grausam über den Tisch gezogen.

Wenigstens würde es mehr Spaß machen, sich von Honor übervorteilen zu lassen.

»Ich nehme an, Ihr Bruder hat ein Logbuch geführt?« fragte Jake jetzt ungeduldig.

»Ja. Könnten Sie mir meine Tasche geben? Ich habe mir das Logbuch angesehen, weil ich hoffte herauszufinden, wo er ... gefischt hat.«

Jake blickte über seine Schulter zu der Stelle, an die sie deutete. Auf der anderen Seite der Kombüse stand ein Tisch zwischen zwei weiteren Bänken. Man konnte dort mit vier Leuten sitzen, wenn es vier Freunde waren. Und Tisch und Bänke konnten umgebaut werden in ein Bett für zwei, wenn es sehr, sehr gute Freunde waren. Oder wenn sie planten, sehr gute Freunde zu werden.

»Das ist eine Tasche?« fragte er und legte den ledernen Rucksack auf den Tisch.

»Für mich schon.«

Er hielt ihn mit einer Hand hoch. »Haben Sie denn welche gefunden?«

»Was?«

»Gute Fischplätze.«

»Äh ... nein.«

»Also haben Sie sich entschieden, einen Fischereiführer einzustellen?«

»Äh ... ja.«

Jake entschied, daß Honor noch viel Übung brauchte, um lügen zu können. Falls sie nicht wirklich eine Weltklasse-Schauspielerin war, die so tat, als ob sie die unschuldige Schwester eines diebischen Bruders ...

Genervt rief Jake sich zur Ordnung und sagte sich, daß das ganz egal war. Auf jeden Fall bedeutete die Dame mit den Katzenaugen und dem schnellen Verstand für ihn Schwierigkeiten in übergroßem Jogginganzug.

»Warum gucken Sie so skeptisch?« fragte Honor. »Sie haben doch sicher schon einmal die Tasche einer Frau gesehen.«

»In allen Größen und Formen. Ich habe sogar schon erlebt, daß eine Frau einen lebenden Hahn und zwei Hühner aus ihrer Tasche gezaubert hat. Natürlich war sie auf dem Weg zum Markt, deshalb war es im Grunde nicht so überraschend.«

»Und auch frische Eier?«

»Zählen Rühreier?«

»Nein.«

»Dann gab es dort keine Eier.«

Ein Lächeln veränderte Honors angespanntes Gesicht. Es war nur ein sehr kurzes Lächeln, deshalb war es um so bezaubernder.

»Also gut«, lenkte sie ein. »Vielleicht beim nächsten Mal. Wo war denn dieser Markt?«

Wenn er ihr verriet, daß es in Kaliningrad war, hätte er die Art von Fragen zu erwarten, die er ihr nicht unbedingt beantworten wollte.

»Auf dem Land«, sagte er. »Ist das das Logbuch?«

»Ja, aber es steht nichts Interessantes darin. Nur Reihen von Daten über Benzinverbrauch und Inspektionsnachweise und solche Sachen.«