Tiefseetauchen - Ida Lødemel Tvedt - E-Book

Tiefseetauchen E-Book

Ida Lødemel Tvedt

0,0
18,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ida Lødemel Tvedt schreibt über die Einsamkeit und den Wahnsinn, über das Nachhausekommen und die Liebe in Zeiten der Neurodiversität. Ihre Essaysammlung handelt vom Kindsein und Heimat, von Abenteuerlust und den Tiefen des Ozeans. Die norwegische Schriftstellerin betrachtet allgegenwärtige wie aktuelle Stimmen, etwa deren von Simone Weil, Martha Nussbaum, Hannah Arendt, Sartre, Nietzsche, Dolly Parton, Susan Sontag, Gertrude Stein, James Baldwin und Claire-Louise Bennett. Ihre Reflexionen bewegen sich in einer Welt – zwischen Europa und den USA, zwischen urbanen Kulissen und weiten Landschaften –, die zeitweise kalt und desillusioniert wirkt, um dann wiederum euphorisch und wohlgesonnen zu erscheinen. Tvedt geht mit Narzissmus, Rassendiskurs und menschlicher Essenz ins Gericht – und mit der Essayistik an sich. Sie schließt sich einer Bewegung an, die von der Ich-zentrierten Essaykultur abrücken will, um politischer, gesellschaftskritischer und sachorientierter Essayistik mehr Raum zu geben. Ihr Werk "Tiefseetauchen" zeichnet sich durch eine scharfe Beobachtungsgabe, eine starke kritische Stimme und erfrischende Gedankengänge aus. Der Titel des Essays mag auf das Streben nach Tiefe, das Ergründen gesellschaftlicher Ordnungen und Dynamiken hindeuten, doch vielleicht nimmt er auch nur Bezug auf die 'maritimen Fantasien' der Autorin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Norwegische Originalausgabe: Marianegropen

© Gyldendal, Oslo 2019

Diese Übersetzung wurde mit finanzieller

Unterstützung von NORLA veröffentlich.

1. Auflage

© 2021 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte an der deutschen Übersetzung vorbehalten.

Wir verwenden in diesem Buch die Vorschläge für diskriminierungssensible Sprache von Amnesty

International: www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache.

Text: Ida Lødemel Tvedt

Übersetzung: Karoline Hippe

Lektorat: Patrick Schär, www.torat.ch

Korrektorat: Gertrud Germann, www.torat.ch

Titelbild, Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Druck: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-9524114-1-4eISBN 978-3-9055740-2-9

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Ida Lødemel Tvedt

Tiefseetauchen

Essay

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe

Inhalt

SCHLEPPNETZ

Kindheit und Eroberungslust | Wale, Sündenböcke und ozeanische Gefühle

HEIM(KEHREN)

Wurzelmetaphern | Muttersprache | die Natur und die Funktion des Ursprungsmythos | Simone Weil, Jean-Paul Sartre, Martha Nussbaum, Hannah Arendt | warum Senilität das beste Gegenmittel gegen den Schmerz in westlichen Gesellschaften ist

DAS ASTRALPROJEKT

Brooklyn | Newtown Creek | amerikanische Zustände

DAS SÜNDENBOCKSYMPOSIUM

Ein Alt-Right-Ideologe | Eurabien, Strauss, Platon und Trump | die Hermeneutik des Verdachts | die Mitschuld der nordischen Frau | Groll und Begehren unter dem Deckmantel der Ideologie

OBSCURITAS! ORNATUS! AD UNDAS!

Die Apokalypse ist immer der letzte Schrei | Make-up, Huren und Tintenfische | Dolly Parton: die Hohepriesterin der Tussimetaphysik

DIE JUNGENZIMMERGLEICHUNG

Anders Behring Breiviks Spiegelbild | das Bombenauto | Bücher, Reden und Gedichte zum 22. Juli

SCHIFF AHOI, IDENTITÄT!

Ayatollah Khomeini in Homers Schuld

ÜBERWACHUNGSKAMERA

Für zeitweise Objektivierung, gegen Symbiose

RÖNTGEN

Gescheiterte Versuche, sich selbst zu verschenken

KAKERLAKE

Inszenierung von Femininität | Kreml | das Verhältnis von Erotik und Fäule | Prämissen des Jüngsten Gerichts

ABSCHWEIFUNGEN INS INFERNO DER IDIOTEN

Susan Sontags »Faszinierender Faschismus« | prostituierte Philosophen, Pornografie und junges amerikanisches Jammern

GEMEINSCHAFTSPROJEKT SCHAM

Adams und Evas Kulturgeschichte | Messiaskomplexe und Neohistorimus | Greenblatt, Russell Brand und Augustin

DER VORHANG FÄLLT, ERSTER AKT

Titus Andronicus und Stephen K. Bannons Tragödie

OMPHALOSKEPSIS

1Die Essaydebatte

2Das Orakel von Delphi

3Anne Carsons »The Gender of Sound«

4Abscheuliche Begeisterung

5Besonnenheit

6Blinde Wut, ausgelöst von Theorien zu blinder Wut

7Eine andere menschliche Essenz als das Selbst

8Akropolis: Ein Comic über Selbstbeherrschung

9Akropolis: Die Literatur ist keine Demokratie

10Akropolis: Ein Kindsmord

11Bis die Augen müde sind und die Haut so blasiert wie ein beschnittener Pimmel?

12Kinder ohne Nabel: Warum es in Kinderliteratur von Anarchisten nur so wimmelt

13Die Omphalohypothese: Hatte Adam einen Nabel?

14Ekphrastische Geschichtserzählung und die Renaissance der Affektenlehre

15Metakritik und anderes Gruppenwichsen: Hamann vs. Kant

16Memoir vs. Essay: Todd Solondz, Joan Didion und Oscar Wilde

17Meghan Daum vs. Christopher Hitchens: Warum Frauen nicht witzig sind

18Gertrude Stein: Eine narzisstische Lesart

19Die Verwandtschaft zwischen Essayistinnen und Stand-up-Komikerinnen: Maggie Nelson, Louis C. K. und Hilton Als

20Amerikanischer Rassendiskurs und andere transatlantische Missverständnisse: Ta-Nehisi Coates | Childish Gambino | James Baldwin

21Pornografie des Elends: Ariel Levy | Marquis de Sade | Hanya Yanagihara

22Mehr Nabelschau

DREI DIALOGE

Der flagellierende Flaneur: Wayne Koestenbaum

Der Bauchredner: Greil Marcus

Das Theater der Zerbrechlichkeit: Madame Nielsen

DIE LIEBE IN DEN ZEITEN DER NEURODIVERSITÄT

Autismus-Spektrum-Störung und Epilepsie |

Olaug Nilssen, Lars Amund Vaage und Antonin Artaud | die Erhabenen des kommunalen Betreuten Wohnens

DIE CHIRURGISCHE PRÄZISION DER DROHNENMETAPHER

Über die Kulturgeschichte der Drohne

GEGEN DAS KRITISCHE DENKEN

Gottes Lobby und der Gläubige als Sündenbock des Säkularismus

WÜTENDE MÜTTER

Ein Badeausflug und eine Gartenparty | Ehrfurcht und Verurteilung | Jacqueline Rose, Vigdis Hjorth, Suzanne Brøgger, Mary Gaitskill, Karl Ove Knausgård und Tomas Espedal | Kreuzzugrhetorik: Wenn Opfer zu Tyrannen werden

BETREUTES WOHNEN

Claire-Louise Bennett und Hovdebygda | Einsamkeit, Bestialität und Wahnsinn | Henry David Thoreau, Friedrich Nietzsche und Agnar Mykle | Liebe und Rückkehr nach Hause

LITERATURVERZEICHNIS

SCHLEPPNETZ

Kind gewesen zu sein, ist, wie auf einer Party voller nüchterner Menschen als Einzige getrunken zu haben. Wir wissen, dass wir dort gewesen sind, dass wir hemmungslos waren und im Mittelpunkt stehen wollten, erinnern uns aber lediglich an Bruchstücke und Standbilder. Nur die nüchternen Erwachsenen, die uns als Kind erlebt haben, können sich ganz klar daran erinnern, wer wir damals gewesen sind, was wir gemacht haben, wie wir uns ausgedrückt haben. Vielleicht werden wir deshalb bis ans Ende unseres Lebens von einer existenziellen Katerparanoia verfolgt.

Wahrscheinlich stehen wir auch deshalb nie vollkommen sicher auf beiden Beinen, wenn wir uns später als Erwachsene ausgeben: Wir trinken Kaffee und Calvados, ziehen mit unseren Lebenspartnern zusammen, haben Jobs und tappen in die folgenschweren Fallen der Erwachsenen – und im Lichte dieser neuen Hoffnungen und Enttäuschungen beginnen wir, aus unserer Kindheit zu erzählen.

Wir besuchen das Viertel, in dem wir aufgewachsen sind. Wir gehen zwischen den Reihenhäusern im Stadtviertel Melkeplassen spazieren, nehmen den Trampelpfad, der zum Løvstakken führt, einem der sieben Gipfel, von denen aus man auf Bergen hinunterschauen kann, auf die Insel Askøy, das Gullfjell, den Flughafen, und lassen den Blick über die Hochebene Vidden schweifen, mit Gangsterrap auf den Ohren und fremdsprachigen Gedichtbänden in der Jackentasche. Wir gehen am Supermarkt vorbei und an der Schule, an den Kränen und Containern und an dem Wohnblock, vor dem wir immer Süßigkeiten von dem beschränkten Pädo bekommen haben, vor dem wir überhaupt keine Angst hatten. Wir waren schneller und schlauer als er.

Am Fuße unseres Viertels liegt der Puddefjord, schwer und still wie eine abgekappte Walzunge. Die weißen Holzhäuser im Stadtviertel Damsgård färben sich blau in der Dämmerung, das Licht in den Stuben wird wärmer, oranger, der wehmütige Kontrast zwischen drinnen und draußen wird deutlicher. Die reine Winterkälte riecht nach Fäulnis, Kamin und kjøttboller.

Im Sandkasten auf dem Spielplatz sitzen drei Kinder, so wie wir einst dort gesessen haben, bloß dass unsere Regensachen steifer und geschlechtsneutraler waren. Wir meinen, uns noch genau daran erinnern zu können, wie es sich anfühlte, dort zu sitzen, in so einem kleinen Körper, in Ölzeug, mit einem Riemen unter den Gummistiefeln befestigt. Wir trugen Mützen mit Ohrenklappen, die mit nassen Schleifen unter unserem Kinn festgezurrt worden waren. Fürsorgliche Erwachsene hatten versucht, uns zu versiegeln, die wir dort saßen und buddelten, mit Sand in den Schürfwunden, Sand zwischen den Milchzähnen und Modder unter den Fingernägeln.

In der Erde rund um unsere Grundschule suchten wir nach Überresten des Krieges, fanden Sprengkabel in der Böschung, Patronenhülsen vom Schießplatz und träumten davon weiterzugraben, vorbei an Ruinen, Fossilien, Reliquien aus der Zeit der Wikinger, durch den Erdkern bis nach China. Wir haben Krieg gespielt, Mutter-Vater-Kind, Panzer, Räuber und Jagdflieger. Wir waren Bergenser, aber wenn wir spielten, imitierten wir den generischen Oslo-Dialekt, den wir aus dem Fernsehen kannten, wir ließen unsere Stimmen extra kindisch klingen, als würden wir nur so tun, als wären wir Kinder.

Wenn ich groß bin, dachte eine von uns, werde ich Entdeckungsreisende. Ich werde im Dschungel in einem Safarizelt sitzen, in Khakihose und weißem Hemd, werde mit einer Pfauenfeder Briefe schreiben, an einem Mahagonitischchen, das von Sklavenrücken getragen wird.

Ohne zu wissen, woher solche Fantasien stammten, stellte sie sich vor, wie sie davonsegelte, allein, androgyn, kühn den Fluss hinab, in alle dunklen Herzen.

Das Boot auf dem Spielplatz wurde zum Piratenschiff erklärt. Wir machten uns auf, segelten über den Atlantik, hinter uns das schäumende Kielwasser, auf unseren Lippen der salzige Geschmack eroberter Männer.

Wir konnten nie so genau sagen, was wir eigentlich haben wollten, und vielleicht würden wir niemals verstehen, worum es eigentlich ging, dieser Heißhunger auf Süßes, der in uns rumorte, diese Gier danach, uns tief in die Erde und bis auf die andere Seite zu bohren. In etwas anderes hinein. Wir wollten die Welt verspeisen, Rollen verspeisen, alles sein, uns aus Nischen herausschleimen, neue Leben beginnen, wieder und wieder, vor allen fliehen, die uns kannten, unter Sentimentalisten leben, unter Amateuren und Lügenbaronen, wollten alle Aufgaben enthusiastisch angehen und nur halbe Sachen machen, nie zu lang, die Welt von Berggipfeln betrachten und durch Lupen, aufsaugen, aufgesaugt werden, uns an Bildern laben, an Menschen, an Erzählungen und Dingen, wollten mit einem vielfältigen »Ich« operieren, das immer wieder von Neuem hochgefahren wird, zurechtgerückt – von einem Satz, einem Treffen, einem Kleidungsstück –, das ausgeschaltet, angeschaltet, ausgeschaltet, in einem anderen Raum angeschaltet wird, unter anderen Menschen, mit anderen Meinungen und anderen Neigungen. Jedes Mal anders.

Wir saßen unter dem Esstisch und lauschten einer Horde Achtundsechziger, die über die EU und die Bildungspolitik diskutierten und über irgendeine Kulturpersönlichkeit sagten, sie sei dumm oder schlecht oder fies. Alle hatten sich vorher über die letzte Morgenbladet-Debatte schlaugemacht, hatten aus den drei vorgeschlagenen Standpunkten ausgewählt, ihre Argumente verinnerlicht und nun ihre wöchentliche, einstimmige Rüstung angelegt. Sie sprudelten vor moralischer Überlegenheit, verurteilten aufs Geratewohl, traten nach unten gegen alles, was assi war, traten nach oben gegen die Neureichen und die Mächtigen und die Amerikanisierten, während sie ihre nächsten Ferien in der Provence planten. Sie klangen wirklich engagiert, als glaubten sie an all das, als sprächen sie von einem prinzipiellen Zentrum aus, über Dinge, die sie überschauen konnten.

Wir saßen unter dem Tisch und blickten auf die blanken Schuhe und die runzligen, hautfarbenen Nylonstrümpfe, wurden high von Parfümund Zigarettendämpfen. Der Tisch klirrte, wenn die Erwachsenen lachten. Sie waren lieb und zuverlässig und grotesk und fremd, wie die Hausherrin bei Tom & Jerry, die ab und zu ins Zimmer kommt und die heimlichen Kämpfe der kleinen Wesen unterbricht, sichtbar nur von der Taille an abwärts.

Die Argumente von dort oben wurden immer leerer, die Meinungen immer willkürlicher. Könnten sie genauso gut das Gegenteil von dem vertreten, was sie eben noch so hitzig diskutiert hatten? Wir wurden misstrauisch. Waren diese ekelhaft netten Erwachsenen etwa ein Teil einer gigantischen Verschwörung, eine Geheimbündelei, die über uns den Raum einnahm, wie selbst ernannte Propheten in der Wüste oder wie der ehemalige Staatsminister Christian Michelsen, der auf einem lächerlich hohen Sockel über dem Festplassen thronte, festgehalten, wie abgemeldete Autoritäten festgehalten wurden, in einem ewigen Ringelreihen aus Abwertung, tagaus und tagein, stets mit einem frischen, blau-weißen Möwenschiss auf dem Scheitel. Die Poren auf den erwachsenen Nasen waren groß wie vulkanische Krater. Was waren sie eigentlich? Statisten? Gedankenleser? Erinnerten die glänzenden Stirnen und die heftige Mimik nicht an die Statuen, die Wasser in Springbrunnen spuckten? Wir schauten hinauf in die haarigen, unendlichen Nasenlöcher und erhaschten einen Blick auf eine Art schleimige Verstopfung: Unbehagen in der Skulptur.

Wir sagten es nie, aber wir bevorzugten Fossegrimen, die Harfe spielende Bronzestatue, die unter dem Wasserstrahl am Ole Bulls Plass kniete, vor dem Hotel Norge, in einem künstlich angelegten Teich voller Schaum und Vogelfedern und Münzen. Dort konnten wir von Betonstein zu Betonstein springen, ohne nass zu werden, um den mythologischen Kinderfänger herum, der dir das Harfespielen beibringt, wenn du deine Seele verpfändest. Wir waren besessen von Männern, die Kinder anlockten, sprachen unablässig über sie, nicht etwa, weil wir sie getroffen hatten oder große Lust verspürten, ihnen zu begegnen, sondern weil wir ständig vor ihnen gewarnt wurden, ständig Zettel von der Schule mit nach Hause brachten, auf denen Eltern berichtet wurde, dass ein neuer weißer Transporter an der Ecke gesehen worden war.

So wurden uns unsere ersten Sündenböcke vorgestellt: durch stummes Überreichen von Warnungen, gedruckt auf A4-Seiten, halbiert, um Papier zu sparen; einen ähnlichen Zettel bekamen wir, wenn jemand aus der Klasse Läuse hatte. Es war eine Art massenpsychologische Einweihungszeremonie: Erzählungen von Läusen und lockenden Männern wurden zwischen Schule und Zuhause vermittelt – zwischen gesellschaftlichem Leben und Privatleben –, während wir langsam und zyklopisch eine Katastrophe errichteten. Informationen zu Dunkelmännern kamen in Umlauf, irgendwie still, irgendwie vorsichtig, unter Eltern, Lehrern und Kindern verbreitet. Und so taten wir uns zusammen, um ganze Nachbarschaften mit Perverslingen zu bevölkern, die uns etwas antun wollten. Wir suchten überall nach ihnen, und jedes Mal, wenn wir einen ihrer Transporter im Augenwinkel sahen, wurde uns ganz flau im Magen. Dem Begehren wurde das Kostüm der Politik angezogen, die intolerante Moralisierung wurde als Sicherheitsmaßnahme ausgegeben, und Kindern wurden ekelhafte Schreckensszenarien eingetrichtert, damit sie instinktiv verstünden, dass die Gemeinschaft immer ihre Opfer forderte.

Wir hofften nur, dass es nicht uns traf. Wir hofften, dass wir gute Menschen waren, niemanden enttäuschen würden, doch wir ahnten bereits, dass die Erwachsenen uns vorenthielten, wie schnell das gehen konnte.

Alles, was uns an uns selbst zweifelhaft erschien, schrieben wir unseren Gespensterentwürfen zu, die hinter Häuserecken und Bäumen verschwanden, gesichtslose Gestalten, die drohten, sich durch die Hintertür oder durch den Schornstein wieder zurück ins Haus zu schleichen. Die kollektiven Embryos unserer Fantasie waren Objekt der Begierde und gemeinsamer Feind zugleich, an ihnen konnten wir uns definieren, uns abgrenzen. Wir wurden unschuldig und begehrenswert, sie wurden zu dem, worin wir uns nie wiedererkennen durften, wenn wir es zu lieben und nützlichen Mitbürgern, Familienmitgliedern und Arbeitnehmerinnen bringen wollten. Von alledem bekamen wir wahrscheinlich einen Vorgeschmack, als wir unter dem Esstisch saßen: Etwas brodelte unter der Oberfläche! Etwas wurde aus dem Blickfeld hinausgeschubst. Und was waren eigentlich diese Zeitungen, diese Diskussionen, diese Überzeugungen, diese langen, wohlartikulierten Wortschwalle, die die Welt erklärten? Waren die Debattenressorts nur die kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung der Kindheit? War all diese Polemik, so schrill und spröde, nur eine Tarnoperation? Sollten wir sie sabotieren, unter dem Tisch hervorkommen und rufen: »Was geht eigentlich in euren Häusern vor? Was passiert in den Schlafzimmern, am Frühstückstisch, im Wohnzimmer, wenn einer von euch wach ist und der andere schläft? Was seid ihr selbst ernannten Guten imstande, gegen das zu unternehmen, was ihr als böse erklärt habt? Wonach sehnst du dich, was ist das Schlimmste, das du einem anderen Menschen angetan hast, und was kannst du nicht verzeihen?«

Eines Tages zog ein wildes Kind in eines der Häuser in unserem Viertel. Plötzlich war sie einfach da, eine schwindelerregende neue Freundin mit Goldhaar und sonnengebräunten Armen, buschigen Augenbrauen und einem offenen Gesicht. Ein Portal in ein Paralleluniversum. Im Jahr zuvor hatte sie im Ausland gelebt, doch nun würde sie auf der Damsgård-Schule anfangen, eine Klassenstufe über mir. Acht Jahre alt, weltgewandt, stets mit einem Hut auf dem Kopf. Mit ihr wurden Straßen und Häuser zu Traumlandschaften, Fenster wurden zu Türen, Lehrer wurden zu Clowns und Kleidungsstücke zu Kostümen. Sie war rein, destillierte Lebenskraft, sie verwandelte Laksevåg in einen Vulkan, ließ Lava zäh und unbändig über das Damsgårdsfjell quellen. Wir beobachteten, wie Fußballplätze und Sandkästen vor unseren Füßen verkohlten, alles wurde zu Asche, während wir mit unseren schulanfangsweißen Turnschuhen über den knirschenden Kies liefen. Sie war Schönheit und Gewalt und Poesie, ohne Interesse für die Wirklichkeit und das Erwachsensein, aber mit einem infernalischen Lebenshunger. Wir verkleideten uns als alte Pärchen, tauschten unter uns Männer- und Frauenrollen, mit Stock und Hut, Lippenstift und Bart, hohen Absätzen und Apfelsinen als Brüsten. Wir dichteten sogar einen Reim: »Apfelsinen im Kleid, da sind die Jungs nicht weit.«

Wir bauten uns große Nester aus Zweigen, mit Platz für uns beide, klauten die Feuerzeuge unserer Eltern und setzten unser Bauwerk in Brand, liefen davon, um den Effekt mit einigem Abstand zu bewundern, sahen die Feuerwehr anrücken, dachten uns Alibis aus. Wir spielten Sex mit Puppen und miteinander, übten die Worte, die wir auf den hinteren Seiten der Mädchenzeitschriften unserer älteren Cousinen gelesen hatten: »Nimm mich«, oder: »Ja, so ist es gut.«

Wir dachten uns Geschichten über die Nachbarn aus, schrieben Briefe im Namen eines Nachbarn an einen anderen und warfen sie in die Briefkästen. Liebesbriefe und Kriegserklärungen. Wir erfanden Parolen und bastelten Plakate, spielten Demonstration. Wir spionierten den großen Jungs nach. Klopften bei den Junkies an und fragten, ob wir in ihrem Keller ein Klubhaus eröffnen dürften. Spielten Klingelstreiche im Sommer. Rutschten im Winter auf dem Eis durch den Wald. Laksevåg gehörte uns, wir zogen an allen Strippen. Die Erwachsenen wussten nicht, dass sie nur Marionetten waren und wir die Regie führten.

Bei der alternativen Ergründung eines Terrains durch ein Kind geht es um Abkürzungen, darum, welche Hindernisse überwunden werden müssen, um sich in Luftlinie von A nach B zu bewegen. Ein Viertel zu beherrschen, bedeutet, diesen Luftlinien zu folgen, während die trägen Erwachsenen die Bürgersteige entlangschlurfen wie Sklaven, ausgeschlossen von der tiefen Geografie der Nachbarschaft, einer Geografie, die nur von den toughesten Kids penetriert werden kann, die jeden einzelnen Riss und Auswuchs in den Straßen kennen und über diese herrschen, indem sie einfach nur geradeaus gehen, egal worauf sie stoßen, ob sie nun über Hecken und Zäune klettern müssen, an Mauern und Anhöhen empor, ob sie in die Fänge reizbarer Nachbarn geraten oder an Wachhunde und Rüpel.

In dem Viertel unserer Grundschule in Laksevåg gab es viele Kriegsruinen. Am Hafen lag Bruno, der deutsche U-Boot-Bunker, der später von der norwegischen Marine übernommen worden war, doch er verfiel immer weiter, Bäume wuchsen aus den Rissen in seinem Mauerwerk. Eine Wand der benachbarten Schule war mit Namen beschrieben: eine Gedenkstätte für alle Kinder, die während des missglückten Bombenangriffs der Alliierten ihr Leben verloren hatten. Näher an unserer Schule lagen ein norwegischer Bunker und ein rosafarbener Panzer, und auf dem Lyderhorn stand eine konservierte Kanone, an einer Bergseite, die durchlöchert war von Soldatenunterschlüpfen und Waffenlagerruinen. Der Fliegeralarm ging mittwochs um zwölf los. Vielleicht nur ein paar Mal im Jahr, aber es fühlte sich an, als schrillte er immerzu. Alle Schulen hatten Luftschutzräume. In ihnen saßen langhaarige Musiklehrer, die früher in Bands gespielt hatten, zwischen Maracas und Blockflöten, hinter schweren Tresortüren und fensterlosen Wänden, und brachten undankbaren Teenagern bei, »Hang down your head Tom Dooley, poor boy you’re bound to die« zu spielen.

Wir bildeten Banden. Klubhaus. Geheimsprache.

Wir fantasierten über Meerestiefen und Abgründe, träumten von Brunnen, Schluchten, Kluften im Boden, die sich zum Weltraum öffneten. Wir wollten von Spalten verschluckt werden, durch die Erde hinaus in eine schwarze, stumme Galaxis fallen, in der keine Schwerkraft existierte, nur Flow und Ausdehnung. Wir wollten in schneckenförmige Milchstraßen geworfen werden. Wir wollten in Unterwasserwäldern aus vertikal schlafenden Pottwalen schwimmen, durch Korallenriffe, in denen es vor wirbellosen Wesen nur so kreucht und fleucht, mit Mäulern zwischen den Finnen, Anus im Gesicht und Saugnäpfen an Tentakeln, wir wollten baden zwischen all dem, was in dem ertrunkenen Universum noch nicht ergründet worden war, umschlungen von dreizehn Meter langen Tintenfischen, die überall Geschmacksknospen haben und Haut, die in Farbspektakeln kommuniziert. Im Meer war das meiste ein Schlund, aber auch Verrat, Schmuck und Spiel, Allianzen zwischen den Arten, Camouflage und affektiertes Gehabe, Flirt und Abschreckungspropaganda. Wenn die anderen die Hölle waren, war das Meer eine Art Himmel.

Wir stellten uns vor, wie ganz Bergen im Wasser versank. Wir standen zwischen den sieben Gipfeln, die jetzt das Ende des Kontinentalschelfs bildeten. Die Wolkendecke über dem Ulriken war die Wasseroberfläche. Und ganz weit oben, am Ende der Ulrikenbahn, zog eine Pottwaldame ihre Kreise um den Fernsehmast. Ihr Bauch war schwer und groß, trächtig im sechzehnten Monat. Bald würde sie kalben, und die anderen Wale würden zu Hebammen, zögen das Kalb an der Schwanzflosse heraus, mit den Zähnen, hinterließen Bissspuren, die für immer Identitätsmarker blieben.

Wir lagen am Grund des Meeres und sahen hinauf zur Waldame, die durch die Wasseroberfläche brach, durch ein Loch in ihrem Kopf und ein anderes an ihrer Flanke atmete. Sie drehte sich, langsam, ließ die Schwanzflosse nach oben schnellen, neigte die größte Schnute der Welt gen Meeresgrund. Sie sandte Klicklaute durch das Wasser, die Geräusche hallten wider, über das Öl im Unterkiefer bis ins Innenohr. Sie jagte Riesentintenfische mit Echolotköpfen. Wir stellten uns vor, wir wären die Tintenfische: einsame, intelligente Beute, die in der Tiefe saß und sich selbst mit den Bocksprüngen ihrer Tentakel unterhielt. Gleich zögen wir gegen die Riesin in den Kampf, würden entweder gefressen oder schickten die Bezwungene zurück an die Oberfläche.

Wir kamen in die Mittelstufe. Kauften Sixpacks mit Hansa-Bier und tranken sie im Wald, in den Bergen, kletterten auf die Kanonen und schoben einander die Hände unter die Pullover. Wir knutschten mit zu viel Zunge und zu viel Speichel, zwischen braunen Glasscherben in den Bunkern. Wir stibitzten Stratos-Schokolade aus dem Supermarkt, tanzten eng aneinandergeschmiegt, mit nervösen Jungenhänden an unseren Hintern, in der Kirchendisko, in der salzigen Kälte der Nebelmaschine, high auf Zucker und Céline Dion. Die Scheinwerfer warfen wie Kartoffelchips geriffelte Muster an die Wände, über die Tische und die Menschen im Gewühl. Wir hatten uns die BHs ausgestopft. Wachstumsschmerzen im Rücken. Die coolsten Mädchen zogen die steifen Haargel-Pony-Typen von der Tanzfläche, am Süßigkeitenkiosk vorbei hinaus auf den Friedhof, und vögelten mit ihnen im Gras, den Rücken an die Grabsteine gelehnt.

Die Jungs waren immer noch Kinder, aber wir nicht mehr. Wir liehen uns die leer stehenden Wohnungen unserer geschiedenen Väter, luden die Jungs ein, die noch nicht einmal tranken, damit sie uns dabei zusahen, wie wir Reste-Cocktails aus Pfirsichlikör, Kahlúa und Campari mixten, bevor wir sie nach Hause brachten und in die Innenstadt fuhren, um mit den Kurden vorm McDonald’s zu flirten.

Mitten auf dem Schulhof der deprimierenden Håstein-Mittelschule, die auf einer Anhöhe über dem Puddefjord lag, stand ein festgeschweißter Splitter eines Bootes, das während der Besatzungszeit bombardiert worden war. Der Splitter war noch während des Krieges auf einen kleinen Felsen auf dem Schulgelände geflogen. Nun standen wir in den Pausen um ihn herum und verschwendeten keinen Gedanken an ihn, aber er war die ganze Zeit da, unter uns, die wir vorübergehend in ungelenke Körper verbannt waren, getarnt mit Axe-Deo und billiger Bräunungscreme. Null historisches Bewusstsein, obwohl die Geschichte unter uns im Boden vibrierte. Null Perspektive, obwohl ebendieser Boden unter unseren Buffalo-Schuhen mit allen anderen Orten verbunden war.

Doch dann wurden wir fünfzehn und sollten schon bald in die Oberstufe kommen, und da hob sich unser Blick aus dem pubertären Nebel. Die Sonne ging in jenem Sommer nicht unter. Alles floss. Wir verliebten uns in Bandjungs mit großen Löchern in den Ohrläppchen, grünen Iros und rot lackierten Fingernägeln, fettigem Haar und unreiner Haut. Wir träumten von Straßenprügeleien zwischen Vigrid-Nazis und den Punks, leidenschaftliche Jungs, die sich ineinander spiegelten, mit ihren Doc Martens und hochgekrempelten Jeans, Hosenträgern und Fred-Perry-Shirts, glatt rasierten Schädeln und geschwollenen, blutigen Lippen. Die Söhne der Sozialdemokratie verkleidet als britische Arbeiterklasse. Wir trugen alte Trachtenröcke aus dem Secondhand, um die Taille herum mit Nietengürteln und Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Wir lasen Nietzsche und die Gänsehaut-Reihe, kauften Buttons bei Witchy Bitchy, gingen nach der Party zum Nachglühen in die hohen Bäume auf der Halbinsel Nordnes. Wir ließen unser Haar verfilzen, fraßen uns glücklich Speckröllchen an, bedienten uns an den Fingern der Jungs und am Alkohol unserer Eltern. Wir zogen uns Strumpfhosen über den Kopf, schnitten Löcher in den Schritt, trugen sie als Nylon-Tops. Vielsagende Löcher überall. Das Kaputte, das Alte und das Schäbigschöne: Auf diese Weise zeigten wir uns so, wie wir glaubten zu sein.

Es war das Jahr, in dem sich die Landschaft und das große, unsichtbare Gespräch wieder zu öffnen begannen, genau wie sie sich schon zuvor geöffnet hatten, in den dunkelsten, einsamsten Augenblicken der Kindheit, in der wir uns Zeit freihielten, um unter der Bettdecke zu liegen und Zukunftsszenarien zusammenzuspinnen. Es war das Jahr, in dem ich mir Mein Kampf in der Bibliothek auslieh und auf der Busfahrt zwischen Schule und Innenstadt darin las. Ein durchsichtiger Plastikumschlag beschützte das schwarze Symbol und den weiß-roten Hintergrund, und mir gefiel, wie die anderen Passagiere zu dem Hakenkreuz in meinem Schoß herüberschielten und, das bildete ich mir zumindest ein, sich fragten, ob ich ein Neonazi in der Mache oder einfach nur geschichtsinteressiert war. Es war das Jahr, in dem ich die Bücher bei uns zu Hause in den Regalen entdeckte, aus der Zeit, in der meine Eltern noch Klassiker und Philosophen lasen oder zumindest kauften. Dinge öffneten sich: das Herz, Türen, eine Bucht, um die wir nicht wussten, und so weiter, und obwohl ich nicht viel verstand, erinnere ich mich an das zitternde schwarze Ziehen im Zwerchfell, das Gefühl, in einer in sich verhedderten Sprache festzustecken, fast schon passiv, und zu spüren, wie meine Sichtweise manipuliert und umgestaltet wurde, indem ich diesen außerirdischen Worten ausgeliefert war, die ausdrückten, was wir wissen konnten und was wir tun sollten, Familienfehde und große Politik, Maschinen und Pflanzen und fremde Städte. Die außerirdischen Worte waren ein Versprechen: Eine Erwachsenenwelt wartete, voller Feste und Hände und süßsaurem Schmerz. Es waren dieselben unausgesprochenen Grenzempfindungen, die in meiner Brust vibrierten, als ich zum ersten Mal allein zur Schule ging, durch den Schnee, noch vor Sonnenaufgang, mit meinen Sachen im Ranzen, wie ein kleiner Gesellschaftsmensch.

Später zogen wir zu Hause aus, blamierten uns, entdeckten Freiheiten auf Kosten unserer Zugehörigkeit und wurden zu Menschen, für die diejenigen, von denen wir kamen, zeitweise keine Toleranz aufbringen konnten. Trotzdem kehrten wir heim, zurückgeholt von der Nabelschnur, die sich um die halbe Welt gedehnt hatte. Wir versuchten, erwachsen und höflich zu sein und die Vergangenheitsmenschen nicht auf Tyrannen zu reduzieren. Versuchten, nicht in alte Rollen zurückzurutschen. Aber zu versuchen, sich von seiner Vergangenheit frei zu machen, ist, wie sich aus Treibsand zu befreien – je wilder man herumstrampelt, desto schneller versinkt man.

Jetzt durchfischen wir unsere Lebensgeschichten mit dem Schleppnetz auf der Suche nach einem Sinn. Wir steuern das Boot durch das Erwachsensein mit diesem massiven Netz im Schlepptau, überfischen unser Gedächtnis, Seemeile um Seemeile, radieren unser Sediment aus, während die ungewissen Gezeiten des Unbewussten wie ein unregelmäßiger Menstruationszyklus schalten und walten und sich sowohl auf Stimmung als auch auf Taillenumfang auswirken. Und während wir an der Kaimauer stehen und in den Fjord hinunterstarren, stiebt ein Makrelenschwarm aus dem Nassdunkel hervor, bricht durch den Wasserspiegel und zappelt spastisch an der Oberfläche, in einem kollektiven epileptischen Anfall. Aus den Augenwinkeln sehen wir eine kreischende Möwe sich eines der zuckenden Wesen schnappen, wie eine Spaghetti, und plötzlich ist es unmöglich, einen Unterschied zwischen dem Meer dort unten und dem Begehren hier drinnen zu erkennen. Desillusioniert vom Leben an Land wenden wir uns zu der Parallelwelt um, in der alles fließt. Und wir sind nicht allein. Im Laufe einiger ungewöhnlicher Jahre in einem politischen Delirium füllen sich die Buchhandlungen mit Büchern über Tintenfische und Wale und über Seewege als alternative weltweite Streckennetze. In den Romanen ist das Meer Spiegel, Ursprung und Erlösung, ab und zu Bedrohung durch Sintflut. In den USA und in Europa binget man The Blue Planet, als wäre das Gegenteil von Demokratie nun nicht mehr Tyrannei, sondern das Meer.

Ist es der Drang, das Bekannte zu durchbrechen und etwas Fremdes zu erobern, der sich in Sehnsucht nach dem Meer ausdrückt? Es ist anmaßend, an dieser Stelle Sigmund Freud ins Spiel zu bringen, aber gerade zu Kindern und zum Meer hat er etwas sehr Spezifisches zu sagen, sodass ich es nicht einfach so ohne Verweis auf ihn stehlen kann, denn er verwendet den Begriff »ozeanisches Gefühl«, um eben spirituelle Erfahrungen, infantilen Narzissmus und das Aufeinandertreffen des Egos mit einer augenscheinlich in sich stimmigen Welt zu beschreiben. Für Freud besteht also eine deutliche Verbindung zwischen Kindheitserinnerungen, maritimen Metaphern und dem Bedürfnis, Formen zu erschaffen, in denen alles – Politik, Philosophie, Kunst und alltägliche Erfahrungen – zusammenhängt. Wenn das Kind vom Meer fantasiert, zeugt das von einem frühzeitigen Größenwahn, dem Bedürfnis, das Leben zu meistern, indem man Punkte in Zeit und Raum miteinander verbindet. In der Meeressehnsucht vereinigen sich körperlicher und intellektueller Hunger zu einer Neugierde, die dem Eifer von Pferdemädchen gleicht, einer Art Erotik. Sigmunds jüngste Tochter, Anna Freud, beschrieb Pferdewahn, von dem so viele junge Mädchen befallen sind, als eine Art psychologische Generalprobe: Die Mädchen üben sich an Pferden und überbrücken damit die Wartezeit, bis sie erwachsen sind und echte Männer zwischen die Finger kriegen. Für Freud junior ist die Pferdemanie eine Mischung aus Penisneid, Helfersyndrom und Eroberungslust: Die besessenen Mädchen wollen den Hengst umsorgen, ihn bezwingen, vielleicht sogar zu ihm werden.

Hier eine ziemlich tendenziöse Hypothese zu zwei verschiedenen Persönlichkeitstypen: Es gibt Pferdemädchen und Walmädchen. Das Pferdemädchen ist fürsorglich und gepflegt, liebt Boybands und blanke Oberflächen, das Walmädchen ist egozentrisch, megaloman und zerzaust, fühlt sich zu großen, rauen Oberflächen hingezogen. Für die Walmädchen ist das Meer ein Bild des Ursprungs, der Totalität und des Zusammenhangs, aber auch der Auflösung, des Abgrunds und der Selbstauslöschung. Der Wal ist der König dieser Tiefe: Objekt für ein Bündel verwirrter Sehnsüchte, die eigentlich aus der gleichen Kraft entspringen, etwas Großes, Schwarzes, Hohles und Wütendes, Brausendes, von einer Tiefe irgendwo in der Magengegend, die nicht wusste, wie sie gefüllt werden konnte, denn Begehren ist gedankenlos und nicht zu retten, wie ein Außenbootmotor, der nicht weiß, wie man ein Boot steuert. Die Idee war, dass das Universum sich in dieser Tiefe befindet. Wir versuchten, es zu zeichnen. Es ähnelte einer dunkelrosa Gebärmutter, mit durchsichtigen Wänden, orange erleuchtet von einer mit Pottwalfett gefüllten Öllampe. Die Urlandschaft war also sowohl feminin als auch ozeanisch, der Ursprungsmythos ein fleischlicher und schicksalsträchtiger Anfang des Obskuren. Und dorthin sollten wir zurückkehren, wenn wir uns eines Tages fallen ließen, in eine andere Möglichkeit, Zeit und Raum wahrzunehmen, als auf diese alltägliche Art und Weise. Hinein in einen Ort, an dem alles Substanzlose und Langweilige verschwand. Es war die Sehnsucht nach einer Verdunkelung, oder danach, von der Welt, die wir auf der Karte fanden, auf der alles gemessen, diskutiert, verbessert und erklärt werden konnte, wegzuimplodieren.

Aus den Finsternissen würden wir Briefe nach Hause schicken, Reiseberichte, aus den tiefsten, undurchsichtigen Kluften des Meeres, aus dem Challengertief des Marianengrabens und aus anderen Ur-Diskotheken, die von selbstleuchtenden, gigantischen Amöben bewohnt sind. Wir würden aus den trüben Schluchten des Mittelatlantischen Rückens Bericht erstatten, unerreichbar für Kamera und Echolot, wo Wale und Aale – die großen, glitschigen – sich abseits des menschlichen Radars treffen und sich vermehren. Das war vermutlich die Ambition: eines Tages zu einem glänzend schwarzen Knäuel von Aalgezücht in der Sargassosee zu werden. In diesem verdammten, gesegneten Leerraum zu implodieren, der nicht wusste, wie er gefüllt werden konnte, aber dennoch weiterhin anschwoll und dröhnte, wie ein Motor im Magen, ein konstantes Räuspern gegenüber dem Wahren und dem Guten und dem Schönen.

Damals hegten wir noch nicht diesen Gedanken, dass die Fantasiewelt von Archetypen bevölkert ist, dass unsere Sehnsüchte Klischees sind und dass ganze Denksysteme auf den inneren Bildern aufgebaut sind, die sich anfühlen, als wären sie allein unsere: die schwindelerregenden Gedanken über das Meer, die leuchtende Dunkelheit hinter den Augenlidern, das Gefühl, unendliche Vielfalt und Widersprüche jenseits von Gut und Böse zu enthalten. Wir waren noch so jung, dass wir uns vorstellten, unsere Sorgen und unsere Begeisterung seien tiefer als die der anderen. Wir haben nicht gesehen, dass Tiefenmetaphern metaphysischer Kitsch sind.

Erst nach einer Reihe von mehr oder weniger gescheiterten Bildungsreisen sollten wir zur Besinnung kommen, uns an Jargon sattessen und es, von der Fetischisierung der Entfremdung durch Philosophie und Poesie ermüdet, mit Arne Næss’ Worten sagen: Wehe dem, der das Gefühl hat, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein. Zu guter Letzt sollten uns die größten Fragen nur noch wie dummes Geschwätz und Ablenkungsmanöver vorkommen. Die reflektierende Sprache sollte zu einem Wirbelwind in einer Schneekugel werden: ein verführerisches Chaos, das sich schnell wieder zur Ruhe legt, über dieselbe versiegelte Landschaft.

Die Hermeneutik des Verdachts – diese Denkweise, die unsere Lehrer und Eltern geprägt hatte – sollte aufhören, cool zu wirken. Und der Machtkomplex sollte allmählich hohl und anstrengend erscheinen, bis wir schließlich entschieden, dass ein Mensch, der sich der Macht widersetzt, wie ein Wal ist, der sich dem Wasser widersetzt. Was mit der Sehnsucht nach Sündenböcken und Abgründen begann, sollte in der Erkenntnis enden, dass der Einsicht durch Grenzüberschreitung Grenzen gesetzt sind und dass das Brutale und das Tabuisierte nicht unbedingt wahrer sind als das Gute und das Gewöhnliche.

Die Erzählung hat bereits in den 1990er-Jahren in Laksevåg begonnen, mit einer kindlichen Sehnsucht nach selbstzerstörerischen Abenteuern. Von hier aus wird sie durch verschiedene fremde Länder ziehen und in einer Art Heimkehr und Ablehnung der nihilistischen, reaktionären und hedonistischen Überzeugungen enden, die wir von unterwegs auflesen. Trotzdem ist sie keine Erlösungsgeschichte. Es geht nicht um Gerechtigkeit oder Ethik oder Fortschritt und Aufklärung, sondern um ein selfie-philosophisches Experiment. Wir wollen Wahrheiten aus den Gedanken lesen, die wir verachten und fürchten, wir wollen uns von so vielen Ansichten des Lebens wie möglich verführen lassen und im Jenkka-Schritt durch die Zeit tanzen. Denn was ist schon das Leben, wenn nicht eine Reihe von Gehirnwäschen?

HEIM(KEHREN)

Es ist Anfang August. Morgen werden wir ein Familienfest in Hovdebygda feiern, im Garten hinter Großmutters und Großvaters Haus. Wir werden grillen und Lagerfeuer machen, bei der Hängebirke, einem Baum, der genetisch dazu prädestiniert war, wie eine gewöhnliche Birke zu wachsen, jedoch von Großvater manipuliert wurde, indem er seine Wurzeln freilegte und die Hohlräume zwischen ihnen mit Steinen füllte, bevor er sie wieder mit Erde bedeckte. Traditionsgemäß werden Großmutters Kinder uns, den Enkeln und Urenkeln, Geschichten und Seemannsgarn erzählen, während Großmutter in unserer Mitte sitzt, desorientiert, aber stets mit einem flotten Spruch auf den Lippen. Jemand wird die Anekdote erzählen, in der meine Mutter als kleines Mädchen auf der Treppe vor dem Haus saß, während Großmutter in der Küche stand und Hering briet, einen Schlüpfer über den Kopf gezogen, um die glänzend blonde Dauerwelle vor dem Essensdunst zu schützen. Als meine Mutter einen Handelsvertreter den Hügel herunter auf unser Haus zukommen sah, lief sie panisch hinein und rief so laut, dass der ganze Hof es hören konnte: »Mama, Mama, zieh den Schlüpfer aus! Der Handelsreisende kommt!«

Großmutter liebt diese Geschichte, fast so sehr wie die Anekdote vom Besuch ihres Sohnes und seiner damaligen amerikanischen Freundin, die ziemlich schockiert war, als Großmutter während der abendlichen Katzenwäsche oben ohne durch die Küche spazierte. Die Amerikanerin hatte vielleicht Großmutters Dankbarkeit für ihren starken und gesunden Körper mit Promiskuität verwechselt. Ebenjene Dankbarkeit veranlasst Großmutter gerne mal dazu, sich geheimnisvoll nach vorne zu lehnen und zu gestehen, dass sie mehr Kinder gestillt als zur Welt gebracht hat.

»Ja«, sagt sie dann, »ich war eine gute Milchkuh.«

Großmutter ist eine Meisterin, wenn es darum geht, Fabeln um sich selbst zu spinnen, die Fabel von der Furie, die Fabel vom burschikosen Wildfang, der Fußball spielte und Männer vor dem Ertrinken rettete, indem er sie auf starken Schultern in Sicherheit brachte.

»Ich habe einen richtigen Knackarsch, findest du nicht?«, sagt sie dann, mit diesem teuflisch kecken Glitzern in den Augen, und ignoriert dabei den großen Bauch, der sich über ihre Hüften wölbt. Sie liebt es, ihre Hände in, wie sie es nennt, »sauberen Dreck« zu stecken – in Erde und Teig und Fett –, sie fühlt sich am schönsten in löchrigen Nachthemden und alten T-Shirts. Eines ihrer Lieblingswörter ist stropl, ein Dialektwort, das so viel wie »unflätig-lustig« oder »derb-schelmisch« bedeutet.

Selbst jetzt, da ihr Gedächtnis und ihre Geschichten zu Fragmenten werden und sie nicht mehr weiß, wann oder wo sie ist, ist sie wortgewitzt, mit dem Timing einer Stand-up-Komikerin. Wir können sie immer noch darum bitten, Kartoffeln zu schälen, das Familiensilber zu polieren oder zu bügeln – Aufgaben, die ihre Hände seit fast neunzig Jahren erledigt haben –, und während sie arbeitet, können wir sie in ihre Geschichten zurückführen, Geschichten von Krieg und Liebe und Eifersucht, Fabrikarbeit und Bauernleben, Geschichten, in denen es von fragilen Männern und mächtigen Matronen nur so wimmelt.

Großmutter hat alles, was ich bei Denkern und Erzählern als wichtig erachte: eine körperliche und gewitzte Herangehensweise an das Erkennen, ein gutes Gesicht und eine strapazierbare, aber aufrichtige Beziehung zu Zeit, Ort und Wahrheit. Manchmal frage ich mich, ob ihre senilen Ursprungsmythen nicht das Gegenmittel gegen alles sind, was in modernen westlichen Gesellschaften schmerzt, ob nicht diese Alzheimer-Logik, bei der die Vergangenheit in die Risse der Gegenwart eindringt und deren autoritäre Position ausradiert, nachahmenswert ist, jetzt, da die salonfähigen Intellektuellen wieder begonnen haben, über »schützenswerte nationale Kultur«, »Verwurzelung der Volksseele« und die »Bedrohung unserer Zivilisation« zu sprechen.

Großmutter ist auf dem Aasen-Hof aufgewachsen. Dieser Hof spielt in der norwegischen Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle. Unser Vorfahr, Ivar Aasen, hat Anfang des 19. Jahrhunderts seine Kindheit auf diesem Hof verbracht, bevor er hinaus in die Lande zog, um zu Dialekten zu forschen und darauf basierend die norwegische Schriftsprache Nynorsk, »Neunorwegisch«, zu etablieren. In Norwegen gibt es zwei offizielle Schriftsprachen: Bokmål, die dominante, die auf dem Dänischen beruht, und eben Nynorsk, entstanden aus der nationalromantischen Bewegung, die sich nach der Emanzipation von Dänemark im Jahr 1814 wieder auf die norwegische Kultur zurückbesinnen und eine nationale Identität schaffen wollte. Beide Schriftsprachen müssen in der Schule gelernt, in der Presse und von öffentlichen Instanzen verwendet werden, aber Nynorsk ist der Underdog: elitär für die einen, Bauernsprache für die anderen.

Großmutter ist die Ururenkelin von Ivar Aasens Bruder, und Erzählungen über den berühmten Sprachforscher sind die einzigen ihrer Fabeln, die ich nur schwer ertragen kann. Ich versuche, das Thema zu wechseln, sobald sie auf seine Arbeit für Nynorsk zu sprechen kommt, darauf, wie er die natürliche Sprache der Menschen studiert und aufgezeichnet und daraufhin zu einem System zusammengesetzt hat. Nicht etwa, weil mir seine Errungenschaften nicht gefallen, sondern weil ich nicht noch eine glorreiche Geschichte darüber ertrage, was für ein flogvit er gewesen war. (»Weißt du, was ein flogvit ist?«, fragt Großmutter, und ich sage: »Ja, ja, du hast mir das schon mehrfach erklärt: ein Genie, ein Autodidakt. Ich will lieber vom Krieg hören, oder wie du Opa kennengelernt hast.«) Wir stolpern oft in derlei Sprachdiskussionen hinein.

Sie korrigiert meine Wortwahl, und wenn ich meine Syntax und meine Stadtsprache verteidige, rüffelt sie mich: »Ich dachte, du wärst plietsch genug, um richtig Norwegisch zu lernen.«

»Aber Dialektvielfalt ist doch gut?«, erwidere ich dann.

Sie schnaubt. Grummelt etwas von dänischer Kolonialzeit.

Ich habe oft das Gefühl, dass sie und die anderen Hovdebygdinger der Familie mein Stadtmädchengebaren peinlich finden, die Art, wie ich spreche, gekünstelt und verziert, vielleicht sogar unmoralisch. Zu viele leere Höflichkeitsfloskeln, zu sentimental. Manchmal ärgere ich mich über ihr sprachliches Selbstbewusstsein, wenn sie mich aufziehen, weil ich nicht zwischen sch- und ch-Lauten unterscheide (ein vollends akzeptables Merkmal eines Soziolekts, das sie immer noch lustig finden, obwohl sie mich schon seit dreißig Jahren so sprechen hören), oder wenn sie meine Faszination für das Komplizierte und Abstrakte verächtlich ablehnen. In solchen Momenten legen meine Hovdebygdinger im Namen der Sprache eine Arroganz an den Tag – vergleichbar mit der Arroganz derjenigen, die meinen, für das einzig Einfache und Aufrichtige einzustehen.

Wie Ivar Aasens Sprachforschung stehen auch Großmutters Geschichten mit einem Fuß in den Idealen der Aufklärung und mit dem anderen in einer Art Nationalromantik. Großmutter ist wie eine Miniaturversion der Geschichte europäischer Ideen: Einerseits ist ihr hübsches, seltsames Köpfchen ein Wirrwarr individualistischen Freiheitsdenkens, andererseits finden sich in ihm Spuren von etwas potenziell Strengem und Exklusivem – eine Spannung, die eine ähnliche Dissonanz erzeugt, wie wenn die sonst so unsentimentalen Sunnmøringer plötzlich in feierlichen Sturm-und-Drang-Lobgesang über Berge und Fjorde ausbrechen.

In »Gamle Grendi« (Alter Weiler), einem Gedicht über seine Kindheit in Hovdebygda, schrieb Ivar Aasen 1875 über die Großbirke, den Hofbaum, der wie eine Zentralachse in seine und Großmutters Kindheit hineinragte.

Vor unsrem Häuslein wächst ein Birkenbaum

Die Elster hat sich dort ihr Nest gebaut

Auf seinem Wipfel singt der Star vertraut

Die Stelze hüpft an seinem Fuße.

[…]

Vertraute Gesichter an jedem Eck

Sind Fremde zu Gast, so frag ich keck

Woher sie kommen – von welchem Fleck

Auch sie sind mild und gütig.

Die Großbirke ist sowohl Kulisse als auch Akteurin in Großmutters Fabeln. Sie erzählt aus ihrer Kindheit, vom Besuch des Königspaares, das zum Hof gekommen war, um einen Kranz vor Aasens Gedenkstein niederzulegen. Sie musste von der Großbirke heruntergepflückt werden, um das Königspaar zu begrüßen und zu knicksen. Ich frage, wie hoch sie geklettert sei. »Nun ja, bis in die Wipfel«, sagt sie. »Das durfte ich zwar nicht, aber wenn mein Großvater schlief, bekam es niemand mit.«

Die Großbirke ragte auch noch hoch über den Hof hinaus, als ich Kind war, obwohl der Stamm alt, porös und in der Mitte aufgespalten war und nur noch durch Eisenketten zusammengehalten werden konnte. Doch 2004 fiel der Hofbaum in einem Sturm.

In den ersten Jahren der Demenz erzählte Großmutter mir immer und immer wieder in feierlichem Tonfall, was sie unternommen hatte, nachdem die Großbirke umgestürzt war. Ihr Fallen an sich war kein Teil von Großmutters Erzählungen, doch der Schock darüber, dass es den Baum nun nicht mehr gab, schien die Entstehung eines Mythenzyklus ausgelöst zu haben. Von Mal zu Mal variierte Großmutter die Details ihrer Geschichte, während immer klarer wurde, worauf sie hinauswollte.

Sie war auf den zerborstenen Stamm geklettert, hatte die Hände in den feuchten Spalt im Baum gesteckt und mit einem kalten kleinen Löffel einen Ableger herausgelöffelt. Dann hatte sie den Spross davongetragen, über die Felder, den Hügel hinab bis zu ihrem Haus, in ihre Küche hinein, wo sie ihm Licht, Wasser und Nahrung gab, bis er stark genug war, um in ihrem Garten neben dem Fahnenmast gepflanzt zu werden. Dort steht er jetzt, ebenso lebhaft maigrün wie alle anderen Birken.

Im Prinzip entspricht Großmutters Geschichte über die Geburt und die Adoption des Birkenkindes und ihre eigene Rolle als Hebamme nicht der Wahrheit. Als die Birke fiel, wurden Teile von ihr in die Baumschule nach Biri geschickt, wo sie geklont wurde. Die Klone wurden nach Hovdebygda zurückgeschickt und zu stolzen Preisen im Ivar-Aasen-Museum verkauft – dem demonstrativ modernen Sverre-Fehn-Gebäude, das den Hof zum Veranstaltungsort für Festivals und Tourismus erkoren hat und wo man nun T-Shirts mit Birken-Aufdrucken oder Unterwäschesets mit Ivar Aasens Namen auf den Bündchen erwerben kann. Mein Onkel kaufte einen Klon für Großmutter und pflanzte ihn vor dem Haus.

Aber Großmutters Geschichte ist besser und auf ihre Weise wahr genug, denn dort steht die kleine Großbirke, wie ein Lebensbaum im Zentrum von Großmutters Mythologie, sowohl künstlich als auch völlig real: ein geklonter organischer Kommentar zur Natur und zur Funktion der Ursprungsgeschichte.

Wurzeln sind Vergangenheit, Ursprung und Kräfte, die den Tod in Leben verwandeln. Bäume tragen Früchte, spenden kühlen Schatten, ihre Äste ragen hoch hinaus. Vielleicht ist die Sehnsucht nach Wurzeln von der Angst vor Abstraktion getrieben; Angst vor der Zukunft und der Fremde – Angst vor allem, was Fragmentierung von und Distanzierung zu Realem und Solidem symbolisiert. In diesem Fall drücken wir eine unmögliche Sehnsucht aus, wenn wir über Wurzeln sprechen, und vielleicht ist diese Unmöglichkeit der Grund, warum nur wenigen sprachlichen Bilder so gewaltige politische Konsequenzen innewohnen wie der Wurzelmetapher.

Die meisten Religionen und Mythologien verwenden Bäume, um etwas über Herkunft und Erbe und die Spannung zwischen Abstraktem und Organischem zu erzählen. Bäume erheben sich oft wie Leitern zwischen Sphären, zwischen dem Unterirdischen, dem Überirdischen und über den Landschaften, in denen Menschen leben und arbeiten – wie Yggdrasil, der Lebensbaum im Zentrum der nordischen Mythologie. Odin opferte sich für Sprache und Wissen, indem er sich neun Tage lang an Yggdrasil aufhängte, von seinem eigenen Speer durchbohrt, und dort baumelte, bis er die Runen lesen und interpretieren konnte, die sich ihm aus dem Jenseits heraus offenbarten. Im biblischen Ursprungsmythos ist es der Baum des Wissens, der unschuldig die Frucht heranwachsen lässt, mit der die Schlange Eva später verführt, woraufhin sie aus dem Paradies verbannt wird – in eine Welt, die im Grunde genommen unendlich amüsanter erscheint als das ehrenhafte Eden.

Blumen und Früchte sind (oft billige) Symbole für Jungfräulichkeit, Verlust der Unschuld, Scham und Verderbtheit.

Mir gefällt es, Blumen von Verehrern zu bekommen, vielleicht, weil sie gleichzeitig etwas Süßes und Brutales symbolisieren – wir werfen sie auf Gräber, verschenken sie zu Einzügen und überreichen sie, um unsere Absichten klar zu machen. Eine geschnittene rote Rose gibt vor, ein Symbol der Liebe zu sein, während sie uns ins Ohr flüstert, wie ähnlich sich doch Begehren und Vergänglichkeit, Sex und Fäulnis sind – sodass wir, wenn wir jemandem einen Blumenstrauß überreichen, eigentlich sagen: »Von Erde bist du genommen und sollst zu Erde werden, dann könnten wir doch eigentlich …«

Es ist vorgekommen, dass ich Männern rote Rosen geschenkt habe, normalerweise ein wenig ironisch gemeint oder als Deklaration von Macht, um sie zu entwaffnen, kill them with kindness, oft, nachdem sie etwas Dummes getan hatten. Da es sich bei der roten Rose zumeist um eine abgedroschene Geste handelt, greife ich bei meiner eigenen Abschleppmasche gern auf eine andere pflanzliche Metapher zurück. Wo Nerds mit »Darf ich dir meine Briefmarkensammlung zeigen« locken, frage ich: »Kommst du mit zu mir? Dann zeige ich dir, wo ich einmal sterben werde. Willst du meinen Galgen sehen?« Und wenn jemand anbeißt, zeige ich ihm die malträtierte Espe vor meinem Schlafzimmerfenster, vor dem Haus in Bergen, in dem ich aufgewachsen bin. Hier, so erkläre ich es anderen gern, werde ich verwittern – auch wenn mir bewusst ist, dass derartiges Glauben an Schicksal pathetisch ist. Mit dieser Espe identifiziere ich mich, seit meine Mutter sie in einer Geburtstagskarte anthropomorphisiert hat, in einem kleinen Text über den Oktobertag, an dem ich zur Welt gekommen bin und ihr der gelbe Baum mit dem starken Stamm und dem zitternden Laub aufgefallen ist. Vor einigen Jahren baten uns die Nachbarn, die höchsten Bäume auf unserem Grundstück zu fällen, weil sie Angst hatten, sie könnten umstürzen und dabei auf ihr Haus fallen. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht in Norwegen, und da meine Mutter es nicht übers Herz brachte, mein Maskottchen ohne meinen Segen fällen zu lassen, bat sie den Holzfäller, nur den oberen Teil der Espe abzunehmen, sodass ein dicker Ast immer noch im 90-Grad-Winkel vor meinem Fenster absteht. »Das ist mein Schicksal«, erzähle ich denjenigen, die zu Besuch kommen. »Ist es nicht schön? Grotesk?«

Jean-Paul Sartre schrieb über den Baum als philosophische Figur und über die Tendenz der Menschen, Gedanken und Gefühle auf Bäume zu projizieren. Mithilfe von Bäumen können sie sich in Zeit und Raum orientieren, suchen Trost im Pflanzlichen. Die Wurzeln binden uns an etwas Älteres, Schwereres und Tieferes als unsere eigene Individualität. Sie retten uns vor uns selbst und der existenziellen Angst: Sie sind die Befreiung von der Freiheit.

Pflanzen tauchen ständig in Sartres Werk auf. In La nausée (Der Ekel) beschreibt er 1938 die unangenehmen Augenblicke, in denen man einen Menschen für eine Pflanze hält und sich auf einmal selbst im Pflanzenreich wiederfindet:

Ich war die Wurzel des Kastanienbaumes. Oder vielmehr, ich war ganz und gar Bewußtsein ihrer Existenz. Noch losgelöst von ihr – da ich ihrer ja bewußt war – und dennoch in ihr verloren, nichts anderes als sie. Ein unbehagliches Bewußtsein, das sich dennoch mit seinem ganzen Gewicht, aus dem Gleichgewicht gebracht, auf dieses reglose Stück Holz sinken ließ. Die Zeit war stehengeblieben […].

Die Wurzel wird zum Ort, an dem das rationelle Denken kollabiert:

Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, dass das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihren Oberflächen eingezeichnet haben. Ich saß da, etwas krumm, den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse gegenüber, die mir angst machte.

Sartre hatte Angst vor Bäumen, er litt unter Dendrophobie – eine Angst, von der ich nicht wusste, dass sie einen Namen hatte, als ich als Kind einen großen Bogen um vom Sturm entwurzelte Bäume am Wegesrand machte, verängstigt durch die Geschichten über gefallene Bäume, die sich plötzlich wieder aufrichten und spielende Kinder zu Kleinholz verarbeiten. Meine eigene Dendrophobie wurde von einem trockenen Zweig einer Korkenzieherweide aus dem Blumenladen aktiviert. Meine Mutter beschnitt ihn, stellte ihn im Wohnzimmer in eine Vase, und eines Tages schlug er Wurzeln. Weiße, schleimige, fadendünne Wurzeln, wie aasfressende Maden. Bei dem Anblick musste ich mich übergeben. Der Zweig hatte leblos gewirkt, und plötzlich führte er sich so auf! Ich bekam Albträume, von Wurzeln, die sich wie Würmer aus den Poren in meinem Gesicht wanden. Ich wurde heimgesucht. Wir mussten den Dekozweig wegschmeißen.

Die Pflanze, die sich nach unten streckt, in Richtung Fäulnis und Dunkelheit, wird zu einem Bild der Erinnerung, einer fleischlichen Sehnsucht nach Herkunft, nach dem Mütterlichen, nach Heimat, in die man nicht zurückkehren kann, in der sich sowohl der Körper als auch die Persönlichkeit noch im fetalen Stadium befanden. In der Wurzelmetapher vereinen sich das Unterbewusste und das Weibliche. Die Wurzeln und der Boden, in dem sie wachsen, werden zu Symbolen für Nabelschnüre, für das Poröse, das Durchdrungene, das Irrationale: für verrückte Frauen.

Im vergangenen Jahr hat sich eine neue Stimme in Omas Geschichten eingeschlichen, eine formelle Stimme, die so klingt, als würde sie einer großen Versammlung Vorträge halten. Sie unterbricht die Dozentin mit ihrer eher alltäglichen Stimme und stellt Anschlussfragen, die in lange dramatische Dialoge ausarten.

Letztes Jahr zu Weihnachten saßen wir, fast alle ihrer achtzehn Nachkommen, um sie versammelt, tranken Bier, aßen støylasteik – in Sirup, Sahne und Fett gebackenes Lamm – und lachten uns schief vor Liebe, während Großmutter mit geschlossenen Augen dasaß und uns einen Vortrag über eine Hochzeit hielt, die bald gefeiert werden sollte, die Hochzeit ihrer beiden Großeltern. Sie saß dort wie eine Bauchrednerin, sprach feierlich von der »schönsten Braut in unserem gelobten Vaterland« und erzählte von einem Ereignis, das sich kurz vor der Hochzeit zugetragen hatte und »eigentlich weder Ausrutscher noch Betrügerei war«.

In solchen Momenten, wenn sie so dasitzt und fabuliert, frage ich sie, wo und wie sie in diese Geschichten hineinpasst. »Bist du dabei gewesen?«, frage ich. »Bei der Hochzeit? Wer erzählt diese Geschichte? Du?«

»Ich?«, sagt Großmutter dann. »Ich bin nur die Protokollantin.«

Hannah Arendt unterschied zwischen Vaterland und Muttersprache. Das Erste existiere nicht, es beruhe auf der Illusion von etwas Stabilem, einer statischen Totalität, während das Zweite, die Muttersprache, energeia sei, etwas Dynamisches, das verwendet werden könne, um immer wieder neue, radikale Möglichkeiten zu eröffnen. In einem deutschen Fernsehinterview aus dem Jahr 1964, über dreißig Jahre nach ihrer Flucht aus Deutschland, wird Arendt gefragt, ob sie das Europa der Vor-Hitler-Zeit, den Ort und die Zeit, in die sie hineingeboren wurde, vermisse. Sie antwortet: »Das Europa der Vor-Hitler-Zeit? Ich habe keine Sehnsucht. Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache.«

Im Gegensatz zur Idee des Vaterlandes sei die Muttersprache nicht an Wurzelvorstellungen gebunden, sagt die französische Philosophin Barbara Cassin, die Arendts Gedanken zur Muttersprache weiter ausbaut. Wir bewohnten die Sprache anders, als wir Orte bewohnten, auf eine Art, die fruchtbar und spielerisch sein könne. Die gesprochene Sprache stehe nie still, sondern sei kreativ und formbar und eröffne somit die Möglichkeit, Gäste mit offenen Armen zu empfangen. Cassin lädt ein, in Zungen zu philosophieren und die Sprache zu denaturalisieren: »Das Denaturalisieren der Muttersprache – das ist, wenn es drauf ankommt, die Rettung.«

In ihrem Essay »Patriotism and Cosmopolitanism« (1994) argumentiert die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum, dass unsere Schulen Weltbürger heranziehen sollen, die Leiden in fernen Ländern ebenso empathisch gegenüberstehen wie den Leiden ihrer Heimat. Sie meint, dies sei der Impfstoff gegen fremdenfeindliche Ideologien. Sie fordert eine Form von Weltdenken, die vom Stoiker Diogenes inspiriert sei, der auf die Frage, woher er komme, antwortete: »Ich bin ein Weltbürger.« »Eine bevorzugte Übung für diese Form des Weltdenkens«, schreibt Nussbaum, »ist es, eine ganze Welt mit all ihren Menschen als einen einzigen Körper zu verstehen und jeden einzelnen dieser Menschen als eine Gliedmaße« – ein Gedankengang, der sich nur schwer in die Tat umsetzen lässt, auf jeden Fall, wenn das Ziel ist, Empathie zu erzeugen, einen flüchtigen und oftmals fruchtlosen Sinneszustand, der genauso manipulierend und böse sein kann wie großzügig und aufopfernd.

Nussbaums Text ist eine Antwort auf den Neu-Pragmatiker Richard Rorty, der 1994 das Buch Achieving Our Country (Stolz auf unser Land) geschrieben hat. Rorty meint darin, dass die Linke sich ins eigene Bein schieße, wenn sie den Leuten nicht den Raum gebe, ihr eigenes Land zu lieben. Er fordert zu einem neuen Nationalstolz auf, zu einem Linkspatriotismus, denn nur ein Bürger, der sein Land liebe, der auf sein Land stolz sei, könne zu seiner Verbesserung beitragen:

Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Zuviel Nationalstolz kann Aggressivität und Imperialismus erzeugen, genau wie übermäßiges Selbstgefühl zu Überheblichkeit führen kann. Doch zuwenig Selbstachtung kann den einzelnen daran hindern, moralischen Mut zu zeigen, und ebenso kann mangelnder Nationalstolz eine energische und wirkungsvolle Diskussion über die nationale Politik vereiteln. […] Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt.

Oder, wie die Philosophin Simone Weil 1949 in L’enracinement (Die Verwurzelung) über das Spannungsfeld zwischen Ethik und dem Bedürfnis, sich selbst im Verhältnis zu Ort und Vergangenheit zu verstehen, schreibt:

Aber zum Geben muss man besitzen, und wir besitzen kein anderes Leben, keine andere Kraft als die Schätze der Vergangenheit, die wir lenken, assimilieren und neu schaffen müssen. Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Die Liebe zur Vergangenheit hat nichts mit reaktionärer Politik zu tun.

Weil schrieb L’enracinement zu Beginn der 1940er-Jahre, doch es wurde erst nach ihrem Tod publiziert. Es ist in vielerlei Hinsicht ein seltsames Werk – provokativ, wenn einem politisch-philosophische Texte missfallen, die nicht direkt auf praktische Politik oder Polemik angewendet werden können. Weils Denken ist sowohl nationalistisch als auch antinationalistisch: Sie glaubt, dass der Mensch bestimmte spirituelle Bedürfnisse habe, die nur im Rahmen der Nation befriedigt werden könnten, weil die Seelen an die Erde gebunden seien, aus der sie entsprungen seien – aber sie verabscheut die vielen nationalistischen Projekte Europas. Weils Politik ist porös und mysteriös, eine Alternative zu den rigideren Formen des Nationalismus. Sie wollte zu einer Haltung aufrufen, die Europa wiedervereinigen könnte, basierend auf der Überzeugung, dass derjenige, der wurzellos ist, andere an der Wurzel herausreißt, während diejenige, die verwurzelt ist, dies nicht tut. Albert Camus, äußerst inspiriert von Weil, glaubte, dass L’enracinement eines der wichtigsten Bücher war, die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden, und hielt es für unmöglich, »sich eine Wiedergeburt Europas vorzustellen, die die Forderungen, die Simone Weil in L’enracinement formuliert, nicht berücksichtigt«.

Aber nicht alle waren so begeistert von den politischen Texten der Mystikerin – einige meinten, sie hätte an dem höheren, spirituellen Denken festhalten sollen, von dem sie selbst behauptete, es zu bevorzugen. In der Diskussion um Weils Buch sieht man, wie die Frage nach der Erklärungskraft der Wurzelmetapher tendenziell auch zur Klassenfrage wird. In den 1980er-Jahren schrieb ein irischer Politiker, Weil scheine einen Staat zu wollen, der von einer geistigen und moralischen Elite, von Heiligen regiert werde. Paradoxerweise sieht man, dass sich diese Kritik des Elitismus sowohl an diejenigen richtet, die sich für die Verwurzelung aussprechen, als auch an diejenigen, die für Wurzellosigkeit argumentieren. Und die Kritik ist oft begründet – in beiden Fällen. Nehmen wir zum Beispiel Nussbaums Kosmopolitismus: Er ist etwas selbstgefällig, obwohl er auf den ersten Blick vernünftig wirkt. Nussbaum scheine sich eine denkende Elite vorzustellen, die eine distanzierte und ironische Beziehung zur Illusion des Nationalen habe, so Terry Eagleton 1991 in Ideology: An Introduction (Ideologie: Eine Einführung), während das »Volk«, die großen Massen, ihr Opium behielten und »auf nicht-gewalttätige Weise ihrer Flagge die Treue schwören«.

Wenn das kosmopolitische Ideal zu elitär ist, um in großem Maßstab zu funktionieren, und wenn die Ethik der Wurzellosen zu abstrakt ist, um Wurzeln schlagen zu können, was sollte man stattdessen anstreben? Was tun mit der Sehnsucht der Menschen, zu einem Ort zu gehören, der größer ist als nur ein Haus oder eine Familie, und mit dem Bedürfnis, die Gemeinschaft auf sinnvolle Weise zu definieren, die nicht nur rational, sondern auch emotional ist – und vielleicht sogar mythologisch verankert? In welche Richtung bewegt man sich weiter, nachdem man eingesehen hat, dass diese Sehnsüchte zu tief sitzen, als dass man sich gegen sie entscheiden kann?

»Kultur, der Erde entnommen« müssten wir hegen und pflegen, sagt Barbara Cassin, »nicht die Wurzellosigkeit (denn dann wird man das Verwurzelte huldigen, schlimmstenfalls mit Heidegger, bestenfalls mit Simone Weil), sondern fliegende Wurzeln.«

Fliegende Wurzeln? Vielleicht haben wir mit Hofbäumen weniger gemeinsam als mit dem Hutwerferpilz, Pilobolus crystallinus