Tigertod - Bernd-Peter Liegener - E-Book

Tigertod E-Book

Bernd-Peter Liegener

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Beschreibung

Der Direktor eines Tierparks wird von einem Tiger angefallen und zerfetzt. Was hat die Mordkommission von Karmensbrück damit zu tun? Wie war das damals in den 80-ern?

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Seitenzahl: 226

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Tigertod

Kriminalroman

© 2023 Bernd-Peter Liegener

ISBN Softcover: 978-3-347-83947-2

ISBN Hardcover: 978-3-347-83948-9

ISBN E-Book: 978-3-347-83949-6

Umschlagsgestaltung Bernd-Peter Liegener

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für meine Eltern

Casus personae

Die Ermittler

Martina Benson, Kriminalkommissarin Mordkommission Karl König, Kriminalhauptkommissar Mordkommission Fabio Alberti, Polizeimeister Streifendienst, abgeordnet zur Mordkommission

Markus Greben, Oberkommissar Spurensicherung Dr. Kurt van Berg, Gerichtsmedizin

Die Mitarbeiter des Tierparks Schöndorf

Prof. Dr. Harald Palter, Zoodirektor

Dr. Johannes Otter, stellvertretender Zoodirektor

Dr. Christian Fangel, leitender Tierarzt

Dr. Gisela Korner, Tierärztin

Franz Meurer, Obertierpfleger

Carla Woitke, Tierpflegerin

Friedrich Glatz, Tierpfleger

Judith Sawer, Praktikantin

Kathrin Kabel, Personalleiterin

Cornelia Ball, Sachbearbeiterin

Eugen Schmetter, Reporter des Karmtaler Kuriers

Prolog

Es war ihr kalt geworden, auf der Bank im tief verschneiten Park. Martina selbst war Teil der weißen Kulisse dieses wunderschönen und doch so traurigen Wintertages geworden, denn auch sie hatte der Schnee mittlerweile mit winterlicher Tarnfarbe überzogen.

Kommissar König war heute beerdigt worden. Hauptkommissar im Ruhestand natürlich, und das seit mehr als zwei Jahrzehnten. Er selbst hätte dazu vermutlich gesagt, er habe schon zweimal dezennial vor sich hin pensioniert. Seine Liebe zu solchen teils absurden Wortungetümen hatte auch sie angesteckt, obwohl sie nie Latein gelernt hatte und nicht immer wusste, was er eigentlich meinte, und ob ein Altphilologe sich die Haare gerauft hätte, wenn er ihm zugehört hätte.

Langsam streckte sie ihre durchgefrorenen Knie durch und mühsam löste sie sich aus dem Gemälde »Zugeschneite Frau im Park«, das nun niemals jemand zu Gesicht bekommen würde. Vergänglichkeit. Sie klopfte den Schnee von den Schultern und wuschelte ihn aus ihrem kurzen Haar. Sie musste ausgesehen haben wie ein zu klein geratener Yeti und jetzt wurde sie wieder zur Polizeipräsidentin der kleinen Universitätsstadt Karmensbrück.

`Zumindest von außen betrachtet´, dachte sie. Eigentlich war sie immer noch das kleine Mädchen, das sich königlich darüber freute, dass es endlich wieder einmal richtig schneite. Und königlich war auch ihre aufkommende Erinnerung an diesen Tag vor einer halben Ewigkeit, als sie und der König in ihrem Büro saßen. Sie ahnten nicht, dass ein neuer Fall darauf wartete, von ihnen gelöst zu werden. Und wenn sie sich gerade jetzt daran erinnerte, dann mochte das auch daran liegen, dass das Wetter sich damals gerade anschickte, so weiß zu werden wie heute. Es handelte sich gewissermaßen um ihren ersten Schneefall.

1. Kapitel

Die Praktikantin

Leise rieselte der Schnee. Er rieselte vor den vermutlich ungefähr hundertmal weiß gestrichenen Fenstern des Büros der Karmensbrücker Mordkommission, die dadurch immer noch nicht dichter geworden waren. Es war der erste Schnee dieses Winters, der da rieselte und das bisschen Zugluft konnte die vorweihnachtliche Stimmung, die in der bekerzten, tannengründekorierten Amtsstube herrschte, nicht wirklich beeinträchtigen. Sogar ein stattlicher Adventskranz hatte sich das erste Mal in der Geschichte dieses Raumes einen Platz auf dem Schreibtisch des Königs erkämpft.

Genau genommen war es nicht der Kranz selbst, sondern Martina, die diese Schlacht für ihn geschlagen hatte, eigentlich eher ein kleines Scharmützel, denn der Hauptkommissar mit dem hochadligen Namen hatte ihr in Ermangelung seines üblichen Hauptarguments fast bereitwillig diese Gunst gewährt. Seit sich der Bürokram auf sechs Schultern verteilte, waren nämlich Schritt für Schritt – oder eher Akte für Akte – die Papierberge von der Tischplatte verschwunden und der Platzmangel hatte sich auf beinahe weihnachtswunderbare Weise in eine Freifläche für Adventsdekoration verwandelt. Ja, obwohl sie sich mit Alberti nun zu dritt dieses Zimmer teilten, hatten sie paradoxerweise mehr Platz, als vorher zu zweit.

Sie hatte gedacht, dass es ihr als einzig weiblichem Mitglied des Teams oblag, für eine jahreszeitlich angepasste Wohlfühlatmosphäre zu sorgen, obwohl sie sich über die Angemessenheit dieser Rollenverteilung nicht wirklich sicher war. Nun aber war es Alberti, ihr junger Mitarbeiter, der kommentarlos Teller mit Dominosteinen, Honigprinten und Mandelspekulatius auf ihre Tische stellte.

»Weihnachtsstimmung?« fragte Karl König mit hochgezogenen Augenbrauen. Statt einer Antwort vervollständigte der ausgeliehene Streifenpolizist das Arrangement durch drei hohe achteckige Luminarc-Gläser und eine Flasche Cola, die er aus seinem schwarzen Lederrucksack hervorzauberte. Beim Eingießen zwinkerte er Martina schelmisch zu. Es war ein echt italienisches Zwinkern, das die Saite der menschlichen Beziehung zwischen ihm und seiner Chefin anzuschlagen vermochte, ohne dabei die Grenze zwischen frech und dreist zu überschreiten. Sie beide wussten natürlich, dass man dem Hauptkommissar mit Kaffee gar nicht zu kommen brauchte, dass ein Glas Cola für ihn hingegen gleichbedeutend mit einem Schuss guter Laune war. »Oder ein Bestechungsversuch?«, setzte ihr gemeinsamer Chef daher seinen fragenden Kommentar zu Albertis Aktivität fort.

»Nun, so würde ich es natürlich lieber nicht nennen«, antwortete ihr Fuchs, wie sie beide ihn liebevoll nannten. »Aber sehen Sie: Es ist kurz vor Feierabend, die Akten sind erledigt, eigentlich haben wir nichts mehr zu tun, oder?«

»Und da dachten Sie sich, Sie könnten früher gehen, wenn Sie Ihre Vorgesetzten mit weihnachtlichen Leckereien füttern, ja?«

»Nein, eigentlich eher andersherum.«

»Andersherum ? «

»Ja, andersherum. Vielleicht könnten Sie ja etwas länger bleiben und sich mit einer Mordermittlung beschäftigen.«

Es war nicht leicht, den König zu verblüffen, aber jetzt schien dies tatsächlich geschehen zu sein, denn es brauchte fast eine halbe Minute, bis er sich ihr zuwandte und fragte: »Weißt du, wovon er redet? Gibt es irgendeinen ungeklärten Mordfall? Haben wir irgendwo eine Leiche übersehen? Sind das etwa Arbeitsentzugserscheinungen bei unserem Youngster?«

Sie brachte auch nur ein fragendes Schulterzucken zustande und beschloss, lieber dem jungen Italiener neugierig ins Auge zu schauen, als weiter das verdutzte Gesicht ihres Chefs zu betrachten. Alberti hob beschwichtigend die Hände: »Tatsächlich gibt es eine Leiche. Sie haben bestimmt in der Zeitung davon gelesen. Der Zoodirektor.«

»Der Zoodirektor, der von einem Tiger zerfleischt wurde?« Karls Stimme klang ungläubig. Dann glitt ein kurzes, fast unsichtbares Lächeln über sein Gesicht und sie fürchtete schon, dieses würde sich in einer spöttischen Bemerkung seinen Weg nach draußen bahnen. Er legte aber nur den Kopf etwas auf die Seite und erkundigte sich mit sachlich forschender Stimme: »Ich nehme nicht an, dass Sie von uns erwarten, das Tier zu verhaften.«

»Nein, Herr Kommissar, das erwarte ich nicht, eher schon wieder das Gegenteil. Der Tiger ist möglicherweise unschuldig. Aber lassen Sie mich das erklären. Ich habe eine Freundin, die im Tierpark arbeitet. Als Praktikantin. Eigentlich studiert sie Tiermedizin, aber zurzeit hat sie ihr Studium unterbrochen, um etwas in die Praxis hineinzuschnuppern. Sie hat nämlich exotischere Ambitionen, als sich um Kühe oder Kleintiere zu kümmern.«

»Lassen Sie mich raten! Sie darf sich in ihrer Stelle um die Raubkatzen kümmern. Die Tiger, oder?«

»Genau! Und unter anderem natürlich auch um Snow. Das ist der weiße Tiger, dem man – in unserem Vokabular gesprochen – den Mord zur Last legt. Und den man – das ist der große Unterschied zu unserer Klientel – nun möglicherweise einschläfern wird. Todesstrafe also. Sie kennt ihn aber gut und ist der Meinung, dass er unschuldig ist.«

»Aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Mord vor großem Publikum und sogar der Presse erfolgte, dürfte es eher schwierig sein, diese Unschuldsvermutung aufrechtzuerhalten, oder?«

»Genau! An dem Mord bestehen keine Zweifel. Aber an der Rolle, die Snow dabei gespielt hat, schon. Alle sehen in ihm den Täter, wobei es sich dann übrigens vermutlich höchstens um Totschlag handeln dürfte. Meine Freundin ist da anderer Meinung. Sie sagt, er ist nicht der Täter, sondern das Werkzeug. Er war manipuliert. Er war gewissermaßen das Messer, das der Mörder dem Zoodirektor in den Hals gestochen hat, die Pistole mit der er ihn vor aller Augen ungesehen zerfetzt, das Gift mit dem er ihn aus dem prallen Leben gerissen hat.«

»Wie poetisch! Und weiß ihre Freundin auch, wie er manipuliert worden ist?«

»Ja, also nein. Sie weiß es natürlich nicht, aber sie vermutet, dass ihm Drogen ins Futter gegeben wurden. Dafür gibt es Hinweise.«

»Und diese Hinweise will sie uns nun darlegen, weil kein anderer sich dafür interessiert, oder? Sie wartet draußen darauf, dass Sie sie hereinbitten, und Sie denken, dass wir Sie das tun lassen, weil Sie uns mit Dominosteinen und Cola bestechen. Nun ja, ich war schon immer ein Freund von so geschmackvollem Schmiergeld. Aber ich weiß nicht, was unsere ehrenhafte und unbestechliche Kollegin Benson davon hält. Zumal sie die Cola ja ohnehin nur trinkt, um mir einen Gefallen zu tun. Was meinst du, Martina?«

Die Kommissarin musste nicht lange nachdenken: »Nun, ich kann nicht wirklich eine Pflichtverletzung darin erkennen, dass wir uns um einen Mordfall kümmern, auch wenn er uns nicht übertragen wurde und es sich möglicherweise gar nicht um einen solchen handelt. Straferleichternd für unseren Bestecher ist es natürlich seine Pflicht, wo irgend möglich einen Justizirrtum zu vermeiden und einen Unschuldigen vor der Todesspritze zu bewahren. Sollten sich die Ermittlungen jedoch in den Feierabend hineinziehen, muss ich darauf bestehen, dass mir statt Cola zu den Spekulatius ein Kaffee gereicht wird.« War es grad ein paar Grad wärmer geworden im Büro der Mordkommission? Das könnte natürlich an den Kerzen liegen, vielleicht hatte es aber auch mit dem Ausdruck auf Albertis Gesicht zu tun, bevor er nach einem kurzen Nicken den Raum verlassen hatte, um seine Freundin hereinzuholen. Weihnachtsstimmung!

»Das ist Judith, äh, Frau Judith Sawer«, stellte ihr junger Mitarbeiter seine ebenso junge Freundin vor. Schwarze Wuschelhaare umzausten wild ein zartes, scheues Gesicht. Die schlanke Gestalt steckte in einem abgetragenen Bundeswehrparka mit aufgenähtem Atomkraft-nein-dan-ke-Emblem. Darunter trug sie einen grobgestrickten schwarzen Wollpulli über mit dunkelblauen Flicken reparierten ausgewaschenen Bluejeans. Die Roots unter den fransigen Hosenbeinen wussten nicht so recht, wo sie ihren Platz auf dem ungewohnten polizeilichen Linoleumfußboden einnehmen sollten und auch die Hände konnten sich nicht entscheiden, ob sie sich hinter ihrem Rücken verschränken oder lieber schützend vor dem Bauch falten sollten. Schließlich wanderten sie in die Taschen ihrer weiten Kutte.

»Guten Tag, Frau Sawer!« Der König hatte sich zuerst aus seinem Thron erhoben und trat ihr mit offenem Gesicht und begrüßend ausgestreckter Hand entgegen. Martina beließ es bei einem freundlichen Lächeln und einem kurzen Nicken. Es schien ihr, dass das Mädchen ein wenig Zeit brauchte, um sich an die ungewohnte Umgebung und Situation zu gewöhnen, und das war leichter, wenn sie sich nur auf eine Person fokussieren musste. Diese Person hatte sie nun nach einem kurzen Händedruck auf einen der beiden Besucherstühle platziert und saß ihr jetzt mit auf dem Schreibtisch gefalteten Händen neugierig gegenüber.

»Also ich arbeite als Praktikantin im Tierpark Schöndorf«, begann sie ihre Erzählung. »Das hat Ihnen Fabio ja schon erzählt. Ich darf bei den Raubieren mithelfen und das ist ziemlich selten, hat man mir gesagt. Dass eine Praktikantin an die Raubtiere ran darf. Normalerweise misten die nur die Wasserbüffelgehege aus oder füttern die Vögel in der Fasanerie. Außer der High Society der Papageien natürlich, da machen das die ausgebildeten Tierpfleger oder die eingebildeten Tierärzte. Die Aras sollen nämlich reden und Kunststückchen vorführen, und dafür werden sie dressiert. Da ist das Futter natürlich Teil des Trainingsprogrammes. Ähnliches gilt für einige Robben und eben die Raubtiere. Also die sollen natürlich nicht reden, aber dressiert sollen sie werden. Für die Vorführungen, so wie die, die jetzt Doktor Palter das Leben gekostet hat.«

»Ah, der Herr Zoodirektor war also promoviert. War er einer dieser eingebildeten Tierärzte, von denen Sie geredet haben?« Der Kommissar konnte es nicht lassen, den langsam in Schwung geratenden Redefluss der Praktikantin zu unterbrechen.

»Nein, er war Biologe, glaube ich. Und er hatte sogar einen Professorentitel, war aber eben nicht eingebildet. Also mir gegenüber war er jedenfalls sehr umgänglich. Im Vorstellungsgespräch hat er mir von seinen Erfahrungen in Kenia erzählt und er war ganz begeistert davon, dass ich auch mal dorthin möchte. Also nach Afrika irgendwo. Deshalb hat er mich auch bei den Raubtieren eingeteilt, obwohl das nicht üblich ist. Er hat sich auch immer mal wieder erkundigt, wie es mir da so geht, und irgendwann wollte er mich mal zu sich einladen, um mir Fotos von Afrika zu zeigen und mir Tipps zu geben, wie ich da Kontakte knüpfen könnte. Er war wirklich ein netter Mann!«

Martina warf Karl einen Blick zu, der so unauffällig wie möglich die Frage nach möglicherweise mitschwingenden sexuellen Interessen des »netten Mannes« transportieren sollte. Karl fing ihn auf und wechselte ihn in ein stilles: »Und wenn schon, es ist ja nicht zu Übergriffen gekommen. Vergiss es und behalte es im Gedächtnis!« Dann schmiss er ihn ihr zurück. Die Praktikantin durfte ungestört weitererzählen.

Nach einer winzigen Pause, in der sie sich den Hauch einer Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte, tat sie das auch: »Und er kannte sich aus mit Raubkatzen. Ich glaube er konnte die Situation gut einschätzen und wenn er es für gefährlich gehalten hätte, mit Snow in einem Gehege zu stehen und den Zoobesuchern etwas über weiße Tiger zu erzählen, hätte er es natürlich nicht getan. Snow ist normalerweise auch überhaupt nicht aggressiv. Ich habe ihn sogar einmal gestreichelt, als er beim Fressen war. Und genau das ist es, was ich meine: Vielleicht war er jemandem zu friedlich für die erste Vorführung mit einem aufsehenerregenden, wilden und gefährlichen Tier. Immerhin war halb Karmensbrück als Zuschauer dabei, um den sensationellen Neuerwerb des Tierparks zu bewundern. Na eine Sensation hat es jetzt ja auch gegeben. Aber nicht so eine, wie sich das dieser Jemand vorgestellt hat. Dachte ich erst. Aber dann dachte ich: Vielleicht hat er sich genau das vorgestellt und es ging in Wirklichkeit genau darum: Doktor Palter umzubringen.«

Sie schaute den Kriminalisten abwechselnd mit großen Augen ins Gesicht. Wollte sie ihre Worte nur ein wenig wirken lassen, oder war das eine Aufforderung zu einer Rückfrage? Martina wollte sich beinahe reflexartig erkundigen, wer denn dieser Jemand gewesen sein könnte, der ein Interesse daran haben könnte, ihren Chef zu töten. Dann fiel ihr auf, dass Albertis Freundin noch gar nicht erzählt hatte, wie sie auf die Vermutung gekommen war, der Tiger sei durch Drogen zum Werkzeug dieses extravaganten Mordes geworden, und sie hielt sich zurück. Karl teilte ihr aufforderndes Schweigen.

»Am Morgen«, setzte sie tatsächlich ihre Erzählung fort, »ziemlich kurz vor der Präsentation unserer prächtigen Neuerwerbung, hat mich Franz beauftragt, Snow ein Stück Pferdefleisch zu geben. Es lag auf der Waage, deshalb weiß ich, dass es ein knappes Kilo wog. Zuviel für ein Steak, aber natürlich viel zu wenig, um einen Tiger satt zu machen. Das würde den ersten Hunger nehmen, sagte er. Snow sei dann nicht mehr so aggressiv, aber immer noch lebendig und fleischgierig genug, um das Publikum zu faszinieren. Das fand ich ganz logisch und habe mir nichts dabei gedacht. Aber dann ist er eben doch aggressiv geworden und zwar viel aggressiver als normalerweise. Und dann habe ich mich natürlich gefragt: Warum lag das Fleisch eigentlich auf der Waage, und warum wurde Snow so gefährlich als er es gegessen hatte? Ich weiß, dass unsere Tierärzte mit allen Arten von Amphetaminen herumexperimentieren. Vor allem in Verbindung mit Ketamin, um die Tiere zu narkotisieren, wenn es nötig ist. Und Amphetamine können aggressiv machen. Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass das Fleisch mit so etwas versetzt war? Natürlich hätte jeder, der an das Zeug rankommt, das getan haben können, aber am wahrscheinlichsten scheint es mir, dass es Franz war. Oder wer auch immer ihn beauftragt hat, dieses Fleisch für Snow bereitzulegen.« Ihre Hände gruben sich etwas tiefer in die Parkataschen. »Dachte ich«, fügte sie noch einmal bestätigend hinzu.

»Dachten Sie«, echote der Hauptkommissar und wechselte die Blickrichtung zu seinem jungen Mitarbeiter. »Und was denken Sie über diese Theorie?«

Die Durchblutung von Albertis Gesicht verstärkte sich nur in dezent sichtbarer Ausprägung. »Ich denke, also, nun ja, es besteht zwar nicht gerade ein zwingender Grund für einen konkreten Anfangsverdacht, aber immerhin ist die Möglichkeit einer Straftat auch nicht komplett auszuschließen. Wir sollten außerdem in Betracht ziehen, dass die Einschläferung des seltenen Exemplars eines weißen Tigers ein beträchtlicher Tiefschlag für die Finanzen, aber auch das Renommee des Tierparks Schöndorf wäre. Da dieser aber jede Menge überregionaler Besucher anzieht geht es auch um die touristische Bedeutung und damit das wirtschaftliche Wohlergehen von Karmensbrück. Vor allem aber«, er zuckte entschuldigend mit den Schultern, »liebt Judith das Tier! Falls wir neben der Rettung des Tigers statt eines Unfalles auch noch einen Mord aufklären sollten, wäre das auch nicht gerade ein unerwünschter Nebeneffekt für eine Mordkommission.«

»Martina?« spielte ihr Chef den Ball an sie weiter.

»Nicht, dass ich mir herausnehmen würde, deine Rolle zu übernehmen, aber bevor wir mit diesem verdächtigen Franz reden, sage diesmal ich es: Wir haben einen Fall!«

2. Kapitel

Der Tigertrakt

Es war nicht leicht, einen Parkplatz in der Nähe des Tierparks zu bekommen. Jedenfalls nicht, wenn man die horrenden Gebühren des Parkhauses sparen wollte. Glücklicherweise war der Hauptkommissar der Mordkommission nicht nur mit einem Dienstwagen, sondern gleichzeitig auch mit einem Parkberechtigungsschein ausgestattet, der die königliche Technik des kreativen Parkens in den Status einer legalen Strategie erhob. Auch jetzt knirschten sich die Winterreifen des beigefarbenen Golfs durch den frischen Schnee auf den halteverbotsbewehrten Gehweg gegenüber der Kamelpforte des Tierparks Schöndorf. Frau Sawer hatte ihnen von der kleinen Seitentür berichtet, dem Personaleingang für diejenigen Angestellten, die keine Zufahrtsberechtigung zum Betriebshof des Zoos hatten und dort ihre Wagen abstellen durften. Martinas spontaner Gedanke, dass `Kamel´ eine weniger nette Bezeichnung für weniger privilegierte Mitarbeiter sei, löste sich in Luft und den Duft von höckerigen Paarhufern auf, den sie vor dem orientalisch gestalteten schmalen Tor erschnupperte. Hier lag wohl der Hafen der Wüstenschiffe.

Ihr Chef hatte es auf der beinahe besinnlich gemächlichen Fahrt hierher ihrer Phantasie überlassen, sich zu denken, was er von dem Fall dachte. Ein Tiger als Mordwaffe war sicherlich alles andere als gewöhnlich und klang doch irgendwie richtig spannend. Trotzdem fehlten ihr der Glanz der Aktivität in seinen Augen, die elektrisierende Ausstrahlung, die pure Energie, die er sonst während der Aufklärung eines Mordes verströmte. Nachdenklichkeit. Vielleicht war es das, was das Bild des stummen Kommissars, umweht von den nur noch spärlich schwebenden Schneeflocken, darstellen wollte. War dieser Fall wirklich ein Fall?

»Da sind wir«, stellte Alberti überflüssigerweise fest, als er zwei Minuten später seine Freundin gentlemanlike am Arm die kurze Strecke vom Streifenwagen über die verschneite Straße zu ihnen geleitet hatte. Ganz so überflüssig war seine Feststellung des Offensichtlichen aber möglicherweise nicht, denn der kurze Satz wirkte als Stillebrecher und Kommissarerwecker.

»Na dann mal los!« König machte eine einladende Geste in Richtung Tor. »Lassen Sie uns ein, in Ihr Reich, Frau Sawer!«

Schüchtern tippte die Praktikantin ein paar Tasten des Codeschlosses, und als ein schnarrendes Summen ertönte, warf sie sich mit der Schulter leicht gegen das Portal, dessen Verriegelung sich mit widerstrebendem Knacken löste und dem Türflügel erlaubte einladend nach innen zu schwingen. »Das Schloss klemmt ein wenig«, kommentierte sie mit leise entschuldigender Stimme, ließ die drei Polizisten an sich vorbeigehen und drückte das Tor wieder energisch zu. »Wenn man nicht richtig zumacht, ist das ein Kündigungsgrund.«

»Eigentlich müsste man in solch einem Fall eher dem Türschloss kündigen«, meinte Martina. Sie erntete ein entschüchtertes Lächeln, das die Blätter der Befangenheit welk in den heruntergetretenen Schnee fallen ließ. Vielleicht war es aber auch nur die vertraute Umgebung, die der jungen Frau Sicherheit gab, denn mit fester Stimme übernahm sie nun die Rolle der Führerin: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es zu den Tigern geht.«

»Pah, Tiger! Was gibt es da schon zu sehen?«, schien das Dromedar im Gehege zu ihrer Linken sagen zu wollen. Anstatt sich verbal zu äußern, ließ es jedoch nur ein leises Schnauben hören und drehte sich hochmütig von diesen vier Ignoranten weg. Es gab ja genug andere Zoobesucher, die Kamele als die Krönung der Schöpfung zu schätzen wussten.

Nun ja, tatsächlich waren es ja nicht die Tiger selbst, die sie sehen wollten, sondern zunächst einmal ihr Pfleger, Franz Meurer, der mutmaßliche Futtermanipulator, von dem ihnen die Praktikantin jetzt mehr erzählte:

»Er ist als Obertierpfleger natürlich eher für die Anleitung und Aufsicht der anderen Pfleger zuständig, aber um seine Lieblinge, die Raubtiere, kümmert er sich persönlich. Und…«, sie blieb einen Moment stehen und schaute den Kommissar bedeutungsvoll an, »…er kümmert sich auch um die Bestellung und Verwahrung der Betäubungsmittel!« Als Antwort erhielt sie brüllendes Lachen. Allerdings nicht von König, der sich wie seine Kollegen reflexartig in Richtung des frechen Gelächters umdrehte.

»Das sind nur die Hyänen, die sich ums Fressen streiten«, erklärte Frau Sawer im gleichen Tonfall, in dem eine Mutter ihr Kind beruhigt, weil es nur der Wind war, der draußen vor den Fenstern heulte, und nicht etwa ein grausiger Geist. »Dort ist der Eingang zum Versorgungstrakt für Raubtiere. Da sollten Sie Franz eigentlich um diese Zeit finden. Ich bleibe lieber draußen. Es ist nicht so gut, wenn er erfährt, dass ich ihn verdächtige und – na ja, irgendwie angezeigt habe. Er hat ganz schönen Einfluss und ich möchte natürlich gerne bei den Raubtieren bleiben. Also jetzt, wo, also wo Harald, also Doktor Palter«, sie stockte ein wenig und zog zaghaft die Nase hoch. »Ich habe natürlich etwas Angst, dass ich von den Raubtieren abgezogen werde, wenn er nicht mehr da ist.«

»Ja, das können wir gut verstehen.« Karls Hand legte sich kurz auf den Unterarm der Praktikantin. »Sie können ja Alberti ein wenig im Zoo herumführen, während Frau Benson und ich uns um die ein oder andere Befragung kümmern.« Er wandte sich an den jungen Polizisten: »Sie, Alberti, betrachten die Tigeranlage mal aus der Sicht eines ganz normalen Zoobesuchers und lassen sich von verschiedenen Leuten die Details des Tigerangriffes beschreiben. Plaudern Sie ruhig mit anderen Zoobesuchern und ein paar Kollegen Ihrer Freundin, wenn Sie zufällig welche treffen. Vielleicht besorgen Sie sich auch die ein oder andere Zeitung, die etwas darüber berichtet hat. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Wir sehen uns morgen früh im Revier. Dann können sie uns von Ihrem Nachmittag berichten.«

»Con piacere, commissario! Mit Vergnügen!« Der junge Mann reichte seiner Begleiterin galant den Arm und schlenderte durch den Schnee davon. Sie schien sich nicht daran zu stören, mit einem Polizisten in Uniform von ihren Kollegen gesehen zu werden, während die Ermittlungen gegen ihren oder ihre Vorgesetzten anliefen. Vielleicht waren ihr die meisten ja wohlgesonnen und würden diesen Zufall nicht ins Ohr der falschen Personen weitertragen.

Ein mannsgroßer Tiger stand mit verschränkten Armen vor dem Eingang, den ihnen die Praktikantin gewiesen hatte, und verwehrte ihnen den Zutritt. Dieser sei verboten, sagte das Schild auf seinem Bauch, und dass es nicht ratsam sei dieses Verbot zu missachten, sagten die gefletschten Reißzähne in seinem lächelnden Maul. Glücklicherweise bestand der Tiger nur aus einer folienbeschichteten Sperrholzplatte und ihr Chef tat das, was ihm immer wieder königliche Freude bereitete: Etwas Verbotenes tun, was ihm erlaubt war. Die kleine Tür, die in einen weiß gefliesten, neonbeleuchteten Gang führte, hatte knapp Martinenhöhe, was bedeutete, dass sich ein ausgewachsener Hauptkommissar ziemlich bücken musste, um hindurchzugehen. Es roch etwas nach Chlor und nur unaufdringlich nach Raubtierhaus, was die Vermutung nahelegte, dass hier auf Reinlichkeit Wert gelegt wurde, wenn die Tiger nicht gerade Kehrwoche gehabt haben sollten. Sie ignorierten mehrere geschlossene Stahltüren zu beiden Seiten und gelangten schließlich in einen größeren Raum, der Martina spontan an die Rechtsmedizin erinnerte. Auf dem Gegenstück zu einem Sektionstisch lag ein Berg formlosen Fleisches, das wohl auch einmal ein Zootier gewesen sein musste.

»Eine Antilope oder Gazelle«, vermutete die Polizistin und deutete auf einen aus der roten Masse herabhängenden Huf. »Ein Paarhufer würde ich sagen.« Warum sie das sagen würde oder warum sie es sagte, wusste sie nicht so recht. Für ihre Ermittlungen war es sicher nicht von Belang. Vielleicht wollte sie ihrem Chef beweisen, dass auch sie so einiges wusste, was über das Gebiet der Kriminalistik hinausging.

»Ein großer Kudu«, klärte eine raue Stimme hinter ihnen sie auf. »Würden Sie mir bitte sagen, was Sie hier zu suchen haben?«

Sie schreckte einen Moment zusammen, etwa so, wie es einem geht, wenn man allein mit den Leichen in einem Sektionssaal zu sein glaubt und überraschend angesprochen wird. Ihr Chef war offensichtlich nicht in der Gefühlswelt der Gerichtsmedizin gewesen: »Sie, hoffe ich.« Sie drehten sich um und sahen einen stämmigen, gedrungenen Mann mit blitzenden aber zu kleinen Augen in einem runden, glattrasierten Gesicht. Behaarte, kräftige Unterarme ragten unter den aufgekrempelten Ärmeln des dschungelgrünen Hemdes hervor, das alle Tierpfleger des Tierparks Schöndorf trugen. Angewandte, nein, angezogene corporate identity. »Darf ich annehmen, dass Sie der Herr Obertierpfleger Franz Meurer sind?«

»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie? Und wie kommen Sie hier herein?« Ein freundlich lauernder Tonfall.

»Nun, wir haben die Tür zum Hereinkommen benutzt, die uns Ihr freundlicher Papptiger am Eingang gewiesen hat. Das hat er natürlich nur getan, nachdem wir ihm die hier gezeigt haben:« Karl zog seinen Dienstausweis hervor und sie tat es ihm nach. »Kommissare Benson und König von der Kripo Karmensbrück, um auch ihre erste Frage zu beantworten. Und wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten. Wenn es möglich wäre, in einem etwas gemütlicheren Raum. Hier herrscht ja nicht gerade Wohlfühlatmosphäre, oder?« Die Abneigung ihres Vorgesetzten gegen Sektionssäle schien sich auch auf diesen zoologischen Verwandten zu erstrecken.

»Hmm, kommen Sie mit in mein Büro«, brummte der Tierpfleger, ging an ihnen vorbei und öffnete eine weitere Metalltür. Sie folgten ihm in ein kleines Zimmer mit einem noch kleineren Schreibtisch. Mit einem Blick auf Martina wies er auf den Bürostuhl dahinter und setzte sich an die Kante seiner Arbeitsfläche. »Ihnen kann ich leider auch nicht viel mehr als einen besseren Stehplatz anbieten«, entschuldigte er sich bei Kommissar König. »Ich bin hier nicht auf Publikumsverkehr eingerichtet. Also, was will die Kriminalpolizei von Karmensbrück von einem Tierpfleger des Tierparks Schöndorf. Soweit ich weiß, habe ich mir nichts zu Schulden kommen lassen.« Sein Blick sprang in Widerspruch zu seinem gelassenen Tonfall nervös zwischen den beiden Beamten hin und her.

»Die Polizei von Karmensbrück interessiert sich für den weißen Tiger, den Sie, soweit wir wissen, intensiv betreuen. Um direkt zum Punkt zu kommen: Kann es sein, dass er am Morgen dieses schrecklichen Unfalls Drogen verabreicht bekommen hat?«

»Aber sicher! Sie kennen sich wohl nicht sehr gut aus mit den Gepflogenheiten in modernen zoologischen Gärten?«

Die linke königliche Augenbraue hob sich um vier Millimeter. »Nun, ich gebe zu, dass ich mich noch nicht einmal mit den Gepflogenheiten in altmodischen Zoos auskenne. Aber ich hoffe, das wird sich in den nächsten Minuten grundlegend ändern. Würden Sie uns einen Einblick in Ihre Gewohnheiten gewähren?«

Meurer schaute unwirsch auf die kantige Digitaluhr an seinem Handgelenk. »Also gut, wenn es sein muss… Ein Zoo muss heutzutage nicht einfach nur exotische Tiere in Käfigen halten, wie das früher einmal war. Zoobesucher wollen großzügige, moderne Gehege sehen, artgerechte Haltung, falls Sie davon schon einmal gehört haben. Den Tieren muss es sichtbar gut gehen. Damit fängt es an. Denn große Gehege kosten viel Geld und dafür braucht man viele Besucher. Die kann man aber wiederum nicht mit müde herumschleichenden, oder gar schlafenden Faulpelzen anlocken. Vögel sollen zwitschern und flattern, Affen sollen springen und turnen, Raubkatzen sollen aggressiv und bedrohlich herumtigern, brüllen und gelegentlich auch mal einen Prankenhieb austeilen. Also gibt man ihnen entsprechendes Futter, das manchmal etwas mit Medikamenten angereichert ist. Das Wort Drogen ist in diesem Zusammenhang sicherlich unpassend. Wir helfen unseren Schützlingen nur, das Beste aus sich herauszuholen.«

»Aha, und für diese Anreicherung sind Sie zuständig. Ist das richtig?«